1 Einleitung

Eine Verfassung bringt die Grundordnung eines Staates und gleichsam seine grundlegende Idee von einer politischen Gemeinschaft zum Ausdruck. Verfassungen legen (zumeist) in geschriebener Form nicht nur eine legitimatorische Grundidee (Kielmansegg 1971) offen, sie formulieren auch die institutionellen Korridore zwischen Staat und Gesellschaft, entwerfen ein Netz an Legitimationsbeziehungen und schreiben Rechte, Pflichten und Ziele fest. Verfassungen sind der Kern von politischer Normativität. Sie sind aber nie statisch, sie sind in Teilen veränderbar und es kann um sie gerungen werden, solange die Grundidee der Verfasstheit über ein Mindestmaß an Zustimmung verfügt. Es ist daher nicht überraschend, dass sich Proteste oder Rebellionen gegen die verfassungsrechtliche Ordnung selbst richten, sobald der Grund der wahrgenommenen Legitimitätskrise nicht nur im Versagen der Elite selbst gesehen wird. Der Protest verstärkt sich umso mehr, wenn die Grundprinzipien der verfassten Ordnungen – auf die sich ihre Akteure vorgeben zu beziehen – ignoriert werden (Paul 2017, S. 17). Mit anderen Worten wird eine Überwindung der verfassten Ordnung erst dann gefordert, wenn eine geteilte Anerkennung einer verfassungswidrigen Verfassungswirklichkeit vorliegt und den Kern der Mobilisierung gegen die Ordnung manifestiert.

Doch wie zeigt sich das in der Praxis? Ab wann hat zum Beispiel ein exzessiv agierender Polizei- und Sicherheitsapparat die verfassungsrechtliche Ordnung verlassen? Lässt sich dies etwa durch den Verweis auf einen nationalen Ausnahmezustand (vgl. Agamben 2004) abfedern? Oder, noch viel grundsätzlicher, entlang welcher Spielregeln findet ein Ringen um die Rechtmäßigkeit der verfassten Ordnung statt, wenn eine geschriebene Verfassung überhaupt nicht vorliegt? Wer sind die „Gatekeeper“ für den unkodifizierten Kern von politischer Normativität?

Die Beantwortung dieser Fragen steht im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Sie werden schwerpunktmäßig anhand der aktuellen Debatte um die israelische Justizreform erörtert (siehe Abschn. 3). Israel ist neben Großbritannien und Neuseeland eines von nur drei Ländern der Welt ohne eine kodifizierte Verfassung. Die gegenwärtige Debatte um die Justizreform zeigt anschaulich, wie „Verfassungen“ einerseits Spielball von Auseinandersetzung um den Erhalt oder den Zugang zu politischer Macht sein können und andererseits als zentrales Desiderat überhaupt erst artikuliert werden. Mehrfach wurde von Protestierenden und der Politik in Israel von einem „Verfassungsmoment“ gesprochen, der nun erreicht sei. Unser Blick auf Israel zeigt Stressfaktoren auf, die aus dem Umstand resultieren, dass weder eine formale Verfassung noch ein staatliches Grundgesetz vorliegen. Die Gründe hierfür erschließen sich bei einem Blick auf die Gründungsphase des Staates und einer bis in die Gegenwart vorherrschenden Konfliktlinie zwischen den Vorstellungen eines säkularen Staates gegenüber Vertretern religiöser Kräfte, die die Gültigkeit eines religiösen Rechtssystems auch im alltäglichen Leben beanspruchen.

Das Ringen um die Justizreform in Israel bettet sich in unterschiedliche Prozesse der Staatenbildung, Verfassungsentwicklung und politischer Umbrüche in der Region des Nahen Ostens ein. Trotz deren Vielfalt fällt eine entscheidende Gemeinsamkeit mit der Verfassungsentwicklung in der weiteren Region des Nahen Ostens auf: Insbesondere mit den politischen Umbrüchen seit 2010 (vgl. Arabellion, „arabischer Frühling“ o. ä.) und einer seitdem fortdauernden Neuordnung der Region sind alte, neue oder veränderte Verfassungen in allen Ländern ein zentraler Referenzpunkt von politischen Aushandlungen (für eine Überblicksstudie: Schoeller-Schletter 2021). Das ist nicht überraschend, sind doch Verfassungen einerseits das erste Objekt einer Neuordnung nach Umbrüchen, sei es aufgrund von Revolutionen, Putschen oder Protestbewegungen. Andererseits sind Verfassungen auch Zielobjekt von politischen Machtkämpfen, die sowohl Machterhalt als auch Machtkonsolidierung zum Ziel haben und Überwachungsinstanzen, allen voran Verfassungsgerichtsbarkeiten, zu instrumentalisieren versuchen.

2 Verfassungen im Nahen Osten: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Der Widerspruch zwischen dem Anspruch der Verfassung und seiner Umsetzung ist im regionalen Vergleich der Staaten im Nahen Osten eklatant. Zwei besondere Kontextfaktoren sind zu beachten, um diesen Widerspruch zu verstehen: Einerseits liegen zwei staatliche Ordnungstypen vor, die sich hinsichtlich ihrer Verfassungstexte voneinander abgrenzen lassen: Republiken und Monarchien unterscheiden sich zunächst hinsichtlich der jeweiligen legitimatorischen Grundideen. Ist es im ersten Fall das artikulierte „Wir“ des Volkes als Träger der Souveränität, ist es im zweiten Fall der Pluralis Majestatis, der das Volk repräsentiert. Andererseits zeigt sich in der nahöstlichen Region eine starke Verdichtung von autokratischen Regimen, die qua ihrer autokratischen Systemlogik in der Regel den Verfassungsanspruch in sein Gegenteil umdrehen und damit Herrschaftssicherung betreiben.

Der staatliche Ordnungstypus der Monarchie hat sich in der Region des Nahen Ostens als sehr robust erwiesen. Eine in der Mitte des 20. Jahrhunderts rezente Debatte über das Königsdilemma und die Unvereinbarkeit traditioneller Monarchien mit der Moderne hat sich als falsch herausgestellt (Huntington 1968). Das zeigt sich auch in den Verfassungen nahöstlicher Monarchien, die ein breites Portfolio an Legitimitätsressourcen aufweisen. Neben Tradition, gemeinsamer Geschichte und Abstammung kommt Religion als weitere Begründungsressource hinzu. Es ist ohnehin nicht per se das Volk, welches Träger der Souveränität ist und diese über Formen der Repräsentation delegiert. Vielmehr sind es niedergeschriebene dynastisch begründete Herrschaftsansprüche, die in den Verfassungen verankert sind. Das betrifft insbesondere den tradierten Herrschaftsanspruch der Herrscherfamilie und auch die Festlegung der Herrschaftsnachfolge. Dies wird ergänzt durch exogene Begründungsressourcen, sodass beispielsweise im marokkanischen Fall der König als Oberhaupt der Gläubigen auch über religiöse Legitimität verfügt. Der Fall Saudi-Arabien fügt sich ebenso in diese Logik ein, indem die Verfassung nicht Verfassung heißt, da die Verfassung (arab. dustur) das Buch Gottes (hier: der Koran) ist und die de facto Verfassung daher unter dem Namen „Grundgesetz/Grundordnung“ (an-nizam li-l-hukm, eine Ordnung für das Regieren) läuft.

In den Republiken hingegen ist in den Verfassungen der zentrale Referenzpunkt das Volk als Träger der Souveränität. Darin zeigt sich eine im Vergleich zu den Monarchien viel bedeutsamere Artikulation des politischen Willens mitsamt den Elementen der Erzählung einer nationalen Herkunftsgemeinschaft. Die Präambeln der Verfassungen erinnern hier wiederkehrend an das Diktum von Ernest Renan, dass wichtige Bestandteile einer Nation auch das gemeinsame Vergessen und einen Konsens über das gemeinsam geteilte Vergangenheitsrepertoire umfassen (Renan 1882). Es ist die Erzählung der gemeinsamen Geschichte einer nationalen Herkunftsgemeinschaft, die eine kollektive „Wir-Identität“ und den politischen Willen zum Ausdruck bringt. Mit einer frappierenden empirischen Evidenz haben zum Beispiel die arabischen Umbrüche seit 2010 zu einer nachhaltigen Erweiterung der jeweiligen Verfassungspräambeln geführt, die auch dazu dienen, zentralen staatlichen Akteuren eine besondere verfassungsmäßige Rolle zuzuschreiben. Ägypten sticht hier heraus, mit einer de facto extra-konstitutionellen Rolle für das ägyptische Militär als Hüter, Retter und Garant der ägyptischen Nation (vgl. Präambel, ägyptische Verfassung 2014).

Das Forschungsfeld zu Autokratien und Autokratisierungsprozessen hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten an Dynamik gewonnen. Von einer wellenhaften Ausbreitung der Autokratisierung war die Rede. Das überträgt sich auch auf Verfassungen, die eine zentrale Referenz und Legitimationshilfe in der Auseinandersetzung um Macht bleiben. Die Aussetzung von verfassungsrechtlichen Vorgaben im Zuge der Suspendierung des tunesischen Parlaments durch Präsident Kais Saied 2021 erfolgte mit Verweis auf verfassungsrechtliche Pflichten, wonach der Präsident im Falle von höheren Gefahren für die Nation alle Maßnahmen zum Schutze der Ordnung ergreifen darf (Art. 80, tunesische Verfassung 2014). Autokratische Regime in der Region des Nahen Ostens, egal welcher Couleur, legen offensichtlich großen Wert auf eine vordergründige Verfassungskonformität. Datensätze zeigen gar, dass die politische Halbwertszeit von Autokratien maßgeblich steigt, je früher nach einem politischen Umbruch die neue „ruling coalition“ in eine Verfassung investiert, mit dem Ziel „to consolidate a new distribution of power“ (Albertus und Menaldo 2012, S. 280).

Jahrelang war die Autokratieforschung von einer binären Logik beeinflusst, deren Überwindung holprig war, lagen doch zwei unterschiedliche Systemtypen vor, die höchstens über eine Grauzone miteinander verbunden waren. Mit den Ansätzen einer auf den Phänomenbereich der Autokratisierung abzielenden Forschung, die die binäre Aufteilung in Regimetypen überwindet und grundsätzlich alle Prozesse weg von einer liberal-demokratischen Ordnung umfasst, wird die Untersuchung derselben Phänomene in variierenden Regimetypen leichter. Das Ringen um die verfassungsrechtliche Ordnung, die Entscheidung über die Einsetzung von verfassungsrechtlichen Gatekeepern (z. B. Richter) und letztlich die Frage nach der Höherwertigkeit im Wettbewerb zwischen Macht und Recht, ist ein Phänomen, das die Unterscheidungsmerkmale von Demokratien und Autokratien diffus wirken lässt.

3 Staat und Verfassung in Israel im Lichte der Justizreform

Der Staat Israel ist einer der wenigen Staaten weltweit, die keine umfängliche Verfassung besitzen. Anders aber als im Falle Neuseelands oder Großbritanniens liegt dies nicht daran, dass dies nicht gewollt ist. Vielmehr sind die Konfliktlinien innerhalb der israelischen Gesellschaft so ausgeprägt, dass es bis dato nicht gelungen ist, eine Verfassung zu verabschieden. Dies betrifft insbesondere den jüdischen Charakter des Staates, wie die Website der Knesset informiert: „Eine Verfassung ist eine Anordnung von Grundgesetzen, die die Prinzipien und Werte, an die eine Gesellschaft glaubt und nach denen sie leben will, artikulieren. […] Die Schwierigkeiten bei der Verabschiedung einer Verfassung entstammen unterschiedlichen Ansichten über den gewünschten Charakter des Staates Israel als jüdischen Staat.“ (Knesset o.J.) Bereits zur Staatsgründung gab es starke inhaltliche Divergenzen darüber, was die Identität des jungen Staates sein sollte. Diese existieren fort, wie auch beim letzten Versuch vor 20 Jahren, eine Verfassung zu verabschieden, zu sehen war: Für drei Jahre tagte ein Verfassungskomitee (2003–2005). Letztlich scheiterte die Verabschiedung wieder an Fragen der staatlichen Identität: Während der Vertreter der arabischen Israelis forderte, dass Israel „ein Staat für alle Bürger“ sein solle und den jüdischen Charakter ablehnte, wollte die Mehrheit einen „jüdischen und demokratischen Staat“. Die Ultraorthodoxen hingegen betonten, dass sie beide Formulierungen ablehnten, da das jüdische Volk in der Thora bereits eine Verfassung hätte. Das Komitee wurde abgewickelt, ohne dass man einen gemeinsamen Nenner fand.

Der ungelöste Streit um den Charakter des Staates ist allerdings nur ein Aspekt. Ein anderer war auch immer das Verhältnis zwischen Justiz und Parlament und die Sorge der Parlamentarier um ihre Machtfülle. Schon Staatsgründer Ben Gurion selbst wandte sich gegen eine Verfassung, weil ihm klar war, dass diese seine Handlungsräume als Ministerpräsident einschränkten würde (Lerner 2011, S. 66 ff.). Stattdessen wurde mit dem „Harari-Vorschlag“ eine Kompromissformel gefunden. Demnach sollte eine Verfassung im Stückwerk entstehen, in dem im Laufe der Zeit verschiedene Grundgesetze verabschiedet würden. Dies hat sich nur bedingt bewahrheitet. Israel hat zwar bis heute vierzehn Grundgesetze verabschiedet, aber bis 1992 waren diese vor allem technischer Natur und haben Kompetenzen staatlicher Einrichtungen geregelt.

Erst mit der Verabschiedung der Grundgesetze „Menschenwürde und Freiheit“ und „Beschäftigungsfreiheit“ wurden 1992 normative Grundrechte verankert. Es wurden danach noch weitere Grundgesetze verabschiedet (von denen das Nationalstaatsgesetz 2018 das wichtigste war) und zahlreiche Änderungen an Grundgesetzen vorgenommen, dennoch bleiben die Gesetze von 1992 zentral, denn auf ihrer Grundlage erklärte der Oberste Gerichtshof (OGH) 1995 die „konstitutionelle Revolution“: In einem wegweisenden Urteil verkündeten die Richter, dass diese beiden Gesetze ein Normenkontrollrecht für den Obersten Gerichtshof beinhalteten und andere Gesetze sich daran messen lassen müssten. Dies war der letzte Schritt in einer Reihe von Kompetenzausweitungen, die sich der Gerichtshof seit den 1980er-Jahren gegeben hatte. Damit war der OGH nicht nur das höchste Appellationsgericht, sondern von nun an auch Verfassungsgericht.

4 Der Streit über die Rolle des israelischen Obersten Gerichtshofs

Die israelische Politik war und ist gespalten über die Ausweitung der Kompetenzen des Gerichtshofs. Dabei ist wichtig zu betonen, dass diese Kritik bis Mitte der 2000er Jahre vor allem technischer Natur war: Die Kritiker des OGH erklärten, dass dieser seine Grenzen überschritten, politische Entscheidungen anstelle des Parlaments getroffen und die Autorität der Knesset ungerechtfertigt eingeschränkt habe. Im Gegensatz dazu argumentieren die Befürworter des Gerichtshofs, dass dieser ein notwendiges Korrektiv für ein politisches System darstelle, das grundlegende Rechte nicht angemessen verankere und respektiere, während gleichzeitig Korruption in der Politik nur unzureichend sanktioniert werde (Galnoor und Blander 2018, S. 197–232).

Jenseits der Frage der Gewaltenteilung formierte sich aber gegen Ende der 2000er Jahre Kritik an den liberal-demokratischen Grundlagen des OGHs, die im rechts-religiösen Lager zunehmend an Bedeutung gewann. Israel hat seitdem einen signifikanten Rechtsruck erlebt, der dadurch gekennzeichnet ist, dass ein eher liberal orientierter Teil der Gesellschaft einer rechten Mehrheit gegenübersteht, die gegenüber universalen und liberalen Werten skeptisch ist und den jüdisch-kollektiven Charakter des Staates im Verhältnis zu individuellen Rechten wesentlich stärker betonen will. Die größte Zuspitzung hat dieser Konflikt unter der aktuellen Regierung gefunden, die aus dem Likud und mehreren orthodoxen und ultraorthodoxen Parteien besteht. Sie ist die historisch rechteste Regierung der israelischen Geschichte und wird durch einen anti-liberalen Impetus geeint, der sich insbesondere gegen den OGH richtet (Lintl 2023a). Dies hat eine Reihe von Gründen: Die Ultraorthodoxen wenden sich gegen den Gerichtshof, weil er ihnen viele Sonderrechte (etwa die Verstetigung der Wehrdienstbefreiung) untersagte. Weite Teile der religiösen Zionisten sehen den OGH kritisch, weil sie ihn als Akteur betrachten, der die Besiedlung des Westjordanlands behindert und vermeintlich palästinensische Interessen bevorzugen würde. Für den Likud ist dies hingegen eine Entwicklung, die erst in den 2010er Jahren an Prominenz gewann, als sich die Partei von einer nationalliberalen Partei zu einer majoritär-populistischen Partei transformierte. Der heutige Likud sieht in institutionellen und grundrechtsbezogenen Machtbeschränkungen unzulässige Beschneidungen von gewählten Mehrheiten. Maßgeblich verstärkt wurden diese Tendenzen im Likud zusätzlich durch Premier Netanyahu selbst. Dieser wurde nach einer Anklage wegen Korruption 2018 von einem Verteidiger zum schärfsten Kritiker des Justizsystems und spricht seitdem von einem versuchten juristischen Coup d’Etat. Der vorgelegte Plan zum Umbau der Justiz aus dem Januar 2023 ist vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen zu verstehen.

5 Die Justizreform in Israel

Die geplante Justizreform hatte das Ziel, die Kontrollbefugnisse des Gerichts über das Parlament aufzuheben. Unter den zahlreichen Vorhaben, die dies beinhalteten, sind drei zentrale Aspekte besonders hervorzuheben (Lintl 2023b). Zum einen sollte das Gremium, das Richter zum OGH bestellt, in Zukunft ausschließlich mit einer Regierungsmehrheit über Berufungen entscheiden können, ohne Kompromisse eingehen zu müssen. Zweitens sollte eine „Überstimmungsklausel“ verabschiedet werden, die es möglich machen sollte, ein im Rahmen einer Normenkontrollprüfung zurückgewiesenes Gesetz dennoch mit einfacher Regierungsmehrheit von 61 Stimmen zu verabschieden. Damit verbunden ist die Erhöhung der Mindestzahl der Richter, die einer Zurückweisung zustimmen müssten. Bisher reichte eine einfache Mehrheit aus, in Zukunft sollten es mindestens elf von 15 sein. Als dritter zentraler Aspekt sollten Beschränkungen der Rechtsprinzipien, auf deren Grundlage der Gerichtshof Urteile fällen kann, verankert werden. Dies betraf insbesondere die Aufhebung des Prinzips der „Angemessenheit“ zur Beurteilung des Handelns der Exekutive. Des Weiteren sollte dem Gericht die Extrapolation von Normen aus anderen Gesetzen für die Urteilsfindung untersagt werden. In Israel sind nur einige Grundrechte gesetzlich verankert, und nicht gesetzlich festgehaltene Prinzipien wie Gleichheit, Redefreiheit oder Religionsfreiheit könnten nicht mehr wie zuvor durch das Gericht gegen Gesetzgebungen geschützt werden, die diesen Prinzipien zuwiderlaufen (Sharon 2023).

Diese Pläne sind deswegen von so großer Trageweite für Israel, da sie ein Ende jeglicher effektiven Kontrollfunktion des Gerichts bezüglich des Parlaments bedeutet hätten, die liberale Demokratien charakterisiert. In Israel gibt es keine andere Instanz, die eine Kontrolle des Parlaments im Sinne von „Checks and Balances“ ausübt: Es gibt kein föderales oder präsidentielles System, keine zweite Kammer, es gibt keine Einbindung in einen supranationalen Verbund wie die EU oder Plebiszite wie in der Schweiz. Dadurch würde das Parlament keinerlei Einschränkungen mehr unterliegen, und Grundrechte sowie andere grundlegende Rechtsprinzipien könnten nicht mehr gegenüber Mehrheitsentscheidungen geschützt werden. Mit diesen Reformvorhaben hatte die Regierung daher die Systemfrage gestellt: Sollte Israel sich an Prinzipien liberaler Demokratien zumindest orientieren, oder sollte im Zuge der Justizreform eine majoritäre oder illiberale Demokratie geschaffen werden, wie man sie ähnlich in Polen oder Ungarn befürchtet?

Nachdem die Regierung ihre Pläne vorgestellt hatte, formierte sich aber auch massiver Widerstand: Bis zum Anschlag der Hamas am 07. Oktober 2023 gingen seit Jahresbeginn zehn- oder sogar hunderttausende Israelis gegen die Reformvorhaben wöchentlich auf die Straße. Dies hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Pläne der Regierung stark verzögert wurden. So wurde am 24. Juli nur eine Grundgesetzänderung verabschiedet, die dem Gericht untersagen sollte, den rechtlichen Standard der Angemessenheit zu benutzen. Dagegen wurde seitens der „Movement for Quality Government in Israel“ geklagt und es bahnte sich ein Machtkampf zwischen Regierung und Oberstem Gerichtshof an: Nicht nur, weil sich das Gesetz explizit gegen die Kompetenzen des Gerichts richtete, sondern auch, weil es sich um eine Grundgesetzänderung handelte. Bis dato war nicht klar, ob das Gericht die Zuständigkeit hatte, darüber zu urteilen, ob es eine verfassungswidrige Verfassungsänderung geben kann; noch dazu in einem Land, das keine wirkliche Verfassung hat (Roznai 2017). Am 01. Januar 2024 hat der OGH entschieden: Mit acht zu sieben Stimmen wurde ein Urteil gefällt, wonach die Grundgesetzänderung zur Angemessenheit hinfällig sei. Im gleichen Urteil haben aber zwölf der Richter die Kompetenz des Gerichtshofes festgehalten, Verfassungsänderungen zu überprüfen. Diese Urteile sind eine klare Niederlage für die Regierung und die sogenannte Justizreform ist damit – auch vor dem Hintergrund des Krieges mit der Hamas – vom Tisch. Dies ist nicht nur ein Punktsieg für den Obersten Gerichtshof, sondern auch für liberal-demokratische Prinzipien.

Gleichwohl muss man attestieren: Der israelische Oberste Gerichtshof hat unverändert ein Legitimationsproblem, da er sich viele seiner Kompetenzausweitungen selbst zugestanden hat. Dies bedürfte langfristig einer demokratischen Einhegung durch eine klare Definition seiner Kompetenzen durch das Parlament – idealiter im Rahmen einer Verfassung. Ob nach diesem enorm spaltenden Versuch der Justizreform ein Verfassungsmoment tatsächlich gekommen ist, bleibt unklar. Viel wird von den Ergebnissen der nächsten Parlamentswahl in Israel abhängen. Aber eine im Rahmen einer Verfassung neu gewonnene Legitimation des OGH wäre sicherlich der beste Schutz vor illiberalen Transformationsvorhaben des Staates durch rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien, die in Israel – wie auch in anderen Fällen weltweit – nicht so schnell wieder verschwinden werden.

6 Fazit

In Zeiten politischer Veränderungen wird um Verfassungen besonders gerungen. Das zeigt sich auch am Beispiel der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas, deren politische Ordnungen sich seit den arabischen Umbrüchen von 2010 Stressfaktoren ausgesetzt sehen und sich entlang dieser neu konfigurieren. In unserem Beitrag haben wir zunächst die Bedeutung von Verfassungen unabhängig des vorliegenden Regimetypus aufgezeigt und veranschaulicht, wie auch in autokratischen Ordnungen um Verfassungen gestritten wird und sie für unterschiedliche Herrschaftszwecke instrumentalisiert werden. Am Fallbeispiel der israelischen Demokratie und ihrem Ringen um eine Verfassung wurde offensichtlich, wie das Fehlen einer Verfassung auch zu Legitimationsproblemen der de facto vorliegenden Verfassungsorgane führt und konkurrierende Selbstzuschreibungen in den Zuständigkeiten der demokratischen Kontrollinstanzen die Regel sind. Das Fehlen einer Verfassung in Israel zeigt auch, dass das ohnehin nur eingeschränkt liberal-demokratische System und dessen Einrichtungen anfällig für illiberale Vorstöße sind. Dennoch hat die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Anfang 2024 die geplante Justizreform bis auf weiteres gestoppt. Das Gericht hat damit seine zentrale Rolle als Gatekeeper der liberal-demokratischen Ordnung gestärkt. Ob sich daraus ein Verfassungsmoment – 75 Jahre nach Gründung des Staates – entwickelt, bleibt abzuwarten. Letztlich belegt unsere Analyse der Verfassungsdebatte im Kontext der weiteren Region und der Streit um die Justizreform in Israel, dass das Ringen um eine verfassungsrechtliche Ordnung, die Entscheidung über die Einsetzung von verfassungsrechtlichen Gatekeepern und im Weiteren die Frage nach der Höherwertigkeit im Wettbewerb zwischen Macht und Recht, ein Phänomen darstellt, das die Unterscheidungsmerkmale von Demokratien und Autokratien diffus wirken lässt.