Zusammenfassung
Auch in Wirtschaftskammern mit Pflichtmitgliedschaft gibt es Protest und oppositionelle Bewegungen. Detlef Sack und Sebastian Fuchs machen deutlich, dass auch hier die Kategorien von Exit, Voice und Loyalty in verschiedenen Stufen analytisch fruchtbar sind. Der Rückzug aus Ehrenämtern, die Unterstützung kritischer Kräfte innerhalb der Führungsgremien und die Beteiligung an einer kammerkritischen Oppositionsbewegung sind Varianten von Exit und Voice. Solche Handlungsformen von Mitgliedern verändern die Kammern als traditionelle Interessenvertretungen.
Abstract
Chambers of Commerce, Crafts and Accountants are facing protest and opposition, too. Detlef Sack and Sebastian Fuchs apply categories of exit, voice, and loyalty. Those categories stick when members refrain from voluntary engagement, or when they support opposing social movements within and outside chambers. If members choose to act like this it will transform traditional chambers.
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Notes
So hat etwa in der Vollversammlung der Handwerkskammer Düsseldorf zwischen 1990 und 2010 das Bau- und Ausbaugewerbe von 13 Sitzen sechs verloren, die Gesundheits- und Körperpflege ihrerseits sechs mehr erhalten (Sack 2011, S. 435). Zur Veränderung von Wahlgruppen aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungen in nordrhein-westfälischen HWKn zwischen 1989 und 2011 insgesamt vgl. die Statistik bei Sack (2011, S. 434 ff.)
Diese Responsivität ist nicht notwendig per se gegeben und statisch vorhanden, sondern kann durch oppositionelles Unternehmertum erzeugt bzw. besonders geformt werden.
Da für die anderen Kammern derartige statische Daten nicht vorliegen, widmen wir uns hier eingehender und beispielhaft der WPK.
Nach Anlage C der Handwerksordnung erfolgt eine relative Mehrheitswahl einer geschlossenen, der gruppenpluralen Zusammensetzung der Vollversammlung entsprechenden Proporzliste.
Die Kammerwahlen sind nicht synchronisiert.
Die Wahlbeteiligung in der HWK Konstanz lag 2014 bei 18,5 % und hatte sich damit gegenüber 2009 leicht von 16,7 % erhöht (Deutsche Handwerkszeitung Konstanz 18.07.2014, S. 1).
Ähnliche Untersuchungen liegen für die WPK nicht vor.
Es lassen sich eine Reihe privater Blogs (bspw. https://kammerspartakus.wordpress.com) und dezidierter Gruppen in Sozialen Netzwerken wie Facebook beobachten, die (vermeintliche) Skandale und (sehr subjektive) Informationen über das Verhalten einzelner Kammern aggregieren und kommentieren. Der hier artikulierte Protest richtet sich sowohl an die IHKn als auch an die HWKn. Gleichzeitig schwingt jedoch auch eine grundlegende Eliten-, Demokratie- und Systemkritik mit, sodass die letztliche Motivation oft unklar bleibt. Dieser Protest ist hierbei dauerhaft zu beobachten, wenngleich die Aktivität der entsprechenden Webseiten stark von dem Engagement der Seitenbetreiber abhängt. Die Resonanz und Reichweite dieser Aktivitäten wurde bislang nicht empirisch untersucht. Nimmt man jedoch die (öffentlich zugänglichen) Zahlen der Beteiligung in sozialen Netzwerken als Anhaltspunkt (Mitglieder in einschlägigen Facebook-Gruppen, Kommentare und ‚Gefällt Mir-Angaben‘ auf entsprechenden Seiten) muss konstatiert werden, dass der Protest, zumal im Vergleich mit den ebenfalls auf Facebook aktiven Kammern, zahlenmäßig unbedeutend ist (Stand 12.01.2015).
Marg weist für eine Umfrage bei 160 leitenden Unternehmen darauf hin, dass „[w]ährend eine kleine Minderheit der von uns Befragten die Zwangsmitgliedschaft in der IHK oder anderen Berufskammern am liebsten abgeschafft sehen würde, arbeitet ein größerer Teil der Gesprächspartner in diesen Körperschaften des öffentlichen Rechts mit, teilweise als aktives Mitglied oder gar als Präsident“ (Marg 2015, S. 149).
Bei Redaktionsschluss des Artikels war das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht nicht abgeschlossen.
Eine ähnliche Funktion wird in aktuellen Arbeiten für die IHKn nachgewiesen, deren Mitgliedschaft sich auf das Narrativ des ‚Mittelstandes’ als unternehmerische Gemeinschaft bezieht (van Elten und Fuchs 2016).
Allerdings ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass eine ausgeprägte Loyalität in der Mitgliedschaft einen gegenteiligen Effekt haben kann, wenn sie nämlich im Sinne der sozialen Gemeinschaft sowohl zu Widerspruch anregt, dieser Widerspruch aber von ebenfalls Gemeinschaft orientierten anderen Mitgliedschaftsgruppen als Bruch mit sozialen Konventionen wahrgenommen wird (Sack et al. 2014, S. 225 ff.).
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Für sehr hilfreiche Kommentare und Kritik bedanken wir uns bei Katharina van Elten und den beiden anonymen Gutachtern.
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Sack, D., Fuchs, S. Kammeropposition mit Oberwasser? Phänomene und Erklärungsfaktoren des Protestes in und gegen Wirtschaftskammern. Z Politikwiss 26 (Suppl 2), 93–113 (2016). https://doi.org/10.1007/s41358-016-0044-1
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