Einleitung
Das Turner-Syndrom (TS) gilt als seltene Erkrankung, ist aber dennoch die häufigste angeborene Geschlechtschromosomenanomalie mit einer Inzidenz von 1 zu 2500 weiblichen Geburten [1]. Betroffene Mädchen und Frauen sind mit einer Vielzahl medizinischer und psychologischer Herausforderungen konfrontiert [2].
Die Anforderungen im endokrinologischen und internistischen Bereich sind komplex. Die medizinische Versorgung von Mädchen mit TS ist in den großen Kinderkliniken hoch spezialisiert: Die Themen reichen breit gefächert von Kleinwuchs, potenziellen Herz- oder Nierenfehlbildungen über Gehördefizite bis zu eingeschränkter Fruchtbarkeit, verbunden mit hohen Risiken bei gelungener Schwangerschaft.
Die Patientinnen müssen neben vielen körperlichen Schwierigkeiten zusätzlich auch psychosoziale Einschränkungen mit Auswirkungen auf ihre zukünftige Lebensqualität bewältigen. Diese wurden in den vergangenen Jahrzehnten zwar zunehmend beschrieben, in der Versorgung aber aus unserer Sicht noch zu wenig explizit adressiert [3].
Die Beratung von Patientinnen und deren Familien zu psychologischen Themen sollte schon während der Kindheit und Adoleszenz integraler Bestandteil der Betreuung sein. Wir fassen daher in diesem Artikel potenzielle psychosoziale Probleme bei TS zusammen und geben Ratschläge zu Interventionen (ausführlicher nachzulesen mit Tabellen zur kindlichen Entwicklung und Problembereichen sowie psychologischen Testverfahren in unserem vor kurzem publizierten Review [4]). Früherkennung von sozialen oder kognitiven Einschränkungen, rechtzeitige Fördermaßnahmen und sorgfältige Vorbereitung auf eine gelungene Transition in die Erwachsenenmedizin tragen dazu bei, Lebenserwartung und Lebensqualität von Patientinnen mit TS zu erhöhen.
Diagnoseübermittlung
Der erste wichtige Schritt ist eine gelungene Diagnoseübermittlung. Empathie, Ehrlichkeit sowie ein möglichst früher Diagnosezeitpunkt haben sich als positiv für die Integration des Syndroms erwiesen. Versuchen Eltern zu tabuisieren oder einigen sie sich auf Geheimhaltung, zeigt das langfristig negative Folgen für das Wohlbefinden der Mädchen und Frauen [5]. Die Diagnose muss je nach Entwicklungsstand der Patientinnen neu besprochen werden. Strukturierte Dokumentation sowohl der vermittelten Inhalte als auch der Reaktion von Familie und Patientin helfen, den Krankheitsverarbeitungsprozess gut zu begleiten. Eltern brauchen Beratung, um Schuldgefühle – speziell gut ausgebildete Mütter leiden hier – abzubauen sowie Anpassungsschwierigkeiten der Familien zu überwinden [6].
Kleinkindalter, 0–2 Jahre
Im Kleinkindalter zeigt sich bei den Mädchen kaum Abweichung von normaler Entwicklung, allerdings fallen sie in Größe und Gewicht hinter die Altersnormen zurück, und das macht speziell den Müttern Sorge. TS-spezifische Wachstumskurven stehen zur Verfügung, um den Vergleich mit gleichaltrigen Kleinkindern aus medizinischer Sicht zu objektivieren [7].
Pädiater sollten zusätzlich in Bezug auf Schlaf- und Essensgewohnheiten sowie emotionale Regulationsschwierigkeiten aufmerksam sein. Sobald Entwicklungsauffälligkeiten vermutet werden, ist ein psychologisches Screening mit den sogenannten Bayley Scales [8] hilfreich.
Frühe Kindheit, 2–6 Jahre
Der Größenunterschied zu anderen Kindern wird augenscheinlich. Wird die Größe zum Thema, sollte mit Wachstumsspezialisten der Gewinn von Wachstumshormontherapie gegenüber Auswirkungen auf die Lebensqualität abgewogen werden [9]. Sehr häufig leiden Eltern mehr unter der verringerten Größe als die Mädchen selbst [10].
Auch wenn in diesem Alter keine großen psychosozialen Auffälligkeiten bestehen, sollten Kliniker vorbereitet sein und nach Aufmerksamkeitsspanne, Spiel- und Sozialverhalten sowie Kommunikationsmustern (z. B. nach Blickkontakt) fragen. Eltern berichten, dass ihre Töchter mit TS dazu neigen, sich jüngere Kinder als Spielkameraden zu wählen. Bei Auffälligkeiten kann wieder eine psychologische Testung Orientierung geben. Ergotherapie [11] – unter aktiver Einbeziehung der Eltern – erhöht spielerisch die Selbstständigkeit, indem sensomotorische, kognitive und soziale Fertigkeiten trainiert werden.
Kindheit, 6–12 Jahre
In diesem Alter zeigt sich oftmals auch für die Familien das TS-spezifische kognitive Profil mit Schwächen in der visuell-räumlichen Verarbeitung sowie Stärken im verbalen Bereich bei insgesamt normaler Begabung [12]. Relevante kognitive Einschränkungen sind nur bei ca. 10 % der Mädchen [13] zu beobachten. Allerdings zeigt sich bei TS auch ein erhöhtes Risiko für neuropsychologische Symptome wie Aufmerksamkeitsdefizite oder Hyperaktivität. Diese Kombination kann zu Schulproblemen führen. 40–70 % der Mädchen weisen Lernschwierigkeiten auf [14]. Die Themen Schulerfolg und Ausbildungsweg beschäftigen die meisten Familien. Es empfiehlt sich, zu Schulthemen explizit nachzufragen und bei Konzentrationsschwäche oder Lernproblemen entweder Empfehlungen zu psychologischen Testungen [15, 16] auszusprechen oder Fördermöglichkeiten auszuloten.
Fein- und grobmotorische Fähigkeiten, physische Ausdauer und Körperbalance können eingeschränkt sein [17]. Sportliche Aktivitäten wie Schwimmen, Radfahren, Tanzen oder Wandern können Defiziten vorbeugen und präventiv in Bezug auf Übergewicht wirken. Dabei gilt es, die spezifische gesundheitliche Verfassung des Mädchens (z. B. begleitende Herzerkrankung) im Blick zu behalten.
In diesem Alter werden auch psychosoziale Hürden bemerkbar: weniger Sozialkontakte oder enge Freundschaften sowie soziale Unreife werden von den Familien beschrieben. Psychologische Fragebögen geben verunsicherten Eltern Orientierung [18]. Falls der Kontakt zu Gleichaltrigen schwierig ist, können Gruppentrainings zum Sozialverhalten unterstützend wirken.
Adoleszenz, 13–18 Jahre
Ein typisches Merkmal für TS ist eine verspätete oder gänzlich ausbleibende Pubertät. Dies wird für die Mädchen und deren Familien medizinisch wie psychologisch zum Hauptthema und erfordert intensivierte Beratung und Betreuung. Ein heikles Thema betrifft Liebe und Sexualität. Neben Östrogensubstitution auf der medizinischen Seite brauchen Mädchen in dieser Phase eine vertrauenswürdige Anlaufstelle in Liebesangelegenheiten und allen Fragen zur Sexualität. Trotz ihrer eindeutigen weiblichen Identifikation sammeln Mädchen mit TS meist weniger sexuelle Erfahrungen, und das auch oft erst in späteren Lebensjahren. Dies scheint einen herabgesetzten Selbstwert zu begünstigen [19].
In diesem Alter machen sich Defizite im abstrakten Schlussfolgern und bei Metakognitionen bemerkbar. Konkret zeigen sich Planungsschwierigkeiten und geringere Selbstorganisation, gepaart mit Schwierigkeiten im sozialen Verständnis [20, 21]. Gleichzeitig wünschen sich die Mädchen soziale Interaktion. Parallel zu den Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen fällt die Emanzipation vom Elternhaus schwer. Teilweise zeigen sich Ängstlichkeit oder Impulsivität.
Es gilt in dieser Phase, die Schullaufbahn und Berufsplanung der Mädchen zu unterstützen und hier auch Lehrer aktiv einzubeziehen, da dies für die zukünftige Lebensqualität ausschlaggebend sein wird.
Transition
Verstärkte Bemühungen in Form von intensiven Gesprächen kennzeichnen den gelungenen Weg während der Transition, denn laut Literatur nehmen nur 4 % der erwachsenen Frauen mit TS nach dem Transfer in die Erwachsenenmedizin alle empfohlenen medizinischen Untersuchungen in Anspruch. Es ist wichtig, den Mädchen frühzeitig die komplexen Zusammenhänge von TS wiederholt zu erklären und altersgemäß aktualisierte Informationen zu medizinischen und psychologischen Themen zu geben [22].
Schriftliche Unterlagen, Transitionsprotokolle und Vorbereitung auf die Anforderungen in der Erwachsenenmedizin wie verstärkte Verantwortungsübernahme mit gutem Überblick über das Krankheitsbild, selbstständig geführte Arztgespräche oder rechtzeitige Organisation von Kontrollterminen machen eine gut gelungene Transition wahrscheinlicher [23, 24]. Aufmerksamkeit auf die individuelle Transitionsbereitschaft von Patienten mit chronischen Erkrankungen wird international propagiert, ein aus dem Amerikanischen adaptierter Fragebogen (TRAQ) [25] ist in Vorbereitung [26]. Gleichzeitig wäre es wünschenswert, wenn es im Erwachsenenbereich spezialisierte Tertiärzentren für die Betreuung dieser Patienten gäbe. Derzeit ist es schwierig, geeignete Experten zur Behandlung von TS im Erwachsenenalter zu finden.
Erwachsene Frauen mit TS
Gesundheitliche Probleme können sich verstärken. Der Austausch zwischen Endokrinologie, Gynäkologie und Innerer Medizin wird mit höherem Lebensalter immer wichtiger. Kinderlosigkeit ist für viele Frauen belastend [27]. Experten auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin sind gefragt, zusätzlich soll aber auch Adoption als Weg zu erfüllter Mutterschaft erörtert werden.
Frauen mit TS leben seltener in Beziehungen und haben auch seltener sexuelle Begegnungen. Sie geben eingeschränkte soziale Kontakte, jedoch gleichzeitig eine stärkere Bindung an das Elternhaus an als vergleichbare Frauen ohne TS [28]. Dennoch gibt es zu Lebensqualität und Berufsleben widersprüchliche Hinweise, die die ganze Bandbreite von guter Lebensqualität und zufriedenstellendem Berufsleben bis hin zu depressiven Episoden und wenig beruflichem Erfolg abdecken [29, 30]. Es lohnt sich, Patientinnen frühzeitig auf aussichtsreiche Bildungswege vorzubereiten und sie zu ermutigen, sich in soziale Zusammenhänge außerhalb der Familie zu integrieren und dabei kreative Tätigkeiten, Arbeit mit Kindern, Freiwilligenarbeit, Vereinsleben u. v. m. auszuprobieren. Dies kann wegweisend für ein erfülltes Leben sein.
Fazit
Unsere Aufgabe als betreuende Experten muss es sein, junge Frauen mit TS auf die Herausforderungen im Erwachsenenleben so vorzubereiten, dass sie gut gerüstet und kompetent ihren eigenen Weg gehen können.
Wir hoffen, dass unsere Ausführungen zur vermehrten Beachtung der vielfältigen psychosozialen Aspekte bei TS führen und in die Betreuung der Patientinnen einfließen. Dies wird den Gesundheitszustand und die Lebensqualität der Mädchen und Frauen nachhaltig verbessern.
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Funding
Open access funding provided by Medical University of Vienna. Die Verbesserung der Betreuung von Mädchen und Frauen mit Turner Syndrom wurde auch unterstützt durch einen „Investigator initiated grant“ von Pfizer Corporation Austria.
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Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Culen, C., Ertl, AD. & Häusler, G. Jenseits von Hormonen und Wachstum – psychosoziale Hürden bei Turner-Syndrom. J. Klin. Endokrinol. Stoffw. 11, 27–29 (2018). https://doi.org/10.1007/s41969-018-0019-6
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DOI: https://doi.org/10.1007/s41969-018-0019-6