1 Einleitung: Die neuakzentuierte Frage der Legitimation professionalisierter Interessenvermittlung

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) übernehmen vielfältige Rollen und Funktionen in der Politikgestaltung moderner Demokratien. Als gut organisierter Teil der Zivilgesellschaft tragen sie zur Mobilisierung und Aktivierung von Bürger*innen bei, als Expertiseträger setzen sie vernachlässigte Themen auf die politische Agenda und als sektorale Watchdogs weisen sie öffentlichkeitswirksam auf Missstände hin. Anders als z. B. etablierte Umwelt- und Verbraucherschutzverbände haben NGOs oftmals keine klassische Mitgliederstruktur mit basisdemokratischer Rückkopplung, sondern konzentrieren sich auf relativ kleine, autonome, hoch professionalisierte Organisationseinheiten. Diese verfügen häufig über eine hohe Kampagnenfähigkeit, die mediale Resonanz erzeugt. Vielfach genießen NGOs einen gesellschaftlichen Vertrauensvorschuss für ihre Anliegen (Brunnengräber et al. 2001), und vermehrt werden sie in etablierte Gremien der Governance-Strukturen einbezogen (Löw Beer et al. 2021; s. auch Schaub und Tosun sowie Hickmann und Prem in diesem Band). In der „positiven Storyline“ war mit ihrem globalen Aufstieg war von einer „NGOisierung der Weltpolitik“ (Altvater und Brunnengräber 2002, S. 13) die Rede, die die schlecht organisierbaren Interessen der Zivilgesellschaft in einflussreiche Gegenspieler von Politik und Wirtschaft aufrücken ließ. Hingegen geraten klassische Verbände, wie Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, durch die Veränderungstrends unter Druck (Strünck und Sack 2017). Eine kritische Betrachtungsweise folgt der Gegenthese, die die vermeintlich starke Stellung von NGOs relativiert. Denn deren organisationale Flexibilität geht oftmals auf Kosten einer dauerhaften, belastbaren Finanzierungsstruktur. NGOs finanzieren sich oftmals primär über Spenden oder sogar – vermeintlich kontraintuitiv – aus Projektmitteln öffentlicher Geldgeber. Dies erschwert die finanzielle Planbarkeit und kann zu einseitigen Abhängigkeiten von Spenden- und Aufmerksamkeitszyklen führen. Hinzu kommt die Diskussion um shrinking spaces – d. h. das Schrumpfen bzw. die beabsichtigte Einhegung von Handlungsspielräumen der organisierten Zivilgesellschaft – anschließend an den restriktiver werdenden Umgang einiger europäischer und außereuropäischer Staaten mit NGOs (Bouchet und Wachsmann 2019; s. Richter et al. in diesem Band). Eine solche Diskussion bildet sich inzwischen auch auf der nationalen Ebene ab. Stellvertretend zu nennen ist die politische Debatte in Folge des Attac-Urteils des Bundesfinanzhofs von Anfang 2019, welches der steuerlichen Gemeinnützigkeit enge Grenzen für politisches Engagement zog. Neben Attac verlor u. a. die Petitions- und Beteiligungsorganisation Campact ihren Gemeinnützigkeitsstatus. Eine Reform der Abgabenordnung im Gemeinnützigkeitsrecht wurde in der ersten Jahreshälfte 2021 diskutiert, fand aber keine Einigung in der Regierungskoalition. Das Handeln und die demokratische Legitimation von NGOs, ihr interner Aufbau und die Willensbildung sowie die finanziellen Grundlagen und rechtlichen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit sind, so die These, stärker in das öffentliche Interesse gerückt. Interessenvermittlung und Politikgestaltung sind infolge der angedeuteten Entwicklungen dynamischer, variabler, umkämpfter und konfliktbehafteter und somit begründungspflichtiger geworden.

Das vorliegende Special Issue befasst sich vor diesem Hintergrund mit der übergeordneten Leitfrage, wie NGOs in demokratischen Prozessen der Politikgestaltung handeln und wie ihre Strategien und Handlungslogiken im Kontext von Politikgestaltung und professionalisierter Interessenvermittlung einzuordnen sind. Das Special Issue verfolgt dabei das Ziel, eine Bestandsaufnahme zu NGOs und ihrer Arbeit im nationalen und internationalen Kontext zu leisten, die theoriegeleitete empirische Forschung und Einsichten aus der PraxisFootnote 1 miteinander verbindet. Dieser Dialog verspricht nicht zuletzt eine genauere Eingrenzung des notorisch schwammigen, oft selbst interessengeleiteten Konzepts „NGO“. Die Debatte ist dabei nicht nur von akademischer Bedeutung. Auch die Praktiker*innen in NGOs, Verbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen beteiligen sich aktiv an der Diskussion, teils in wissenschaftlich orientierten Reflexionen, teils im Selbstverständnis des Branchendiskurses mit eigenen Publikationen und teils im direkten Austausch von Wissenschaft und Praxis.

Der vorliegende Beitrag skizziert im Folgenden, wie das Konzept der NGOisierung in der Debatte über Veränderungstrends und Entwicklungslinien der Interessenvermittlung verwendet wird (Kapitel 2) und thematisiert das Spannungsfeld von Interessenvermittlung und Politikgestaltung, in welchem sich NGOs und andere Akteure der Interessenvermittlung bewegen (Kapitel 3). Daran schließt eine Übersicht über die Beiträge des Bandes an, die sowohl den Wandel der Interessenvermittlung als auch den Wandel der Organisationen aus den pluralen Perspektiven der politikwissenschaftlichen Teildisziplinen beleuchtet (Kapitel 4). Zum Abschluss gibt der Beitrag einen Ausblick auf eine zukünftige Forschungsagenda moderner demokratischer Interessenvermittlung (Kapitel 5).

2 „NGOisierung“ in der Interessenvermittlung

Das Feld der Interessenvermittlung hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten fundamental gewandelt. Unter dem Eindruck grenzüberschreitender Entwicklungen, die mit den Stichworten Globalisierung, Digitalisierung und Europäisierung überschrieben werden können, hat sich sowohl das Feld der Akteure ausdifferenziert, die Interessenvermittlung betreiben, als auch das Spektrum an Aktivitäten verändert und erweitert, welche unter dem Begriff der Interessenvermittlung subsumiert werden können. Der Aufstieg von NGOs im Feld der Interessenvermittlung spiegelt einen Trend zur Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Professionalisierung wider (Lösche 2007, Zimmer und Speth 2015; Reutter 2018; Donges 2020). Mit NGOs werden häufig spektakuläre Protestaktionen (z. B. von Greenpeace) oder großangelegte Kampagnen (z. B. die Gemeinschaftskampagne gegen TTIP/CETA sowie die Kampagne des zivilgesellschaftlichen Bündnisses zum Klimastreik von Fridays for Future). Doch die vereinfachende Gegenüberstellung, dass klassisches Lobbying von Verbänden und Unternehmen nicht-öffentlich abläuft (inside lobbying) und sich NGO-Lobbying in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit bewegt (outside lobbying), greift zu kurz. Vielmehr berücksichtigen NGOs – wie andere Interessenorganisationen auch – bei ihren Strategieentscheidungen zieladäquate Gelegenheitsstrukturen, die gleichsam Hebel und Hürde für die politische Wirksamkeit sein können. Denn „institutional and public advocacy“ stehen in einem grundlegenden Konflikt der Adressaten und Instrumente, der sich an kooperativer Beteiligung innerhalb der politischen Prozesse und an der kritisch-konflikthaften Mobilisierung von Öffentlichkeit und Aktivist*innen zeigt (Lang 2013, S. 22–24; vgl. Brunnengräber 2015, S. 646–648). Lautstärke kann hier eine Zugangshürde sein, wenn konfrontative Strategien bei Politik und Verwaltung auf Irritation stoßen (zu Abwägungsprozessen siehe Schiffers 2021a, S. 7). Das Handlungsrepertoire von NGOs innerhalb dieser strukturellen Gegenüberstellung umfasst neben der Medienarena und Bewegungsprotesten (Haunss und Sommer 2020) auch die Mobilisierung des Rechts (Rehder und van Elten 2019; Thierse 2020; s. Hahn und Fromberg in diesem Band) und expertisebasierte Formen der Beteiligung im Gesetzgebungsprozess (vgl. Zimmer 2021, S. 17; s. Spohr in diesem Band). Doch auch die Verbände haben ihre politische Kampagnenarbeit – Stichwort Public Affairs – professionalisiert. Stellvertretend zu nennen sind die Studien zur Digitalisierung von Verbänden (Klauß 2014), zur Kampagnenarbeit der Gewerkschaften (Futh 2018) und der Wirtschaftsverbände (Preusse 2017). Die arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) stellt geradezu den Lehrbuchfall einer medienwirksamen Kampagnenplattform dar.

Der politische Bedeutungszuwachs von NGOs korrespondiert nicht direkt mit dem politikwissenschaftlichen Wissensstand. Die dort vorherrschende Perspektivenpluralität (ausführlich in Schiffers und Körner 2019, Schiffers 2021b [i.E.], S. 15ff) führt dazu, dass der Forschungsstand zu NGOs facettenreich und fragmentiert ist. Dieser teilt sich auf Erkenntnisinteressen aus, die aus der Interessengruppen- und Verbändeforschung, den Internationalen Beziehungen sowie der Protest‑, Bewegungs- und Bürgerschaftlichen-Engagement-Forschung stammen sowie im Überschneidungsbereich der Governance‑, Policy- und Regierungsforschung liegen. Zentrale Überblickswerke neueren Datums finden sich im Datenreport Zivilgesellschaft (Krimmer 2019), in Bestandsaufnahmen der Verbändeforschung (Reutter 2018) und der Zivilgesellschaftsforschung (Zimmer 2018; Zimmer und Simsa 2014; Grønbjerg und Prakash 2017), im Bereich der Lobbying-Strategien (De Bruycker/Beyers 2019; Wonka et al. 2018; Junk 2016; Klüver et al. 2015) sowie in Beiträgen zur Rolle von Expertise von NGOs (Hilton et al. 2013) und zu Öffentlichkeit und Medienbeziehungen (Remus und Rademacher 2018). Im Folgenden soll es darum gehen, den Begriff der NGOisierung zu konkretisieren, beginnend bei dessen Ursprung, verschiedenen Konzepten der NGOisierung und der Frage, wie sich die NGOisierung der Interessenvermittlung gestaltet.

2.1 Was wird NGOisiert?

Die Vereinten Nationen sprachen in den 1990er-Jahren von der „NGOisierung der Weltpolitik“ und der „Dekade der NGOs“ (Frantz und Martens 2006, S. 16; Brunnengräber 2015, S. 636). In diesem Zeitraum etablierte sich der Akteurstypus in Gesellschaft und Medien („NGOs obtained taken-for-grantedness“, Marberg et al. 2016, S. 2741–2743, S. 2737). Auch der Anwendungsbereich des Begriffes hat sich verschoben, sodass einige Autor*innen pauschalerweise eine „NGOisierung der Politik“ (Frantz und Martens 2006) oder die „NGOization of civil society“ (Lang 2013, S. 7) diagnostizieren. Im Kern beschreibt der Begriff der NGOisierung, wie soziale Bewegungen in feste Organisationsformen übergehen und sich in diesem Prozess professionalisieren, bürokratisieren und institutionalisieren. Analytisch werden damit Veränderungsprozesse auf der gesellschaftlichen Makro- sowie auf der organisationalen Mesoebene gefasst. In unterschiedlichen Kontexten, etwa der Protestforschung und den Internationalen Beziehung, finden sich weitere Akzentuierungen des Begriffs. Der Begriff der NGOisierung hat durchaus eine negative Konnotation. Institutionalisierung und Professionalisierung führen nach manchen Einschätzungen dazu, dass Themen depolitisiert bzw. Bewegungen, die sich für gesellschaftlichen Wandel einsetzen, demobilisiert werden (Choudry et al. 2013, S. 1). Im deutschen Kontext wurde begrifflich weniger von einer NGOisierung, sondern eher von einer „Verbandlichung“ gesprochen (Schmid 2010, S. 347; vgl. Lösche 2007, S. 76ff). Soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Interessengruppen entwickelten ihre Strukturen nach dem Vorbild von klassischen Verbänden mit lokaler Verankerung und föderalem Aufbau. Die Machtressourcen rekurrieren wie bei Verbänden auf die klassische Mitgliedschafts- und Einflusslogik. Sie umfassen die Alleinstellung bzw. die organisationale Konkurrenz, die Zahl der Mitglieder, die Fachexpertise, möglichst präzise formulierte Interessen sowie die Organisations- und Konfliktfähigkeit. Beispielhaft zu nennen sind die Umweltverbände BUND und NABU mit föderalem Aufbau und hoher Mitgliedszahl sowie die finanzmarktkritische NGO Attac mit Regionalgruppen in einer basisorientierten und föderalen Organisationsstruktur.

2.2 Wie wird NGOisiert?

Systematisch lassen sich verschiedene Aspekte des Konzepts und seiner Wirkungsweise differenzieren. Besonders anschaulich führt Sabine Lang in die Diskussion ein:

[NGOization] refers to the process by which social movements professionalize, institutionalize, and bureaucratize in vertically structured, policy-outcome-oriented organizations that focus on generating issue-specific and, to some degree, marketable expert knowledge or services. Emphasis is placed on organizational reproduction and on the cultivation of funding sources. It frequently results in increased recognition and insider status in NGOs’ issue-specific policy circles (Lang 2013, S. 62–63).

Der beobachtbare, übergeordnete Veränderungstrend umfasst neue Anforderungen, die von Politik und Gesellschaft an Interessenorganisationen gestellt werden. Hinzu kommen organisationsbasierte Faktoren, wie Entscheidungsstrukturen, eigene Expertise und der Ausbau von Finanzierungsquellen, sowie handlungsbasierte Faktoren, wie die aktive Beteiligung im Kreis der politischen Expert*innen. Lang (2013, S. 7–8) zufolge, lösen die Pull-Faktoren der Professionalisierung positive Feedbackmechanismen aus: NGOs werden verlässliche Partner von Staat, Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Partnern, die Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und Regierung „normalisiere“ sich.

NGOisierung wirkt sich als Veränderungstrend über den institutionellen Kontext auf die Akteure aus („institutionalization of advocacy“, Lang 2013, S. 8). Die Professionalisierung sozialer Bewegungen wird als notwendig angesehen, um bestimmte Anliegen auf nationaler wie europäischer Ebene erfolgreich bearbeiten zu können (Paternotte 2016, S. 390). Als Resultat verschiebt die NGO-Arbeit den Schwerpunkt der Interessenvermittlung auf „institutional advocacy“, dessen Arbeitskulturen sich vom öffentlichen Engagement („public advocacy“) mit der Basis unterscheiden (Lang 2013, S. 74). Die Anforderungen für den Zugang in die Politikgestaltungsprozesse treffen allerdings auch andere Interessengruppen (Binderkrantz und Pedersen 2020). Erklärungsfaktoren für diese Aspekte der NGOisierung liegen (1) in den Austauschbeziehungen zwischen Regierung, Interessengruppen und Verwaltung innerhalb der Governance-Strukturen, in denen Komplexe Kompromisse für Paketlösungen gefunden werden müssen, (2) in der wachsenden Konkurrenz der spezialisierten und professionalisierten Stimmen, die um Berücksichtigung ihrer Anliegen auf der politischen Agenda ringen sowie (3) in den verschiedenen Handlungslogiken der politischen Arenen von Ministerialbürokratie, Parlament und Medien (Schiffers 2021a, S. 4–5).

Die Veränderungstrends schlagen sich in innerorganisationalen Anpassungsprozessen nieder. Die Professionalisierung zeigt sich am Organisationsmanagement, in der Kampagnenorganisation und der Lobbyarbeit (Frantz und Martens 2006, S. 127). Dies hat Konsequenzen für die internen Strukturen, die vielfach in einer hierarchisierten Führungsspitze münden, in der fast ausschließlich hochqualifizierte, hauptamtliche Mitarbeiter*innen zu finden sind und ehrenamtliche Aktivist*innen zunehmend marginalisiert werden (s. Schneiker und Joachim in diesem Band). Der Bewegungscharakter einer Organisation rückt in den Hintergrund. Mit angepasstem Handlungsrepertoire wird die institutionelle Interaktion mit politischem Entscheidungsträger*innen vereinfacht und effizienter, jedoch mit verändertem Verständnis von Aktivismus (Paternotte 2016, S. 391; Choudry und Kapoor 2013, S. 7; vgl. Heinze 2020, S. 95–97). Auch andere Interessenorganisationen sind von diesen Zielkonflikten betroffen: Eine breit aufgestellte Mitgliederbasis ist entscheidend, um politisch einflussreich zu sein, erschwert es aber, die Interessen zu bündeln und politisch zu vertreten (Kohler-Koch 2017; Heinze 2020, S. 51). Übertragbare Aspekte der NGOisierung können hier in höherer organisationaler Flexibilität, besserer Kampagneninfrastruktur sowie gezielter Kommunikation gegenüber der Basis bzw. Mitgliedschaft sowie gegenüber der Politik liegen.

Die institutionelle Verzahnung der NGOs führt in den Augen der Kritiker*innen dazu, dass Bewegungsakteure mit diversen Stimmen verschwinden. Durch Ausschlusskriterien und lock-in Effekte konzentriert sich das Akteursfeld auf wenige, zentrale Organisationen. Diese können zwar ihre Anliegen gezielt und wirkungsvoll in den Politikgestaltungsprozess einbringen. Weniger gut organisierbare Interessen drohen jedoch übersehen zu werden. Statt Wandel anzustreben, werde der Status quo reproduziert, weswegen sich der Veränderungsprozess gegen antikapitalistische, antikoloniale und anti-neoliberale Ziele stelle (Brunnengräber 2015, S. 636–637, Choudry und Kapoor 2013, S. 1, S. 9–12, Lang 2013, S. 6–7, S. 63-64, Frantz und Martens 2006, S. 17, Altvater und Brunnengräber 2002).

2.3 Wie umfassend wird NGOisiert?

Die Debatte über die Qualität moderner Interessenvermittlung schließt an die Frage an, inwieweit neue Lobbying- und Organisationsstrategien ein Zeichen von NGOisierung sind (vgl. Lang 2013; Choudry und Kapoor 2013), oder inwieweit alle Organisationstypen von Interessengruppen auf strukturelle Herausforderungen und Veränderungstrends innerhalb der Governance-Strukturen reagieren (vgl. Lösche 2007; Strünck und Sack 2017; Zimmer und Speth 2015). Die Bausteine einer Antwort darauf sind dynamisch. Der vorliegende Band nimmt zum einen die Veränderungsprozesse im NGO-System in den Blick, welche Interessenvermittlung zunehmend mit Implementation und (Ko‑)Regulierung flankieren. NGOisierung bezieht sich dort verstärkt auf die analytische Makroebene, die die Interaktionsmuster von NGOs, Unternehmen und staatlichen Akteuren insbesondere bei grenzüberschreitenden Problemen prägt. Zum anderen betreffen die Veränderungstrends auf analytischer Mesoebene die Strategie- und Instrumentenwahl von NGOs, die Arenen der Konfliktbearbeitung (Regierung, Verwaltung, Parlament, Gerichte, Medien) und den Handlungsspielraum, der ihnen dafür zu Verfügung steht. Deutlich wird dabei, dass es sich bei NGOisierung nicht um einen Automatismus handelt und oder die Entwicklungen nicht umkehrbar sind (vgl. Lang 2013, S. 65). Gerade die Debatte über shrinking spaces zeigt, welche staatlichen Einschränkungen gegen NGOs möglich sind.

Aus Perspektive der Protest- und Bewegungsforschung bleibt der Konflikt zwischen Bewegung und Organisation im Vordergrund. Rest (2011, S. 85) stellt am Beispiel internationaler Klimapolitik eine Dynamik „von der NGOisierung zur bewegten Mobilisierung“ heraus. Demnach differenzieren sich die NGO-Strategien zwischen kritischen, bewegungsorientierten Akteuren und zwischen professionalisierten, auf institutionelle Partizipation ausgerichteten Organisationen, sodass sich NGOs und soziale Bewegungen teilweise in einem Konkurrenzverhältnis gegenüberstehen. Brunnengräber (2015, S. 646) zeichnet diese Bewegungszyklen fort und beschreibt den Weg „von der NGOisierung zur Protestmobilisierung – und wieder zurück“. Für ihn bleibt die Gegenüberstellung zwischen „Partizipations-NGOs“ als Unterschied in der Strategieausprägung bestehen. Wie sich Professionalisierungstendenzen in diesem Kontext darstellen, wird beispielhaft an der Fridays-for-Future Bewegung zu sehen sein (vgl. Haunss und Sommer 2020).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die NGOisierung der Interessenvermittlung an die Diskussion über Amerikanisierung und Professionalisierung in der Wahlkampfforschung erinnert (vgl. Holtz-Bacha 2016; Kleinsteuber 2008). Neben systemischen und kulturellen Besonderheiten zeigten sich in den USA – verkürzt gesprochen – Professionalisierungsstrategien stärker ausgeprägt oder früher als in anderen modernen Demokratien. Analog dazu hängen zentrale Veränderungstrends der Interessenvermittlung ebenfalls mit umfassenden Professionalisierungslinien zusammen, während andere NGO-spezifische Besonderheiten am öffentlichkeitsorientierten Akteurstypus verbunden sind oder sich dort in zugespitzter Form (zuerst) zeigen. Diese Analogie kann eine Richtung für die Antwort vorzeichnen, empirisch bleibt der Wissensstand dazu noch begrenzt.

3 NGOs im Spannungsfeld von Interessenvermittlung und Politikgestaltung

Interessenvermittlung ist heute nicht mehr nur im Wortsinn die Vermittlung bzw. Vertretung von Interessen, die innerhalb von mitgliedschaftsbasierten Organisationen aggregiert, austariert, artikuliert und repräsentiert werden. Zimmer und Speth (2015, S. 12) sehen in der paradigmatischen Verschiebung von der „Macht der Organisation“ hin zur „Macht der Information und Kommunikation“ einen Wandlungsprozess der Politikgestaltung. Die Durchsetzungsfähigkeit von Interessen ist nicht mehr nur allein eine Sache von Organisation und Mitgliederstärke; mindestens ebenso wichtig ist der Transfer fachlicher Expertise gegenüber politischen Entscheidungsträger*innen sowie die Bereitstellung für Laien verständlich aufbereiteter Informationen an Vertreter*innen der Medien, betroffene Gruppen oder Unternehmen (Zimmer 2021, S. 6 Reutter 2018, S. 912, Strünck und Sack 2017, S. 2).

Interessenvermittlung als Politikgestaltung bedient sich heutzutage auch und vor allem den Mitteln moderner (d. h. digitaler) politischer Kommunikation und ist geprägt durch Themenanwaltschaft und die Beanspruchung einer Meinungsführerschaft für spezifische Anliegen in der Gesellschaft (advocacy) sowie die Ermöglichung innovativer, unkonventioneller und oftmals nur punktueller Formen politischer Partizipation (Schiffers 2021a, S. 3–5; Donges 2020, S. 11–13; Lang 2013, S. 130–131). Es würde jedoch zu kurz greifen, unter NGOisierung der Interessenvermittlung allein die verstärkte Rolle von NGOs in der politischen Mobilisierung und die Tendenz zu „Meinungsmache“ und dem medial inszenierten Aufbau öffentlichen Drucks auf politischen Entscheidungsträger zu subsumieren. Folgt man Beer et al. (2012), übernehmen NGOs drei Funktionen: neben 1) der Aufdeckung und Anprangerung von Missständen sowie der Einflussnahme auf Entscheidungsträger und die öffentliche Meinung (advocacy) sind dies 2) die Bereitstellung sozialer und technischer Dienstleistungen (service provision) sowie 3) die Erarbeitung, Implementation und das Monitoring von Standards, beispielsweise in Form von Zertifikaten über faire Arbeits- und Handelsbedingungen oder die Einhaltung ökologischer Standards bei der Produktion (regulation).

Für den vorliegenden Band erweist sich neben advocacy insbesondere die Funktion der (Ko‑)Regulierung (regulation) als erkenntnisleitende Komponente einer Form der Politikgestaltung, die zunehmend von NGOs geprägt wird und zugleich auf die Binnenorganisation und das Selbstverständnis von NGOs zurückwirkt. Demgegenüber spielt die operative Funktion (service provision) eine untergeordnete Rolle, soweit es – wie in dem vorliegenden Band – um eine Analyse der Rolle von NGOs im Prozess der Politikgestaltung in liberalen, wohlfahrtsstaatlich geprägten Demokratien geht. Zum einen stellt diese stark auf international tätige NGOs ab, die in Staaten des Globalen Südens oftmals mithilfe von Entwicklungshilfegeldern Dienstleistungen und Güter erbringen, für die in entwickelten Wohlfahrtsstaaten eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung sorgt (z. B. Versorgung mit sauberem Trinkwasser) oder die sich für profitorientierte Unternehmen nicht rentieren (Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu Gesundheitsthemen) (Teegen et al. 2004; Rahman 2006; Hern 2017). Zum anderen ist die Funktion der Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen am ehesten geeignet, zwischen traditionellen Verbänden (z. B. Wohlfahrtsverbände, berufsständische Verbände und Kammern, Branchenverbände) und NGOs zu differenzieren (vgl. Heinze 2020, S. 64–66; Reutter 2018, S. 908).

Advocacy und regulation bilden eher Dimensionen in einem Koordinatensystem statt gegensätzliche Pole auf einem Kontinuum. NGOs können bis zu einem gewissen Grad beide Funktionen erfüllen. Dies ist auch eine Folge des Umstands, dass NGOs – wie alle organisierten Interessen – direkte und indirekte Formen der advocacy gleichermaßen nutzen (Kollman 1998; De Bruycker und Beyers 2019; Junk 2016). Wo NGOs vermehrt direkte, von der Öffentlichkeit weitgehend abgeschirmte Kontakte zu Entscheidungsträgern aufbauen und pflegen, in denen sie Sachverstand und inhaltliche Einschätzungen vermitteln, empfehlen sie sich aus Sicht der Politik als Mitgestalter von Regulierungsarrangements (vgl. „institutionalization of advocacy“, Lang 2013, S. 8). Dies spiegelt sich in dem Umstand wider, dass NGOs heute regelmäßig und geradezu selbstverständlich über institutionalisierte Zugangskanäle zu Entscheidungsträgern und Entscheidungsprozessen verfügen, etwa in Form von Zutrittsberechtigungen zum Parlament oder über Einladungen zu Expertenanhörungen (s. Spohr in diesem Band). Das Spannungsverhältnis zwischen konfrontativer, graswurzel- und bewegungsförmiger und gezähmter, in institutionalisierte Bahnen gelenkte und auf Politikgestaltung und Implementation ausgerichtete Interessenvermittlung dort stellt sich für NGOs in besonderem Maße. Gleichwohl ist dieser Zielkonflikt kein Alleinstellungsmerkmal von NGOs. Ebenso muss in Rechnung gestellt werden, dass sich andere Akteure im Feld der Interessenvermittlung ein Vorbild an der Organisationslogik und dem Strategierepertoire von NGOs nehmen (s. Schneiker und Joachim in diesem Band). Das Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen Handlungsoptionen und deren Lösung und Verhandlung innerhalb und zwischen NGOs stellen mithin lediglich einen Aspekt von NGOisierung dar. Einen anderen macht die Diffusion bestimmter, in normativer Hinsicht positiv konnotierter Eigenschaften aus. NGOs werden vielfach mit Eigenschaften und Qualitäten assoziiert, die in einem weiteren Sinne zivilgesellschaftlichen Vereinigungen zugeschrieben werden: freiwillige Mitgliedschaft, Unabhängigkeit vom Staat, gleichberechtigte Teilhabe, Gemeinsinn und Gemeinwohlorientierung usw. „As such, the rise of NGOs helps to make particular organizational logics a taken-for-granted feature of the social world“ (Beer et al. 2012, S. 328).

4 Zu den Beiträgen dieses Bandes

Die in diesem Band vereinten Beiträge spiegeln den „Perspektivenpluralismus“ sowohl hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands, als auch in Bezug auf die politikwissenschaftlichen Teildisziplinen wider, die zum Forschungsstand über NGOs maßgeblich beigetragen haben. Ein weiteres Merkmal der verfassten Beiträge ist der Fokus auf eine primär an Funktionen statt an organisationalen Eigenschaften orientierte Perspektive auf NGOs, die nicht nur den Wandel der Interessenvermittlung zu erfassen und zu erklären kann, sondern ist auch geeignet, den Wandel der Organisationen selbst einer Analyse zugänglich zu machen.

Der erste Teil des Bandes widmet sich den Veränderungsprozessen im NGO-System und setzt sich mit dem funktionalen Wandel von advocacy hin zu einer stärkeren Rolle von NGOs im Bereich der Regulierung (regulation) auseinander. Andrea Schneiker und Jutta Joachim führen in ihrem Beitrag das Konzept der Kommerzialisierung als Oberbegriff für einen umfassenden Wandel des NGO-Sektors ein. Unter Rückgriff auf bislang eher isolierte Forschungsstränge der NGO-Literatur entwickeln die Autorinnen eine Typologie, die unterschiedliche Facetten und Ausprägungen der Kommerzialisierung erfasst und operationalisiert. Der Beitrag zeigt, dass die Grenzen zwischen NGOs und Unternehmen zunehmend verschwimmen, man mithin nicht nur von einer Kommerzialisierung der NGOs, sondern auch von einer NGOisierung der Unternehmen sprechen kann. Vor diesem Hintergrund werfen die Autorinnen die Frage auf, ob es nicht nur eines neuen Verständnisses von NGOs bedarf, sondern auch einer Adaption der NGO- und Governance-Forschung an die Entgrenzung von profitorientierten Unternehmen und nicht-profitorientierten, gemeinwohlorientierten NGOs.

Der Beitrag von Thomas Hickmann und Berenike Prem rückt die Interaktionsmuster zwischen NGOs und Unternehmen in den Fokus. Die Autor*innen illustrieren am Beispiel der Umwelt‑, Menschenrechts- und Sicherheitspolitik, dass NGOs zunehmend mit Unternehmen kooperieren und Ko-Regulierung betreiben, wenn es um die Definition, Implementierung und Kontrolle untergesetzlicher Normen und Standards geht. Den Trend zu auf Kooperation und Partnerschaft beruhenden Interaktionen interpretieren Hickmann und Prem als Ausdruck einer globalen Diffusion normativer Erwartungen an NGOs, aktiv an der Lösung grenzüberschreitender Probleme mitzuwirken. Diese Entwicklung bleibt indes nicht ohne Folgen für das Verhältnis der NGOs zueinander: Während manche Organisationen gleichsam einen ‚Marsch durch die Institutionen‘ antreten und bereit sind, das System von innen heraus zu verändern, setzen andere auf Selbstexklusion und die Freiheit, ein konfrontativeres Verhältnis zu Unternehmen zu pflegen.

Der zweite Teil des Bandes wendet sich NGOs als Akteuren und Adressaten rechtlich normierter und rechtlich verbindlicher Regulierung zu. Lisa Hahn und Myriam Fromberg beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit dem Phänomen strategischer Prozessführung und den Möglichkeiten, durch die Mobilisierung des Rechts demokratische Kontrolle über die Ausübung staatlicher Macht auszuüben. Hahn und Fromberg begreifen den kollektiven Modus der Rechtsmobilisierung durch sogenannte Klagekollektive als wesentliches Attribut strategischer Prozessführung und grenzen sich damit von Arbeiten ab, die strategische Prozessführung vor allem über inhaltliche Zielsetzungen oder eine progressive Reformagenda definieren. Innerhalb der Klagekollektive nehmen auf Prozessführung spezialisierte NGOs eine zentrale Rolle als Netzwerkakteure ein. Sie initiieren Klagen, rekrutieren Kläger*innen, organisieren Rechtsbeistand durch Anwält*innen, begleiten die Klagen durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit und stellen über Spenden- und Mittelakquise die Finanzierung der Prozesskosten sicher. Darüber hinaus sorgen sie dafür, dass in die Ausarbeitung der Klageschriften fachliche Expertise einfließt, die neben Wissenschaftler*innen ebenfalls von in bestimmten Politikfeldern spezialisierten NGOs stammt. Hahn und Fromberg gelangen zu der Einschätzung, dass Klagekollektive durchaus das Potenzial haben, als Watchdogs politische Entscheidungsträger auf die Einhaltung des Rechts zu verpflichten und die Rechte bestimmter im Entscheidungsprozess strukturell unterlegener Gruppen zu stärken. Gleichwohl betonen die Autorinnen, dass die Mobilisierung des Rechts lediglich die Form und die Arena der Konfliktbearbeitung verändert und die zugrundeliegenden Probleme nicht allein von Gerichten gelöst werden können, sondern der politischen Gestaltung bedürfen.

Thomas Richter, Jessica Johansson und Silvia Rojas Castro nehmen in ihrem Beitrag die umgekehrte Perspektive ein und widmen sich der staatlichen Regulierung der Auslandsfinanzierung von NGOs. Unter Bezugnahme auf die These schrumpfender Handlungsspielräume von NGOs (shrinking spaces) argumentieren die Autor*innen, dass nicht jede Form gesetzgeberischer Einschränkungen ausländischer Finanzierung bereits Repression darstellt. In dem Anliegen, staatliche Maßnahmen empirisch-vergleichend zu erfassen und qualitativ voneinander abzugrenzen, entwickeln die Autor*innen einen Kriterienkatalog, der sich an den rechtlichen Kategorien der Rechtmäßigkeit, Legitimität, Geeignetheit, Angemessenheit und Erforderlichkeit orientiert. Als Maßstab für die Bewertung gesetzgeberischer Maßnahmen als gerechtfertigte bzw. ungerechtfertigte Einschränkungen dienen sowohl verfassungsrechtliche als auch völkerrechtliche Normen. Sechs Fallstudien zu Gesetzgebung bzw. Gesetzgebungsvorhaben bezüglich der Auslandsfinanzierung von NGOs in Deutschland, Österreich, der Türkei, Ungarn, Uruguay und Venezuela dienen der Plausibilisierung des entwickelten messtheoretischen Konzepts. Richter et al. gelangen zu dem Ergebnis, dass Repression im Sinne ungerechtfertigter Beschränkungen der Auslandsfinanzierung nur in Ungarn und Venezuela vorliegt. In der Türkei hat sich die Situation für NGOs hingegen völlig unabhängig von legislativen Maßnahmen vor allem durch die Verhängung des Ausnahmezustands infolge des Putschversuchs im Juli 2016 nachhaltig verschlechtert. Das Beispiel Österreichs wiederum illustriert, dass Einschränkungen wie das Verbot der Finanzierung von Religionsgemeinschaften durch andere Staaten mit Verfassungsrecht kompatibel sein können, ohne durch völkerrechtliche Normen gerechtfertigt zu sein.

Der dritte Teil des Bandes rückt die Funktion von NGOs als Interessenvermittlungsinstanzen in den Fokus. Florian Spohr untersucht in seinem Beitrag den formalisierten und informellen Zugang organisierter Interessen zum Deutschen Bundestag. Gemäß der tauschbasierten Theorie des Zugangs zu politischen Entscheidungsträgern wird zwischen Insider-Ressourcen (fachliche Expertise und Informationen über ökonomische Bedürfnisse) auf der einen Seite und Outsider-Ressourcen (Informationen über politische Präferenzen betroffener Gruppen und Durchsetzbarkeit politischer Vorhaben) differenziert und der informelle Zugang über die Vergabe von Hausausweisen (v. a. solcher, die durch die Bundestagsfraktionen selbst ausgestellt werden) operationalisiert, während formalisierter Zugang über die Einladung zu öffentlichen Anhörungen in Ausschüssen und Enquête-Kommissionen erfasst wird. Die empirische Analyse der Vergabepraxis von Hausausweisen und der Einladung zu Anhörungen im Jahr 2015 bestätigt im Wesentlichen die theoretisch begründeten Annahmen. Es zeigt sich, dass Vertreter wirtschaftlicher Interessen überproportional häufig Hausausweise erhalten, wohingegen Vertreter öffentlicher Interessen – darunter auch NGOs – häufiger, als es ihrem Anteil an der Population entspricht, zu öffentlichen Anhörungen eingeladen werden. Spohr findet außerdem, dass Fraktionen vor allem Vertreter*innen von Interessengruppen Zugang über öffentliche Anhörungen gewähren, die kongruente Positionen vertreten und somit öffentlich sichtbare argumentative Unterstützung für die eigenen Anliegen leisten können. Interessanterweise scheint Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden eher als anderen organisierten Interessen die Rolle eines Korrektivs zuzufallen, da diese sich kritischer zu Vorlagen der Regierung(sfraktionen) äußern.

Um den Zugang zu Entscheidungsträgern und relevante Zugangsgüter geht es auch in dem Beitrag von Simon Schaub und Jale Tosun. Die Autor*innen gehen der Frage nach, inwiefern NGOs zu einer evidenzbasierten, d. h. wissenschaftlich informierten Politikgestaltung beitragen. Akteure, die eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik herstellen und evidenzbasierte Positionen (erfolgreich) in den Entscheidungsprozess einbringen, werden als knowledge broker konzeptualisiert. Am Beispiel der Regulierung von Spurenstoffen in Gewässern zeigen Schaub und Tosun, dass der BUND als einer der deutschlandweit größten Umweltverbände fachpolitische Expertise und wissenschaftlich fundierte Positionen sowohl als Zugangsgut für den direkten Austausch mit Entscheidungsträgern in Stakeholder-Konsultationen nutzt, zugleich aber evidenzbasierte politische Forderungen auch als Faustpfand nutzen kann, um von Medien und der Öffentlichkeit als glaubwürdiger und seriöser Akteur wahrgenommen zu werden und den Druck auf das Entscheidungssystem zu verstärken. Indes scheinen evidenzbasierte Forderungen und Zielsetzungen des BUND erfolgreicher für das Agenda-Setting (advocacy) zu sein als für die Umsetzung konkreter regulatorischer Maßnahmen (regulation). Der Beitrag bestätigt zum einen die Beobachtung, dass NGOs in der Regel direkte indirekte Strategien der Interessenvermittlung miteinander kombinieren; zum anderen verweist er auf die Spaltung von NGOs in solche, die kooperativ-partnerschaftliche Interaktionsmodi bevorzugen, und solche, welche die Distanz zu Entscheidungsträgern suchen bzw. wahren.

Aukje van Loon setzt sich in ihrem Beitrag mit der Frage auseinander, welche Interessengruppen die Regierungsposition auf dem Feld der Finanzmarktregulierung beeinflussen. Über einen Vergleich der Auseinandersetzungen um die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in Deutschland und Großbritannien zeichnet die Autorin den Prozess der innerstaatlichen Präferenzbildung nach. Unter der theoretischen Annahme, dass die Regierungspolitik primär durch materielle (wirtschaftliche) Interessen, vorherrschende gesellschaftliche Wertüberzeugungen und nationale polit-ökonomische Institutionen geprägt wird, arbeitet van Loon heraus, wie finanzwirtschaftliche Interessengruppen und zivilgesellschaftliche Interessengruppen Verteilungs- und Wertefragen argumentativ einsetzen, um Einfluss auf die Präferenzbildung zu nehmen. Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass eine der Finanzmarktregulierung gegenüber aufgeschlossene Regierungsposition in Deutschland auf eine alles in allem in der Bevölkerung mehrheitsfähige Forderung von Gewerkschaften und NGOs zurückzuführen ist, die Finanzindustrie angemessen an den Kosten von Bankenrettungen und der Stabilisierung der Realwirtschaft zu beteiligen und Einnahmen für entwicklungs- und umweltpolitische Reformprogramme zu generieren. Demgegenüber konnte sich die Finanzindustrie in Großbritannien nicht nur mit ihrem Verweis auf die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Bedeutung des Finanzplatzes London erfolgreich gegen die Einführung der Finanztransaktionssteuer wehren, sondern profitierte auch von einer stärker polarisierten öffentlichen Meinung in Bezug auf Umverteilung und staatlicher Regulierung.

5 Auf dem Weg zu einer Forschungsagenda der modernen demokratischen Interessenvermittlung

Die in diesem Band vereinten Beiträge stehen exemplarisch für eine Forschungsagenda, die sich weniger um eine konzeptuelle Abgrenzung von NGOs von traditionellen Verbänden und anderen Formen organisierter Interessen bemüht, als die Charakteristika von NGOs stärker über die Bedingungen, Strategien und Ergebnisse von Interessenvermittlung und Politikgestaltung zu erfassen sucht.

Für die weitere Forschung scheint es fruchtbar, das Wirken und die Organisation von NGOs in theoretischer und analytischer Hinsicht durch die Rückbindung an grundlegende politikwissenschaftliche Konzepte zu untersuchen und zu reflektieren. Beispielhaft seien hier drei Anknüpfungspunkte skizziert:

  1. 1.

    Analyseperspektiven im Schatten des Sammelbegriffs: Hinter dem Label NGO verbergen sich nicht nur mit Blick auf inhaltliche Anliegen höchst unterschiedliche, sondern auch in Bezug auf die Binnenstruktur sehr heterogene Organisationen (Schiffers und Körner 2019, S. 526–528). Während manche ‚NGO-Multis‘ wie Greenpeace von der lokalen bis hin zur internationalen Ebene aktiv sind und entsprechend föderierte Strukturen herausgebildet haben, bleiben andere Organisationen vorrangig auf die lokale oder regionale Ebene beschränkt. Wo NGOs über mehrere Ebenen hinweg operieren, stellen sich zwangsläufig Fragen nach der vertikalen Integration sowie nach dem Grad der Autonomie regionaler Einheiten und deren Einbindung in Entscheidungsprozesse der übergeordneten Handlungsebenen. Die Forschung zu NGOs kann aus der Literatur zu Parteien in Mehrebenensystemen und Parteien als Mehrebenenakteuren (Bolleyer 2011; Fabre und Swenden 2013; Thorlakson 2013) schöpfen, um ein besseres Verständnis für die organisationsinternen Entscheidungsprozesse, die interne Konfliktregulierung, die Mobilisierung und Allokation von Ressourcen, die politische Sozialisation und die Elitenrekrutierung zu entwickeln. Eine auf die vertikale Integration von NGOs gerichtete Analyseperspektive kann auch Fragen nach der Diffusion bestimmter Handlungsstrategien und -orientierungen sowie spezifischer normativer ‚Skripte‘ beantworten. Mit Blick auf die Politikgestaltung – gerade in Mehrebenensystem – ließe sich mit einer solchen Analyseperspektive auch die Arbeitsteilung im Policy-Zyklus erforschen, etwa die Rolle unterschiedlicher Organisationsebenen für das Agenda-Setting, die Vermittlung von Expertise gegenüber Entscheidungsträgern oder die Einbindung in die Implementation von politischen Entscheidungen (s. Hickmann und Prem in diesem Band). Ebenso legen die facettenreichen Organisationszuschnitte und Handlungsstrategien nahe, den notorisch unscharfen Sammelbegriff „NGO“ analytisch aufzubrechen. Eine Binnendifferenzierung von NGOs als Subtypen von public interest Organisationen (öffentliche Interessen in Abgrenzung zu gutorganisierbaren Wirtschaftsinteressen, s. Spohr sowie Schneiker und Joachim in diesem Band) präzisiert die Analyseperspektive und verbessert die Anschlussmöglichkeiten an den pluralen Forschungsstand. In Anlehnung an die Funktionen der Interessenvermittlung, (Ko‑)Regulierung und operative Dienstleistung (vgl. Beer et al. 2012) legen die Subtypen eigene Schwerpunkte. Die im vorliegenden Beitrag skizzierten Spannungsfelder der Handlungslogiken gegenüber Basis, Politik und Medien im Kontext von Zivilgesellschaft, Verbänden sowie Abhängigkeiten und Konkurrenz in der Interessenlandschaft lassen sich dadurch adressieren, ohne dass die Konnotation des medial und politisch aufgeladenen NGO-Begriffs mitschwingt. Ein solcher funktionaler Zugang liefert wichtige Erkenntnisse und geht der Frage aus dem Weg, was NGOs nicht sind. Denn in vielen Kontexten macht es keinen Unterschied, ob wir Interessengruppen, die sich für Belange des Umwelt‑, Natur- und Artenschutzes engagieren, als NGOs bezeichnen oder sie unter Verbände subsumieren.

  2. 2.

    Theorieentwicklung für NGOs an der Schnittstelle von Interessenvermittlung und Politikgestaltung: Zimmer und Speth (2015) monieren, dass die Theoriebildung auf dem Feld der organisierten Interessen dem sozialen Wandel seit den 1980er-Jahren hinterherhinke und der tradierte Dualismus aus (Neo‑)Korporatismus und Pluralismus nach wie vor das (implizite) analytische Raster für viele Studien bilde, die sich mit NGOs befassen. Die von den Autoren diagnostizierte „Vertriebswirtschaftlichung der Interessenvermittlung“ (Zimmer und Speth 2015, S. 13), die sich u. a. in einer Expansion des Dritten Sektors und einem Boom von PR-Dienstleistern manifestiert, stellt auf die Angebotsseite und hier vor allem auf Aspekte der Organisation und Kommunikation ab. Nachfrageseitig stellt sich die Frage, inwiefern der unzweifelhafte Aufstieg von NGOs auf gewandelte Repräsentationsansprüche und -bedürfnisse zurückzuführen ist. Etablierte Ansätze der Interessengruppenforschung, wie die Sets von Organisationslogiken (u. a. Schmitter und Streeck 1999) und Austauschtheorien politisch wertvoller Güter („exchange approaches“, u. a. Schiffers und Körner 2019, S. 529; Klüver et al. 2015; s. Spohr in diesem Band) verbinden die Schnittstelle von Interessenvermittlung und Politikgestaltung. Großes Potenzial bieten auch Policy-Theorien, die in ihren zentralen Konzepten (wie advocacy coalitions, politische Unternehmer*innen, Mobilisierungs- und Koordinierungsprozesse) für NGOs im Politikgestaltungsprozess anschlussfähig sind und die die Notwendigkeit von theoretischer Elaboration ausdrücklich einfordern (u. a. Jenkins-Smith et al. 2018, S. 54–155; s. Schaub und Tosun in diesem Band). Die Theorieentwicklung zu NGOs würde zweifelsohne von einer stärkeren Hinwendung zu politischer Repräsentation und einem stärkeren Dialog mit der Parteienforschung profitieren. Globalisierung, Europäisierung, Migration, Bildungsexpansion, technologischer Fortschritt und Modernisierungsprozesse haben Wirtschaft und Gesellschaft der Nationalstaaten nachhaltig verändert und zur Herausbildung einer neuen Konfliktlinie geführt, die auf der Frontstellung zwischen libertären, gesellschaftlichem Wandel und Pluralität aufgeschlossenen und autoritären, auf der Bewahrung von Identität und der Abschottung gegenüber gesellschaftlichem Wandel gerichteten Werteüberzeugungen geführt (Hooghe et al. 2002; Kriesi et al. 2012; Wilde et al. 2019). Nicht zuletzt diese Verschiebungen haben zu einer schwindenden gesellschaftlichen Bindekraft etablierter Parteien wie auch traditioneller Verbände beigetragen. Davon dürften nicht allein sogenannte rechts- und linkspopulistische, regionalistische oder ethno-nationalistische Herausfordererparteien, profitiert haben. Gerade vor dem Hintergrund des zeitgleichen Wachstums des zivilgesellschaftlichen Sektors erscheint die Annahme plausibel, dass auch NGOs für die politische Partizipation und die Repräsentation gesellschaftlicher Interessen relevanter geworden sind. Mehr empirische Forschung zu den Motivlagen und Formen ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Engagements innerhalb von NGOs und eine stärkere Verzahnung mit der Parteienforschung ist notwendig, um den Wandel der Strukturen demokratischer Repräsentation und Partizipation zu erklären und zu verstehen.

  3. 3.

    Konflikttheoretische Fundierung für die Politikgestaltungsperspektive: Damit zusammenhängend bedarf es einer stärker konflikttheoretischen Fundierung der Forschung zu NGOs. NGOs haben durch ihre professionelle Kampagnenarbeit und politische Kommunikation sowie durch die Bereitstellung neuer Kanäle für oftmals unkonventionelle politische Partizipation (z. B. Boykottaufrufe oder Rechtsmobilisierung) neue Formen der Konfliktexpansion und Konfliktregulierung etabliert. Zugleich und infolgedessen sind NGOs, ihre Aktivitäten und ihre Organisationsstruktur umstrittener und zur Zielscheibe politischer Gegenmobilisierung geworden. In Übereinstimmung mit Hummel (2020) lässt sich indes treffender von contested spaces als von shrinking spaces sprechen: Der Handlungsspielraum von NGOs hat sich – zumindest in liberalen Demokratien wie der Bundesrepublik Deutschland – nicht per se verkleinert; wohl aber sind die Rahmenbedingungen für das Handeln von NGOs und für zivilgesellschaftliches Engagement ins Zentrum gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen gerückt. Wo die Repräsentationsansprüche von Parteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen verstärkt verhandelt werden (s. van Loon sowie Hahn und van Fromberg in diesem Band), geht es notwendigerweise auch um Grenzziehung und Barrieren für ein uferloses Wachstum des zivilgesellschaftlichen Sektors. Auch für die ländervergleichende Forschung ist es daher unerlässlich, geeignete Kriterien und Indikatoren zu entwickeln und heranzuziehen, welche eine trennscharfe Differenzierung zwischen illegitimer Repression von legitimer Regulierung ermöglicht (s. Richter et al. in diesem Band). Die Kategorie des Konflikts zeigt sich zudem in der Politikgestaltungsperspektive zwischen den Zielen der Politikstabilität und -wandel sowie an der Frage, wie große gesellschaftliche Transformationen demokratisch ablaufen können. In diesen Prozessen finden NGOs Verbündete und Gegner in der Parteienlandschaft, in der sich unlängst neue Konfliktlinien und Repräsentationslücken abzeichnen (u. a. Merkel 2017). Konflikttheoretische Perspektiven auf Interessenvermittlung legen nahe, dass der Konflikt ebenso wie Kooperation eine systemstabilisierende Funktion hat, wenn und insoweit der Konflikt sich um divergierende Ziele und Forderungen dreht und die Akteure die Freiheit besitzen, die Ausreizung des Konfliktpotenzials selbst bestimmen und unterschiedliche Formen des Streits wählen zu können (Coser 2009).

Zusammengenommen zeigen diese Anknüpfungspunkte der Forschungsagenda, wie die Wissensstände an der Schnittstelle von Interessensvermittlung und Politikgestaltung erweitert werden können. Die Beiträge dieser Special Issue adressieren die übergeordnete Leitfrage, wie sich NGOs darin positionieren mit einer differenzierten und vielschichtigen Bestandsaufnahme in konzeptioneller wie empirischer Hinsicht. Damit bereichern sie die Debatte über moderne Prozesse demokratischer Politikgestaltung.