1 Einleitung

Die psychische Gesundheit in der Arbeitswelt hat in den letzten Jahren zunehmendes öffentliches Interesse gefunden, unter anderem wohl mitbedingt durch den in der zurückliegenden Dekade zu beobachtenden Anstieg der auf Grund von „psychischen und Verhaltensstörungen“ zuerkannten Erwerbsminderungsrenten sowie der in den Statistiken der Krankenkassen sichtbar werdenden Erhöhung entsprechender Diagnosen (Schütte und Kaul 2015). Die dem Thema entgegengebrachte verstärkte Aufmerksamkeit zeigt sich weiterhin u. a. auch

  • in der vom BMAS, der BDA und dem DGB verfassten gemeinsamen Erklärung zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Deutscher Gewerkschaftsbund 2013),

  • in dem neu für die Periode 2013–2018 aufgenommenen Arbeitsschutzziel der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie „Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung“,

  • in der im Arbeitsschutzgesetz 2013 vorgenommenen Klarstellung, in dem nun explizit die psychische Belastung als ein möglicher Gefährdungsfaktor genannt wird (vgl. ArbSchG § 4,5),

  • in der Verordnungsinitiative des Bundesrates „Schutz vor Gefährdungen durch Psychische Belastungen“ (Bundesrat 2013).

Politisch konkretisierte sich die Relevanz der psychischen Gesundheit im Koalitionsvertrag zur 18. Legislaturperiode (CDU et al. 2013), in dem „eine wissenschaftliche Standortbestimmung, die gleichzeitig eine fundierte Übersicht über psychische Belastungsfaktoren in der Arbeitswelt gibt und Handlungsoptionen für notwendige Regelungen aufzeigt“ angekündigt wurde. In der Folge beauftragte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin mit der Durchführung der entsprechenden wissenschaftlichen Arbeiten, die in der Folge das Forschungsvorhaben „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“ konzipierte. Das Projekt verfolgt allgemein das Ziel, den Stand des Wissens zu den Zusammenhängen zwischen potentiell beeinträchtigenden aber auch förderlichen Arbeitsanforderungen und gesundheitsbezogenen Outcomes zu ermitteln sowie – unter Berücksichtigung des Wandels der Arbeit – vorhandene Forschungslücken zu identifizieren (vgl. Rothe et al. 2016).

2 Vorgehen im Projekt Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt

Die Aufbereitung des verfügbaren Wissens zur psychischen Gesundheit erforderte zunächst (1) die Festlegung der zu berücksichtigenden Arbeitsbedingungsfaktoren, (2) die Selektion der zu betrachtenden gesundheitlichen Outcomevariablen, (3) die Auswahl der Methode der Literaturaufbereitung und (4) die Bestimmung der Art der Befundbewertung.

2.1 Auswahl der Arbeitsbedingungsfaktoren

In die Untersuchung einbezogen wurden solche Belastungsfaktoren, die in Entwürfen für Regulationen, Vereinbarungen oder Leitfäden enthalten sind (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Deutscher Gewerkschaftsbund 2013; IG Metall Vorstand 2014; Leitung des GDA Arbeitsprogramms Psyche 2014), die in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert wurden (z. B. Spiegel 2012, Focus 2011) oder wesentliche Konstituenten etablierter arbeitswissenschaftlicher Modelle wie des Job-Demand-Control-Model (Karasek 1979; Karasek und Theorell 1990; Johnson und Hall 1988), der Handlungsregulationstheorie (z. B. Hacker 1980; Hacker und Sachse 2014; Volpert 1987), des Job-Demands-Resources-Model (Demerouti et al. 2001), des Demands-Induced-Strain-Compensation-Model (de Jonge und Dormann 2003) oder des Effort-Reward-Imbalance Model (Siegrist 1996) darstellen.

Die so als bedeutsam identifizierten mehr als 20 Arbeitsbedingungsfaktoren lassen sich inhaltlich in vier Themenfelder gruppieren, nämlich „Arbeitsaufgabe“, „Arbeitszeit“, „Führung und Organisation“ sowie „Technische Faktoren“.

Zusätzlich erfolgte eine qualitativ-empirische Studie, in der externe präventionsfachliche Berater zur betrieblichen Wahrnehmung, der Thematisierung und Bearbeitung der psychischen Belastung befragt wurden, um Aufschluss über deren Bedeutung aus der Perspektive der Unternehmen zu erhalten.

2.2 Auswahl der Outcomevariablen

Die Auswahl der im Rahmen der Literaturaufbereitung zu berücksichtigenden Outcomevariablen basiert auf der Überlegung, dass Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheiten oder Gebrechen, sondern auch das vollständige körperliche, geistige und soziale Wohlergehen (WHO 1946) umfasst, so dass die zu berücksichtigenden Indikatoren nicht nur negative, sondern auch positive Merkmale psychischer Gesundheit abbilden sollten (vgl. auch DIN SPEC 33418 2014).

Dementsprechend wurden neben Herz-Kreislauf- und Muskel-Skelett-Erkrankungen sowie psychischen Störungen als längerfristig eintretende beeinträchtigende Beanspruchungsfolgen auch befindensbezogene Indikatoren berücksichtigt, wobei kurzfristig auftretende negative Effekte wie das Erleben von Ermüdung oder kurzfristig vorkommende positive Wirkungen wie Leistungsbereitschaft genauso betrachtet wurden, wie auch langfristige positive Folgen, die sich etwa in der Arbeitszufriedenheit zeigen, oder langfristige negative Wirkungen, wie sie z. B. in psychosomatischen Beschwerden zum Ausdruck kommen.

2.3 Auswahl der Methode der Literaturaufbereitung

Zur Sammlung, Bewertung und Darstellung von zu einem Thema vorliegenden publizierten Befunden stehen unterschiedliche Verfahren zu Verfügung (vgl. z. B. Arksey und O’Malley 2005). Die Methode der „Scoping-Studie“ zeichnet sich dadurch aus, die vorhandenen Veröffentlichungen breit, d. h. ohne Beschränkungen z. B. auf bestimmte Forschungsdesigns wie „Randomized Control Studies – RTC“, zu erfassen, da sich derartige Versuchspläne z. T. aus ethischen, rechtlichen und inhaltlichen Gründen verbieten. Weiterhin gestattet dieser Ansatz, neben Längsschnittstudien, die eine notwendige Voraussetzung für die Ableitung von Aussagen zu Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind, auch Querschnittsstudien einzubeziehen, die zwar nur Auskunft über die zwischen Variablen bestehenden Kovariationen geben, aber dennoch Hinweise auf solche Zusammenhänge liefern können, denen im Rahmen von Longitudinalstudien detailliert nachgegangen werden sollte. Darüber hinaus haben Scoping-Studien den Vorteil, dass sie – auf Grundlage der jeweils vorliegenden Ergebnisse – zu entscheiden erlauben, ob das Datenmaterial weitergehende Auswertungen etwa in Form von Meta-Analysen erlaubt. Wenn die Empirie die Voraussetzungen erfüllte, wurden derartige Auswertungen auch vorgenommen (vgl. z. B. Wendsche und Lohmann-Haislah 2017).

Die Durchführung einer Scoping-Studie besteht aus sechs aufeinander folgenden Arbeitsschritten (Arksey und O’Malley 2005; Jesson et al. 2011): An die Festlegung der Forschungsfrage (1) schließt sich die systematische Suche nach inhaltlich relevanten Veröffentlichungen an (2), wozu im Weiteren die Auswahlkriterien für den Ein- und Ausschluss von Artikeln zu bestimmen sind (3). Im nächsten Schritt erfolgt die Entwicklung eines sogenannten Extraktionsschemas, auf dessen Basis die in den Publikationen jeweils beschriebenen Befunde und Daten zu exzerpieren sind (4). Danach erfolgt die Strukturierung, Zusammenfassung und Darstellung der Ergebnisse (5). Den Abschluss bildet die Beratung des sich aus dem Review ergebenden Erkenntnisstands (6) mit für die Fragestellung wichtigen Interessengruppen (etwa wissenschaftliche Experten), um z. B. Aufschluss über Forschungsdefizite zu erhalten (Levac et al. 2010).

2.4 Befundbewertung

Zur Ermittlung der inhaltlichen Bedeutsamkeit von Befunden – die insbesondere dann interessiert, wenn die jeweils vorliegenden Daten die Basis von Handlungsentscheidungen bilden sollen – eignet sich die Signifikanz weniger, da sie nur darüber informiert, ob ein Unterschied statistisch besteht. Die praktische Relevanz von Ergebnissen lässt sich dagegen über sogenannte Effektstärkemaße quantitativ beschreiben (vgl. Cohen 1988), die grob einzuteilen sind in Maße für Assoziationen (hierzu zählt der Korrelationskoeffizient) und für Gruppenunterschiede (zu den gebräuchlichen Koeffizienten gehört hier z. B. Cohen’s d) sowie Risikoschätzer (z. B. das relative Risiko oder das Odds Ratio). Die einzelnen Kenngrößen können zum Teil in einander überführt werden, so dass die grundsätzliche Möglichkeit besteht, unterschiedliche Kenngrößen in einheitliche Parameter zu transformieren.

Wenn auch mit dem Klassifikationssystem von Cohen ein weit verbreitetes und häufig genutztes Schema zur Einteilung des Niveaus von Effekten in „klein“, „mittel“ und „groß“ zur Verfügung steht (Cohen 1988), so wird von seiner rigiden Anwendung allerdings abgeraten und eine an den in einem Forschungsgebiet üblichen Effektstärken orientierte Interpretation empfohlen (Fröhlich und Pieter 2009). Bei der Auswertung von im Bereich der angewandten Psychologie durchgeführten Untersuchungen ließ sich ein Median der Effektstärken von 0,16 ermitteln (Bosco et al. 2015), was darauf hinweist, dass kleine Effektstärken nicht per se irrelevant sind. Dies demonstriert auch die folgende Umrechnung: so korrespondiert eine Korrelation von knapp 0,2 – die einen kleinen Effekt anzeigt – mit einem Odds Ratio von annähernd 2,0, d. h. einer doppelt so hohen Chance, z. B. eine Krankheit zu bekommen (vgl. Borenstein et al. 2009).

3 Beratung des Wissenstandes

Die im Rahmen einer Scoping-Studie vorgesehene Beratung des Wissenstandes erfolgte in Form sogenannter „Expertengespräche“, in denen für das jeweilige Themenfeld ausgewiesene nationale und europäische Wissenschaftler um (a) eine Bewertung der Evidenz auf Basis der ermittelten Effektstärken mit dem Ziel der Identifikation zentraler Belastungsfaktoren, (b) eine Beurteilung der Relevanz und zukünftigen Bedeutung der Arbeitsbedingungsfaktoren, insbesondere unter Berücksichtigung der in der Arbeitswelt zu erwartenden Veränderungen, (c) eine Einschätzung des extrahierten Gestaltungswissens unter dem Aspekt seiner praktischen Anwendbarkeit und (d) eine Beschreibung und Priorisierung bestehender Forschungsdefizite, gebeten wurden. Die so erhaltenen Hinweise und Empfehlungen bildeten die Grundlage für die anschließende Finalisierung der Scoping-Reviews.

4 Abschlussbetrachtung

Sämtliche Scoping-Studien (vgl. www.baua.de/psychische-gesundheit) orientierten sich an dem beschriebenen methodischen Vorgehen und sind auf der Hompage der BAuA publiziert. Das vorliegende Sonderheft enthält einen Ausschnitt aus den so entstandenen Literaturaufarbeitungen.

Der Beitrag „Psychische Belastung in der betrieblichen Praxis“ (Lenhardt 2017) geht der Frage nach, wie Unternehmen das Thema psychische Belastung handhaben und kommt zu dem Ergebnis, dass es in den Betrieben bisher eher selten angesprochen wird und große Unsicherheiten darüber bestehen, was unter psychischer Belastung zu verstehen ist und wie mit ihr umgegangen werden soll. Dieser Befund unterstreicht die Notwendigkeit der Sensibilisierung der Betriebe und der Schulung der Aufsichtsdienste für die psychische Belastung, wie sie das GDA Schwerpunktprogramm vorsieht.

Die „Arbeitsaufgabe“ leitet nicht nur die Beschäftigten und steuert ihre Aktivitäten, sondern hat darüber hinaus auch bei der Gestaltung eine zentrale Bedeutung, weil die organisationalen, sozialen und technischen Komponenten eines Arbeitssystems immer mit dem Ziel einer erfolgreichen Aufgabendurchführung aufeinander abzustimmen sind (Ulich 2011). Daher widmen sich die Beiträge zur Arbeitsintensität (Stab und Schulz-Dadaczynski 2017) und Emotionsarbeit (Schulz und Schöllgen 2017) zwei wichtigen Aspekten der Arbeitsaufgabe. Dabei wird einmal deutlich, dass gerade bei der Arbeitsintensität – als einem relativ neuen Konzept – bisher eine einheitliche Begrifflichkeit fehlt, findet sich hier doch eine Vielzahl unterschiedlicher Termini und damit verbunden auch von Erhebungsverfahren, was die Aufarbeitung der Befundlage schwierig macht. Bearbeitbar wurde das Thema durch die Wahl einer Definition, die die Arbeitsintensität als Beziehung zwischen Arbeitsquantität, Arbeitsqualität und Arbeitszeit bzw. -tempo (Trägner 2006) bestimmt. Bei der Emotionsarbeit zeigt sich, dass im Rahmen der Gestaltung bedingungsbezogene Aspekte wie z. B. betrieblich vorgegebene Darstellungsregeln bisher kaum untersucht wurden und Gestaltungsaussagen sich häufig auf die Veränderung anderer Arbeitsbedingungsfaktoren, wie zum Beispiel des situativen Handlungsspielraums beziehen.

Die weiteren zwei Artikel sind inhaltlich der „Arbeitszeit“ als einem aktuell wissenschaftlich intensiv diskutierten Themenfeld zuzuordnen (vgl. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2016). Dabei besteht beim Thema „Arbeitszeitflexibilität“ (Amlinger-Chatterjee und Wöhrmann 2017) ebenfalls das Problem heterogener Konstrukte und verschiedener Definitionen und Operationalisierungen – so kann einmal die vorhandene Möglichkeit der Mitgestaltung der eigenen Arbeitszeit, daneben aber auch die variable zeitliche Verfügung über Beschäftigte gemeint sein. Dementsprechend war hier die Literaturaufbereitung separat für jeden Aspekt vorzunehmen. Die gewonnenen Befunde belegen für beide Formen der Flexibilität differierende gesundheitsbezogene Effekte. Das „Abschalten können von der Arbeit“ (Detachment) während der Ruhezeit (Wendsche und Lohmann-Haislah 2017) repräsentiert einen für die Erholung wichtigen Prozess, der die Beziehung zwischen der Belastung und den auftretenden beeinträchtigenden Beanspruchungsfolgen beeinflusst. Die durchgeführte Meta-Analyse untersucht drei wesentliche Annahmen des sogenannten Stressor-Detachment-Models (Sonnentag 2011, 2012; Sonnentag und Fritz 2015), nämlich den Zusammenhang zwischen psychischer Belastung und Detachment, dessen Korrelation mit ermüdungsbezogenen Beanspruchungsfolgen und den Einfluss des Detachments auf die zwischen den Arbeitsanforderungen und den ermüdungsrelevanten Indikatoren bestehenden Beziehung, die sich alle bestätigen ließen und damit das Modell stützen.

Insgesamt geben die Beiträge einen Eindruck von der Unterschiedlichkeit der Entwicklungsstände der zu den Arbeitsbedingungsfaktoren vorliegenden theoretischen Konzepte und Messansätze. Die Scoping-Studien belegen weiterhin ein Defizit an Längsschnittstudien zur Aufklärung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Deutlich wird außerdem das Fehlen von Interventionsstudien oder Studien vergleichbarer Qualität, die eine notwendige Grundlage zur Gewinnung von Gestaltungswissen darstellen. Es dominieren Gestaltungsempfehlungen, die in der Regel aus empirisch ermittelten Zusammenhängen zwischen Belastung und Beanspruchung abgeleitet werden, ohne dass eine separate (empirische) Prüfung der Gestaltungsaussagen vorgenommen wurde, oder auch Gestaltungshinweise, die sich zwar auf die in den Studien berichteten Erkenntnisse beziehen, jedoch nicht aus der gewonnenen Evidenz hergeleitet sind.

Die Scoping-Studien zeigen generell, dass sich die Arbeitsfaktoren nach ihrer Wirkung in Stressoren und Ressourcen klassifizieren lassen. Ein Stressor geht mit physiologischen und/oder psychischen Kosten einher, erschwert das Erreichen des erwarteten Arbeitsergebnisses oder überschreitet das Leistungsvermögen des Beschäftigten. Dagegen ist eine Ressource funktional für das Erreichen von Zielen und kann die Wirkung von Stressoren abmildern (vgl. Demerouti et al. 2012). Damit ergeben sich auch neue Gestaltungsmöglichkeiten für den Arbeitsschutz, da der Aufbau von Ressourcen z. B. den Einfluss von Stressoren abmildern, Spielräume für die Selbstgestaltung der Arbeit eröffnen oder die Entwicklung personenbezogener Ressourcen unterstützen kann (Projektteam „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – wissenschaftliche Standortbestimmung“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2016). Die gewonnenen Projektergebnisse können mit dazu beitragen, die Arbeitsgestaltung bei psychischer Belastung im Rahmen des Arbeitsschutzes fortzuentwickeln, zusammen mit zahlreichen Initiativen – wie z. B. der GDA oder INQA – die bereits erfolgreich gestartet sind.