Im Folgenden zeigen wir auf, wie AIS die Arbeitsteilung in und von Organisationen beeinflussen, um so den Einfluss auf menschliche Kompetenzen und deren Entwicklung zu identifizieren. Um die Vielfalt an unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten aufzuzeigen, diskutieren wir dies anhand der drei Bereiche Unternehmensführung, Human Ressourcen-Management sowie Konfiguration und Koordination von Prozessen und Strukturen.
Unternehmensführung und AIS – eine neue Form der Koexistenz?
Typischerweise erstrecken sich Führungsaufgaben von inhaltlich-unternehmensbezogenen Aufgaben auf strategischer und operativer Ebene bis hin zu mitarbeiterbezogenen Führungsaufgaben, zu denen insbesondere Einflussnahme und Motivation zählen. Die zugrundeliegenden Tätigkeiten sind ähnlich: Erfassen von Informationen, Interpretieren, Schlussfolgern, Entscheiden, Steuern, Kontrollieren, Revidieren, Kommunizieren, Verantwortung übernehmen etc.
Sie sind z. T. strukturiert und entsprechen einer gewissen „wenn-dann-Logik“ (z. B. „wenn der EBIT einen vorgegebenen Wert x unterschreitet, müssen bestimmte Maßnahmen eingeleitet werden“). Zum Teil sind sie aber auch unstrukturiert und basieren auf Kreativität, Intuition, Gewissenhaftigkeit, emotionaler und sozialer Intelligenz, einer ganzheitlichen Situationserfassung oder auch auf der kommunikativ angemessenen Integration verschiedener Meinungen und Perspektiven. Beispielsweise erfordert die Entscheidung über die Weiterentwicklung des Geschäftsmodells in Folge von Profitabilitätsdruck, dass Manager sowohl ökonomische Logik als auch oft weniger klar strukturierte Aufgaben wie verantwortungsvolles, nachhaltiges Handeln gegenüber den Mitarbeitern in ihre Entscheidung und Verhaltensweisen integrieren.
Hinzu kommt, dass es wenig veränderliche Führungsaufgaben gibt, die sich in regelmäßigen Zeitabständen wiederholen; andere Führungsaufgaben wiederum ad hoc auftreten und schnelles Agieren oft auch auf der Basis einer schlechten Informations- und Datenlage erfordern. Beispielsweise führen neue Marktteilnehmer und plötzlich veränderte Kundenpräferenzen dazu, dass Führungskräfte Ziele, Kenngrößen und Verhaltensweisen anzupassen haben, um am Markt zu bestehen.
Führungsentscheidungen sind zudem in der Regel komplex, wobei diese Komplexität sowohl die Beherrschung einer Vielzahl an kontextfreien Daten und Informationen und deren Analyse, als auch die Erfassung der zugrundeliegenden situativen Umwelt- und Kontextparameter erfordert. Von besonderer Bedeutung ist dabei einerseits die geeignete Einbettung der kontextfreien Regeln in die jeweilige Situation, als auch die individuelle Gewichtung der Faktoren. Dies kann auch ein Abweichen von den kontextfreien oder situationalen Regeln bedingen (Dreyfus und Dreyfus 1988).
In diesem – zugegebenermaßen etwas vereinfacht dargestellten – Spektrum an Führungsentscheidungen, die sich einerseits zwischen gering und hoch strukturiert als auch gering und hoch veränderlich bewegen und zum dritten die Beherrschung unterschiedlicher Arten an Komplexität erfordern, können Führungskräfte nun Aufgaben an AIS verlagern.
Zu vermuten ist zunächst, dass sich Führungsaufgaben, die sich durch hohe Strukturiertheit, geringe Veränderlichkeit sowie Daten- und Analysekomplexität auszeichnen und damit vorhersagbar sind, für die autonome Abwicklung durch AIS sprechen. Je mehr AIS hier eingesetzt werden und je größer dadurch die zugrundeliegende Fallbasis wird, desto mehr werden sie trainiert und desto besser sind sie in der Lage, die zugrundeliegenden Führungsaufgaben ohne Eingriff der Führungskräfte durchzuführen, sofern ihre Vorhersagen wie gesagt kontinuierlich auditiert werden. So setzt z. B. das Unternehmen Bridgewater Associates unter dem Namen PriOS ein AIS ein, das alltägliche Management-Aufgaben alleine übernehmen soll. Dabei soll es von den Entscheidungsstrukturen des Gründers sowie der Top-Manager lernen, um ihre Prinzipien bei den Entscheidungen zugrunde zu legen (Scheelen 2019). Wie schon zuvor am Amazon Beispiel verdeutlicht, liegt hier die besondere Herausforderung in der Prüfung der dem AIS zu Verfügung gestellten Daten zum Lernen seiner Entscheidungen sowie dem Training des Systems. Sind diese Trainingsdaten und das Training aufgrund der zugrundeliegenden menschlichen Entscheidungen verzerrt, so werden auch die AIS-Entscheidungen verzerrt sein.
An ihre Grenzen stoßen AIS zudem derzeit dann, wenn es um nicht strukturierte oder ad-hoc-auftretende Führungsentscheidungen geht, die insbesondere auf Grund der Kontextkomplexität nicht vorhersagbar sind. Typische Beispiele sind Krisensituationen, deren Ursache auf nicht vorhersehbare und bisher nicht bekannte Parameter zurückzuführen sind. Das Bild des AIS, das in einer Krisensituation die Produktion bestimmter Lebensmittel stoppt, da es die plötzlich stark ansteigende Nachfrage als „kann nicht so stimmen“ interpretiert, mag hier als Beispiel dienen. Eine menschliche Führungskraft mit Expertise und entsprechendem Verständnis der kausalen Zusammenhänge hätte die Situation individuell erfasst und die Zahlen entsprechend als korrekt interpretiert. Ähnliches gilt – zumindest vor dem Hintergrund des jetzigen technologischen Entwicklungsstandes – für mitarbeiterbezogene Führungsaufgaben wie Einflussnahme, Kohäsion, Wertevermittlung als auch Motivation. Gerade hier lassen sich Aufgaben und Entscheidungen erkennen, die unstrukturiert sind, ad hoc auftreten und v. a. Empathie, Intuition, Erfassen der Komplexität und multiperspektivischen Kontextbezug erfordern und damit schlecht planbar sind. Je weniger strukturiert, hoch veränderlich und durch Kontextkomplexität charakterisiert und damit unvorhersehbar die Führungsaufgaben sind, desto weniger macht es derzeit noch Sinn, diese Aufgaben durch AIS zu realisieren. Hierin liegen die Stärken des Menschen (Rai et al. 2019). Aber auch hier ist festzustellen, dass AIS zunehmend in diese Bereiche eindringen. Incentivierung und Teambildung erfolgt schon heute bei technischen, plattformbasierten Geschäftsmodellen über AIS (Rai et al. 2019; Gregory et al. 2020; Ihl et al. 2020). Auch emotionale Ansprache ist durch AIS lern- und einsetzbar, was man an der Beliebtheit von anthropomorphisierten Robotern und Chatbots sieht.
Zwischen den beiden Extrema – Übernahme der Führungsaufgaben ausschließlich durch das AIS bzw. ausschließlich durch die menschliche Führungskraft – eröffnet sich ein breites Spektrum an Führungsaufgaben, die in einer neuartigen Form der Arbeitsteilung durchgeführt werden können. Besonders interessant ist der Bereich, bei dem die menschlichen Führungsfertigkeiten durch AIS unterstützt respektive augmentiert werden und diese damit auf ein neues Fähigkeitsniveau heben (Raisch und Krakowski 2020). Ein Beispiel könnte die durch das AIS vorgenommene statistische Auswertung von Kundendaten sein, bei der die Führungskraft (im Fall von erklärbarem AIS) nicht nur das Ergebnis erhält, sondern bei der auch der dahinterliegende Schlussfolgerungsprozess verdeutlicht wird, so dass die Führungskraft dadurch neues Wissen aufbaut und befähigt wird, in andere Richtungen zu denken.
Das AIS unterstützt hier also nicht nur den Menschen durch effizientere oder auch bessere Entscheidungen; dieser lernt durch die Nutzung des AIS und kann die Handlungsmuster des AIS beispielsweise nutzen, um neuartige Lösungen zu entwickeln. Dieser augmentierte Lernprozess führt dazu, dass Führungsaufgaben im Team aus Mensch und AIS zielführender durchgeführt werden können. Mensch und AIS stellen hier keine Konkurrenten dar. Vielmehr agieren sie in kooperativer Koexistenz, indem sie ihre jeweiligen Stärken problemorientiert verknüpfen und voneinander profitieren. Liegt die Stärke des AIS in der Erstellung komplexer Modelle, die auf großen Datenmengen angesetzt werden und neue Strukturen identifizieren als auch das Wissen verschiedener menschlicher Trainer verbinden kann, liegt die Stärke des Menschen darin, diese Vorhersagen vor dem Hintergrund seines kausalen Verständnisses, seiner Intuition und seiner Imagination abzuwägen und auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig sammelt der Mensch so Erfahrung und ist dadurch in der Lage, bestimmte Sachverhalte zukünftig noch besser einzuschätzen.
Im Ergebnis gibt es Führungsaufgaben, die das AIS autonom durchführt; Führungsaufgaben, die beim Menschen bleiben sowie Führungsaufgaben, die Mensch und AIS gemeinsam durchführen und dabei voneinander profitieren. Der Mensch durch Aufbau von Erfahrung und das AIS durch zusätzliches Training. Spannend in diesem „hybriden“ Bereich der Augmentierung ist, wie die von Mensch und AIS jeweils durchgeführten Aufgaben ineinandergreifen, wer Entscheidungen und Schlussfolgerungen der AIS verantwortet und ob ein kontinuierliches Training von AIS dazu führt, dass diese immer mehr Aufgaben von Führungskräften übernehmen werden. Sind AIS hierzu in der Lage, entsteht eine neue Dimension der Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine. Führungskräfte können bisher dem Menschen vorbehaltene Tätigkeiten wie Schlussfolgern, Vorhersagen oder Entscheidungen treffen an AIS delegieren. Hierdurch entstehen zeitliche und mentale Freiräume, um sich mit den z. T. hoch-komplexen Herausforderungen der Führungskraft zu beschäftigen. Gleichzeitig erfordert genau diese neuartige Form der Arbeitsteilung neuartige Kompetenzen von den Führungskräften, die weit über reine Mensch-Maschine-Interaktionskompetenzen hinausgehen (vgl. Abschn. 4).
Human-Ressourcen-Management durch AIS?
Human-Ressourcen-Management umfasst so unterschiedliche Aufgaben wie Bestimmung der Arbeitsinhalte, -prozesse, und-strukturen sowie der damit einhergehenden Aufgaben wie etwa Personalauswahl, Motivations- und Anreizsystemgestaltung als auch Talent Management, Kompetenzentwicklung und People Strategy.
Primär tangiert ist zunächst der administrative Bereich, in dem schon lange viele gering veränderliche und gut strukturierte Routineprozesse der Personalverwaltung durch automatisierte Informationssysteme durchgeführt werden können. Typische Beispiele sind reine Verwaltungsprozesse wie z. B. die Abwicklung der Reisekosten, Lohnbuchhaltung und Urlaubsplanung. Neu ist jetzt, dass AIS selbstständig die Suche und die Ansprache externer Bewerber übernehmen. Beispiel ist das „Programmatic Job Advertising“, bei dem Einkauf, Platzierung und Optimierung von Stellenanzeigen durch AIS erfolgen. Dieses System verteilt ohne menschlichen Eingriff Stellenanzeigen datenbasiert über ein weitreichendes Personal-Marketing-Netzwerk aus Jobsuchmaschinen, sozialen Medien und Bannerwerbung an aktive und passive Interessenten in der Zielgruppe. Bei Interesse erfolgt eine direkte Weiterleitung auf die unternehmenseigene Karriereseite, über die sofort die Bewerbung verschickt werden kann. Durch die dabei gesammelten Daten wird das AIS systematisch trainiert, so dass es die Anzeigen immer besser aussteuert (Fesefeldt 2018).
Eng hiermit zusammen hängt das Recruiting, in dem ein großes Feld für den Einsatz autonomer Informationssysteme zu sehen ist. So wird zuweilen von „Robot Recruiting“ gesprochen, wenn die Suche nach relevanten Personalinformationen, das Matching von Stelle und Stellensuchenden, die Anwerbung oder auch eine erste Diagnostik der Fähigkeiten durch das AIS und nicht mehr durch den Menschen erfolgen (Fesefeldt 2018). AIS informieren potenzielle Interessente nicht nur über Details der vakanten Stellen und das Unternehmen. Sie führen mit den Interessenten Dialoge, die neben berufsbezogenen Fragen auch Sprache und Mimik erfassen, um selbstständig eine erste Vorauswahl zu treffen. Die Ergebnisse erhält der menschliche Personaler, der auf dieser Basis weitere gezielte Fragen stellen kann. Mit einem derartigen Vorgehen hat das Unternehmen Unilever beispielsweise von 2016 bis 2017 in mehr als 50 Ländern in 15 Sprachen ca. 250.000 Hochschulabsolventen getestet und davon 800 eingestellt. Die Effekte waren immens: Verkürzung der Zeit von Ansprache bis Einstellung von 4 Monaten auf 4 Wochen; eingesparte Kosten in Höhe von ca. 1 Mio. €, Verdopplung der Zahl der Bewerbungen und Halbierung der Zahl der Abbrüche. Ähnlich funktioniert die Software „Talk’n Job“, die im Einzelhandel in Deutschland eingesetzt werden soll (Hoffmeyer 2020). Per Chat und Sprachsteuerung werden interessierten Bewerbern durch das AIS Fragen gestellt und deren Antworten analysiert, so dass der Personaler eine gute Basis für die nächsten Auswahlschritte erhält. Deutlich wird auch hier: vormals menschlich durchgeführte oder gesteuerte Analyse- und Schlussfolgerungsprozesse werden durch AIS ersetzt, um Entscheidungen zu treffen oder Entscheidungsvorlagen für den Menschen zu generieren.
Wie schon angesprochen, kann AIS-basierte Personalauswahl zu besseren, schlechteren oder ähnlich guten oder schlechten Ergebnissen gelangen wie die menschliche. Wird, wie bei Amazon, ein voreingenommener Datensatz zum Training des AIS verwendet, so sind selbstverständlich auch die mit AIS generierten Entscheidungen voreingenommen. Ob Entscheidungen des AIS tatsächlich der menschlichen Entscheidung überlegen sind und den Menschen bei der Personalauswahl ersetzen werden, lässt sich gegenwärtig noch nicht abschließend beurteilen. Die auch bei menschlichen Auswahlentscheidungen thematisierte fehlende Diversität kann durch AIS verschärft oder auch entspannt werden. Vielleicht liegt hierin auch die Chance, dass Personaler durch AIS lernen, indem sie neutral nachvollziehbare Entscheidungen treffen, die allen gleich gut qualifizierten Kandidaten die gleichen Chancen ermöglichen (Chamorro-Premuzic et al. 2019).
Auch in der Personaleinsatzplanung oder in der Projektplanung können AIS zum Einsatz kommen, indem sie die Projekt- und Schichtplanung selbstständig übernehmen (Klausch 2019), die Analyse sowie den Einsatz der für ein Projekt vorgesehenen Ressourcen autonom durchführen oder auch Teams problem- und aufgabenorientiert konfigurieren (Sattelberger 2016; Picot 2016). Erste Beispiele aus Unternehmen, in denen die Konfiguration von Teams ohne menschlichen Eingriff durch AIS erfolgt, zeigen gerade hier ein großes Einsatzfeld. Basis sind Daten zu Kompetenzen, Ressourcen, Erfahrungen, Verfügbarkeiten etc., bei deren Verdichtung, Analyse und Auswertung AIS schneller und effizienter zu Entscheidungen kommen können. Unterstützen lässt sich schließlich auch die Personalentwicklung (Klausch 2019). AIS können Kompetenzanalysen durchführen, individuelle Lernpfade erstellen, problemorientiert und individuelle Lerninhalte konfigurieren und letztlich Angebot und Nachfrage nach Lerninhalten matchen. Chatbots können Fragen beantworten und Kontrollfunktionen übernehmen. Auch Tutorials, Schulungen oder problemorientierte Lösungshilfen lassen sich durch AIS realisieren.
Schließlich rückt ein weiteres Feld zunehmend in die Diskussion: die Möglichkeit der Leistungserfassung durch AIS. Je mehr Daten über die Arbeits- und Leistungsprozesse der Mitarbeiter erfasst werden, desto besser können AIS individuelle Leistungen bewerten, Performance messen, Profiling durchführen sowie auf der Basis all dieser Daten und Informationen Schlussfolgerungen mit z. T. weitreichenden Konsequenzen für die Betroffenen ziehen. Hierzu zählen z. B. Konsequenzen für die Gewährung personenbezogener Anreize und Boni, Bestimmung individueller Lern- und Qualifikationspfade, Zuordnung von Aufgaben oder auch die Planung der jeweiligen Karrierepfade. So setzt beispielsweise das Unternehmen Bridgewater Associates ein Tool ein, das das von den Mitarbeitern gesendete positive und kritische Feedback selbstständig analysiert und die erhaltenen Ergebnisse direkt mit dem Vergütungssystem verknüpft (Scheelen 2019). Vormals vom Menschen durchgeführte Analyseprozesse werden an das Tool delegiert.
Je mehr und je bessere Daten zur Verfügung stehen und je kontextorientierter AIS trainiert sind, desto qualitativ besser und aussagekräftiger werden die Ergebnisse. AIS führen zu einer tatsächlichen oder wahrgenommenen höheren Transparenz im Bereich der Leistungserfassung und Leistungsbewertung. Besteht die Gefahr, dass hiermit Nachteile für den Betroffenen verbunden sind, wirkt sich diese u. U. kontraproduktiv auf Motivation und Leistungsbereitschaft aus. Allerdings ist höhere Transparenz nicht nur negativ zu beurteilen (Gierlich et al. 2020). Sie kann auch einen Beitrag zum vertrauensvolleren Umgang (Fiedler und Haruvy 2016) und zum Schutz der Mitarbeiter leisten, wenn diese auf Grund der erfassten Daten beispielsweise vor Bore-Out aber auch Selbstausbeutung und Burn-Out bewahrt werden können. Möglicherweise ziehen AIS hier sogar bessere und fundiertere Schlussfolgerungen, da sie derartige Verhaltensweisen neutraler als der Mensch beurteilen.
Im Ergebnis stellen sich hier ähnliche grundlegende Fragen wie zuvor im Bereich der Führung: welche HR-Aufgaben und -Entscheidungen übernimmt das AIS autonom, welche erfolgen gemeinsam und welche verbleiben rein beim Menschen? Im Vergleich zu den Überlegungen zur Unternehmensführung entwickelt sich die Arbeitsteilung hier jedoch etwas anders, da die zugrundeliegenden Schlussfolgerungs- und Entscheidungsprozesse in vielen Bereichen einen höheren Grad an Strukturiertheit und geringer Veränderlichkeit haben und damit trainierbar sind. In Konsequenz ist davon auszugehen, dass im HR-Bereich – so wie wir ihn bisher kennen – zunehmend Analyse‑, Schlussfolgerungs- und Entscheidungsprozesse durch AIS durchgeführt werden. Gelingt es zudem, die zugrundeliegenden Daten zu verknüpfen – indem z. B. die Daten aus der Teamkonfiguration mit den Daten aus der Personalentwicklung verbunden werden – lassen sich womöglich auch übergreifende situationsspezifische Schlussfolgerungen ziehen, wodurch sich die Einsatzfelder der AIS weiterentwickeln. Lassen sich nun mehr und mehr Prozesse auf AIS delegieren, entsteht die Chance, HR neu auszurichten und in enger Zusammenarbeit mit dem Management strategische Themen wie Talent Management, Kompetenzentwicklung oder People Strategy stärker in den Vordergrund zu stellen. Von den Mitarbeitern im HR-Bereich sind dann veränderte und angepasste Kompetenzen gefragt. Diese betreffen v. a. strategisches Denken und Beurteilungskompetenzen, Kreativität sowie Denken in multi-perspektivischen Zusammenhängen (vgl. Abschn. 4).
Konfiguration und Koordination von Prozessen und Strukturen – AIS als Architekten zukünftiger Organisationen?
Als drittes beispielhaftes Einsatzfeld sei die Koordination und Steuerung von Prozessen und Strukturen in und zwischen Organisationen durch AIS angeführt. Auch hier lassen sich vielfältige Einsatzfelder erkennen. So unterstützen z. B. assistierende Mess- und Prüfsysteme im Triebwerksbau Mitarbeiter in der Montage, indem sie fehlerhaft montierte Einzelteile sicher erkennen, eine sofortige Fehlerkorrektur anbieten und diese Prozesse durch direktes Feedback verbessern (Haase et al. 2015). Autonome Schreibprogramme erstellen journalistische Beiträge, die sich für den Leser oft nicht mehr von menschlich geschriebenen unterscheiden. Audio-zu-Text- bzw. Video-zu-Text-Converter, Übersetzungsdienste oder Chatbots übernehmen eigenständig zahlreiche Kommunikationstätigkeiten in korrespondierenden Berufen, die bisher von Sekretariats- und Assistenzkräften, Fremdsprachenkorrespondenten, wie auch Mitarbeitern in Marketing und Öffentlichkeitsarbeit (Weber 2019) durchgeführt wurden. Legal Chatbots sind immer besser in der Lage, Sachverhalte zu erfassen, die Rechtslage selbstständig zu beurteilen, erforderliche Schritte zu initiieren und Handlungsempfehlungen zu geben (Legal Tech 2020). In Folge lassen sich juristische Prozesse, wie beispielsweise rechtliche Analysen und Beurteilungen auf der Basis der Anwendung rechtlicher Regelwerke an das AIS delegieren, Legal Chatbots in Wissensbasen implementieren oder die Gestaltung von Verträgen bzw. die notarielle Beurteilung durch AIS durchführen (Wilkens und Falk 2019). Autonom agierende Roboter und Transportmittel, selbstständig urteilende Mess- und Prüfsysteme wie auch autonome Sichtungs- und Sortierhilfen übernehmen mehr und mehr vormals manuell durchgeführte Produktionsschritte (Gatzke et al. 2018). Erschienen ist mittlerweile auch die erste durch AIS generierte wissenschaftliche Metastudie zu Lithium-Ionen Batterien, bei der der Mensch ausschließlich Editierungsaufgaben übernommen hat (Writer 2019). Deutlich wird: AIS führen in zahlreichen Einsatzfeldern auf der Basis von früher ausschließlich vom Menschen getätigte Analyse‑, Entscheidungs- und Schlussfolgerungsprozesse eigenständig durch.
Letztlich ist die Steuerung von Maschinen, Prozessen und Personen durch AIS in Echtzeit denkbar, wie sie schon jetzt in Industrie 4.0-Szenarien thematisiert wird (Obermaier 2019). Die Konsequenz sind voll automatisierte Fabriken und Produktionshallen, die im Extremfall weitgehend ohne menschlichen Eingriff funktionieren. Ein Beispiel hierfür war die Adidas Speedfactory, in der die Schuh-Produktion weitgehend autonom erfolgte (Busse 2017). Auch Crowd-Working-Plattformen lassen sich hier anführen (Benner 2014; Vogl 2018), denn letztlich erfolgen sowohl Zuordnung und Konfiguration von Tätigkeiten auf Crowd-Working- oder Crowd-Sourcing-Plattformen wie auch Steuerung und Kontrolle weitgehend durch AIS (Ihl et al. 2018). Gerade hier entsteht zusätzliche Komplexität, da Abwägungsprozesse erforderlich werden, um zu viele Veränderungen und Anpassungen und dadurch resultierende Unruhe im Team oder in der Organisation zu vermeiden.
Die Fähigkeit der Echtzeit-Steuerung von Prozessen in Verbindung mit der Fähigkeit, Teams autonom zu koordinieren versetzen AIS zukünftig in die Lage, nicht nur einzelne Aufgaben wie beim Crowd-Working, sondern ganzheitliche Wertschöpfungsprozesse anders zu koordinieren und zu steuern. Denkbar ist hier ein Szenario, in dem der Wertschöpfungsprozess in modulare Teilprozesse gegliedert wird (Picot et al. 2020b; Gregory et al. 2020; Rai et al. 2019), deren Koordination und Steuerung ausschließlich durch AIS erfolgt. Das AIS entscheidet dabei selbstständig auf der Basis von Daten über die Eigenschaften der Teilprozesse einerseits sowie die jeweiligen Kompetenzen andererseits, wer (interne Abteilung, Freelancer, Kooperationspartner, externes Unternehmen, Crowd-Worker etc.) den jeweiligen Teilprozess durchführt. Je modularer und abgegrenzter sich die Teilprozesse abbilden lassen, desto eher lassen sie sich denjenigen Akteuren, die genau auf die jeweils geforderten Tätigkeiten spezialisiert sind, zuordnen. Ändert sich die zugrundeliegende Datenlage, passen AIS die organisatorische Konfiguration an. Im Ergebnis entsteht eine durch AIS konfigurierte Form der flexiblen unternehmensübergreifenden Arbeitsteilung. Voraussetzung sind auf der technischen Ebene Standards; auf der organisatorischen Ebene Kooperationsbeziehungen quasi als Rahmen für die flexible Koordination (Kilian et al. 1994).
Ob sich derartige Strukturen weiter durchsetzen werden, ist derzeit offen. Falls ja, könnte dieser Trend zu einer zunehmenden Hyperspezialisierung führen. Je spezialisierter die Akteure sind, desto höher ist die Chance, vom AIS berücksichtigt zu werden. Der ohnehin erkennbare Trend zum Outsourcing und damit verbundener Trend zur Auflösung existierender Unternehmensgrenzen (Picot et al. 2020b) setzt sich fort, wenn AIS die Koordination von Aufgaben übernehmen. Basierend auf einem Prozess zur Aufgabenkonfiguration, der mit jeder vollzogenen Konfiguration lernt und besser wird, übernimmt das AIS hier klassische Koordinierungs- und Steuerungsprozesse. Langfristig vorstellbar ist hier durchaus ein Szenario, dass das Management sich auf die Entwicklung innovativer Ideen konzentriert und die organisatorische Umsetzung dieser Ideen dann das AIS übernimmt. Aufgabe des Managements ist es dann wiederum, den gesamten Prozess im Blick zu haben. Auch hier lässt sich erkennen: das AIS übernimmt Such‑, Auswahl‑, Steuerungs- und Kontrollprozesse, die vormals durch Menschen durchgeführt wurden. Dies hat nicht nur strukturelle Konsequenzen, indem noch flexiblere Strukturen entstehen. Es hat v. a. auch Auswirkungen auf die von diesen Entscheidungen betroffenen Personen, die sich auf flexible Koordinationsmechanismen einstellen müssen. Hierfür sind wiederum veränderte Kompetenzen erforderlich (vgl. Abschn. 4).
Zwischenfazit: Neue Arbeitswelt durch und mit AIS?
Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle erkennen: prinzipiell können AIS derzeit eigenständig Aufgaben und Entscheidungen übernehmen. Allerdings handelt es sich um einen eher kleinen Teil von Aufgaben, nämlich die aufgrund hoher Strukturiertheit und geringer Veränderlichkeit gut planbaren Aufgaben, die sich durch eine hohe Datenkomplexität auszeichnen (vgl. Abb. 1 links oben).
Dennoch ist festzustellen, dass AIS in Form einer Augmentierung schon in eine Reihe von Aufgabengebieten zusätzlich eingedrungen sind, die entweder gut planbar oder durch Datenkomplexität charakterisiert sind (vgl. Abb. 1). Je mehr sie zum Einsatz kommen, desto besser können sie lernen und trainiert werden und desto mehr sind sie in der Lage, noch bessere Schlussfolgerungen zu ziehen. Im Ergebnis verändern sich so Arbeitswelt und Rollen der einzelnen Akteure und stellen so neue Anforderungen an die notwendigen Kompetenzen der Mitarbeiter und Manager.
Veränderung der Arbeitsteilung zwischen Mensch und autonomen Informationssystem.
AIS können prinzipiell Führungs- oder operative Ausführungsaufgaben übernehmen und werden einen festen Bestandteil in der zukünftigen Arbeitswelt darstellen. Die Arbeitsteilung zwischen Mensch und AIS wird sich in bestimmten unternehmerischen Handlungskontexten verschieben.
Zunächst übernimmt der Mensch eine veränderte Rolle in dem sich verändernden Arbeitssystem. Er delegiert Entscheidungs‑, Schlussfolgerungs- und Analyseprozesse auf das AIS; er trifft Entscheidungen auf der Basis von Schlussfolgerungen und vorbereiteten Entscheidungen durch das AIS; er kontrolliert die Entscheidungsprozesse des AIS oder wird von den Entscheidungsprozessen des AIS gesteuert und kontrolliert; er trainiert AIS durch Daten und Rückkopplungen über die gezogenen Schlussfolgerungen und lernt aus ihren Schlussfolgerungen, indem er neues Wissen zur Lösung konkreter Probleme oder strategischer Herausforderungen aufbaut.
Sind Aufgaben gut strukturiert und gering veränderlich und zeichnen sich zudem durch Datenkomplexität aus, ersetzen AIS vormals durch den Menschen durchgeführte Analyse‑, Schlussfolgerungs- und Entscheidungsprozesse. Mit abnehmender Planbarkeit werden AIS in veränderten Formen der Ko-Existenz zusammenarbeiten, indem sie die jeweiligen menschlichen Stärken in spezifischen Domänen ergänzen. Schließlich wird es Aufgaben und Entscheidungen geben, bei denen die Vorhersehbarkeit auf Grund von geringer Strukturiertheit und hoher Veränderlichkeit sowie von Umwelt- und Kontextkomplexität erschwert ist. Hierzu gehören beispielsweise nachhaltige, ethische oder soziale Entscheidungen sowie Zusammenhangserkenntnisse, die auf langjährigem Erfahrungswissen sowie einer tiefen Situationskenntnis basieren. Sie verbleiben voraussichtlich erstmal beim Menschen. Bedingt durch ihre Lernfähigkeit und die Möglichkeit zum Training dieser Systeme, verbessern sich AIS jedoch, so dass zukünftig zu erwarten ist, dass AIS mehr und mehr auch dieser Prozesse, zumindest augmentierend, übernehmen werden können.
Veränderung der Organisations- und Monitoringstrukturen.
Übernehmen AIS zudem die Koordination erforderlicher Wertschöpfungsprozesse, entstehen flexible organisatorische Strukturen, bei denen die Einbindung externer Wertschöpfungspartner algorithmenbasiert durch AIS erfolgt. Die klassische organisatorische Aufgabenteilung nach Funktionen, Produkten, Prozessen oder auch Regionen verliert nochmals mehr an Relevanz; die Tendenz zu vernetzten Strukturen wie Industrie 4.0 sowie der damit eng zusammenhängenden Forderung nach einer Losgröße 1 wird nochmals verstärkt. An die Stelle linearer Prozesse als Gestaltungskriterium treten Vernetzung sowie aufgaben- oder problemorientierte Konfigurationen, die beispielsweise durch AIS flexibel angepasst werden.
Gleichzeitig entstehen neuartige Monitoringstrukturen. AIS binden menschliche Arbeit nicht nur in die Arbeitsprozesse ein; sie kontrollieren sie auch. So führt die oben thematisierte Leistungserfassung durch AIS zu neuartigen Formen der Kontrolle. Der Mitarbeiter nimmt zwar erweiterte Handlungsspielräume wahr, da er beispielsweise dezentral eingebunden ist in den Prozess. Gleichzeitig werden diese beschränkt durch digitale Leistungserfassung und höhere Transparenz. Beispiel ist der Crowdworker, der zwar Autonomie bei der Übernahme und Gestaltung seiner täglichen Arbeitsprozesse hat, gleichzeitig jedoch durch die Algorithmen der Plattform gesteuert und kontrolliert wird. Hierdurch ergeben sich ganz neuartige Anforderungen an Mitbestimmung und Datenschutz. So werden in den gegenwärtigen Regelungen zur Mitbestimmung weder derartige flexible Strukturen noch deren Koordination durch AIS berücksichtigt. Dass die Leistungserfassung wiederum nur mit Einwilligung der Betroffenen erfolgen darf, zeigt letztlich auch, dass die Grenzen der Einsatzfähigkeit derartiger AIS nicht nur in den technischen Möglichkeiten bestehen. Zudem kommt der große Bereich potenzieller Verzerrungen im Algorithmus, der zu fragwürdigen Vorhersagen und Entscheidungen beiträgt. Hier stellen sich wie besprochen völlig neue Anforderungen an die Regulierung und das Monitoring der Erklärbarkeit und Nachvollziehbarkeit des AIS.
Veränderung von Anforderungen und Herausbildung neuartiger Tätigkeits- und Kompetenzprofile.
Insbesondere durch die Substitutionseffekte führen AIS zu einer sehr viel geringeren Nachfrage bestimmter beruflicher Anforderungen und erforderlicher Qualifikationen. Häufig wird in diesem Fall auch von De-qualifizierung und Verlust von Erklärungskraft der Organisation gesprochen. Gleichzeitig entstehen neuartige Tätigkeiten im Bereich von Interaktion, Verantwortung, Steuerung/Kontrolle, Identifikation von Bereichen, die sich nicht für AIS eignen und gegenseitigem Lernen. Vor dem Hintergrund von Abb. 1 handelt es sich insbesondere um schlecht planbare Aufgaben mit Umwelt- und Kontextkomplexität. Hier dürfte der Einsatz von AIS ohne entsprechende überwachende und eingreifende menschliche Expertise problematische Konsequenzen haben, da AIS derzeit noch nicht gut mit unerwarteten Ereignissen im Kontext umgehen. Zudem bilden sich neuartige Kompetenzprofile heraus. Diese reichen vom Architekten und Trainer der AIS, Innovatoren, Problemlöser über die Weiterentwicklung und Pflege von AIS bis hin zum Agieren als direkte oder indirekte Feuerwehr, wenn AIS ausfallen oder schlecht entscheiden. Zudem ergeben sich durch die AIS neue Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Rollenidentitäten. In Folge stellt sich die Frage, welche Kompetenzen die durch den Einsatz von AIS direkt oder indirekt tangierten Menschen in ihren Rollen als Entwickler/Programmierer, Anwender und als Trainer zukünftig benötigen und welche Anforderungen sich an die Entwicklung dieser Kompetenzen stellen.