Die Fähigkeit, zu spüren, wenn ein Artgenosse kränkelt, ist evolutionsbiologisch gesehen eine wichtige Eigenschaft; schließlich konnte es in früheren Zeiten wichtig sein, ein infektiöses „Herdenmitglied“ zu meiden. In heutiger Zeit geht es eher darum, einen akut Kranken so rasch wie möglich zu identifizieren, damit man ihm Hilfe zuteil werden lassen kann.

Blickdiagnose in fünf Sekunden

Dass wir die archaische Fähigkeit der intuitiven „Blickdiagnose“ nicht verloren haben, zeigt eine aktuelle Studie, an der Forscher aus Stockholm, New York und Essen beteiligt waren. Zunächst wurden 22 gesunde Freiwillige im Alter zwischen 19 und 34 Jahren rekrutiert, die bereit waren, sich ein bakterielles Toxin (Escherichia coli-Endotoxin) spritzen zu lassen. Die Teilnehmer wurden an zwei mehrere Wochen auseinanderliegenden Zeitpunkten fotografiert: einmal etwa zwei Stunden nach der Injektion des krank machenden Endotoxins und einmal nach einer Placebo-Spritze, die lediglich Kochsalz enthielt. Von den Bildern konnten insgesamt 32 verwertet werden, zwei von jedem Teilnehmer (die Studie konnte nur mit 16 Probanden vollständig durchgeführt werden), wobei je ein Bild im kranken und eines im gesunden Zustand entstanden war.

62 Universitätsstudenten aus Stockholm wurden nun gebeten, sich die Bilder anzusehen, und zwar nur für jeweils fünf Sekunden, und zu beurteilen, ob die Person darauf „krank“ oder „gesund“ aussah. Von insgesamt 2945 Bewertungen, die die Studenten abgaben, lauteten 1215 auf „krank“. Davon waren 775 echte Treffer, in 440 Fällen war es ein Fehlalarm. Das entspricht einer Sensitivität von 52% und einer Spezifität von 70%. Das Unterscheidungsvermögen war also zumindest kein Zufallsergebnis, wie auch die Fläche unter der ROC-Kurve zeigte, die einen Wert von 0,62 ergab (1,0 entspräche perfekter Diskriminierung, 0,5 wäre Zufall). Eine zweite Gruppe aus 60 Teilnehmern sollte sich nun bestimmte Gesichtsmerkmale genau ansehen und beurteilen, wie sich diese zwischen den beiden Konditionen (nach Toxin- bzw. nach Placebo-Injektion) unterschieden.

Die deutlichsten Unterschiede wurden bei den Lippen der betrachteten Person beobachtet: Nach Toxininjektion wirkten diese in den Augen der Betrachter deutlich blasser als unter Placebo. Auch Gesichtsblässe, Schwellung des Gesichts, Hängen der Mundwinkel und der Augenlider sowie Rötung der Augen wurde bei der Toxingruppe als stärker empfunden. Für alle diese Hinweise zeigte sich zudem eine signifikante Korrelation zur Bewertung der Probanden auf den Fotos als „krank“.

Müdes Aussehen als Marker für eine Krankheit

In einer weiteren Analyse, in der alle Hinweise gleichzeitig betrachtet wurden, erwiesen sich blasse Hautfarbe und hängende Augenlider als stärkste Mediatoren. Und auch ein „müdes Aussehen“ schien ein Marker für eine offenbar vorliegende Krankheit zu sein. Als stärkste positive Korrelation erwies sich schließlich die Kombination aus blassen Lippen und blasser Haut. All das, so das Team um John Axelsson vom Stressforschungsinstitut der Universität Stockholm, stützt die Annahme, dass „wir offenbar in der Lage sind, Krankheitszeichen bereits in einem frühen Stadium einer Infektion zu erkennen“. Dies wäre insofern von Vorteil, als das Infektionsrisiko zu Beginn der Erkrankung oft besonders hoch ist. Mit einer ROC-Fläche von 0,62 sei die Vorhersagekraft zugegebenermaßen relativ gering, allerdings, so Axelsson et al., müsse man berücksichtigen, dass es sich nur um Fotos handelte, die zudem nur sehr kurz betrachtet werden durften. Im wirklichen Leben könne man meist viel mehr Hinweise zur Beurteilung heranziehen. Neben dem Gesicht können beispielsweise auch Körpergeruch, die Art zu sprechen und der Gang des Patienten wertvolle Hinweise auf eine vorliegende Erkrankung geben.