Zusammenfassung
Der Beitrag bietet einen Überblick über die wichtigsten Ansätze zur Definition von Religion. Zunächst diskutiert er, inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, sich um eine Religionsdefinition zu bemühen und welche Argumente dagegen und welche dafür sprechen (2.). Sodann setzt er sich kritisch mit gebräuchlichen Methoden der Bestimmung des Religionsbegriffs auseinander (3.). Diese werden zunächst in gegenstandsspezifische (3.1.) und kontextuale Religionsdefinitionen (3.2.) unterteilt. Nach einer Diskussion von Vermittlungsversuchen zwischen den beiden definitionstechnischen Grundtypen (3.3.) beschäftigt sich der Beitrag mit dekonstruktivistischen Ansätzen (3.4.). Den Abschluss bildet ein kurzes Fazit, das einige zentrale Einsichten des Durchgangs durch die Literatur festzuhalten versucht (4.).
Abstract
This essay provides an overview to the most important approaches to the definition of religion. First it discusses if it would generally make sense to seek a definition of religion and which aspects are in favor and against it (2.). Thereafter it deals critically with the common methods to define the term of religion (3.). First they will be subdivided into object-specific (3.1.) and contextual definitions of religion (3.2.). After debating mediation attempts between the two basic techniques of definition (3.3.) the essay deals with deconstructionist theories (3.4.). It finishes with a short final summary which tries to bring out some central conclusions drawing from the literature (4.).
Notes
Das religiöse Selbstverständnis zum Maßstab dessen zu machen, was analytisch unter Religion zu verstehen ist, wirft ein doppeltes Problem auf. Es müssen dann nicht nur Phänomene als religiös behandelt werden, die von Religion deutlich unterschieden sind, etwa die Begeisterung für Fußball, Erfolg oder Geld, vielmehr muss dann auch religiösen Phänomenen wie etwa dem Freidenkertum oder der Naturmystik, die von den Akteuren vielfach nicht religiös gedeutet werden, der Religionsstatus abgesprochen werden. Die Begeisterung für Fußball zum Beispiel lässt sich aber von religiösen Vorstellungen und Praktiken durchaus unterscheiden, da es sich beim Gegenstand der Begeisterung nicht um etwas Transzendentes handelt, während es umgekehrt durchaus sinnvoll sein kann, die Vorstellungen, Weltdeutungen und Praktiken etwa von Freidenkern als religiöse zu interpretieren, obschon sie diese vielleicht als wissenschaftliche verstanden wissen wollen.
Das Konzept der Selbsttranszendenz wird von Hans Joas (2004, S. 43) vertreten. Allerdings weist Joas darauf hin, dass die Erfahrung des Ergriffenwerdens und des Sich-Hingebens, wie sie sich im Falle der Selbsttranszendenz einstellt, der Auslegung bedarf, um Eindeutigkeit zu gewinnen. In dieser greift der Mensch auf kulturelle Deutungsvorräte und Traditionen zurück, und es mag sein, dass dadurch Erlebnisse der Selbsttranszendenz als religiöse erkennbar werden. Zum Verhältnis von religiösem Erlebnis und religiöser Erfahrung vgl. Krech (1998, S. 478).
Zudem produziert der von Huber entwickelte Zentralitätsindex Artefakte. Da in ihn alle Dimensionen des Religiösen eingehen, auch solche, die vielleicht gar nicht zentral für die individuelle Religiosität sind, führt die über den Zentralitätsindex vorgenommene Messung zu einer Überschätzung des Religiositätsniveaus der Befragten. So sind im Religionsmonitor 2008 nach Hubers Zentralitätsindex 78 % der Westdeutschen als religiös oder hochreligiös einzuordnen. Derselben Untersuchung zufolge verstehen sich selbst allerdings nur 18 % der Westdeutschen als „ziemlich“ oder „sehr religiös“, während sich 40 % als „wenig“ oder „nicht religiös“ definieren (Müller und Pollack 2009, S. 415). Der Rest ist unentschieden oder besetzt eine Mittelposition.
Die drei hier identifizierten Dimensionen des Religiösen sind empirisch gut erfassbar, was die Dimensionsforschung zu einem häufig und erfolgreich gebrauchten Instrument der quantitativ arbeitenden Religionsforschung macht. Die Identifikationsdimension geht von der Frage aus, wer sich überhaupt zu einer religiösen Gruppe oder Organisation zählt und mit einer Religion oder Konfession identifiziert. Indikatoren für ihre Messung stellen Kirchenmitgliedschaft, Selbstzuschreibungen von religiösen Zugehörigkeiten, Kircheneintritts- und Kirchenaustrittsentscheidungen oder auch Gefühle der Verbundenheit mit religiösen Gemeinschaften, Sympathie mit ihnen und Vertrauen in sie dar. Die Dimension der religiösen Praxis umfasst Riten und kultische Vollzüge und bildet häufig das Rückgrat einer Religion. Diese Dimension lässt sich durch den Kirchgang, die Gebets- oder Meditationspraxis, die Beteiligung am kirchlichen Leben, Pilger- und Wallfahrten, Prozessionen, die Inanspruchnahme von Kasualien wie Taufe, Trauung, Beerdigung und ähnliche Praktiken erfassen. Zur Abbildung der Dimension des religiösen Glaubens und der religiösen Erfahrung kann man nach dem Glauben an Gott und höhere Wesen, an den Einfluss der Sterne oder den von Dämonen auf das menschliche Leben, nach der Akzeptanz religiöser Vorstellungen wie Himmel und Hölle, Auferstehung und Wiedergeburt sowie nach Erfahrungen der Nähe von Gott und Engeln oder auch nach Konversionserlebnissen fragen.
Luckmann (1972, S. 6) definiert Religion als Überschreitung der „unmittelbaren Erfahrung“ des Menschen. Damit werden alle Formen des Transzendierens subjektiver Unmittelbarkeit als religiös behandelt. Jede Einbindung des Menschen in soziale Zusammenhänge ist damit per definitionem religiös. An der damit verbundenen Ausweitung des Religionsbegriffs wird immer wieder Kritik geübt (vgl. etwa Tyrell 1996, S. 445; Firsching 1998, S. 195 ff.). Das ist aber nicht das einzige Problem, das sich aus der Luckmann’schen Religionsdefinition ergibt. Was ist mit „unmittelbarer Erfahrung“ gemeint? Kann es eine gesellschaftlich nicht vermittelte Erfahrung überhaupt geben? Ist nicht jede Erfahrung eine Form des Transzendierens? Luckmann behandelt das Subjekt letztendlich nicht als sozial konstituiert. Wenn er sich dagegen verwahrt, dass mit den Erfahrungen der Transzendenz ein „subjektiver Innenraum“ gemeint sei und er diese Erfahrungen als von vornherein „intersubjektiv“ angelegt betrachtet (ebd., S. 6), dann grenzt er die „unmittelbare Erfahrung“ offenbar als etwas Vorsoziales von Transzendenzerfahrungen ab. Die unausgeglichenen Spannungen zwischen egologischer Perspektive und intersubjektivem Sinnhorizont kennzeichnen auch schon das Werk von Alfred Schütz, dem Lehrer Luckmanns. Das arbeitet überzeugend heraus: Andreas Reckwitz (2000, S. 396 ff.), der zwischen dem Früh- und dem Spätwerk von Schütz eine Diskontinuität sieht.
Das Problem der Allgemeinheit und Abgrenzbarkeit der funktionalen Religionsdefinition ist breit diskutiert (vgl. Spiro 1966, bes. S. 95 f.; Matthes 1967, bes. S. 19 f.; Berger 1973, 1974; Dobbelaere und Lauwers 1974; Luhmann 1977; Seiwert 1981; Wuthnow 1988; Kaufmann 1989, S. 15 ff. ; Lambert 1991; Tyrell 1996, S. 440 ff.; Figl 2003, S. 67 ff.; Stausberg 2009; Hock 2011, S. 16 f).
Der Versuch, das Problem der Religionsdefinition durch Rückgang auf das Selbstverständnis der Gläubigen zu lösen, ist nicht ungebräuchlich. Religion ist dann alles, was die Religionsangehörigen darunter verstehen. Vgl. etwa Hölscher (2005, S. 15), der als religiös „all diejenigen historischen Erscheinungen behandelt, die in den Quellen so bezeichnet worden sind“ (Hölscher 2005, S. 14).
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die genetische Erklärungsmethode nicht zwangsläufig den Täuschungsverdacht impliziert, denn auch wenn religiöse Inhalte und Formen auf gesellschaftliche oder psychische Bedingungen zurückgeführt werden können, müssen sie noch nicht unwahr sein (Zirker 1982, S. 93, 176). Diese Einschränkung macht übrigens auch Sigmund Freud selbst geltend.
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Pollack, D. Probleme der Definition von Religion. Z Religion Ges Polit 1, 7–35 (2017). https://doi.org/10.1007/s41682-017-0003-9
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Schlüsselwörter
- Funktionalismus/funktionale Methode
- Dekonstruktivismus
- Dimensionsforschung
- Intentionsforschung
- Religiöse Erfahrung
- Religiöses Handeln
- Religiöse Zugehörigkeit