Zusammenfassung
Das Genre der Autofiktion gehört zu den erfolgreichsten und meist diskutierten Phänomenen der internationalen Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts. Autorinnen und Autoren von Autofiktion verwenden vielfältige literarische Mittel, um das zu tun, was der Roman seit jeher getan hat: den Raum des Privaten auszuleuchten. Doch das Private der Autofiktion – so argumentiert der vorliegende Artikel – unterscheidet sich strukturell vom Begriff der Privatheit, der dem fiktionalen Roman zugrunde liegt. Am Beispiel von Sheila Hetis Roman Motherhood (2018; dt. Mutterschaft, 2020) und dessen Rezeption in verschiedenen Youtube-Formaten zeigt der Aufsatz, dass das Private, das von der Autofiktion zugänglich gemacht wird, nicht länger als Rückzugsort des Individuums zu verstehen ist. Vielmehr inszeniert und reflektiert Autofiktion ein Modell von Privatheit, in dem intensive Selbstbeobachtung in den Dienst des Knüpfens neuer sozialer Verbindungen gestellt wird. Autofiktion thematisiert das vernetzte Leben und inszeniert mit der Grenzüberschreitung von fiktionaler und nichtfiktionaler Welt ein ästhetisches Pendant des Netzwerkens. Der Artikel argumentiert somit, dass der Erfolg gegenwärtiger Autofiktion im Zusammenhang mit einem Strukturwandel von Privatheit in der Netzwerkgesellschaft verstanden werden sollte.
Abstract
In international literature of the last decade, few genres have been as widely read or as intensely discussed as autofiction. Writers of autofiction use a variety of literary means to do what the novel has always done: to illuminate the private sphere. Yet, as this article argues, the idea of the private sphere underlying autofiction structurally differs from that of the fictional novel. Starting from a reading of Sheila Heti’s 2018 novel Motherhood and an analysis of its reception in various YouTube formats, this article shows that the private sphere to which autofiction grants access is no longer framed as a refuge for the individual from the public. Instead, autofiction stages and reflects a model of privacy in which intense self-observation directly serves the creation of new social ties. Autofiction aesthetically reflects on interpersonal networking. Moreover, in dramatizing the crossing of boundaries between the fictional and non-fictional, and in breaking »the fourth wall,« it aesthetically recreates the forging of new network connections. The continued success of contemporary autofiction therefore needs to be understood against the backdrop of the structural transformation of the private sphere within the network society.
Avoid common mistakes on your manuscript.
Das literarische Phänomen zeitgenössischer Autofiktion legt eine spezifische Rezeptionshaltung nahe, ja, fordert diese ein. Paradigmatisch umgesetzt wird sie im so genannten Booktube, jenem kleinen Areal der Youtube-Kanallandschaft, das sich auf Literatur spezialisiert hat. Zwar vermittelt auf Youtube inszeniertes Leseverhalten keinen Einblick in eine vermeintlich »authentische« Lesepraxis »gewöhnlicher« Leserinnen und Leser, eben weil es inszeniert und damit eigenen Genreregeln unterworfen ist. Doch fallen weitreichende Korrespondenzen in der Lesehaltung auf, die die Autor*innen gegenwärtiger Autofiktion unter- und Booktube-Produzent*innen ausstellen. In den knappen Überlegungen auf diesen Seiten möchte ich einige Gedanken zur näheren Bestimmung dieser Lesehaltung entwickeln und einen kultursoziologischen Erklärungsansatz hierfür vorschlagen. Autofiktion, so lautet die These, ist der literarische Ausdruck eines Strukturwandels der Privatheit. Dieser Strukturwandel lässt sich begreifen als Bestandteil dessen, was Manuel Castells bereits in den 1990er Jahren als »Netzwerkgesellschaft« bezeichnet hat.Footnote 1 Beteiligt an der kulturellen Logik der Netzwerkgesellschaft sind die Kommunikationsformen der sozialen Netzwerke, einschließlich Youtube. Autofiktion und Booktubing sind, wie ich argumentieren möchte, zwei durch die Literatur miteinander verbundene Spielorte, an denen die Netzwerkgesellschaft ihre eigenen Formen von Privatheit ausbuchstabiert und mitunter auch reflektiert.
I.
autofiktion, alt und neu
Eingeführt hatte den Begriff der Autofiktion ursprünglich der französische Autor Serge Doubrovsky auf dem Rückumschlag seines Romans Fils (1977), um damit Philippe Lejeunes Begriff des »autobiographischen Paktes« der Nichtigkeit zu überführen.Footnote 2 In Fils teilen Autor und Figur den Namen, und doch – so insistierte Doubrovsky gegen Lejeune – handele es sich dabei nicht um eine Autobiographie, sondern um Fiktion. Eine Fiktion allerdings, die »von Ereignissen und Fakten erzählt, die streng real sind« (Übers. J.V.).Footnote 3 »Streng real« und dennoch fiktiv: diesen Widerspruch löste Doubrovsky auf, indem er Fiktion vom Fingieren ableitete. Fingiert werden in der Autofiktion nicht die Ereignisse und Fakten, sondern (gemäß der wörtlichen Bedeutung von »Auto« und »Fiktion«) das im und durch den Text entstehende Selbst. In der französischen Diskussion der 1970er Jahre wies die Autofiktion viele Gemeinsamkeiten mit dem auf, was im englischsprachigen Raum als postmoderne Metafiktion bekannt war. Während die französischen Autofiktions-Autor*innen darauf abzielten, die sprachliche Verfasstheit und Prozesshaftigkeit von Erfahrung und persönlicher Identität ins Zentrum zu rücken, verwiesen insbesondere US-amerikanische Metafiktionalist*innen wie John Barth, Robert Coover, E.L. Doctorow und Ishmael Reed auf die sprachliche Konstruiertheit von Geschichte und, allgemeiner noch, von jeglicher dargestellten Welt. Zusammengenommen bildeten französische Autofiktion und englischsprachige postmoderne Metafiktion so etwas wie das literarische Pendant zur linguistischen Wende.
Im frühen 21. Jahrhundert ist diese Vorgeschichte des Genres kaum noch zu erahnen, denn Autofiktion erscheint heute in der Inversion ihrer einstigen Gestalt. Mittlerweile bezeichnet Autofiktion eine Literatur, die mit den Mitteln des Romans experimentiert, um auf ästhetischem Weg den Eindruck zu vermitteln, die vierte Wand zwischen fiktionalem Illusionsraum und wirklichem Leben zu durchbrechen. Das literarische Werk von Autor*innen wie David Foster Wallace, Ben Lerner, Karl Ove Knausgård, Rachel Cusk, Nell Zink, Teju Cole, Maggie Nelson und Andreas Maier (um nur einige Namen zu nennen, die gegenwärtig mit dem Begriff der Autofiktion in Verbindung gebracht werden), mag sich in vielerlei Hinsicht grundlegend voneinander unterscheiden, doch gemeinsam ist ihm eine Betonung des Zusammenhangs von Schreiben, Lesen und Leben. Sowohl in der Textproduktion als auch in der Rezeption soll sich die enge Verbindung aller drei Pole niederschlagen. Aus Metafiction ist Meta-Nonfiction geworden.
Vorgeschlagen hat letzteren Begriff der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Lee Konstantinou im Zuge einer Analyse von David Foster Wallace’ Kurzgeschichte »Good Old Neon«. Auch Konstantinou macht Gebrauch vom dramatischen Begriff der »vierten Wand«:
Wallace reißt die vierte Wand der fiktionalen Welt ein und offenbart, dass das, was seine Leser*innen für Fiktion halten sollen (genauer: für postmoderne Metafiktion), in Wirklichkeit eine Art Meta-Nonfiction ist. Wir werden eingeladen, »Good Old Neon« als Wallace’ tatsächliche Reflexionen über den Suizid seines High School-Mitschülers zu begreifen.Footnote 4 (Übers. J.V.)
Meta-Nonfiction (der Begriff verlangt nach dem Original, da das darin erhaltene Wort nonfiction der englischsprachige Sammelbegriff für faktuale Literatur ist) enthält eine Zeichenart, die, obschon im Symbolischen angesiedelt, funktionieren soll wie ein Index: von der fiktionalen Welt aus zeigt es auf eine außertextliche Wirklichkeit (in Wallace’ Fall: die des Autors). Natürlich ist diese Operation lediglich quasi-indexikalisch: fiktionale und faktuale Welt sind nicht durch eine physische Spur verbunden, sondern durch eine symbolische Annäherung an eine solche. Genau hierin liegt der Mechanismus der Autofiktion: Die Fiktion wird nicht etwa aufgegeben oder überwunden (denn dann handelte es sich um eine Autobiographie oder ein Memoir). Die Meta-Nonfiction ist an ihr eigenes Habitat der Fiktion gebunden, um von dort aus über die Grenzen der Fiktion – auf das Nicht-Fiktionale – zeigen zu können.
II.
booktube und die autorität von sheila hetis mutter
Diese semiotische Ambiguität kreiert nun eine ebenso zweideutige Rezeptionshaltung, die sich an einem Beispiel aus der Welt des Booktube illustrieren lässt. »Literary Iggy« ist eine von sehr vielen Literaturliebhaber*innen, die auf Youtube einen Kanal unterhalten, der allein dem Thema Literatur gewidmet ist.Footnote 5 Mit knapp über 4000 Abonnenten ist sie weit entfernt davon, eine Berühmtheit der Szene zu sein. Führende Booktuber, wie etwa Ariel Bissett, kommen auf über 300.000 Abonnenten. Die Kanäle solcher Literatur-Influencer sind wirkungsvolle Marketinginstrumente, die von den Verlagen hofiert werden. Die Monetarisierungsmöglichkeiten der Plattform reichen von Google-Anzeigen über Sponsoring-Verträge, Affiliierten-Programme, Abonnement-Services für Zusatzinhalte bis hin zu eigenem Merchandise und machen Booktube zu einem neuartigen, in einigen Fällen lukrativen, Betätigungsfeld innerhalb des Literaturbetriebs.
»Literary Iggy« dagegen ist Amateurin. In ihrem »Reading Vlog« – ein etabliertes Untergenre im Booktube-Kosmos – hält sie Momentaufnahmen ihre Lektüre fest. Alle paar Stunden schaltet sie die Kamera ihres Laptops ein und zeichnet für ihr Publikum auf, welchen Eindruck ihre aktuelle Lektüre in den zuletzt gelesenen Seiten auf sie gemacht hat. Hat sie ein Buch zu Ende gelesen, schneidet sie die Schnipsel zu einer Episode ihres Youtube-Kanals zusammen. »Literary Iggy« filmt sich an den unterschiedlichen Orten ihres Leselebens – bei der Arbeit im Buchladen, beim Kochen, im Bett, im Wohnzimmer. Man sieht sie mit Brille und ohne, im Schlafanzug, Jogginganzug und mit Flamencoschuhen vor dem Tanzkurs. Der Inhalt ihres gefilmten Lesetagebuchs ist weit mehr als das jeweilige Buch: Sie stellt ihr Leben aus, stets in Form einer direkten Ansprache ihres Publikums. Mit Lauren Berlant ließe sich bei dieser Form des scheinbaren Zwiegesprächs von einer »intimen Öffentlichkeit« sprechen.Footnote 6 Man könnte auch sagen: wie die Autor*innen der Autofiktion ist auch »Literary Iggy« darum bemüht, die vierte Wand zu durchbrechen.
Im Februar 2022 widmet sich »Literary Iggy« dem Roman Motherhood (2018; dt. Mutterschaft, 2019) der kanadischen Autorin Sheila Heti (geboren 1976).Footnote 7Motherhood kombiniert realistisches Erzählen, literarisches Experiment und Meditation zur eigenen Lebensführung. Wohl aufgrund seiner Zuspitzung weit verbreiteter Charakteristika gegenwärtiger Autofiktion ist der Roman zu einem zentralen Bezugspunkt einer feuilletonistischen Debatte geworden, die das Genre seit einem Jahrzehnt mal staunend, mal kritisch begleitet.Footnote 8 Im Zentrum von Hetis Text steht eine ausführliche Selbstbefragung zum Thema Kinderwunsch. Könnte die Protagonistin (und Erzählerin und Autorin) als Mutter die Künstlerexistenz weiterführen, die ihr Leben ausmacht? Wäre ein Kind ihrer Selbstentfaltung dienlich oder würde es dieser im Wege stehen? Wird sich ihr Verhältnis zu ihrer Mutter und Großmutter ändern, falls sie sich nicht fortpflanzt? Es ist naheliegend, dass die Problematisierung der eigenen Lebensführung bei Hetis Leserschaft – und insbesondere ihrer Leserinnenschaft in der gleichen Altersgruppe – auf Resonanz stößt. Aber ginge es nur darum, die großen Lebensentscheidungen von (im weiteren Sinne) jungen Frauen anzusprechen, wäre Motherhood wohl eher als Ratgeberliteratur, vielleicht auch als Memoir, in jedem Fall aber als Nonfiction einzustufen. Doch nicht nur fiktionalisiert Heti die Details der erzählten Geschichte. Viel wichtiger: Sie verfasst ihren Text als literarisches Experiment.
Der Roman besteht über weite Strecken aus Ja- oder Nein-Fragen, die die Erzählerin vorgibt, per Münzwurf zu entscheiden. Damit verfolgen die Leser*innen scheinbar in Echtzeit einen Dialog mit dem Schicksal. Nicht nur wirkt es, als seien sie bei jedem Münzwurf zugegen. Die Beantwortung jeder einzelnen Frage hat auch Einfluss auf die Folgefragen. Die Leser*innen bekommen somit den Eindruck, sie seien Zeuge des Entstehungsprozesses des Buchs oder könnten ihn zumindest in ihrer eigenen Leseerfahrung nacherleben. Es ist folgerichtig, dass die Erzählung damit beginnt, die Koordinaten der Erzählsituation zu bestimmen und quasi-indexikalisch zu fixieren:
Ist dieses Buch eine gute Idee?
ja
Ist jetzt die Zeit, damit anzufangen?
ja
Hier in Toronto?
ja.Footnote 9
Das Buch präsentiert sich als sein eigenes Making-Of, Schreiben und Lesen werden scheinbar überblendet im sich entfaltenden Hier und Jetzt des Münzwurfs.
»Literary Iggy« allerdings hat mittlerweile Probleme mit diesem Experiment. Nach 12 von 21 Minuten ihrer Sendung hat sie etwa die Hälfte des Romans gelesen und zieht ein Zwischenfazit: »Ich finde das Thema des Buchs unglaublich interessant. Es ist etwas, worüber ich mit meinen Freundinnen ständig rede. Es freut mich, dass in dem Buch ähnliche Gedanken auftauchen, dass Diskussionen aus meinem eigenen Leben in diesem Buch diskutiert werden, auf so schöne Art und Weise. Allerdings: das Format oder die Struktur des Textes […], ich finde sie mittlerweile etwas nervig« (Übers. J.V.).Footnote 10 »Literary Iggy« repliziert in ihrem Video den Echtzeiteffekt von Hetis Prosa: Während der Text vorgibt, die Leserin in den Stand einer Zeugin seines eigenes Entstehens zu erheben, vermittelt »Literary Iggy« den Eindruck, ihre Zuschauer*innen in Echtzeit an ihrer Lektüre teilhaben zu lassen.
Booktube-Formate heben nicht nur den charakteristischen Echtzeit-Effekt der Autofiktion hervor, sie weisen auch auf den spezifischen außerliterarischen Weltbezug der autofiktionalen Lesehaltung hin: Leser*innen wie »Literary Iggy« bleiben sich gewahr, dass sie es mit einem literarischen Artefakt zu tun haben, in diesem Fall sogar mit einem experimentellen. Gleichzeitig erlaubt diese Literatur aber eine Beschäftigung mit Lebensfragen, die sich – in stärkerem Maße, als es die Fiktion erlaubt – vom Text ablöst. Denn die Lebensfragen der Autofiktion lassen sich von der diegetischen Welt abtrennen und als Fragen begreifen, die in der sozialen Welt verortet sind: als Problemstellungen, die sowohl die vermeintlich reale Figur der Autorin oder des Autors als auch – und das ist noch wichtiger – die Leserin oder den Leser selbst umtreiben. Dieser Vorgang unterscheidet sich von jener Lesehaltung fiktionaler Literatur, der üblicherweise zugeschrieben wird, den direktesten Bezug zum Leben der Leser*in herzustellen: dem identifikatorischen Lesen. Identifizieren sich Leser*innen mit einer fiktionalen Figur, so bleibt die diegetische Welt der notwendige Bezugspunkt. Ohne sie kollabiert die identifikatorische Beziehung.
Die Autofiktion dagegen legt es nicht auf Identifikation mit einer literarischen Figur an. Autofiktion versetzt die Leser*in in die Position, sich mit einer anderen Person – einem Konstrukt, das die Leser*in auf Grundlage des Textes von der Autorin oder dem Autor entwirft – in Beziehung zu setzen und auf dem Wege dieser Beziehung zu einer Betrachtung des eigenen Lebens zu gelangen. Dass diese andere Person ein Buch zum Thema der entsprechenden Selbstbetrachtung geschrieben hat, wird im Extremfall zur Beiläufigkeit degradiert. Gleichzeitig jedoch bleibt für die Leser*in das Bewusstsein für den spezifisch literarischen Akt des Lesens erhalten. Dass die Beschäftigung mit dem eigenen Leben durch den literarischen Text ermöglicht wurde und mithin aus der Kunst geboren wurde, dass sie von der literarischen Sprache eines literarischen Textes zehrt, verleiht der Selbstbetrachtung ästhetische Fülle, die, mit Bourdieu gedacht, auch symbolisches Kapital impliziert.
Sichtet man Youtube-Beiträge zu Motherhood, stößt man durchgehend auf dieses Muster: Der Text wird zunächst für seine Literarizität gewürdigt, doch dann konzentriert sich die Rezeptionshaltung auf die Selbstbeobachtung der Leser*innen. Es ist, als diene der Roman qua seiner literarischen Qualitäten als ein Einstiegsfenster in die Selbstreflexion. Nachdem sie Hetis literarisches Münzexperiment erläutert hat, macht auch Rebecca vom Kanal »Rebecca Eats Books« (5400 Abonnenten) den Schritt über den Text hinaus: »Was ich an diesem Buch liebe – Mütter werden jetzt mit den Augen rollen, aber wartet: Was ich an diesem Buch liebe, ist, dass es mich beim Lesen zum Nachdenken gebracht hat. Ist Mutterschaft wirklich eine Dichotomie? […] Was bedeutet eigentlich Mutterschaft?«.Footnote 11 Literatur ist hier ein Geschenk, das es ermöglicht, über das eigene Leben nachzudenken. Aber um den Rezeptionsprozess abzuschließen, muss die Selbstreflexion qua Booktube in eine Kommunikation eingespeist werden, die strukturelle Ähnlichkeiten mit dem vom autofiktionalen Roman angelegten Akt des Lesens aufweist. Autofiktion ist in diesem Sinne eine Literatur der Prosumption.
Auch Gespräche mit der Autorin selbst sind auf diese Weise strukturiert. Carissa, Präsentatorin des Youtube-Kanals »Bad at Keeping Secrets« (621 Abonnenten), leitet ihr Interview mit Sheila Heti so ein: »Ich bin auf Ihre Bücher gestoßen, indem, also, es wurde ein Buchclub gegründet, weil, als Motherhood herauskam, hatte ich einen Freundeskreis, und wir haben uns ständig über die Frage unterhalten, ›sollte ich Mutter werden‹? Wir haben so ein bisschen ausgelotet, welche Optionen und Möglichkeiten wir haben. […] Und so haben wir einen Buchclub gegründet und haben Ihr Buch gelesen und darüber gesprochen. Und komischerweise haben wir uns nach dem Lesen alle dazu entschieden, ein Kind zu wollen, interessanterweise« (Übers. J.V.).Footnote 12 Im Zentrum des Gesprächs steht allerdings nicht die thematische Frage des Buchs, sondern die Vielfältigkeit von Hetis kreativem Schaffen: »Ich möchte Sie vorstellen als: Philosophin, Dichterin, Schreiberin, Konzeptkünstlerin, Herausgeberin, und, irgendetwas habe ich noch vergessen. […] Irgendwie sind Sie Journalistin, auch wenn Sie keine Journalistin sind […] und auch Memoiristin, auch wenn Sie keine Memoiristin sind […]« (Übers. J.V.).Footnote 13
Sheila Heti selbst provoziert ebenfalls den Sprung über die Schwelle, von der Kunst ins Leben und zurück. Zur Youtube-Übertragung einer virtuellen Fragerunde mit ihren Leser*innen setzt sie ihre Mutter vor die Zoom-Kamera. Gleich die erste Frage, die Sheila Heti vom Bildschirm abliest, bestätigt die Weitsichtigkeit dieser Entscheidung: Die fragende Leserin thematisiert zwar zunächst die Literarizität von Motherhood, indem sie einen Autofiktionsboom diagnostiziert und den Roman darin verortet. Doch bei der eigentlichen Frage ist mütterliche Kompetenz gefragt: »Zu welchem Grad können wir im Falle von Motherhood zwischen der Stimme der Erzählerin und der Stimme der Autorin unterscheiden?« Antworten darf zunächst Sheila Hetis Mutter, die die Ähnlichkeiten zwischen ihrer Tochter und der Protagonistin aufzählt – es handelt sich um positive Eigenschaften des kreativen Charakters –, bevor die Autorin selbst Auskunft gibt: »Die größte Ähnlichkeit liegt darin, dass das Problem, das die Figur umtreibt, dasselbe Problem ist, das auch mich umgetrieben hat. Ich hätte das Buch nicht geschrieben, wenn ich diese Frage nicht in mir getragen hätte« (Übers. J.V.).Footnote 14 Indem sie ihre Mutter mit auf die virtuelle Bühne holt, begeht Heti zweifelsohne einen Akt der entschiedenen Autobiographisierung ihres Romans. Die Dialektik der Autofiktion zeigt sich allerdings darin, dass Sheila Heti von ihrer Mutter bescheinigt bekommt, ein besonders sensibles und talentiertes Kreativsubjekt zu sein. Nicht nur wertet der Roman die Lebensbetrachtung ästhetisch auf; gelingt die Booktube-Performance, kann umgekehrt auch die Selbstbefragung den literarischen Wert der Autofiktion unterstreichen.
III.
der strukturwandel der privatheit
Footnote 15
Nun könnte der Verdacht aufkommen, man hätte es bei autofiktionalen Werken wie Motherhood mit Erzeugnissen eines strukturellen Narzissmus zu tun. Nach diesem Verständnis läge der Reiz, ja die Funktion von autofiktionaler Literatur darin, dass sie es Autor*innen und Rezipient*innen erlaubt, sich auf ästhetisch konsekrierende Art mit sich selbst zu beschäftigen und so den Anforderungen an eine neoliberale Subjektivität nachzukommen. Mit Isolde Charim gesprochen, wäre Autofiktion dann eine kulturelle Praxis, mit der »[d]er objektive Narzissmus der Ranking-Ordnungen […] den subjektiven Narzissmus des Einzelnen in Dienst [nimmt]«.Footnote 16
Das Phänomen der Autofiktion lässt sich aber auch als Ausdruck einer sich verändernden Konzeption von Privatheit verstehen. Naheliegend ist eine solche Betrachtungsweise schon deshalb, weil sich Roman und moderne Privatheit historisch in einem Wechselverhältnis zueinander entwickelt haben. Die literarische Innovation der Autofiktion und die aktuell zu beobachtende Transformation von Privatheit wären somit das neueste Kapitel einer längeren Geschichte.
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Genese des Romans historisch einen wichtigen Anteil an der Artikulation des modernen Verständnisses von Privatheit hatte – und umgekehrt. In seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) beschrieb Jürgen Habermas die Entwicklung der politischen Öffentlichkeit aus der literarischen Öffentlichkeit, die wiederum zu verstehen war als eine auf die Öffentlichkeit bezogene Selbstvergewisserung des bürgerlichen Subjekts darüber, worin genau seine Subjektivität eigentlich bestand. Laut Habermas waren hierbei der Briefwechsel und seine literarische Modellierung im Briefroman von entscheidender Bedeutung: »Die Beziehungen zwischen Autor, Opus und Publikum verändern sich: sie werden zu intimen Beziehungen der psychologisch am ›Menschlichen‹, an Selbsterkenntnis ebenso wie an Einfühlung interessierten Privatleute untereinander«.Footnote 17 Das Private wird greifbar durch die Selbsterforschung und Einfühlung, die der (literarische) Briefwechsel ermöglicht. Der gleitende Übergang zwischen realem Brief und literarischem Brief – Habermas erwähnt, dass Samuel Richardsons Pamela (1740) letztlich aus dem Versuch entstand, eine Sammlung von Musterbriefen zu erstellen – verweist auch auf die bis in die Autofiktion fortwirkende Bedeutung der Kommunikationsbeziehung zwischen Autor und Leser*in in der literarischen Praxis des Privaten.Footnote 18
Habermas konnte sich in seiner Rekonstruktion der literarischen Öffentlichkeit unter anderem auf die epochemachende Studie von Ian Watt, The Rise of the Novel (1957), stützen. Watt zeigte, dass der Roman als ein Selbstverständigungsmittel der entstehenden Mittelschicht fungierte, in dem wesentliche Entwicklungen des 18. Jahrhunderts, vom Individualismus und philosophischen Realismus bis hin zur (Sub‑)Urbanisierung, zusammenliefen. Laut Watt kam dem Briefroman Richardsons dabei die besondere Bedeutung zu, die Privatsphäre der Charaktere zu kartographieren. Als Gewährsmann zitierte er Francis Jeffrey, der 1804 im Edinburgh Review festgestellt hatte: »With Richardson, we slip, invisible, into the domestic privacy of his characters, and hear and see everything that is said and done among them, whether it be interesting or otherwise, and whether it gratify our curiosity or disappoint it«.Footnote 19 Diese »domestic privacy« umfasste also beides: die Interiorität der Figur und die häusliche Sphäre – genauer: die abgeschiedene Kammer –, die für das unbeobachtete Schreiben vertraulicher Briefe unabdingbar war.
Wie später Habermas erkannte Watt in der genauen Erkundung des privaten Inneren literarischer Charaktere ein Angebot der Einfühlung und Identifikation. Ein solches Angebot wurde durch die Fiktionalität des Romans nicht gemindert, sondern sogar gesteigert, erlaubt doch die Fiktion durch ihre Ablösung von realen Personen eine besonders detaillierte Durchleuchtung und Ausbuchstabierung menschlicher Innerlichkeit. Seit dem Erscheinen von Watts Studie hat die Forschung allerdings verstärkt das Moment der Überwachung betont, das in der Sichtbarmachung des räumlichen und seelischen Privaten am Werke ist und das sich aus Jeffreys Formulierung bestens ablesen lässt: Wir hören und sehen alles, was die Charaktere des Romans tun und sogar denken, und bleiben dabei selbst ungesehen. Gerne wurde diese Einsicht im Anschluss an Foucault als Beleg gewertet, dass die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Betonung von vermeintlicher Privatheit und individueller Autonomie in Wirklichkeit einem panoptischen Kontrollapparat gleichkomme.Footnote 20
Das Zugeständnis tiefer Interiorität auf der einen Seite, Überwachung auf der anderen: hierin zeigt sich eine Spannung des Liberalismus, die ihr politisches Pendant im Widerspruch zwischen autonomem Subjekt und bürokratischem Überwachungsstaat findet. In dieser Konstellation steht das Private in einer spezifischen Relation zum Öffentlichen. Wie in Habermas’ Schema festgehalten, bildet die Öffentlichkeit jene Sphäre, in der die mit privater Interiorität ausgestatteten Subjekte zusammenkommen, um sich gegenüber einem potenziell übergriffigen Staat zu positionieren und diesem mittels öffentlicher Kritik die Stirn zu bieten – wobei der Überwachungsstaat auf demselben Paradigma des einsehbaren Selbst zu beruhen scheint wie das Selbstverständnis der Privatleute, die sich öffentlich gegen ihn zur Wehr setzen. Der klassische Liberalismus versucht, diesen Widerspruch aufzulösen, indem er den Zugang zum Privaten zu schützen versucht und ihn somit zu einer negativen Freiheit erklärt. Wie es die beiden amerikanischen Juristen Samuel Warren und Louis Brandeis 1890 in einem wegweisenden Artikel des Harvard Law Review zum von ihnen postulierten »Recht auf Privatheit« formulierten: Privatheit besteht im »Recht, allein gelassen zu werden« (Übers. J.V.).Footnote 21 Allerdings weist dieser Ansatz einen weiteren Widerspruch auf: Als Bedingung der Möglichkeit von Öffentlichkeit ist Privatheit irritierenderweise die Grundbedingung dafür, in der Öffentlichkeit ein »Recht auf Privatheit« artikulieren und einfordern zu können. Die negative Freiheit der Privatheit muss schon existieren, damit sie öffentlich eingeklagt werden kann.
Diese letztlich antinomische Konstellation von Privatheit, Öffentlichkeit und Staat verlor in den 1960er Jahren ihre Überzeugungskraft. Mit der Konstellation der drei Begriffe veränderte sich auch das Verständnis von jedem einzelnen von ihnen. Formen der Überwachung etwa haben seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest tendenziell umgestellt vom Prinzip der Norm – das jene Subjekte sanktioniert, die von etablierten Verhaltenskodizes abweichen – auf das einer statistisch erfassten Normalität.Footnote 22 Letzteres begreift Individuen als individualisiert – etwa durch die Sammlung von Metadaten – und fördert zu diesem Zweck eine möglichst profilierte Differenzierung des Verhaltens. Der Überwachungskapitalismus hat auf Basis dieses Prinzips neue Wertschöpfungsmöglichkeiten aufgetan,Footnote 23 während staatliche Sicherheitspolitik ein Interesse an Individualisierung hat, weil sich abweichendes Verhalten besonders gut markieren, antizipieren und eliminieren lässt.Footnote 24
Aber auch der Begriff der Privatheit hat sich verändert. Die sozialen Bewegungen der langen 1960er Jahre erkannten das Politische im Persönlichen und kritisierten die bürgerlich-liberale Konzeption von Privatheit als Machtmittel des Patriarchats, das Frauen (und anderen in die häusliche Sphäre Verdammten) die Berechtigung zur politischen Partizipation entzog.Footnote 25 Das neue Idealsubjekt zeichnete sich nicht mehr durch eine sich selbst erfüllende Innerlichkeit aus, sondern fand seine Entfaltung in einer Sozialität, die nicht etwa auf die Integrierung des Einzelnen in gegebene Strukturen hinausläuft, sondern auf die permanente, gemeinsame Arbeit an der sozialen Textur. Das dynamische und prozesshafte soziale Netzwerk wurde zum Ideal der Gesellschaft und das darin aufblühende, sich ebenso ständig weiter entwickelnde Subjekt sein idealer Bewohner.Footnote 26
Wie eine solche politische Utopie noch weit vor der Verbreitung des Internets vom Kreativkapitalismus absorbiert wurde, haben unter anderem Luc Boltanski und Eve Chiapello (2005) gezeigt.Footnote 27 Welchen Einfluss die Netzwerkgesellschaft auf Privatheit genommen hat, ist allerdings nicht eindeutig. Ist der Begriff hinfällig geworden? Lebt Privatheit in einer Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen weiter? Oder haben sich Bedeutung und Struktur von Privatheit verändert? Mediensoziolog*innen wie Zizi Papacharissi (2010),Footnote 28 Dana Boyd (2012),Footnote 29 Urs Stäheli (2014)Footnote 30 und Felix Stalder (2016, 2019)Footnote 31 haben in einer Debatte um das Stichwort »Networked Privacy« Entwürfe vorgelegt, laut denen Privatheit mit der Netzwerkgesellschaft nicht etwa an ihr Ende gekommen ist, sondern sich verändert hat: Das Private ist nun nicht mehr als Rückzugsort zu verstehen, sondern als Teil des Netzwerks bzw. als ein bestimmter Modus der Praxis des Netzwerkens. Privatheit steht somit im Dienst der Freiheit, die ihrerseits neu verstanden wird: nicht mehr negativ – als Rückzugsort, in dem die Interiorität des Individuums ungestört bleibt – sondern positiv, als Möglichkeit, das Leben innerhalb des Sozialen nach den eigenen Wünschen zu gestalten.
Diese Bedeutungsverschiebung offenbarte sich vor Kurzem auch auf dem Terrain des US-amerikanischen Verfassungsrechts. In der Entscheidung Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization aus dem Jahr 2022 kippte die konservative Mehrheit des Obersten Gerichts der USA das nationale Abtreibungsrecht, das seit dem Gerichtsurteil Roe v. Wade aus dem Jahre 1973 gegolten hatte. Als verfassungsrechtlich unhaltbar sah das Gericht die frühere Präzedenz-Entscheidung unter anderem deshalb an, weil diese mit einem »Recht auf Privatheit« argumentiert hatte. Ein solches Recht ist in der US-Verfassung nicht explizit verankert und lässt sich nur über Umwege begründen (als sie die Roe v. Wade-Entscheidung trafen, sahen die Richter verschiedene Begründungsmöglichkeiten eines »Rechts auf Privatheit« und verwiesen insbesondere auf den neunten und vierzehnten Verfassungszusatz, wobei sie eine Präferenz für letztere Option zum Ausdruck brachten.)Footnote 32 Die Position der konservativen Richter des gegenwärtigen Supreme Court wies diese frühere Argumentation zurück, machte damit allerdings umso deutlicher, dass sich Privatheit bereits anno 1973 auf das Recht bezogen hatte, über das eigene Leben, d. h. über die eigene Lebensführung, zu bestimmen. Die Dobbs-Entscheidung legt offen, dass Privatheit bereits zum Zeitpunkt von Roe zu einer positiven Freiheit geworden war.
Die normative Begründung von Privatheit hat die liberale Philosophin Beate Rössler in einer einflussreichen Studie (2001) in der Autonomie des Individuums verortet.Footnote 33 Mit der Veränderung der Bedeutung von Privatheit von negativer zu positiver Freiheit verändert sich allerdings auch die Bedeutung von Autonomie. Wie der Medienwissenschaftler Felix Stalder (2019) schreibt, zielt die Autonomie, die den Wert des Privaten begründet, nicht mehr primär auf das individuelle Selbstverhältnis im Sinne einer ungestörten Introspektion, sondern auf dessen soziale Einbettung in Netzwerken: »Für viele [Projekte der Autonomie] charakteristisch ist, dass die Voraussetzungen für Autonomie nicht mehr in der inneren Welt [… ] verortet werden, sondern als basierend auf vernetzten Projekten, in denen Sozialität verhandelt und gelebt wird«.Footnote 34
Schließt man sich – wie ich es vorschlage – dem Gedanken an, dass Privatheit zu einer Sache vernetzter Autonomie-Projekte geworden ist, stellt sich allerdings die Frage, ob die Formulierung Stalders, diese Projekte »verhandelten« Sozialität, noch angemessen ist. Steckt hierin nicht die Annahme, dass der Begriff der Öffentlichkeit von der Veränderung der liberalen Konstellation »Privatheit – Öffentlichkeit – Staat« weitgehend unangetastet geblieben sei und dass sich Öffentlichkeit nach wie vor als räsonierendes oder deliberatives Aushandeln begreifen lasse?
Autofiktion und Booktube legen uns nahe, neben dem Wandel von Privatheit und Überwachung auch einen Wandel von Öffentlichkeit in den Blick zu nehmen. Die neue Öffentlichkeit dient als eine Bühne für das Ausstellen von privater Lebensführung und für das Bearbeiten ihrer Dilemmata. Wenn Sheila Heti mit Motherhood ein Thema aufwirft, das viele junge Frauen – und Männer – bewegt, so rahmt sie es als eines, das nur auf der Ebene des Individuums adressiert werden kann. Zugleich ist es aber eines, das von einer kollektiven Lebensform zeugt, in der sich die Spielräume der individuellen Ausgestaltung des Lebens vergrößert haben und in der sich dadurch neue Herausforderungen stellen. In diesem Sinne wird das Private öffentlich und das Öffentliche privat.
Begreift man aber die Herausforderungen der eigenen Lebensführung als den Inhalt, der das Private und Öffentliche dominiert, so stellt sich unweigerlich die Frage nach der Form des Privat-Öffentlichen. Wie das Beispiel von Hetis Booktube-affiner Autofiktion nahelegt, lässt sich die Form des Privat-Öffentlichen als Prozess einer Tätigkeit beschreiben, genauer: der Tätigkeit des Netzwerkens selbst. Sowohl die Literatur der Autofiktion als auch ihre Weiterverarbeitung in den diversen Youtube-Formaten zielen auf den Moment ab, in dem eine Grenze überschritten wird und ein neuer Kontakt geknüpft wird. Die Metapher der vierten Wand versinnbildlicht diese Gleichzeitigkeit von überschreitendem Durchbruch und dem Andocken einer neuen Verbindung. Das Private besteht also nicht mehr im zurückgezogenen Explorieren des Selbst, sondern in einer in Inhalt und Form aufgeteilten Doppelbewegung: auf der einen Ebene besteht das Private im öffentlichen Durchdenken der individuellen Lebensführung, auf der anderen im Anbahnen und Herstellen einer neuen sozialen Verknüpfung. Das mag die eigentümliche Mixtur der Autofiktion von literarischem Formexperiment und extraliterarischer, bisweilen geradezu therapeutischer Selbstbeobachtung erklären. Es geht um viel mehr als eine vermeintlich narzisstische Selbstdarstellung und Selbstbeobachtung, nämlich um das Knüpfen neuer Netzwerk-Knoten. Dabei handelt es sich um einen Akt von gesteigerter affektiver und ästhetischer Intensität. Es ist ein schöpferischer Akt, dessen ästhetische Qualität sich in der experimentellen Ästhetik autofiktionaler Grenzüberschreitung manifestiert.
Notes
Manuel Castells, The Information Age. Economy, Society, and Culture. Vol. I: The Rise of the Network Society, II, Malden 2010.
Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1994. In der Einleitung zum Themenheft »Autofiktion und die Poetik der Singularisierung« der Zeitschrift WestEnd habe ich vor Kurzem eine etwas ausführlichere Genealogie der Autofiktion vorgelegt. Siehe Johannes Völz, »Stichwort: Autofiktion und die Poetik der Singularisierung«, WestEnd: Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1 (2022), 75–82.
Serge Doubrovsky, Fils, Paris 1977.
Lee Konstantinou, Cool Characters: Irony and American Fiction, Cambridge 2016, 82.
Literary Iggy, »Reading Vlog | Cooking + Reading Sheila Heti’s Motherhood«, https://youtu.be/wW-uu_djkrY (27.06.2023).
Lauren Berlant, The Female Complaint. The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture, Durham 2008.
Sheila Heti, Motherhood, London 2019; Sheila Heti, Mutterschaft, übers. von Thomas Uberhoff, Reinbek b.H. 2019.
Jonathon Sturgeon, »2014: The Death of the Postmodern Novel and the Rise of Autofiction«, http://www.flavorwire.com/496570/2014-the-death-of-the-postmodern-novel-and-the-rise-of-autofiction (27.06.2023); Tim Parks, »How Best to Read Auto-Fiction«, https://www.nybooks.com/online/2018/05/25/how-best-to-read-auto-fiction/ (27.06.2023); Katy Waldman, »Who Owns a Story?«, https://www.newyorker.com/books/under-review/who-owns-a-story-trust-exercise-susan-choi (27.06.2023).
Heti, Mutterschaft (Anm. 7), 17.
Literary Iggy (Anm. 5), 12:32–13:21.
Rebecca Eats Books, »MOoOOOoM: my favorite books on moms, mothering, not mothering, and being mothered«, https://youtu.be/cYL4aJX09qc (27.06.2023), 15:54–16:22.
BAD AT KEEPING SECRETS, »Sheila Heti talks with me on Pure Colour«, https://youtu.be/QAareVUNp0Y (27.06.2023), 0:05–0:55.
Ebd., 1:54–2:14.
Sheila Heti, »Sheila Heti and her mother, Agnes Vago, discuss Heti’s novel, Motherhood«, https://youtu.be/eE57I53H21Q (27.06.2023), 0:45–2:18.
Passagen dieses Abschnittes sind zuvor erschienen in: Johannes Völz, »Der Wert des Privaten und die Literatur der ›Neuen Aufrichtigkeit‹«, WestEnd: Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1 (2016), 145–155 und: Johannes Völz, »The American Novel and the Transformation of Privacy. Ben Lerner’s 10:04 (2014) and Miranda July’s The First Bad Man (2015)«, in: Michael Basseler, Ansgar Nünning (Hrsg.), The American Novel in the 21st Century. Cultural Contexts – Literary Developments – Critical Analyses, Trier 2019, 323–337.
Isolde Charim, Die Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung, Wien 2022, np.
Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1990, 114.
Ebd.
Ian Watt, The Rise of the Novel, Berkeley 1957, 175.
Vgl. John B. Bender, Imagining the Penitentiary. Fiction and the Architecture of Mind in 18th-Century England, Chicago 1987; D.A. Miller, The Novel and the Police, Berkeley, Los Angeles 1988; Mark Seltzer, Henry James and the Art of Power, Ithaca 1984.
Samuel D. Warren, Louis D. Brandeis, »The Right to Privacy«, in: Ferdinand D. Schoeman (Hrsg.), Philosophical Dimensions of Privacy. An Anthology, Cambridge 2007, 75–103, hier: 75.
Ian Hacking, The Taming of Chance, Cambridge 1990; Michel Foucault, Security, Territory, Population. Lectures at the Collège de France, 1977–78, hrsg. Michel Senellar, übers. von Graham Burchell, New York 2007.
Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism. The Fight For a Human Future at the New Frontier of Power, New York 2019.
Louise Amoore, Marieke de Goede (Hrsg.), Risk and the War on Terror, London 2008.
Joan B. Landes (Hrsg.), Feminism, the Public and the Private, Oxford 1998; Carole Pateman, »The Patriarchal Welfare State«, in: Joan B. Landes (Hrsg.), Feminism, the Public and the Private, Oxford 1998, 241–274.
Castells (Anm. 1); Zizi Papacharissi, A Private Sphere. Democracy in a Digital Age, Cambridge 2010.
Luc Boltanski, Ève Chiapello, The New Spirit of Capitalism, London 2005.
Papacharissi (Anm. 26).
Dana Boyd, »Networked Privacy«, Surveillance & Society 10/3–4 (2012), 348–350.
Urs Stäheli, »Aus dem Rhythmus fallen. Zur öffentlichen Entnetzung«, Kursbuch 177 (2014), Themenheft Privat 2.0, 66–77.
Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016; Felix Stalder, »Autonomie und Kontrolle nach dem Ende der Privatsphäre«, in: Martin Stempfhuber, Elke Wagner (Hrsg.), Praktiken der Überwachten. Die Herstellung von Privatheit und Öffentlichkeit im Web 2.0, Wiesbaden 2019, 97–110.
Jane Roe et al. v. Henry Wade, District Attorney of Dallas County 410 U.S. 113 (1973), 153.
Beate Rössler, Der Wert des Privaten, Frankfurt a.M. 2001.
Stalder (Anm. 31), 106.
Funding
Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Additional information
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Rights and permissions
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de.
About this article
Cite this article
Völz, J. Autofiktion und der Strukturwandel des Privaten. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 97, 927–939 (2023). https://doi.org/10.1007/s41245-023-00237-2
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s41245-023-00237-2