1 Einleitung

Antijüdische Ressentiments sind in Schulklassen wie in der Gesellschaft von großer Permissivität und „notorischer“ (von Kellenbach 2015, S. 181) Unschärfe gekennzeichnet, was dazu beiträgt, dass sie für Prävention nur schwer greifbar sind und immer wieder in neuer Gestalt aktualisiert werden können. Sie zirkulieren weniger in expliziten als vielmehr in latenten Formen (Kistenmacher 2021), gleichzeitig erfahren sie eine bedenkliche Normalisierung (Bernstein 2018, S. 80; Salzborn und Kurth 2019, S. 23; Grimm und Müller 2021, S. 8). Wissenschaftliche Methoden, die ausschließlich einem „realistisch-naturalistischen Kommunikationsmodell“ (Wedl et al. 2014, S. 540) folgen, können möglicherweise das ‚Diffuse‘ und die starke Anpassungsfähigkeit des Antisemitismus etwa in gesellschaftlich normierten und staatlich kontrollierten Bereichen wie Schule und Unterricht nicht hinreichend erfassen. Die ‚Unschärfen‘ näher zu untersuchen, verspricht aber, auch verschattete bzw. nicht zur Kenntnis genommene Grundstrukturen mit Anschlusspotenzial an Antisemitismus in diesen Feldern zu verstehen.Footnote 1

Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, wie das Verhältnis Christentum–Judentum in Schulbüchern für die Fächer katholische und evangelische Religion sowie Werte und Normen in Niedersachsen konstruiert wird bzw. wie das Judentum als differente und doch dem ‚Eigenen‘ verwandte Religion und Kultur gezeichnet wird. Insbesondere nehmen wir dabei Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten in der Relation zwischen Fremdbildern des Judentums und nicht-jüdischen Selbstbildern in den Blick und zeigen einige ihrer Implikationen auf.Footnote 2

Dabei gehen wir von einem spezifischen, historisch gewachsenen, engen wie spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Christentum und Judentum aus (Stegemann 2004, S. 48; Kampling 2004, S. 75; von Kellenbach 2015, S. 184). Erfüllte das Judentum in der Vergangenheit immer wieder die Rolle einer ‚Negativfolie‘, gegen die sich das Christentum dichotom als ‚positiv‘ abgrenzen konnte, ändert sich dies nach der Schoa im Zuge des christlich-jüdischen Dialogs, was laut Martin Hailer zu einer „fundamentale[n] theologische[n] Verunsicherung“ (2020, S. 92) für das Christentum führt, und zwar zur Wiederaufnahme der Frage nach der gleichzeitigen Verwandtschaft und Abgrenzung vom Judentum: „Worauf gründet die christliche Behauptung, die Kirche und ihre Glieder gehörten zu Gott – der eben doch auch der Gott Israels ist und bleibt?“ (ebd.). Die Bedeutsamkeit dieser Frage unterstreicht Hailer mit dem Argument, es handle sich um eine umfassende „theologische Matrix, welche die Wahrnehmung aller großer Themen der [christlichen] Theologie anspricht“ (ebd.: S. 96). Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum bis heute theologisch „nicht hinreichend durchdiskutiert“ (Kubik-Boltres 2022, S. 297) ist, und es ist davon auszugehen – so unsere These – dass sich die ‚Verunsicherung‘ auch in Bildungsmedien widerspiegelt.

2 Forschungsstand

Schon seit einiger Zeit gilt die Aufmerksamkeit in der erziehungswissenschaftlichen Antisemitismusforschung, der antisemitismuskritischen Religionspädagogik sowie der Bildungsmedienforschung den Bildern des Judentums im christlichen Religionsunterricht, mithin jener „antithetischen Struktur christlicher Identität […], deren Kontrastfolie das Judentum darstellt“ (Rothgangel 2002, S. 80). Dabei stehen die verwendeten Schulbücher oft im Vordergrund. In ihnen haben aktuelle Studien einerseits (weiterhin) Konstruktionen christlicher Identitäten durch Abgrenzung festgestellt (Willems 2020; Willems und Dihle 2020; Vahrenhorst 2020; Bernstein 2020; Spichal 2015). Vereinzelt sind in Bildungsmedien „Anklänge an christlichen Antijudaismus“ (Springborn 2023, S. 256) zu finden oder das Judentum wird „als Negativfolie für den alles verändernden Jesus, zum Teil auch Paulus, benutzt“ (Dihle 2023, S. 20). Schulbücher zeichnen die jüdische Religion als „spaßerschwerend“ (Sadowski 2023, S. 453) und (Selbst‑)Zeugnisse über das Judentum wirken unauthentisch, wenn erfundene jüdische Kinderfiguren durch das Schulbuchkapitel führen (Sachse 2023a, S. 308), ‚trockenes‘ Sachwissen wiedergeben (Meyer 2020, S. 231), dazu noch klischeehafte Namen wie ‚David‘ und ‚Sara‘ tragen oder „eingedeutscht-christianisierende“ (Springborn 2023, S. 271) Begriffe wie ‚Sabbat‘ oder ‚Passa‘ verwenden.

In Ethikschulbüchern geht es (selbstverständlich) insgesamt seltener um Religion als in Religionsschulbüchern, sodass es nicht verwundert, dass auch die Inhalte zum Judentum spärlich ausfallen. Allerdings äußert sich diese Schemenhaftigkeit mitunter in Exotisierungen und Auslagerungen des Judentums nach Israel (Sachse 2023b, S. 322; Stimac 2014, S. 56).Footnote 3 Gleichzeitig wird das Christentum in Ethikschulbüchern gegenüber anderen Religionen explizit oder implizit favorisiert. Eine ausdrückliche Priorisierung ist dabei bereits in Lehrplänen gegeben, wo das Christentum als die prägende Religion in der deutschen und europäischen Geschichte und Gegenwart hervorgehoben wird (Rösch 2012, S. 176).Footnote 4 Eine stillschweigende Präferenz für christliche Perspektiven kommt hingegen in den Schulbüchern zum Tragen, wenn beispielsweise die Bibel (ausschließlich) als ‚christliches‘ Buch dargestellt wird (Sachse 2023b, S. 333).

Andererseits konstatiert die Forschung zu Religions- bzw. Ethikschulbüchern generell einen Wandel hin zur Vermittlung eines lebendigeren Bildes vom Judentum und zu einer weniger stereotypen Darstellung (z. B. Vahrenhorst 2020). Das Bemühen der Bildungsmedienmacher:innen um vorurteilsärmere Schulbücher wird gewürdigt (Dihle 2023, S. 20; Willems 2019, S. 316; Kloke 2017; Blum 2011). Gerade neuere Religionsschulbücher beschäftigen sich sensibel mit dem Judentum (Sadowski 2023, S. 460), thematisieren Jesu jüdische Identität und Sozialisation ausführlich (Springborn 2023, S. 249; Sachse 2023a, S. 307), zeigen ein revidiertes Bild der Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern (Sachse 2023a, S. 280) und sind insbesondere in der gymnasialen Oberstufe ausgereift (Sadowski 2023, S. 445). Auch neue Ethikschulbücher diskutieren judentumsbezogene Aspekte differenzierter, manche verorten etwa das typischerweise als ‚christlich‘ dargestellte Gebot der Nächstenliebe (auch) im Judentum (Sachse 2023b, S. 226). Insgesamt können in aktuellen Schulbüchern „keine Anzeichen eines intendierten Antisemitismus“ (Sadowski 2023, S. 460) konstatiert werden, vielmehr handelt es sich um ‚verpasste Gelegenheiten‘ zu mehr Differenzierung, Authentizität und Lebensweltbezug (ebd.: S. 438).

3 Methodisches Vorgehen

Die Forschung hat sich der Darstellung des Judentums in Schulbüchern vornehmlich mittels qualitativer Inhaltsanalysen genähert. Die systematische Vorgehensweise sowie die Verwendung aufeinander aufbauender und theoriegeleitet entwickelter Kategoriensysteme hat dazu beigetragen, dass die (Nicht‑)Transformation der Juden(tums)bilder von verschiedenen Forschenden über die Jahrzehnte hinweg in Schulbüchern verfolgt und transparent gemacht werden konnte.Footnote 5 Gleichzeitig wird die breite Verwendung der qualitativen Inhaltsanalyse in der Bildungsmedienforschung schon länger kritisiert, beispielsweise von Thomas Höhne, der darin ein nicht ausreichend reflektiertes „Pendant“ (2003, S. 29) zur Ideologiekritik sieht.Footnote 6 Aufbauend auf die oben zusammengefassten Studien und gleichzeitig in theoretisch-methodischer Abgrenzung von ihnen entwickelt der vorliegende Beitrag für eine erste Auseinandersetzung mit der Fragestellung eine diskursanalytische Perspektive in Anlehnung an diskurshistorische und soziolinguistische Arbeiten von Ruth Wodak (2006, 2015). Gestützt auf die Kodiersoftware Maxqda gehen wir in einem Dreischritt vor, der eine induktive Kodierung, daraufhin die Verdichtung und Interpretation in einem iterativen Forschungsprozess vorsieht (Truschkat und Bormann 2020, S. 110ff.). Bei der Analyse konzentrieren wir uns nicht von vornherein auf bestimmte Motive wie den Kreuzestod Jesu oder seinen Disput mit den Pharisäern, wenngleich diese Motive zu Recht viel Aufmerksamkeit seitens der Forschung bekommen und als ‚neuralgisch‘ für die Darstellung des Judentums in christlich (geprägten) Bildungsmedien gelten (Spichal 2015; Rothgangel 1995; Kohler-Spiegel 1991; Fiedler 1980). Statt also ausgewählte, potenziell ‚problematische‘ Elemente zu fokussieren, untersuchen wir Argumentationsstrategien (Wodak 2015, S. 35), die über einzelne Vorurteile hinausreichen.Footnote 7 Da es sich um eine erste, exemplarische und explorative Annährung an den Gegenstand handelt, beschränken wir unsere Untersuchung in diesem Beitrag auf sechs Schulbücher für die Jahrgangsstufen 5/6 für gymnasiale und nichtgymnasiale Schulformen in Niedersachsen.Footnote 8

4 Strategien der Verhältnisbestimmung. Ergebnisse der Analyse

Im Folgenden kartieren wir einige der Strategien, die in den Schulbüchern bei Konstruktionen des Verhältnisses Christentum–Judentum sichtbar werden. Wir argumentieren, dass die Relation dabei oftmals als ein Nebeneinander dargestellt wird bzw. Gemeinsamkeiten allein auf einer deskriptiven Ebene behandelt werden. Ferner lagern Schulbücher die Auseinandersetzung mit ‚schwierigen Fragen‘ der Differenz zwischen Christentum und Judentum in den Schulunterricht aus, und schließlich werden standortgebundene (christliche) Positionen oftmals unreflektiert verallgemeinert. Insgesamt bleibt das Verhältnis Christentum–Judentum in den sechs untersuchten Schulbüchern ‚unscharf‘. Diese ‚Unschärfe‘ ist aber nicht folgenlos, wenn sie einen Diskursraum eröffnet, in dem tradierte, abwertende Abgrenzungsmuster anklingen können.

4.1 Andeutung und Skizzierung

Häufig deuten die analysierten Schulbücher eine Verbindung zwischen Christentum und Judentum an. Religionsschulbücher markieren das chronologische bzw. genealogische Verhältnis Christentum–Judentum im Aufbau des Buches bzw. im Inhaltsverzeichnis durch aufeinanderfolgende Kapitel und miteinander verschränkte Inhalte. KATH RS beispielsweise stellt zunächst das Judentum vor (Kapitel „‚Wie lieb ist mir deine Weisung‘ (Ps 119) – Leben mit der Tora“, 83–104) und behandelt im Anschluss die jüdische Identität Jesu (Kapitel „Was ist das für ein Mensch? Der Jude Jesus von Nazareth“, 105–124). In EVANG RS folgen die Kapitel „Mose“, „David“ und „Jesus“ aufeinander (116–161), im Kapitel „Mose“ findet sich auch ein Exkurs zur jüdischen Religionspraxis („Passafest und Sederabend“, 122–123). So setzt sich ein Bild zusammen, in dem die Ursprünge des Christentums im Judentum bzw. eine Nähe der Religionen zueinander markiert werden. Auch dienen Querverweise in den Marginalien dazu, auf die jeweils andere Religion aufmerksam zu machen bzw. eine Relation der beiden zu signalisieren, ohne dass diese jedoch weiter expliziert wird (z. B. verweist KATH RS am Rande eines Abschnitts zu den vier Evangelien auf weitere Schulbuchseiten, in denen Schüler:innen sich „[ü]ber die Heilige Schrift des Judentums […] informieren [können]“, 73).

In den Schulbüchern für Werte und Normen kommen religiöse Inhalte erwartungsgemäß seltener vor, doch den Lehrplänen entsprechend gibt es in diesen Büchern Kapitel zu den ‚Weltreligionen‘, die auch Judentum, Christentum und Islam vorstellen („Religiöses Leben kennenlernen“ in WuN RS, 149–168; „Religionen und Weltanschauungen“ in WuN GYM, 144–177). Die Parallelität der Darstellungen, das Hervorheben gemeinsamer Figuren (Abraham) sowie die Verwendung von Begriffen wie ‚abrahamitisch‘ weisen auf ein ‚Verwandtschaftsverhältnis‘ hin. In WuN RS heißt es schlicht: „Abraham wird von Juden, Christen und Muslimen als Stammvater ihres Volkes und Vorbild ihres Glaubens angesehen“ (152). Die Relation wird nicht weiter elaboriert, vielmehr bleibt es auch hier beim Nebeneinander bzw. beim simplen Erwähnen einer Verbindung.

Gleichzeitig erwecken alle untersuchten Schulbücher den Eindruck einer starken Fokussierung auf Gemeinsamkeiten. Diese äußert sich meist in religionskundlicher, additiver Wissensvermittlung (z. B. geben Schulbücher Informationen über die jeweiligen rituellen Praxen und heben Ähnlichkeiten hervor). Typischerweise fordern auch die dazugehörigen Arbeitsaufträge die Lernenden auf, Gemeinsamkeiten und (selten) Unterschiede zwischen den Religionen zu benennen. Dies geschieht auf einer phänomenologischen Ebene, die tiefer gehende Frage nach inhaltlichen Differenzlinien wird nicht gestellt. Da es sich zudem meistens um die drei monotheistischen Religionen einschließlich des Islam handelt, gerät das Spezifikum der Beziehung zwischen Judentum und Christentum in den Hintergrund.

Bisweilen nehmen Schulbücher aber auch minimalistische Verhältnisbestimmungen in einem Satz vor. Manchmal ist diese kurze Skizzierung einer Relation fehlerhaft, manchmal aber ist sie informativ und pointiert. Letzteres ist zum Beispiel in KATH GYM der Fall, wo der Einstieg in das Kapitel „Religionen begegnen“ folgenden Satz enthält: „Im Judentum gilt er [Abraham] als Ursprung des Volkes Israel, im Christentum als Vorbild und Vater des Glaubens, der Islam begreift ihn als ersten Muslim“ (156). Hier werden also auch die differenten Perspektiven auf das Gemeinsame benannt. Zwar verspricht das Buch zusätzlich, dass Schüler:innen „der Frage nach[gehen werden], wie es dazu kam, dass Abraham für diese drei Religionen bedeutsam ist“ (ebd.), allerdings wird dieses Versprechen kaum eingelöst. Leser:innen erfahren vor allem, ‚dass‘ es Verbindungen und auch Differenzen gibt, weniger aber, ‚wie‘ diese zustande gekommen sind bzw. entlang welcher Trennlinien sie verlaufen.

Auch Schulbücher für Werte und Normen verdeutlichen mitunter in knappen Glossareinträgen und/oder in Visualisierungen eine Verbindung, so etwa WuN RS. Hier dominiert im Kapitel „Religiöses Leben kennenlernen“ (149–168) der Eindruck eines Nebeneinanders der drei abrahamitischen Religionen, punktuell skizziert das Buch aber auch, worin das ‚Verwandtschaftsverhältnis‘ der drei besteht. Ein Beispiel aus dem Verfasser:innen-Text: „Auf ihn [Abraham] geht der Glaube an den einen Gott zurück. In den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam wird er deshalb auch als Stammvater bezeichnet“ (164). Die Genealogie zwischen den drei Religionen findet sich dann in einer Visualisierung ohne Bildunterschrift wieder (ebd.). Es handelt sich um die Zeichnung eines Baumes, auf dessen Stamm der Name „Abraham“ zu lesen ist. Aus diesem Stamm zweigen sich zwei dicke Äste ab: Der eine Ast ist mit den Begriffen „Ismaeliten“, weiter oben „Muhammad“ und dann auf der Blätterkrone „Muslime“ versehen; auf dem anderen Zweig stehen die Begriffe „Israeliten“, weiter oben „Juden“ und dann „Jesus Christus“, wo sich der Zweig dann noch einmal in „Christen“ und „Juden“ aufteilt.Footnote 9 Eine Erklärung ist auf der darauffolgenden Seite zu finden: „[D]er Glaube Abrahams an einen Gott [steht] am Anfang der Geschichte des Judentums, das bis heute an einem Gott festhält. Später ging aus dem Judentum das Christentum hervor. 600 Jahre später entstand der Islam“ (165).

4.2 Vermeidung und Auslagerung

In allen untersuchten Schulbüchern fällt ferner auf, dass Verfasser:innen-Texte wie oben angeführt Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum (und Islam) auf einer religionskundlichen Ebene erwähnen, während allerdings tiefer gehende Differenzaushandlungen theologischer Natur bzw. eine nähere Bestimmung des Verhältnisses systematisch in den Unterricht bzw. in die Arbeitsaufträge ausgelagert werden. Dies kann als eine produktionspragmatisch bedingte, platzsparende ‚Verschiebung‘ bestimmter Inhalte von der Schulbuch-Doppelseite in die Unterrichtsstunde interpretiert werden, möglicherweise ist es aber auch ein Vermeiden der Auseinandersetzung mit schwierigen Fragen des christlich-jüdischen Verhältnisses.Footnote 10 Es lassen sich hieraus jedenfalls keine Schlussfolgerungen dahingehend ziehen, wie diese Arbeitsaufträge im Unterricht wirken, denn Studien zur Produktion und Aneignung von Schulbüchern zeigen zum Beispiel, dass ein Bildungsmedium in vielfältiger und unerwarteter Weise im Unterricht aufgenommen werden bzw. ein in die Arbeitsaufträge ‚ausgelagerter‘ Aspekt zu reflektierter Auseinandersetzung einladen kann (Macgilchrist et al. 2017; Macgilchrist 2020).

Die ‚Auslagerung‘ ist in den Schulbüchern indes unübersehbar. So lauten Arbeitsaufträge in den Religionsschulbüchern wie folgt: „Überlegt, weshalb dieses jüdische Fest [Pessach] hier im Kapitel Mose vorgestellt wird.“ (EVANG RS: 122); „Kann Jesus zwei Väter haben: Gott und Josef?“ (EVANG GYM: 86); „Begründet, warum es zwischen Jesus und den genannten Gruppen [u. a. Pharisäern] zum Streit kommt.“ (EVANG GYM: 81); „Setze dich damit auseinander, welche Bedeutung der jüdische Glauben in seinem [Paulus’] Leben hatte.“ (KATH RS: 151). Auch in den Schulbüchern für Werte und Normen gibt es derartige ‚Auslagerungen‘. WuN RS beispielsweise ist in den Verfasser:innen-Texten und Quellen in Bezug auf die Verhältnisbestimmung rudimentär, enthält aber anspruchsvolle Arbeitsaufträge, etwa: „Führt ein philosophisches Gespräch zu der Frage, ‚Glauben Juden, Christen und Muslime an den selben Gott?‘ durch.“ (168).

Eine folgenreiche Variante dieser Vermeidungs- und/oder Auslagerungsstrategie findet sich in KATH GYM auf den S. 88–89, wo es um die Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern geht. Hier zeigen sich in beispielhafter Weise die ‚Uneindeutigkeiten‘, die in der Einleitung hervorgehoben wurden, aber auch das Potenzial von abwertender Abgrenzung des christlichen Selbstbildes vom jüdischen Fremdbild, die sich dahinter verbergen kann. Interessanterweise erfolgt also trotz der Vermeidung eine Verhältnisbestimmung, allerdings bleibt diese wenig greifbar.

Die Doppelseite wird (wie das ganze Kapitel „Jesus auf der Spur“, 78–95) aus der Ich-Perspektive verschiedener Figuren erzählt, die der Bibel entlehnt sind. So berichten unter anderen „Jakobus, ein Verwandter des Jesus aus Nazareth“ (80), „Bartimäus, ein blinder Bettler“ (86), „[e]ine Frau aus Syrien“ (90) und auch „Jonadab, ein Pharisäer“ (88) über ihre Begegnungen mit Jesus. Den narrativen Höhepunkt im sonst zwischen neugierig und skeptisch changierenden Bericht des Pharisäers bildet die Aussage „Wir Pharisäer haben uns sogleich vor der Synagoge getroffen und beraten, was zu tun sei. Unser Beschluss war eindeutig: Im Namen der Partei der Gesetzestreuen – dieser Jesus muss verschwinden, und zwar endgültig“ (88).

„Jonadabs“ Erzählung endet im Schulbuch abrupt mit diesem Satz, der den entsprechenden Vers aus dem Markus-Evangelium in abmildernder Form paraphrasiert.Footnote 11 Angesichts des drastischen Gehalts des Bibelverses und dessen antijudaistischer Rezeptionsgeschichte wäre Dekonstruktion bzw. Kontextualisierung durch das Zitieren aus der theologischen Debatte hilfreich gewesen, damit Lernende den Text des Evangeliums differenziert einordnen können. Doch das Schulbuch beschränkt sich hier darauf, das Evangelium nachzuerzählen, und überlässt es der Lehrkraft und der Lerngruppe, sich damit näher zu befassen. Es ‚lagert‘ die Auseinandersetzung also zweifach ‚aus‘: in das Bibelzitat und in den Unterricht.

Einer der dazugehörigen Arbeitsaufträge trägt die Überschrift „Einen Standpunkt einnehmen“ und fordert Schüler:innen auf, die jeweiligen Argumente Jesu und der Pharisäer unter anderem im Disput um den Schabbat (Mk 2, 27) zusammenzufassen: „Was kritisiert der Pharisäer an Jesus? Und was Jesus an dem Pharisäer?“. Daraufhin sollen Schüler:innen „in der Gruppe [erörtern], wer recht hat“ (88). Dieser Arbeitsauftrag zeichnet sich durch die multiperspektivische Rahmung aus, sowie dadurch, dass er diskursive ‚Augenhöhe‘ zwischen Jesus und „Jonadab“ konstruiert. Beide „kritisieren“ die Argumente des jeweils anderen, was auf gleichberechtigte Positionen in der Debatte schließen lässt. Gleichzeitig aber ist die favorisierte Perspektive im Laufe des Jesuskapitels gefestigt und schließlich wird Jesus im gesamten Schulbuch gewürdigt, während auf die Pharisäer kaum eingegangen wird. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass Lernende dem Pharisäer „recht“ geben, was die Multiperspektivität und das egalisierende Moment im Arbeitsauftrag wiederum unterminiert.

Ein weiterer Arbeitsauftrag evoziert den Kern der theologischen Auseinandersetzung zwischen Jesus und dem Pharisäer. Im Haupttext echauffiert sich der Pharisäer über die Heilung des Mannes mit der verkrüppelten Hand in der Synagoge am Schabbat (Mk 3, 1–6). „Jonadab“ sagt im Schulbuch: „das schlug dem Fass den Boden aus […]. Es war ja Sabbat und das Gesetz verbietet es, am Sabbat zu arbeiten. Das heißt aber auch, dass es strengstens untersagt ist, einen Menschen zu heilen, wenn dieser nicht in äußerster Lebensgefahr schwebt“ (88). Der Pharisäer gibt somit seinen Standpunkt zum Besten, dass die religionsgesetzlich gestattete Entheiligung des Schabbat zum Zweck der Lebensrettung in diesem Falle nicht greift und dass die von Jesus vollzogene Heilung unter das Arbeitsverbot fällt. Wie im Markus-Evangelium verweist Jesus im Schulbuch jedoch darauf, dass er seine Handlung sehr wohl als Erhaltung von Leben versteht.Footnote 12 Im weiteren Text der Schulbuchverfasser:innen wird hierauf nicht weiter eingegangen, dafür aber legt der dazugehörige Arbeitsauftrag unter dem Stichwort „Gesetz und Sabbat“ den Schüler:innen nahe, sich in einem anderen Schulbuchkapitel, „Religionen begegnen“, zu informieren, wenn sie „[n]äheres über die Tora, das Gesetz der Juden, und den Sabbat erfahren“ wollen.Footnote 13 Dadurch wiederum konstruiert das Schulbuch eine (verkürzte) Gleichsetzung zwischen „Jonadab“/‚den Pharisäern‘ und ‚dem Judentum‘ über das Motiv ‚Schabbat‘. Dies birgt Anschlusspotenzial für eine Lesart, bei der ein abwertender Blick auf die Position „Jonadabs“ auf ‚das Judentum‘ als Ganzes abfärben kann.

Der im Bericht des Pharisäers berührte theologisch-moralische Konflikt zwischen Jesus und den Schriftgelehrten um das Verhältnis zwischen Mensch und Schabbat kann auf der Grundlage der begrenzten Informationen im Schulbuch nicht bearbeitet werden – und es stellt sich die Frage, ob dieser Gegenstand überhaupt von Fünf- und Sechstklässler:innen adäquat erfasst und erörtert werden kann. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass das Schulbuch, hier in der Erzählung „Jonadabs“ im Verfasser:innen-Text, einen Gegensatz zwischen der Position Jesu und jener des Pharisäers bei gleichzeitiger Vermeidung eindeutig abwertender Schärfen konstruiert. Durch Jesu Wort „Was ist am Sabbat erlaubt: Gutes zu tun oder Böses […]?“ gerät die Position des Letzteren aber bereits ins moralische Hintertreffen.Footnote 14 Eine Vermittlung zwischen den Positionen (wie sie durch den ersten Arbeitsauftrag vielleicht erfolgen könnte) steht im Text nicht im Mittelpunkt, sondern die Herausstellung von Jesu Lehre als dynamische, ‚revolutionäre‘ Auslegung des Gesetzes auf Kosten der ‚starren‘ Auslegung des Pharisäers, bei gleichzeitiger ‚Vermeidung‘ antijudaistischer Deutungstraditionen. Hier zeigt sich nicht nur die „ambivalente Beziehung“ (Holz und Haury 2021, S. 261) des Christentums zum Judentum, der innere Widerspruch, dass „[d]as Christentum […] auf dem Judentum [beruht]“ und sich gleichzeitig „vom Judentum ab[stößt]“ (ebd.: S. 260), um „mit sich identisch zu werden“ (ebd.: S. 261). Sondern der Versuch des Schulbuchs, die Position „Jonadabs“ zunächst gleichberechtigt darzustellen, lässt sich dahingehend interpretieren, dass um eine Distanzierung von der ‚Gefahr‘ des Antijudaismus gerungen wird. Die insgesamt doch traditionelle christliche Lesart überrascht in einem Religionsschulbuch schließlich nicht, hier zeigt sich eine – theologisch verständliche – christliche Konstruktion von Differenz gegenüber der jüdischen Religion. Und dennoch wird hier nicht nur eine Chance vertan, die auch unter Rabbinen und späteren halachischen Autoritäten umstrittene Frage von ärztlicher Tätigkeit und Lebensrettung am Schabbat, also eine – nicht von vornherein starre – jüdische Position aufzuzeigen (mYom 8,6; bYom 85b). Vielmehr hypertrophiert das Schulbuch gewissermaßen den Gegensatz durch die Formulierung im Arbeitsauftrag („Näheres über die Tora, das Gesetz der Juden“ – Herv. d. Verf. – zu erfahren) und auch durch die Begrenztheit der Informationen hierzu im Kapitel „Religionen begegnen“. Dies trägt dazu bei, dass eine bestimmte jüdische Auslegungstradition (‚Pharisäer‘) schließlich auf ‚die Juden‘ insgesamt übertragen wird.Footnote 15

4.3 Universalisierung und christliche Perspektivierung

In allen untersuchten Büchern fällt eine Tendenz zur Universalisierung von Partikularem auf. Dabei gehen religiöse Inhalte, die im Judentum auf spezifische Art und Weise interpretiert werden, im ‚Allgemeingültigen‘ auf. So ‚verliert‘ Abraham sowohl in den Religions- als auch in den Werte-und-Normen-Schulbüchern das partikular Jüdische zugunsten der (beinahe ausschließlichen) Darstellung als ‚Stammvater‘ der drei monotheistischen Religionen oder als mythologische Figur mit allgemeiner Strahlkraft. Zwar erwähnen die Schulbücher den jüdischen Ursprung der Erzählung über Abraham sowie ihre historische und geografische Situierung, aber die Interpretationen dieser Figur zielen eindeutig auf das Allgemeingültige und Verbindende in den drei Religionen. Schulbücher ziehen zudem gelegentlich einen Bogen von Abraham zu den individuellen Schüler:innen heute („Vergleiche deine Gedanken und Erinnerungen an deine letzte Reise mit der Reise Abrahams“, KATH RS: 43) oder zu ‚Menschen‘ allgemein („Diskutiert, ob die Erzählung von Abraham Menschen mit Wüstenerfahrungen Hoffnung geben kann“, ebd.).

Ähnlich werden Spezifika des christlichen Messias-Verständnisses universalisiert und auf das Judentum übertragen, etwa im Glossareintrag „Messias“ in KATH RS. Hier heißt es nach einigen knappen Erklärungen zur Etymologie des Wortes und zur historischen Herkunft des Konzeptes: „Jüdinnen und Juden hoffen, dass die Welt eines Tages von ihrer vielfältigen Zerrissenheit befreit und voller Gerechtigkeit und Frieden sein wird. Diese Hoffnung gibt es in den unterschiedlichen religiösen Strömungen des Judentums sowohl mit einer Messiaserwartung als auch ohne eine Messiaserwartung“ (244). Die Hoffnung auf ein Ende der Zerrissenheit der Welt, auf Gerechtigkeit und Frieden dürfte dabei für die meisten Religionen gelten, es führt aber an der Spezifik der traditionellen jüdischen Messias- bzw. Erlösungsvorstellung vorbei, wie sie sich etwa im Achtzehngebet („Schmone-Esre“) ausdrückt und vor allem nach Maimonides’ Lehre darstellt. Neben universalen Aspekten betont diese Messiaskonzeption doch auch stark partikulare Elemente, wie die Wiedererrichtung des Tempels, die Wiedereinführung des Opferkults, die Wiederherstellung des davidischen Königreiches, die Wiedereinsetzung der Richter etc. (Scholem 1970). Diese spezifisch ‚nationalen‘ Charakteristika wurden durch die Haskala und später die Reformbewegung gewissermaßen ‚entschärft‘ und immer stärker ins Universale transformiert. Es fällt dennoch auf, dass sie in fast allen untersuchten Schulbüchern – eine gewisse Ausnahme bildet KATH GYMFootnote 16 – unerwähnt bleiben, und hier nur die an christliche Vorstellungen anschlussfähigen Elemente, wie eben Gerechtigkeit und Frieden, Erwähnung finden.

Viel häufiger findet zudem in allen untersuchten Schulbüchern eine unreflektierte und nicht kontextualisierte christliche Perspektivierung statt. Dabei geht es nicht darum, dass die Erzählstimme in den Religionsschulbüchern oftmals christlich positioniert ist und die anderen Religionen wörtlich als „die anderen“ vorgestellt werden (z. B. „Du kannst an Beispielen aufzeigen, wie Menschen einer anderen Religion ihren Glauben leben“, EVANG GYM: 49, Herv. d. Verf.). Es geht auch nicht darum, dass die Lernenden auch als Christ:innen adressiert werden („[Die Muslima] Melis und [der Jude] Daniel haben uns von den wichtigsten Menschen ihrer Religion erzählt. Was könntest du den beiden über Jesus erzählen?“, KATH GYM: 159, Herv. d. Verf.). Schließlich überrascht beides nicht, handelt es sich doch um einen konfessionellen Religionsunterricht, bei dem auch stets „Beheimatung, Verankerung, Vertiefung, Identitätsbildung in der je eigenen Religion“ (Kubik-Boltres 2022, S. 306) verfolgt werden.Footnote 17 Vielmehr erfolgt in allen untersuchten Büchern die Wiedergabe religiöser Inhalte, die dem Judentum und Christentum gemeinsam sind, aus einer christlichen Perspektive, ohne dass dies transparent gemacht wird (quasi als ‚Selbstverständlichkeit‘).

Ein in den Bildungsmedien allgegenwärtiges Beispiel ist die gleichsam automatische Einordnung religiöser Inhalte des Judentums in das ‚Alte Testament‘. Auch wenn dies aus christlicher Perspektive ‚selbstverständlich‘ erscheinen mag, ist es für das Bild des Judentums folgenreich und es fällt auf, dass es weder reflektiert noch als standortgebundene, christliche Perspektive transparent gemacht wird. Ein Beispiel findet sich im Eintrag „Bibel“ im Glossar des Schulbuchs KATH RS:

„Die Bibel ist das heilige Buch der Christinnen und Christen. Das Wort ‚Bibel‘ stammt vom griechischen Wort biblion (= Buch). [..] Da die Bibel aus vielen einzelnen Büchern besteht, wird sie auch das ‚Buch der Bücher‘ genannt. Sie besteht aus zwei großen Teilen, dem Alten Testament (AT) und dem Neuen Testament (NT).“ (242)

In diesem Beispiel fällt auf, dass unkommentiert an ein gesellschaftlich verfügbares Wissen und mehrheitliches (christlich geprägtes) Selbstverständnis angeknüpft wird, wobei jüdische Perspektiven auf ‚die Bibel‘ bzw. der Ursprung ‚der Bibel‘ im Judentum verschwiegen werden. Auch die Schulbuchseite mit der Überschrift „Die Bibel wie ein Regenbogen“ in KATH RS (78) sticht diesbezüglich hervor. Hier ist die Illustration eines Regenbogens zu sehen, der mit Bibelversen verziert ist. Der Bogen geht von Gen 1, 28–31 über Passagen aus Exodus und Markus bis hin zur Offenbarung 21, 1–4, was eine allein dem Christentum zuordenbare ‚Abrundung‘ des Ersten durch das Zweite Testament suggeriert und verallgemeinert.

Interessanterweise nehmen nicht nur die Religionsschulbücher, sondern auch jene für Werte und Normen christliche Perspektivierungen vor. Die Lehrwerke geben etwa Religionsinhalte, die dem Judentum und dem Christentum gemeinsam sind, stillschweigend aus einer bestimmten Perspektive wieder, die nicht weiter präzisiert wird. Somit wird diese Perspektive als ‚die selbstverständliche‘, ‚naheliegende‘ Lesart konstruiert. Die Schulbücher explizieren dabei nicht einmal, dass es sich um religiöse Inhalte handelt, sondern die religiösen Inhalte werden insgesamt als Bestandteil der ‚eigenen Kultur‘ aufgegriffen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn im Kontext eines Kapitels zum Thema Naturschutz eine nicht weiter kontextualisierte Illustration des Gartens Eden erscheint (WuN GYM: 66) oder wenn in einer Unterhaltung zwischen Jugendlichen jemand feststellt: „Aber dann dürfen wir auch eine Regel wie ‚Du sollst nicht stehlen‘ nicht brechen“ (ebd.: S. 35). Es ist davon auszugehen, dass der Garten Eden und das Diebstahlsverbot Lernenden bekannt sind, das Schulbuch also hier an vorhandenes Allgemeinwissen anknüpft. Gleichzeitig greift es die Chance nicht auf, transparenter zu werden. So diffundiert Jüdisches und Christliches insgesamt in ‚Kulturelles‘ – und es ist davon auszugehen, dass hier eben die christliche (und nicht die jüdische) Perspektive für das ‚Kulturelle‘ prägend ist. Wenn in den Lehrplänen wie oben erwähnt das Christentum als eine der „Grundlagen“ des Unterrichts fungiert und „christlich-abendländische Traditionen“ explizit priorisiert werden, dann wäre es doch notwendig, dies auch im Schulbuch erkennbar zu machen, wollte man Lernenden die Perspektivität des Schulbuchs und die Situiertheit der eigenen ‚Kultur‘ deutlicher machen. Glossareinträge wie die folgenden verstärken aber vielmehr den Eindruck einer ‚christlichen Vereinnahmung‘ in einem Fach, das sich als religiös neutral versteht: „Die Bibel ist die Heilige Schrift der Christen. Sie enthält im Alten Testament auch die Heiligen Schriften der Juden“ (WuN RS: 140); oder auch: „Die Bibel ist die Heilige Schrift der Christen und der Juden. Bei den Christen beinhaltet die Bibel das Alte und das Neue Testament, im Judentum besteht die Bibel nur aus dem Alten Testament“ (ebd.: S. 190).

5 Schluss

Dieser Beitrag hat sich mit der Frage befasst, wie das Verhältnis Christentum–Judentum in sechs aktuellen Schulbüchern für den Religions- und den Werte-und-Normen-Unterricht konstruiert wird. Er hat gezeigt, dass die Verhältnisbestimmung durch Andeutung, Skizzierung, Vermeidung/Auslagerung, Universalisierung und christliche Perspektivierung erfolgt. Dies sollte nicht exhaustiv gelesen werden: In den Schulbüchern sind freilich auch andere Argumentationsstrategien zu finden, deren Analyse den Rahmen eines Journalbeitrags sprengen würde, denen wir uns aber im Lauf unserer weiteren Forschung widmen. Auch haben wir hier gezielt Strategien ausgewählt und besprochen, die in allen Schulbüchern, ungeachtet des Fachs, vorkommen, um einen ersten Vergleich zu versuchen.

Als zentralen Befund stellen wir ‚Uneindeutigkeiten‘ und ‚Unausgesprochenes‘ in den Konstruktionen der Relation Christentum–Judentum fest. Diese sind diskurstheoretisch betrachtet folgenreich, auch wenn sich kausale Schlüsse weder auf Intentionen der Produzent:innen noch auf die Wirkung in der Schulklasse ziehen lassen (Höhne 2003, S. 24; Chiriac 2024, S. 38). Gerade Produktion und Aneignung des Schulbuchs wären jedoch als weitere Desiderate zu untersuchen.

Insgesamt lässt sich auf Grundlage der Befunde festhalten, dass die Schulbücher keine scharfe Dichotomie Christentum/Judentum zeichnen, sondern zunächst eindeutig Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Religionen herausstellen. Die Trennlinien zwischen Christentum und Judentum bleiben gleichzeitig ‚unscharf‘ und changieren zwischen (oftmals ungeklärter) ‚Verwandtschaft‘ und (gelegentlicher, nicht ausbuchstabierter) Abgrenzung.

Insbesondere wenn Schulbücher die Verhältnisbestimmung andeuten oder skizzieren, und dabei auf einer deskriptiven Ebene bleiben, entsteht das Bild lose gekoppelter, chronologisch aufeinanderfolgender, genealogisch verknüpfter oder einfach nur ähnlicher Religionen. Verloren geht dabei die Gelegenheit, tiefer gehende Fragen nach Differenzkonstruktion zumindest zu streifen. Es stellt sich die – hier nicht zu beantwortende Frage –, welche Funktion(en) das Bild eines „entkoffeinierten Anderen“ (Zizek 2010) bei der Bestimmung von Selbst- und Fremdbildern erfüllt.

Die Strategie des Findens ‚gemeinsamer Nenner‘ bei weitestgehender Ausblendung von Differenz ist möglicherweise auch der Elementarisierung geschuldet, richten sich die analysierten Schulbücher doch an junge Lernende in der 5. und 6. Klasse. Wie bereits oben im Forschungsstand erwähnt, sind die Bücher der gymnasialen Oberstufe differenzierter, allerdings besucht nur ein Teil der Schüler:innen die gymnasiale Oberstufe. Jedenfalls steht fest, dass Bildungsmedien ihre Zielgruppe nicht überfordern dürfen. Zudem ist, wie Friedrich Schweitzer hervorhebt, eine „kleinteilige Vermittlung von Theologie“ (2003, S. 11) und ihrer Komplexität in der Schule und insbesondere bei jungen Lernenden weder möglich noch sinnvoll. Allerdings sollte Elementarisierung auch nicht davon abhalten, „existenziell bedeutsame Wahrheitsfragen im Dialog zwischen Kindern und Jugendlichen einerseits […] und […] Erwachsenen andererseits“ (ebd.: S. 13) im Unterricht aufzugreifen, zumal die Wahrheitsfragen in der Öffentlichkeit nicht nur gestellt, sondern auch instrumentalisiert werden.

Letzteres findet sich gewissermaßen in der Strategie der Vermeidung/Auslagerung wieder. Hier adressieren Schulbücher die Frage der Differenz zwischen Christentum und Judentum konsequent nicht in den Haupttexten und nur sehr selten in Quellentexten, laden aber Schüler:innen auffällig häufig in Arbeitsaufträgen auf, sich damit zu befassen. Somit wird die Auseinandersetzung aus dem Schulbuch in den Unterricht ausgelagert. Gerade in den Religionsschulbüchern, in denen das Judentum insgesamt sehr präsent ist, fällt das Auslagern der Auseinandersetzung mit Differenz besonders auf. Die Vermeidung von Differenzkonstruktion bleibt aber in den Schulbüchern nicht folgenlos, eröffnet sie doch einen Raum, in dem gegenüber dem Judentum abwertende Diskursbestandteile verfügbar sind und aufgegriffen werden können, wie am Beispiel des „Jonadab“-Berichts gezeigt.

Die Strategien der Universalisierung und christlichen Perspektivierung schließlich tragen dazu bei, dass das Partikulare, Jüdische in ‚Allgemeingültigem‘ aufgelöst und unsichtbar gemacht wird bzw. (stark ausgedrückt) eine Vereinnahmung des Judentums durch das Christentum (meist unbemerkt) erfolgt. Besonders auffällig ist dies im Fach Werte und Normen, wo man idealtypisch nur transparent gemachte religiöse Positionen erwarten würde. Stattdessen übernehmen (auch) diese Bücher christliche Positionen, ohne die Positionalität diesbezüglich zu reflektieren. So kommt es dazu, dass religiöse Inhalte, die auch dem Judentum gehören, konsequent aus christlichem Blickwinkel (Stichwort ‚Altes Testament‘) betrachtet werden.

Zwar scheint Hailers Anregung „[d] as Verbindende […] zu betonen und zweiwertige Logiken […] abzuwählen“ (2020, S. 98) insgesamt in Schulbüchern angekommen zu sein, eine „angemessene“ (Rothgangel 2002, S. 85) Verhältnisbestimmung ist aber damit nicht erreicht. Vielmehr eröffnen Leerstellen die Möglichkeiten der Konstruktion von Abwertung auf einer ‚impliziten‘ Ebene. Natürlich darf von Schulbüchern nicht erwartet werden, dass sie auf dem knappen Raum einer Doppelseite Antworten liefern, die in wissenschaftlichen Debatten nicht geklärt sind (Kubik-Boltres 2022). Trotzdem ist es in Schule und Bildungsmedien ein erstrebenswertes Ziel, Lernenden zu ermöglichen, die „verborgenen Logiken“ (Christophe 2009, S. 2) hinter bestimmten Positionen zu verstehen bzw. „Ambiguitätstoleranz […] in der Auseinandersetzung über strittige Themen“ (Rösch 2012, S. 178) zu erwerben. Das Judentum ist in den Schulbüchern in diesem Sinne zwar nicht (mehr) der absolute Andere, die Bezugnahme darauf erfolgt aber an vielen Stellen in den Worten von Martin Rothgangel „unbewußt und unreflektiert“ (2002, S. 86), was die „erhöhte Gefahr“ (ebd.) eines unbemerkten Fortwirkens alter Muster birgt.