Das Covid-19-Virus hat seit einigen Monaten die Welt fest im Griff. Es beeinflusst natürlich auch die Welt der Philosophie. Auch Philosophinnen und Philosophen müssen ihre Lebens- und Arbeitsweisen anpassen. Sie haben zudem damit begonnen, die neuen Herausforderungen, vor die uns das Virus stellt, zum Gegenstand ihrer Reflexion zu machen. Es überrascht deshalb sicher nicht, dass das neuartige Coronavirus seinen Weg in das nun vorliegende sechste Heft der ZEMO gefunden hat. Unser Rezensent Tim Kraft (Regensburg) bespricht eine der ersten philosophischen Buchpublikationen zu Covid-19. Doch unsere neue Ausgabe ist kein Corona-Heft. Sie widmet sich vielmehr Fragen der Moralphilosophie, die lange vor Corona das Interesse von Ethikerinnen und Ethikern hervorgerufen haben und dies sicher auch nach Corona noch tun werden – auch wenn die Beiträge unseres Heftes neue Perspektiven auf bereits bestehende Debatten werfen.

So steht im Mittelpunkt des ersten Fachaufsatzes von Sven Ellmers (Oldenburg) G.W.F. Hegel, der am 27. August 1770, also vor 250 Jahren, in Stuttgart geboren wurde und mit 61 Jahren in Berlin inmitten einer Cholera-Epidemie verstarb. Ellmers interessiert sich für Hegels Freiheitsbegriff im Zusammenhang mit der gegenwärtig wieder viel diskutierten Frage nach den normativen Grundlagen kritischer Gesellschaftstheorie. Braucht Gesellschaftskritik einen positiven ethischen Maßstab? Während Vertreter eines metaethischen Negativismus die Möglichkeit eines solchen Maßstabs bestreiten und sein Fehlen deshalb nicht als Defizit betrachten, haben in jüngster Zeit sowohl Hartmut Rosa mit seiner Resonanztheorie als auch Frank Kuhne mit seiner an Kant orientierten Gesellschaftstheorie versucht, einen ethischen Maßstab für Kritik zu entwickeln. Ellmers benennt die Probleme beider Ansätze und präsentiert Hegels Freiheitslehre als ernst zu nehmende Alternative. Mit ihrer Hilfe gelinge es, so seine These, die bei den anderen einander gegenübergestellten oder beliebig addierten normativen Maßstäbe als „interne Differenzierungen eines einzigen Maßstabs“ zu begreifen.

Eine dezidiert kritische Ausrichtung hat auch die Argumentation von Jens Kertscher (Darmstadt) und Philipp Richter (Bochum). Dabei ist ihre Kritik an John Stuart Mills Beweis für das Nützlichkeitsprinzip im Besonderen und an konsequentialistischen Moraltheorien im Allgemeinen eingebettet in eine Diskussion des Problems praktischer Notwendigkeit: Wie kann ein praktisches Müssen kohärent begründet werden, d. h. so, dass es aus der Sicht einer praktisch reflektierenden Person als notwendig erkannt wird, aber zugleich Raum für die Freiheit vernünftiger Subjekte lässt? Kertscher und Richter zufolge scheitern konsequentialistische Ethiken an diesem Problem; Kantianer hingegen, so die Autoren, können es lösen.

Der Aufsatz von Rodrigo Sanz (Montevideo) führt in den Bereich der Roboter- und Maschinenethik, knüpft in gewisser Weise aber an die Überlegungen von Kertscher und Richter an. Sanz fragt nämlich nach den Bedingungen dafür, ein künstliches Wesen, etwa ein autonom fahrendes Auto oder einen Pflegeroboter, als moralischen Akteur anzuerkennen. Er entwickelt in einem ersten Schritt einen ethisch kognitivistischen Ansatz, der im Anschluss an Christine Korsgaard vier Kriterien für moralisches Handeln definiert: ein moralischer Akteur müsse intelligent und autonom sowie zur Selbstreflexion und zur Wahl mindestens einer praktischen Identität fähig sein. In einem zweiten Schritt prüft Sanz die Anwendbarkeit dieser Kriterien auf künstliche Wesen. Ihm zufolge ist es das letzte Kriterium, d. h. die Unmöglichkeit, ein praktisches Selbstverständnis zu entwickeln, aufgrund dessen wir Roboter und Maschinen nicht als moralische Akteure betrachten sollten.

Schließlich beteiligt sich Norman K. Swazo (Dhaka) an der Diskussion um die Frage, ob man aus Martin Heideggers hermeneutischer Daseins-Analyse Elemente einer eigenen normativen Ethik herauslesen kann. Dabei interessiert sich Swazo vor allem für Heideggers Ausführungen über Eigentlichkeit, dem Gegenpol zum Verfallen-Sein des Einzelnen an das „Man“. Dem Hinweis Heideggers folgend, dass Ethik nicht in einer Ableitung normativer Regeln aus allgemeinen Wahrheiten bestehen könne, sondern allein im Aufzeigen existentieller Entscheidungen des Menschen, zieht Swazo Sophokles’ Tragödie Philoktet heran. An der dort auftretenden Figur des Neoptolemus, der sich in einer moralischen Dilemmasituation wiederfindet, lasse sich gut veranschaulichen, was authentisches Selbstsein im Sinne Heideggers bedeuten kann.

Die im Anschluss daran folgenden fünf Beiträge bilden den ersten Schwerpunkt der ZEMO. Er ist dem Thema „Spheres of Morality“ gewidmet. Dabei geht es um die Frage, in welchem Verhältnis die großen ethischen Theorien zueinander stehen. Sind Konsequentialismus, Tugend-ethik und deontologische Ethiken disparate Rivalen im Kampf um die beste Erklärung unserer moralischen Vorstellungen? Oder lässt sich diese kompetitive Einstellung nicht zugunsten eines integrativen Ansatzes überwinden? Ein solcher Ansatz würde es möglich machen, sich auf die Stärken jeder einzelnen Theorie zu besinnen und die Vorteile zu erkennen, die daraus entstehen, diese komplementär miteinander zu verbinden. Während die Gastherausgeber Dagmar Borchers, Svantje Guinebert und Georg Mohr (Bremen) in ihrer Einleitung diesen neuen Blickwinkel erläutern und Roger Crisp (Oxford) in seinem Essay die grundlegende Problematik der Fragestellung entfaltet, versuchen sich die Autorin und die Autoren der Fachaufsätze an ersten Antworten. Svantje Guinebert (Bremen) nimmt dafür übergreifend alle ethischen Theorien in den Blick, Christoph Halbig (Zürich) argumentiert aus einer tugendethischen Perspektive und Rudolf Schüßler (Bayreuth) interessiert sich insbesondere für deontologische Ethiken.

Unsere Diskussion beschäftigt sich mit einer Frage aus dem Grenzgebiet von Ethik und Politik: Ist das Abtreten von moralisch aufgeladenen Entscheidungen, z. B. über die Zulassung von „Gene Editing“, an ethische Experten auf politischem Gebiet legitim oder in demokratisch verfassten Staaten als moralisch problematisch anzusehen? David Archard (Belfast) nähert sich einer Antwort mithilfe eines Vergleiches zwischen dem Abtreten von Entscheidungen im persönlichen und im politischen Bereich. Obwohl er es grundsätzlich als schwierig erachtet, moralische Entscheidungen an andere abzugeben, hält er es für gerechtfertigt, wenn Bürger eines Landes entsprechende Expertinnen und Experten in Kommissionen wählen und ihnen die Entscheidungsfindung überlassen. Gopal Sreenivasan (Durham, USA) stimmt den Überlegungen Archards im Kern zwar zu. Er verfolgt aber einerseits einen anderen Weg der Begründung, indem er bei kollektiven Subjekten beginnt, d. h. die Bürgerschaft eines Landes, nicht den einzelnen Bürger in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Andererseits macht er auf wichtige Unterscheidungen aufmerksam, etwa zwischen dem Abgeben an und dem Sich-beraten-Lassen durch Experten oder dem Delegieren und dem Abgeben einer Entscheidung.

Die Rezension von Tim Kraft zum Buch Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit (Reclam 2020), von Nikil Mukerji und Adriano Mannino während einer Woche im April geschrieben und mittlerweile in vierter Auflage gedruckt, knüpft nahtlos an die beiden Diskussionsbeiträge an, thematisieren die Autoren darin doch u. a. die Frage, wie man mit Dissens unter Experten in Zeiten einer Katastrophe umgehen soll. Kraft hinterfragt nicht nur das Konzept einer „Philosophie in Echtzeit“, sondern auch die einzelnen philosophischen Argumentationsstränge der beiden Autoren, etwa für den shutdown oder die Ausgestaltung von Triage-Entscheidungen. Seiner Meinung nach lassen sie mitunter die Klarheit vermissen, die man sich von Philosophen, auch und gerade im öffentlichen Diskurs, eigentlich erhofft.

Allen unseren Leserinnen und Lesern wünschen wir viel Spaß bei der Lektüre!

Das ZEMO-Herausgeberteam