In dem Themenheft zur Gegenwartsliteratur als Herausforderung gängiger Literaturauffassungen möchte sich die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte mit einem Gegenstand auseinandersetzen, zu dem sie bislang programmatische Distanz gehalten hat. Ihre Publikationspolitik war und ist von dem Vorbehalt bestimmt, dass eine nachhaltige Auseinandersetzung mit der aktuellen Literatur bzw. eine belastbare Einschätzung einer dynamischen, von Moden und Konjunkturen beherrschten Textproduktion und ihrer Autorinnen und Autoren nicht in dem Maße möglich ist, wie es die DVjs grundsätzlich verlangt. Die Herausgeberinnen und Herausgeber der DVjs nehmen das Jubiläum zum Anlass, um ihre Haltung zur Gegenwartsliteratur zu überprüfen und zugleich auf eine Situation zu reagieren, in der sich die Rahmenbedingungen literarischer Praxis rasant und signifikant verändern. In den letzten Jahren haben uns immer wieder Untersuchungen erreicht, die relevante Thesen zu diesem Prozess der Umstrukturierung entwickeln und tragfähige Perspektiven auf eine dynamische Lage entwerfen, die zu übersehen sich eine Zeitschrift, die sich dezidiert in einem tiefen Gedächtnisraum bewegt, nicht leisten kann. Es geht dabei nicht darum, neue Kanonisierungsdiskussionen anzustoßen, sondern das Aufkommen einer neuen Textgeneration im doppelten Sinn in den Blick zu nehmen, die aus der Perspektive der Frage »Was bleibt?« nicht angemessen zu fassen ist. Das Themenheft soll nicht nur der eigenen Positionsbestimmung dienen; es soll auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die Literatur, anders als vorhergesagt, gesellschaftlich ihre Bedeutung behauptet und unter neuen Vorzeichen ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit gewinnt. Es soll außerdem der Auseinandersetzung darüber dienen, wie eine Fachzeitschrift mit den aktuellen Entwicklungen in der Literatur in Kontakt treten kann, ohne einer reflexionsarmen »kurzatmigen« Publikationspraxis Vorschub zu leisten, von der sie sich in ihrem Editorial absetzt.

Der Blick auf die Gegenwartsliteratur in unterschiedlichen nationalen Kontexten zeigt deutlich, dass neue Tendenzen in der literarischen Produktion zu einer mehrdimensionalen Ausweitung des Bereichs des Literarischen führen.Footnote 1 Das expansivere, partizipativere und inklusivere Literaturverständnis, das sich in den vergangenen Jahrzehnten beobachten lässt, hängt unter anderem mit folgenden Aspekten zusammen: Die Universalität der herkömmlichen Kategorie des Literarischen wird aus globaler Perspektive in Frage gestellt und es wird an einem umfassenderen Literaturbegriff gearbeitet. Es lässt sich ferner ein affirmativerer Umgang mit der Heteronomisierung eines etablierten Literaturverständnisses beobachten. An die Stelle von nachdrücklichen ästhetischen Demarkationsbemühungen treten Versuche, den Bereich des Literarischen stärker mit anderen gesellschaftlichen Bereichen zu verknüpfen. So wird Literatur etwa als politisch-ethische Intervention verstanden, die soziale Missstände anprangert und gesellschaftspolitische Debatten stiftet sowie Poiesis als politische Handlung begreift – und dabei eine Komplexitätsreduktion poetischer Aussagen in Kauf nimmt. Der Literatur werden wieder nachdrücklich außerästhetische Wirkungszwecke zugeschrieben wie das Attackieren, Mobilisieren, Solidarisieren, Anerkennen, aber auch das Trösten, Heilen, Therapieren, Betören, Versöhnen oder Wiedergutmachen. Damit wird die Grenze zwischen Kunst und Alltagsrealität programmatisch verunsichert oder gar aufgelöst.

Dass diese neuen Literaturverständnisse sich nicht mehr allein in analogen Medien artikulieren, sondern auch in einer Vielzahl von neuen digitalen Formaten und in intermedialen Konstellationen, hat zur Konsequenz, dass sich die literarische Praxis demokratisiert und popularisiert. Partizipativere Formen der Produktion und Rezeption von Literatur gewinnen derart ebenso an Einfluss und kultureller Prägekraft wie literarische Umgangspraktiken, die programmatisch auf Distanzlosigkeit setzen (z. B. identifikatorische Lektüreweisen, »Fan-Fiction«). Diese Praxis führt konkret zur Ausprägung neuer Gattungen mit hohem partizipativen Appeal. Am Beispiel der Autosoziobiografie lässt sich weiterhin die rasante Herausbildung neuer Gattungsskripte beobachten. Hier zeigt sich, wie schnell sich unter Bedingungen globaler Kommunikation neue formale Konventionen stabilisieren und wie rasant sich eine mediale Infrastruktur etabliert, die zur Teilhabe an dieser Gattungsarbeit einlädt. Ebenso bezeugen unter anderem Genres, die sich im Zusammenhang des »nature writing« herausbilden, die Kurzformen der »Instapoetry« oder das neue Interesse an den performativen Genres der Rezitation eine hohe und in unseren Augen kommentierungsbedürftige gattungspoetologische Produktivität. Dabei lassen diese neuen Muster auch weitreichende Verschiebungen im Form- und Gattungsrepertoire der Literatur erkennen. So zeigen sie eine klare Tendenz zu erfahrungsbasiertem Schreiben, die mit einem Plausibilitätsverlust fiktionaler literarischer Formen einhergehen kann. Ferner ist bemerkenswert, wie und wie sehr diese Entwicklungen durch den literarischen Markt protegiert und verstärkt werden, der auf allen verfügbaren Kanälen für Kommunikation und Serialisierung der neuen Muster sorgt und auch in einer von Vergemeinschaftungsinteressen beherrschten literarischen Szene ›Star-Making‹ betreibt. Im Gegenzug erregt eine literarische Kultur, die sich in ihren Hervorbringungen wechselseitig affirmiert und sich durch exzessive Redundanz auszeichnet, vehementen Widerspruch. So lassen sich auf den einschlägigen Plattformen kritische Stimmen vernehmen, die literarische Qualität einklagen, Forderungen nach »constraints« stellen und Formkriterien festlegen, die den Inklusionscharakter partizipativen Schreibens in Frage stellen. Teilhabe und Normbildung stehen hier in einem für die aktuelle literarische Kultur insgesamt aufschlussreichen Spannungsverhältnis.

Wir wollen in unserem Heft danach fragen, wie diese kritische Arbeit der Gegenwartsliteratur am Literaturbegriff zu verstehen ist und welche Konsequenzen die genannten Tendenzen für das Konzept von Literatur haben, mit dem die Literaturwissenschaft operiert. Weiterhin interessiert uns die Frage, inwiefern die geschilderten Tendenzen der Gegenwartsliteratur nicht auch Konflikte und Widersprüche artikulieren, die dem Literaturbegriff selbst inhärent sind. Uns geht es also dezidiert nicht darum, Gegenwartsliteratur als einen weiteren Gegenstand von literaturwissenschaftlicher Forschung zu diskutieren (und Abhandlungen über literarische Werke, die in der letzten Dekade erschienen sind, abzudrucken), sondern darum, die Gegenwartsliteratur als Ausgangspunkt einer grundlegenden theoretischen Problematisierung des Begriffs des Literarischen selbst zu verstehen, die deutlich über den Untersuchungsbereich der Gegenwartsliteratur hinausweist. Die thesenstarken Beiträge, die uns erreicht haben und die teilweise auf einen hier nicht abgedruckten Fragenkatalog reagieren, lassen in der Auseinandersetzung mit Gegenwartsliteratur als Herausforderung des Literarischen unterschiedliche Fokussierungen erkennen: Wir haben sie anhand von sieben Schwerpunkten gruppiert.

Die Beiträge, die unterschiedliche Konzepte von Gegenwart – »contemporariness« – zur Diskussion stellen, haben uns einen ersten Schwerpunkt nahegelegt. Die zugehörigen Essays fassen den im Titel des Heftes angesprochenen Begriff aus mehr als einer Perspektive. Sie bewegen sich im Spannungsfeld unterschiedlicher Gegenwartssemantiken, die das, was in Bezug auf die Literatur als »gegenwärtig« gelten kann, jeweils unterschiedlich betrachten. Hier lassen sich in einer ersten Annäherung vier Bedeutungsschichten voneinander trennen. Eine erste Schicht deutet den Gegenwartsbezug als zeitgenössisch: Sie berührt literarische Phänomene, die wir beobachten und in selbstverständlicher Weise als mit uns gleichzeitig wahrnehmen, wie etwa den politischen Roman oder die Gattung der Autosoziobiografie. Eine zweite berührt Brisanzen: Sie betrifft Phänomene, die nicht nur zeitgenössisch, sondern aktuell sind, d. h. massenmedial stark diskutiert werden, wie beispielsweise die Gomringer-Debatte über lyrische Kunst am Bau oder die Frage nach der Einrichtung des Amts einer Parlamentspoetin bzw. eines Parlamentspoeten. Gegenüber dem Zeitgenössischen zeichnet sich das Aktuelle durch einen höheren Dramatisierungsgrad, einen gesteigerten Ereignischarakter und eine erhöhte Medienpräsenz aus. Weiterhin werden Schreibweisen vorgestellt, die nicht nur in der Gegenwart praktiziert werden, sondern selbst Formen von Gegenwart produzieren, auch wenn diese Gegenwart selbst nicht notwendigerweise zeitgenössisch oder aktuell sein muss. Hier lassen sich, drittens, zeitdiagnostische Schreibweisen und, viertens, erfahrungsbezogene Schreibweisen unterscheiden; oder anders gewendet: Schreibweisen, die ergebnisbezogen oder resümierend Gegenwart konstruieren, von solchen, die im Unterschied dazu nicht finalisiert sind, das »Dunkel des gelebten Augenblicks« durchqueren und im Weiterschreiben fortlaufend Gegenwärtigkeit hervorbringen wie beispielsweise Karl Ove Knausgårds Min Kamp (2009–2011). So spiegeln die Beiträge vielfältige Weisen, in denen »contemporariness« aufgefasst und praktiziert werden kann, sowie Spannungen, die sich zwischen ihnen aufbauen. Dabei wird man auch Begriffe wie den »Zeitgeist« wiedertreffen, die für die nähere Bestimmung von Gegenwart in der Gegenwart herangezogen werden.

Einen zweiten Schwerpunkt bilden Beiträge, die sich die Frage stellen, weshalb viele aktuelle Werke die strikte Trennung zwischen Fiktionalität und Faktualität zu unterlaufen versuchen. In den Vordergrund treten dabei Genres wie der autofiktionale Roman und die autobiografisch grundierte »Theory Novel« (bzw. »Autotheory«). Die Beobachtung autofiktionaler Schreibweisen dient hier nicht allein einer Herausforderung gängiger Fiktionstheorien, sondern auch einer Problematisierung etablierter Konzeptionen von literarischer Autorschaft. Eine diskursive ›Kontoführung‹, die immer über faktuale oder fiktionale Subjekte als Zuschreibungsinstanzen läuft, soll hier grundlegend konterkariert werden: Mithin soll die Vorstellung irritiert werden, dass sich immer klar entscheiden ließe, was auf das Konto der realen Autorin bzw. des realen Autors geht, was auf das Konto der Erzählinstanz und was auf das Konto fiktionaler Figuren. Die Irritation von Zuschreibbarkeiten stellt sich auch dort ein, wo sich in der literarischen Kommunikation neue Formen der autorschaftlichen Selbstinszenierung artikulieren oder ehemals paratextuell gebrauchte Formen wie das Interview nunmehr ›literarisiert‹ oder gar zu einem eigenen fiktionalen Genre ausgebaut werden. Perspektivierte man diese Fragestellung ausgehend von etablierten faktualen Formen wie Dokumentation, Recherche, Bericht, Enquête oder Protokoll, so wäre auch hier auffällig, dass diese immer häufiger im unsicheren Grenzbereich zwischen Faktualität und Fiktionalität angesiedelt werden. Wie aber verändert sich der Literaturbegriff, wenn Fiktionalität und Faktualität in der kreativen Praxis nicht mehr deutlich unterschieden werden? Was passiert in dem Moment, in dem sich Werke wie der zuerst in spanischer Übersetzung erschienene Roman El Polaco (2023) des Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee von Vorstellungen einer verlässlichen ›diskursiven Kontoführung‹ gänzlich verabschieden?

Was nach der Autonomie der Literatur komme, ist eine Frage, die viele Beiträge dieses Heftes mal beiläufig stellen, mal frontal angehen. Ob nun von Autonomieverlust, Heteronomisierung, Heteronomie oder Postautonomie gesprochen wird: Immer geht es darum, dass Konzeptionen ästhetischer Autonomie in den Literaturdebatten der Gegenwart merklich an Plausibilität eingebüßt haben. Wie die Beiträge des dritten Schwerpunkts zeigen, ist allerdings klärungsbedürftig, wer oder was die Trägerinstanzen von Autonomieansprüchen sein sollen: die Autorin bzw. der Autor; die literarischen Kunstwerke; bestimmte literarische Strömungen, die sich an einer autonomieaffinen literarischen Ästhetik (»l’art pour l’art«) ausrichten; das literarische Feld insgesamt; oder gar die Literatur selbst (»Literarizität«, »Poetizität«, »Autotelie«)? Auch wird diskutiert, woher der Heteronomisierungsdruck rührt, der als Ursache postautonomer Konstellationen identifiziert wird: Stammt dieser von den Schriftstellerinnen bzw. Schriftstellern und dem literarischen Publikum selbst, die aufgrund veränderter gesellschaftlicher Umstände die Literatur programmatisch am Imperativ heteronomer Zielsetzungen ausrichten möchten (»activist writing«, »operative Literatur«, »eingreifendes Schreiben«, »littérature engagée«); oder ergibt er sich aus den Gewinnerwartungen eines globalen Konzentrationsprozessen unterworfenen Verlagswesens, dem experimentelle und ambitionierte Literatur zunehmend als unrentabel erscheint; oder stammt er vielleicht sogar aus einer universitären Literaturwissenschaft, die sich um die Destabilisierung eines problematisch gewordenen modernen und weitgehend europäisch geprägten Literaturbegriffs bemüht? In jedem Fall ergibt sich die Notwendigkeit der Konzeption eines postautonomen oder heteronomen Literaturbegriffs, der auch den Einwand adressieren muss, dass ein repolitisiertes Schreiben, das unter den verlagsökonomischen Bedingungen der Gegenwart stattfindet und verengte Literaturkonzeptionen aufzusprengen versucht, durchaus mit literarischen Autonomiebestrebungen vereinbar sein kann, wie der Roman Les Sorcières de la République (2016) von Chloé Delaume zeigt. Wir werden in Zukunft sehen, was theoretisch und methodisch, aber auch pragmatisch zu gewinnen oder zu verlieren ist, wenn man sich von Autonomieansprüchen verabschiedet: Die Schlange von außerliterarischen Autoritäten, die darauf warten, der Literatur ihre eigenen Regeln und Logiken anzudienen oder aufzuzwingen, ist nicht kurz.

Eine weitere Tendenz, von der wir glauben, dass sie die kulturpolitische Diskussion und literaturwissenschaftliche Forschung in den nächsten Jahren mitbestimmen wird, möchten wir hervorheben: Unter dem Stichwort »Formen der Politisierung« werden Überlegungen zu Gegenwartstexten präsentiert, die Fragen der Provenienz, die bislang vorrangig in der Sphäre der materiellen Kultur thematisch geworden sind, auch an die Literatur und in der Literatur stellen. Sie berühren Legitimitätsprobleme, die im Kontext der Aneignung von Texten auftauchen – etwa des Geschichtenraubs oder der kolonialen Editionspolitik –, und entwickeln weitreichende Fragen zum literarischen Eigentum, die den Rahmen bisheriger Urheberrechtsdiskussionen erheblich erweitern. Wem gehören Geschichten? Wer darf sie und unter welchen Bedingungen weitergeben, weitererzählen oder weiterverkaufen? Können wir weiterhin sorglos »auf dem Meer der Geschichten segeln«, wie sich Salman Rushdie in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (2023) ausdrückte? Umgekehrt geht es an dieser Stelle auch um das Ende eines westlichen Universalismus, der sich anmaßte, für alle Menschen zu sprechen, während er nicht nur auf realpolitischer Ebene, sondern auch im Hinblick auf seine Erzählungen koloniale ›Plünderungen‹ vornahm. Haben hier die vertrauten Erzählperspektiven auf die literarische und kulturelle Überlieferung an Überzeugungskraft eingebüßt? Sollte ein Legitimitätsverlust westlicher Perspektivübernahmen oder des leichthändigen »Hineinversetzens« in außerwestliche Sprechpositionen eingetreten sein, stellt sich die Frage nach literarischen Alternativen, die eine Annäherung an kulturell fremdes Bewusstsein ermöglichen, ohne sich dem Vorwurf der gewaltsamen und illegitimen Bemächtigung auszusetzen.

Die Beobachtung, dass die literarischen Werke, auf die in den Beiträgen des Heftes Bezug genommen wird, nicht immer gleich »präsent« sind, hat uns zur Zusammenstellung einer eigenen Textgruppe veranlasst. In der weiteren Überschau ergab sich ein Gliederungspunkt, den wir mit dem Titel »Poetik der Negativität« überschrieben haben. Unter diesem werden Beiträge versammelt, die von verschwundenen oder im Verschwinden begriffenen Werken handeln; die ein abwesendes oder unwiederherstellbares Referenzwerk umkreisen; oder die an Verfahren negativer Produktivität anschließen, wie sie von den klassischen Avantgarden praktiziert wurden. Es geht um die Menge der Werke, die ›um nichts‹ gehen und ›nichts‹ erzählen, und deren Negativität darin besteht, dass niemandem etwas einfällt. Es geht auch um »Erasure«-Verfahren, die Durchstreichungen und Tilgungen als eine Form der kritischen Auseinandersetzung mit dokumentiertem und undokumentiertem Unrecht praktizieren, und um poetische Verfahren der Auflistungen von Verlusten. Die Negativität dieser Werke kann aber auch darin bestehen, dass sie als abwesende Werke schließlich doch indirekt in Erscheinung treten, indem sie in proliferierender Weise andere Werke generieren. In diesem Zusammenhang erlangen Autoren wie Mohamed Mbougar Sarr besondere diagnostische Bedeutung, der in seinem Roman La plus secrète mémoire des hommes (2021) den negativen Ort bestimmt, den der europäische Literaturbetrieb der afrikanischen Literatur zuweist.

Der sechste Schwerpunkt widmet sich dem Wandel der Infrastrukturen, die darüber bestimmen, was in einer größeren Öffentlichkeit überhaupt in Erscheinung treten kann. Die Infrastrukturen der literarischen Kommunikation haben sich, wie die Beiträge unterstreichen, unter den Bedingungen der Digitalisierung massiv gewandelt. Herkömmliche literarische Formate wie das Hardcoverbuch oder die gedruckte literarische Zeitschrift bestehen weiterhin fort, treten nun aber in ein volatiles Verhältnis zu immer neuen medialen Formaten, die eigene Aufmerksamkeitsökonomien ausbilden, wie das Spektakel um Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Noch wach? (2023) zeigte. Neue digitale Plattformen erlauben zudem einer viel größeren Gruppe von Interessierten, sich an der Produktion von literarischen Werken und literaturkritischen Texten zu beteiligen. Die Beiträge diskutieren die Frage, wie die neuen Partizipationsmöglichkeiten die Produktion und Rezeption von Literatur und Literaturkritik prägen – und zugleich ein neues Verständnis des partizipativen Charakters literarischer Kommunikation verlangen. Dabei fällt ein Augenmerk auf Literatur als einer breiten gesellschaftlichen Praxis, an der neben traditionellen Verlagen nun auch Print-on-Demand-Plattformen beteiligt sind: Lässt sich hier von einem Legitimitätsverfall und Einflussverlust der bisherigen Gatekeeper sprechen; muss von einer schrittweisen Auflösung der Leitdifferenz von Professionellen und Amateuren ausgegangen werden; und wird die Absenkung von Partizipationshürden (»Inklusion«, »Teilhabe«) als eine »Demokratisierung« der Literatur angemessen beschrieben – oder findet faktisch bloß eine Wachablösung statt? Fragen nach den literarischen Infrastrukturen der Gegenwart weiten sich derart zu einer grundsätzlichen Befragung der Öffentlichkeitsmodelle, Gruppenbildungsprozesse und Netzwerkeffekte, mit denen literarische Kommunikation seit jeher rechnen muss.

Der grundlegende Umbau der Publikationsinfrastrukturen geht mit einer nicht minder tiefgreifenden Veränderung des literarischen Lesens einher, dem sich die Beiträge des letzten Schwerpunkts ebenso widmen wie der Frage, wie die Literaturwissenschaft auf die neuen Lektüreregime reagieren soll. Zunächst einmal besteht die literaturwissenschaftliche Herausforderung darin, den Wandel der populären Formen der Lektüre angemessen zu beschreiben: Wie steht es um Lektüren, die nicht die Valorisierungsmodelle einer an Verfremdungsverfahren orientierten Ästhetik präferieren, sondern eine Literatur, die zur Identifikation einlädt; die nicht auf ein Ethos der rezeptiven Distanz setzen, sondern die persönliche Nähe zu Autorinnen und Autoren suchen und deren Schreibaktivitäten sogar fortsetzen wollen (»Fan-Fiction«); die sich nicht an ästhetischen Normen wie Mehrdeutigkeit oder Verunsicherung ausrichten, sondern bei der Lektüre Eindeutigkeit und Bestätigung zu schätzen wissen? Einige Beiträge setzen diese populären Lektüreregime in ein Verhältnis zu literaturwissenschaftlichen und literaturkritischen Lektüreweisen, wobei sich ein gemischtes Bild einstellt: Teilweise können die Normhorizonte der professionellen Leserinnen und Leser von denen der Amateurleserinnen und Amateurleser stark differieren, etwa dort, wo Laienlektüren primär der Selbsttherapie dienen; zum Teil sind die Modalitäten für populäres und akademisches Lesen aber auch gar nicht so verschieden, etwa wenn ein Erfolgsroman wie Hervé Le Telliers L’Anomalie (2020) aufgrund seiner ästhetischen Modellierung von Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit sowohl vom größeren Publikum als auch von der gehobenen Literaturkritik und der akademischen Literaturwissenschaft geschätzt wird. Ein anderes sind die ethisch-politischen Normhorizonte, die mit diesen Lektüren jeweils einhergehen können: Der Schwerpunkt befasst sich auch mit dem jüngst kontrovers debattierten Phänomen des »sensitivity reading«, einer professionellen Lektüreform, die literarische Werke auf ethisch-politisch problematische Gehalte und Formen prüft. Alle Beiträge lassen erkennen, wie die Frage nach einer angemessenen Lektüreweise auch in der Gegenwart immer wieder Anlässe für polemische Auseinandersetzungen bietet: Modalitäten der Lektüre sind für das kulturelle Selbstverständnis einer Epoche hochrelevante Indikatoren.

Wer die Beiträge dieses Heftes der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte liest, wird nicht um den Eindruck umhinkönnen, dass wir uns in einer Gegenwart bewegen, die eine äußerst rege und intensive Beschäftigung mit dem Literarischen auszeichnet, und dass diese Beschäftigung auch für das philologische Verständnis des Literaturbegriffs erhebliche Konsequenzen haben kann, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: Die Gattungsproduktivität der Gegenwart veranlasst in Literaturkritik und Literaturwissenschaft eine taxonomische Daueraktivität, die nicht in situativen Klassifikationen münden muss, sondern auch grundlegendere gattungstheoretische Konsequenzen nach sich ziehen kann. Der Versuch, die Differenz von Fiktionalität und Faktualität zu unterlaufen, und die Problematisierung von literarischen Autonomiepostulaten bringen profunde Verunsicherungen im Hinblick auf den Literaturbegriff mit sich. Die in bestimmten Bereichen beobachtbare Politisierung aller literaturaffinen Bereiche wirft die grundlegende Frage nach der Möglichkeit eines ›unpolitischen‹ Literaturkonzepts auf. Die Transformation der publizistischen Infrastrukturen und der damit verbundenen Lektüreregime verändert schließlich die Art und Weise, wie das Verhältnis von literarischer Agentivität und Praktiken der Veröffentlichung aufgefasst wird. Es deutet sich die Etablierung einer spannungsreichen Konstellation an, in der bestimmte Literaturkonzeptionen an Vorstellungen von Distanzierung und ›Defamiliarisierung‹ ausgerichtet sind, während andere auf Partizipation und ›Familiarität‹ setzen. Für Letztere erscheint Literatur dann primär als soziale Verständigungsform, in deren Rahmen sich auch ein positives Verhältnis zu Konventionalität und Regelhaftigkeit, mithin eine affirmative Auffassung von poetischer Redundanz und rhetorischer ›Automatisierung‹ ausbildet – womit überraschende ›Wahlverwandtschaften‹ zwischen der Gegenwartsliteratur und den ›Literaturen‹ vormoderner und nichtwestlicher kultureller Formationen erkennbar werden. Da der analytische Gewinn der Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur weit über diese hinausreicht, stellt die Gegenwartsliteratur nicht nur die Erforschung der Literatur der Gegenwart vor neue Herausforderungen.