Die Migrationen der letzten Jahre bedingen ein Aufeinandertreffen von kulturellen und religiösen Traditionen, die in den Herkunftsländern von größter gesellschaftlicher Bedeutung sind – in alltäglichen Belangen ebenso wie in der Einstellung der Menschen zu Krankheit und Medizin. Es ist nur zu verständlich, wenn Einwanderer festhalten an den alles bestimmenden Werten ihrer Heimat, die sie oft unter widrigsten Umständen zu verlassen gezwungen waren. Allerdings stellt die strikte Bewahrung anderer, durchaus zu respektierender Denkweisen eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Integration im Gastland dar, insbesondere auch in der medizinischen Versorgung.

Auf das Thema eingestimmt wurde schon im Heft der letzten Jahrestagung der MKÖ (Medizinische Kontinenzgesellschaft Österreich) mit dem Artikel von B. Heller [1] mit den Ausführungen zur „Reinheit“ – ein Schlüsselwort, das nahezu jeder Religion anhaftet, dem Christentum z. B. v. a. im spirituellen Sinne. Hingegen messen Islam, Judentum und Hinduismus auch der physischen Reinheit einen sehr hohen religiösen Stellenwert bei, der jede Form von „Unreinheit“ ausgrenzt, stigmatisiert und tabuisiert, weil diese letztendlich selbst die soziale Ordnung zu stören scheint. Inkontinenz für Harn und Stuhl werden als Unreinheit gesehen, einfach weil sich diese Ausscheidungen nicht kontrollieren lassen. Insbesondere die Frauen unterliegen strengen Bekleidungsvorschriften zur Wahrung ihrer Keuschheit. Und Störungen der Sexualität werden von Betroffenen prinzipiell kaum oder nicht kommuniziert.

Somit stoßen Diagnostik und Therapie von physischen und psychischen Problemen der Intimsphäre auf zahlreiche Hürden, sowohl für die Menschen mit Migrationshintergrund als auch für das gesamte medizinische Team, welches sie betreut. Zu den religiös-kulturellen Aspekten erschwerend hinzu kommt die Sprachbarriere, für deren Überwindung die Einbindung professioneller Dolmetscher vielfach empfohlen wird. Häufig sind auch die patriarchalischen Strukturen in den Familien der Einwanderer dazu angetan, die Entscheidungen einzelner Patienten mehr zu beeinflussen, als es der individuellen Gesundheit dienlich ist.

Sämtliche der drei folgenden Arbeiten illustrieren die Vielfalt der Imponderabilien, denen Ärzte und Pflegedienst begegnen, angefangen vom Erstgespräch bis zu den dann notwendigen Untersuchungen. Daraus ergeben sich für den richtigen Umgang mit der uns oft wenig vertrauten Klientel wertvolle Ratschläge, die auf der persönlichen Erfahrung der Autorinnen und Autoren beruhen. Im gynäkologischen Beitrag zeigt sich eindrucksvoll, dass dieses Fach nicht nur mit den landläufigen Erkrankungen konfrontiert ist, sondern auch mit den Folgen von FGM/C („female genital mutilation/cutting“), von der weltweit etwa 200 Mio., vorzugsweise Frauen und Mädchen aus Afrika, betroffen sind. Im Artikel der Urologie finden sich Hinweise auf Initiativen, welche die tägliche Praxis erleichtern sollen, wie das Referat für Interkulturelle Zusammenarbeit und Integration der Wiener Ärztekammer oder die Folder der MKÖ in türkischer und arabischer Sprache. Aus der Perspektive der Krankenpflege geht hervor, wie sehr sich deren hierzulande unverzichtbare Selbstständigkeit von dem weniger wertschätzenden Bild unterscheidet, das in manchen der Herkunftsländer noch vorherrscht.

Die Harninkontinenz gehört zu den häufigsten Krankheiten, und betrifft bekanntermaßen das weibliche Geschlecht wesentlich häufiger als das männliche. Verbindet man nun diese Inzidenz mit der Feststellung, dass Frauen in anderen Kulturkreisen „durch ihre Körperfunktionen (Menstruation, Schwangerschaft, Geburt) regelmäßig in einen Zustand der Unreinheit geraten“ [1], so offenbart sich für Frauen mit Migrationshintergrund eine doppelte Benachteiligung. Diese sollte, einmal bewusst gemacht, in der medizinischen Zuwendung entsprechend berücksichtigt werden.

Der Anteil von etwa 700.000 Menschen muslimischen Glaubens beträgt in Österreich 8 % der Bevölkerung. Allein an dieser Zahl lässt sich ermessen, dass die Behandlung von Einwanderern in unseren medizinischen Institutionen längst zum Alltag gehört. Wenn Patientinnen und Patienten aus anderen Kulturkreisen sich unserem Gesundheitssystem anvertrauen, so sollen sie von dessen Vorteilen bestmöglich profitieren. Dies ist eine wesentliche Facette der Integration. Zudem mag es wohl sein, dass sich die Begegnungen von Einheimischen und Migranten auch außerhalb des medizinischen Umfeldes in Zukunft zwangloser gestalten – dank der einschlägigen Informationen aus der Feder jener, die hier die Quintessenz ihrer Erfahrungen eingebracht haben.

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Max Wunderlich