»Auchbuchhandel nennt der ›ordentliche‹ Buchhandel oder Vollbuchhandel alle Firmen, die sich ohne fachlich ausgebildete Kräfte gelegentlich und nebenher mit dem Vertrieb von Gegenständen des Buchhandels befassen […].«Footnote 1 Neben Schreibwarengeschäften zählen dazu insbesondere die Kolporteure, aber auch die Buchbindereien, die mit der Industrialisierung und dem Siegeszug des Verlegereinbandes ihre Geschäftsgrundlage verloren, sowie die Kaufhäuser, die alltagsnah und niedrigschwellig neue Käufer- und Leserschichten gewinnen konnten, weshalb sogar der ›ordentliche‹ Buchhandel irgendwann zähneknirschend den Beitrag des von ihm verteufelten Auchbuchhandels zur »Culturmission des Buchhandels« anerkennen musste.Footnote 2 In den letzten Jahren sah sich der Buchhandel erneut einem solchen von den Rändern ausgehenden, tiefgreifenden Strukturwandel ausgesetzt. Dieses Mal waren es Start-Ups des Versand- und Gebrauchtbuchhandels von Amazon bis Medimops, die als Branchenfremde in beispielloser Geschwindigkeit und ›unbarmherziger‹Footnote 3 Radikalität den Buchhandel umkrempelten und dabei eine enorme Marktmacht aufbauen konnten – wobei ihnen der Buchmarkt, wie man heute weiß, häufig nur als Sprungbrett diente. Ihr Portfolio haben sie inzwischen bedeutend erweitert, das Geschäft mit Büchern betreiben sie i. d. R. nur noch ›nebenher‹.

I.

vom auchbuchhandel zur auchliteratur

Im Unterschied zu früher konzentriert sich der Online-Auchbuchhandel der Gegenwart nicht mehr nur auf ›Brotartikel‹ des Sortiments, etwa Kalender, Schulbücher, Kochbücher, Landkarten, Stadtpläne, Bilderbücher oder Bestseller, die sich quasi von selbst verkaufen, ohne dass es besonderer Fachkenntnisse bedarf.Footnote 4 Mit der Digitalisierung eröffneten sich weitere Optionen. Zum einen sind Online-Versandhändler in ihrem Produktsortiment nicht länger durch physische Engpässe wie teure Laden- oder begrenzte Regalfläche beschränkt. Zum anderen können sie neue Zielgruppen erschließen, und zwar in einem globalen Maßstab. Davon profitiert insbesondere das Nischensegment. Der Long Tail-Effekt sorgt dafür, dass heute ein immer größerer Teil des Ab- bzw. Umsatzes auf Nischentitel entfällt. Während früher, wie Chris Anderson am Beispiel der Musikindustrie ausführt, 20 % aller Produkte für 80 % des Umsatzes sorgten, ist in Online-Märkten die Zahl der Bestseller bedeutend geschrumpft. Nur noch 2 % aller Produkte erwirtschaften 33 % des Umsatzes, weitere 33 % des Umsatzes stammen von 8 % der Produkte. Das letzte Drittel des Umsatzes entfällt auf den gesamten Rest, also 90 % aller Produkte, von denen viele jeweils nur in sehr geringer Zahl Absatz finden.Footnote 5

Damit vervielfacht sich aber nicht nur die schiere Menge der in Umlauf gebrachten ›Handelsware‹. Ebenso verändern sich deren Inhalte, Formate, Genres, Gatekeeper und Autorenschaft. Man könnte in Analogie zum Auchbuchhandel von einer neuen Spezies der Auchliteratur sprechen, mit der eine »mehrdimensionale[…] Ausweitung des Bereichs des Literarischen«Footnote 6 verbunden ist, für die die Literaturwissenschaft eine Form des Umgangs finden muss – und zwar nicht erst retrospektiv, sondern hier und jetzt, wie im Folgenden am Beispiel des explosionsartigen Anstiegs von Print-on-Demand-Publikationen ausgeführt werden soll.Footnote 7 Der Produktionsausstoß über PoD-Plattformen bildet einen repräsentativen Teilbereich jener Auchliteratur. Er ist aber auch eindrucksvoller Beleg dafür, dass die häufig diagnostizierte Demokratisierung und Popularisierung der literarischen Praxis der Gegenwart keineswegs hauptsächlich »in neuen digitalen Formaten und in intermedialen Konstellationen« zu beobachten ist.Footnote 8 Es gibt sie selbstredend auch in gewohnter buchförmiger Literatur. Darüber hinaus kann die PoD-Plattformproduktion, obwohl sie im ehrwürdigen Gewand des gedruckten Buches auftritt, geradezu als Inbegriff des Postdigitalen gelten, schließlich ist sie ohne die Digitalisierung undenkbar.Footnote 9

II.

»accessible publishing«

Die disruptive Wucht, mit der PoD die Buchbranche erschüttert hat, speist sich keineswegs allein aus der ökonomischen Vorteilhaftigkeit der neuesten digitalen Drucktechnologie, die Kleinstauflagen bis zu einem Exemplar mit annehmbarer Druckqualität und vernünftigen Stückkosten ermöglicht. Sicher: Im Gegensatz zum bisherigen Auflagendruck entfällt hier der physische Bestand auf Vorrat, der Kapital auf lange Zeit bindet, für den man als Autor:in oder Verleger:in in Vorkasse gehen muss, der Lagerkosten verursacht und mit Absatzrisiken verbunden ist. Damit sinkt das verlegerische Risiko, zugleich entstehen neue Geschäftsfelder außerhalb des Bestsellersegments. Davon konnten anfangs allerdings nur die etablierten Akteure im Buchmarkt profitieren, die das neue Druckverfahren schnell und umstandslos in die bestehende Infrastruktur des ›ordentlichen‹ Buchhandels einzubinden wussten.

Wirklich entfalten konnte sich das PoD innewohnende revolutionäre Potenzial aber erst, als mit Gründung von PoD-Plattformen wie BoD, Kindle Direct Publishing (ursprünglich CreateSpace), Lulu oder Blurb eine neue Generation des Auchbuchhandels auf den Plan trat, die die neue Drucktechnik für alle zugänglich machte und niedrigschwellige, massentaugliche Angebote entwickelte, die sich konsequent an den Bedürfnissen der Endverbraucher:innen ausrichteten. Diese PoD-Plattformen sind dabei bedeutend mehr als bloße Digitaldruck-Anbieter, auch wenn der Druck natürlich das Herzstück ihres Geschäftsmodells bildet. Er ist aber eingebunden in ein hochkomplexes postdigitales Ökosystem, über das Druckdateien allererst erstellt und geprüft, in Datenbanken erfasst und auf Servern vorgehalten werden können, über das Titel vermarktet und verkauft, mit ISBNs versehen und im ›ordentlichen‹ Buchhandel gelistet werden können, über das Zahlungen und Tantiemen abgewickelt, externe Versanddienstleister und Kundenservices eingebunden werden können, über das Regel- und Praxiswissen in Tutorials vermittelt sowie Zusatzleistungen wie professionelles Lektorat, Covergestaltung oder die Vermarktung auf Messen und Social Media dazugekauft werden können – alles aus einer Hand.

Der Zeitpunkt für die Einführung dieser Form von ›accessible publishing‹ war günstig. Aufbauen ließ sich auf der flächendeckenden Verbreitung digitaler, internetfähiger Geräte und der zunehmenden digitalen Alphabetisierung der Gesellschaft. Entscheidend für den durchschlagenden Erfolg aber dürfte gewesen sein, dass die Nutzung des neuen Angebots keinerlei spezielles Fachwissen und besondere Fertigkeiten mehr voraussetzte. Schließlich schnurrt der einst so mächtige »publishing apparatus«, wie Clay Shirky 2012 provokativ formuliert hat, im digitalen Zeitalter zu einem einzigen Button zusammen: »That’s not a job anymore. That’s a button. There’s a button that says ›publish‹, and when you press it, it’s done.« Zwar bezog sich Shirky hier in erster Linie auf die Welt des Internets, wo das Publizieren »doesn’t take professional skills. It doesn’t take any skills. It takes a WordPress install.«Footnote 10 Doch auch in der Welt der PoD-Plattformen gibt es diesen Knopf: Im Fall von Lulu, dem amerikanischen Pendant zum deutschen BoD in Norderstedt, trägt er buchstäblich die Aufschrift »Confirm & Publish«.

Was früher in der Hand einer kleinen professionellen Kaste war, hat mit dem Angebot der PoD-Plattformen nun also endgültig seine Exklusivität und damit auch seinen elitären Charakter verloren.Footnote 11 Mit der Reduktion auf einen einzigen Knopf und dessen Verfügbarmachung für alle, unabhängig von Geldbeutel und Gatekeepern, wird das Büchermachen zu einem geradezu banalen und alltäglichen Akt, und zur Demokratisierung des Lesens, die im 19. und 20. Jahrhundert entscheidend vom Auchbuchhandel vorangetrieben wurde, gesellt sich nun die Demokratisierung der Produktion(-smittel).Footnote 12

III.

auchliteratur als quasi-karnevaleske zone

Diese Chance zum Büchermachen wurde in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit und beispielloser Zahl von den Amateuren, Laien, Erbauungsliteraten, Gelegenheitsdichter:innen, Dilettant:innen, Sonntagsdichter:innen, Tastenerotiker:innen, Graphoman:innen dieser Welt, kurz: den Hobbyist:innen aller Couleur, entdeckt und ergriffen. Ein Ende des Booms ist nicht abzusehen. Nicht unwahrscheinlich ist, dass die Produktion durch die Einbindung von KI zukünftig sogar noch weiter anschwillt, was in Verbindung mit der zunehmenden Automatisierung aller Produktions- und Publikationsschritte früher oder später zur Implosion des Geschäftsmodells bzw. Marktes führen könnte.Footnote 13 Aber auch ohne dieses Szenario verrückt diese ungebremste und ungesteuerte PoD-Plattformproduktion ungekannten Ausmaßes zwangsläufig die Grenzen des Literarischen, weshalb sie – wenig überraschend – im literarischen Feld erst einmal als Provokation, ja Bedrohung wahrgenommen wird. Der Produktionsausstoß lässt sich nicht einmal ansatzweise überblicken, geschweige denn seriös erfassen und bearbeiten. Ebenso wenig können die gewohnten ästhetischen Bewertungsmaßstäbe an diese Publikationen angelegt werden, während zugleich auf der Hand liegt, dass der Stellenwert dieser entfesselten Produktivität und Kreativität im System der Literatur nicht mit Fokus auf einzelne Texte ermittelt werden kann.

Man könnte die neue Ubiquität und Popularität des Büchermachens und die damit einhergehende Explosion plattformgestützter Auchliteratur erst einmal als gesamtgesellschaftlichen Erfolg in puncto Partizipation und Inklusion begrüßen. Sie wäre somit Ausdruck einer breiten kulturellen Praxis, die mit einer gewissen Verspätung nun auch die Buchwelt erreicht, während sie in anderen Kunst- und Kultursparten seit eh und je verbreitet war und geschätzt, ja gepflegt und gefördert wird – man denke an das familiäre Hauskonzert, die Schülerband, die Volkstanzgruppe, den Amateurfilm, die musikalische Früherziehung, die Sonntagsmalerei, das Laientheater, die Töpferwerkstatt, die Hobbyfotografie, den Zirkel schreibender Arbeiter oder den Kirchenchor. In diesem Sinn konstatiert etwa Ann Haughland: »POD technologies enable an extraordinary and interesting new cultural practice – a form of popular culture centered on production rather than consumption.«Footnote 14 Ähnlich argumentiert Timothy Laquintano in seiner Studie Mass Authorship and the Rise of Self-Publishing, wenn er dem Publizieren »as a professional practice«, auf dem gewöhnlich alle Aufmerksamkeit ruht, das Publizieren »as a literacy practice« an die Seite stellt, das in die »everyday experience« von »ordinary people« eingegangen sei.Footnote 15

Die PoD-Plattformen haben eben diese Klientel der ›ordinary people‹ längst als wichtig(st)e Zielgruppe erkannt. Das belegen ihre Werbenewsletter, in denen sie immer wieder neue Publikationsideen entwickeln, die sich geschickt mit dem Lebensalltag verbinden oder bestens in andere Alltagspraktiken wie das Reisen, Schenken, Erinnern einbinden lassen. So heißt es beispielsweise in vier Newslettern von Blurb aus dem Jahr 2022:

So viele schöne Erinnerungen. Erleben Sie die schönsten Momente immer wieder. Drucken Sie sie alle, und lassen Sie andere daran teilhaben.

Freiraum für Kreativität. Journale und Notizbücher fördern die Kreativität, sie sind praktisch und obendrein perfekte Weihnachtsgeschenke.

Ihre eigene Zeitschrift! Zeitschriften sind eine Art selbstveröffentlichtes Manifest über etwas, das einem wichtig ist. Sie sind einfach zu erstellen, und jetzt auch noch um 20 % vergünstigt!

Auf jeder Reise braucht es ein Tagebuch!

Dass im Zusammenhang mit diesem populären Trend zum eigenen Buch immer wieder von ›ordinary people‹ die Rede ist, erinnert stark an Howard S. Beckers Künstlertypologie, die nicht auf der Bewertung der Qualität der jeweiligen künstlerischen Produktion basiert, sondern auf der Nähe bzw. Ferne ihrer Macher:innen zur etablierten ›art world‹ und deren »ability […] to accept it and its maker.«Footnote 16 Becker unterscheidet die ›integrated professionals‹ von den ›mavericks‹, ›naive artists‹ und ›folk artists‹, die sich ähnlich auch in der Welt von PoD wiederfinden lassen.

Zur ›folk art‹ zählt Becker vor allem »work done totally outside professional art worlds, work done by ordinary people in the course of their ordinary lives, work seldom thought of by those who make or use it as art at all […].« Zugleich seien diese Werke immer auch »part of the daily activity of members of a community.« In der ›art world‹ aber werde das Schaffen der ›folk artists‹ kaum wertgeschätzt: »The work of folk artists speaks to many, but is too commonplace to be anything special.« Als Beispiel dient Becker neben der Quilting-Tradition das »Happy-Birthday«-Geburtstagsständchen, bei dem es – ein wichtiges Detail – keine Rolle spiele, ob tatsächlich jede Note getroffen werde, »as long as the song gets sung.«Footnote 17

Diese Nonchalance ist im Umgang mit der PoD-Buchproduktion der ›ordinary people‹ sehr viel seltener anzutreffen. »Es fehlt«, wie man mit Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert konstatieren könnte, »ein zugleich sympathisches und sachliches Verhältnis, das die Folklore als eine den übrigen kulturellen Leistungen äquivalente spezifische Form des Kulturschaffens erachtet […].«Footnote 18 Stattdessen werden häufig »die gewohnten Vorstellungen«, die sich unserer Beschäftigung mit dem »Schrifttum« als der »uns […] geläufige[n] und am meisten bekannte[n] Form des Schaffens« verdanken, »egozentrisch auch ins Gebiet der Folklore projiziert«, wie Roman Jakobson mit Petr Bogatyrev bereits 1929 festhält. Dies verkenne, dass es sich bei der folkloristischen Produktion um »eine besondere Form des Schaffens« handele.Footnote 19

Neben der eher begrenzten Formenvielfalt und der Aufhebung der Trennung von Produktion und Rezeption im folkloristischen Schaffen arbeitet Jakobson als grundlegenden Unterschied zur Literatur die Frage der Überlieferung heraus. Denn »[i]n der Folklore erhalten sich«, so Jakobson, »nur diejenigen Formen, die sich für die gegebene Gemeinschaft funktionell bewähren. […] Sobald aber eine Form funktionslos wird, stirbt sie in der Folklore ab, während sie in einem Literaturwerke ihre potentielle Existenz bewahrt. […] Mit einem Worte, schon der Begriff der literarischen Überlieferung an sich unterscheidet sich tiefgehend von dem der folkloristischen.«Footnote 20 Auch Aleida Assmann weist auf diese grundlegende Differenz zwischen Folklore und Literatur hin: »Die Artikulationen der Folklore sind Brauchtumsgestalten und besitzen als solche einen festen Ort im Lebensvollzug, gleichgültig, ob es sich dabei um Lieder, Sch[w]änke oder Texte handelt. Hinter jeder Gattung steht prinzipiell eine rekonstruierbare Praxis.« Literatur hingegen schaffe sich »ihre eigene ›Brauchtumsform‹: die Exegese.«Footnote 21 Unterstützung findet diese Differenzierung – die auch bei der Suche nach dem adäquaten literaturwissenschaftlichen Umgang mit der PoD-Produktion Beachtung finden sollte – zudem in Beckers Beobachtung, dass häufig die Grundlage zur Verständigung zwischen der ›art world‹ und den ›folk artists‹ fehle. Zwar würden ›folk artists‹ durchaus über ein differenziertes und komplexes Verständnis ihres Formenrepertoires, Gestaltungsspielraums und Bewertungsmaßstabes verfügen, aber »they have no generalized critical or analytic language in which to discuss them.«Footnote 22

Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum Typus des ›maverick‹, der mit der ›art world‹ bestens vertraut ist, d. h. deren Sprache, Codes und Ästhetik beherrscht, sodass grundsätzlich eine Basis der gemeinsamen Verständigung gegeben wäre. ›Mavericks‹ brechen allerdings bewusst aus dieser Welt aus (und wählen bspw. den PoD-Selbstverlag). Sie verletzen wissentlich und willentlich deren Regeln und Konventionen, »but they do so selectively and in fact abide by most of them.«Footnote 23 Daher ist es, so Becker, prinzipiell möglich, dass das Schaffen der ›mavericks‹ später doch noch Gnade vor den Augen der ›art world‹ findet und eingemeindet wird. Dieser Sprung gelinge aber nur wenigen: »most mavericks’ work is not absorbed into the canon of an art world; they remain unknown, and their work is not preserved and disappears along with their name.«Footnote 24

Noch unwahrscheinlicher ist die (spätere) Entdeckung und Assimilation durch die ›art world‹ im Fall der ›naive artists‹, die die wenigsten Kontakt- und Bezugspunkte zum Betrieb aufweisen. Sie arbeiten meist für sich allein. Weder haben sie eine entsprechende Ausbildung durchlaufen noch sind sie mit den Konventionen, Standards und der Sprache der ›art world‹ vertraut. Ihre idiosynkratischen Werke »seem to spring out of nowhere«, »the reasons for doing [them] are personal and not always intelligible.«Footnote 25 Es gibt für sie daher weder eine adäquate Beschreibungssprache noch passende Kategorien und Bewertungsmaßstäbe. In der Folge sind sie aus Sicht des etablierten Feldes meist nicht mehr als »curiosities«,Footnote 26 was ihr Überdauern und ihre Überlieferung auf längere Sicht höchst unwahrscheinlich macht.

Für alle drei Gruppen – ›mavericks‹, ›folk artists‹ und ›naive artists‹ – gilt somit in der einen oder anderen Weise: »The conventional defenses and protections afforded conventional art works are lacking.«Footnote 27 Die daraus erwachsenden Konsequenzen diskutiert Becker in einem seiner Schlusskapitel unter der Überschrift »What lasts?«, wo er konstatiert: »A larger problem has to do, not with what the reputation-making process selects, but rather with what it leaves out.«Footnote 28

IV.

herausforderungen: masse, überlieferung, daten, latenz, prekarität

Eben dies scheint neben der schieren Masse die eigentliche Herausforderung im Umgang mit der PoD-Plattformproduktion zu sein, die – vergleichbar anderen Phänomenen der Gegenwartsliteratur – »aus der Perspektive der Frage ›Was bleibt?‹ nicht angemessen zu fassen ist«.Footnote 29 Es braucht somit »defenses and protections« auch für »the mass of stuff produced by people who are not integrated professionals«.Footnote 30 Doch wie könnte dies aussehen?

Angesichts des exorbitanten Produktionsausstoßes verbietet sich die Drucklegung einer größtmöglichen Zahl an Publikationen. Aber auch die Drucklegung ausgewählter, repräsentativer Titel wäre wenig hilfreich, schließlich stellt das einzelne Buch in diesem Feld der Auchliteratur keinen sinnvollen Untersuchungsgegenstand dar. Darüber hinaus ist jeglicher Versuch, sich überhaupt erst einmal einen Überblick zu verschaffen oder gar eine begründete Vorauswahl zu treffen, allein schon dadurch zum Scheitern verurteilt, dass der Erfassung und Sichtung der Plattformproduktion Grenzen gesetzt sind: Offene Schnittstellen sind im Plattformkapitalismus bekanntermaßen eher unüblich, sodass sich nur wenige Daten abgreifen lassen; die Druckdateien bzw. PDFs der Publikationen sind nicht frei zugänglich; längst nicht jede Plattform bietet Leseproben oder Inhaltsverzeichnisse an; Verkaufsränge sind wenig aussagekräftig; nur wenige Publikationen erhalten Rezensionen oder Kundenbewertungen; ausgefeilte Suchanfragen über die Plattforminterfaces sind nicht möglich; selbst die Titel- und Metadaten sind höchst unzuverlässig, beruhen sie doch auf den Eingaben der Autor:innen selbst; gleiches betrifft die mittels Social Tagging erfolgte Verschlagwortung der Publikationen, denn Folksonomies können die professionelle Inhaltserschließung mit kontrolliertem Vokabular erwiesenermaßen nur ergänzen, nicht aber ersetzen. Man stochert somit ziemlich im Nebel, wenn man sich dieser Sparte von Auchliteratur annähern möchte, egal ob mit dem Ziel einer Tiefenbohrung oder aus der Vogelperspektive.

Die Beschäftigung mit PoD birgt noch mehr neuralgische Punkte. So erweist sich schon die Bestimmung des Öffentlichkeitscharakters einer PoD-Plattformpublikation als überraschend komplex. Nun finden sich auch schon im analogen Zeitalter Grenzfälle, seien es Samizdat-Publikationen oder Privatdrucke, bei denen weniger die Zahl der angefertigten Exemplare als vielmehr der Fakt der Zirkulation für die Frage der Öffentlichkeit entscheidend war. Im Analogieschluss könnte eine PoD-Publikation gleichfalls als ›veröffentlicht‹ gelten, sobald ein einziges Druckexemplar angefertigt wurde. Was aber, wenn es nicht einmal dieses eine Exemplar gibt? Aufgrund des Black Box-Charakters vieler Plattformen fehlen bisher belastbare Zahlen, aber vermutlich ist ein bedeutender Teil der PoD-Produktion noch nie bestellt und gedruckt worden. Die Bücher verharren somit in einem merkwürdigen Schwebezustand an der Schwelle zum Gedrucktwerden, was Sophie Seita einmal als »imagined printedness« bezeichnet hat.Footnote 31 Von diesen Druckwerken in potentialis sind erst einmal nur die Metadaten bekannt. Daneben existieren sie vorerst nur als PDF auf einem Server, das standardmäßig dem öffentlichen Zugriff entzogen ist. Bindet man – z. B. in der Tradition von Marshall McLuhan – Öffentlichkeit an den Druck,Footnote 32 könnte man mit einer gewissen Berechtigung behaupten, dass diese Titel noch nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt hätten.

Zugleich wird mit dem Upload der Druckdatei auf den PoD-Plattformserver und ihrer Einspeisung in den Auchbuchhandel offensichtlich bereits ein Faktum geschaffen, das als Veröffentlichung bezeichnet werden könnte. Ein solches von Drucklegung und Zirkulation unabhängiges Verständnis von Veröffentlichung wird von den PoD-Plattformen selbst nahegelegt – in Gestalt des »Publish«-Buttons, mit dessen Betätigung eben kein Bestell- und Druckvorgang ausgelöst wird, sondern erst einmal nur die Druckdatei finalisiert und auf den Plattformserver hochgeladen sowie die Eingabe der Titel- und Metadaten abgeschlossen wird. Das Drücken des Knopfes entspricht also einem performativen Sprechakt vonseiten der Produzent:innen, vergleichbar der früher üblichen Imprimatur, mit dem ein Algorithmus in Gang gesetzt wird, an dessen Ende die Publikation im plattformeigenen Webshop (bei Zukauf einer ISBN auch im ›ordentlichen‹ Buchhandel) find- und bestellbar ist. Die Drucklegung selbst bleibt einem späteren, separaten Bestellvorgang überlassen, was aber, so suggeriert der »Confirm & Publish«-Button, keinen Einfluss auf den Fakt der Veröffentlichung hat. Das Buch gilt also bereits als publiziert, noch bevor es bestellt und gedruckt wird, ja völlig unabhängig davon, ob dieser Fall jemals eintreten wird.

Timothy Laquintano hat mit Blick auf diese ›imagined printedness‹ von PoD-Publikationen den Vorschlag unterbreitet, »that the millions of self-published books now sitting in digital databases exist more as publicly accessible books than as published books. They exist largely as latent potential. In my understanding, books unengaged by readers haven’t circumvented gatekeepers; they want for gatekeepers.«Footnote 33 Unterscheidet man in diesem Sinn zwischen öffentlich zugänglichen Büchern, die im Zustand der Latenz verweilen, und veröffentlichten Büchern, wäre die Veröffentlichung nicht länger an einen performativen Akt seitens der Produzent:innen gebunden. Stattdessen läge es in der Hand der Rezipient:innen und Käufer:innen, aus einer öffentlich verfügbaren, latenten Publikation qua Bestellung eine veröffentlichte, manifeste Publikation zu machen.

Eine solche Perspektivierung mag diskussionswürdig sein, sie macht aber zu Recht auf den Stellenwert aufmerksam, den der Akt der Bestellung bzw. die dadurch ausgelöste Drucklegung in der Welt von PoD besitzt. Dies gilt umso mehr, als sich PoD als erstaunlich prekärer Publikationsweg erwiesen hat, weshalb auch vor diesem Hintergrund das gedruckte Buch das einzig verlässliche, dauerhafte Speichermedium bildet. Denn entgegen dem Werbeversprechen von unbegrenzter Auflagenhöhe und immerwährender Verfügbarkeit sind gar nicht so wenige PoD-Titel inzwischen nicht mehr zugänglich und damit auch nicht mehr bestell- und druckbar. Die Gründe dafür sind vielfältig. Manche mögen von ihren Macher:innen gar nicht für die Ewigkeit gedacht gewesen sein. Andere Titel wurden von den Plattformen aufgrund expliziter Inhalte oder aus Urheberrechtsgründen zensiert. Viele Publikationen tragen aufgrund ihrer Plattformabhängigkeit ein Verfallsdatum mit sich: Sie können z. B. von einem Tag auf den anderen nicht mehr produzierbar sein, wenn die Plattform bestimmte Formate, Materialien oder Ausstattungsmerkmale aus ihrem Portfolio nimmt. Einzelne Plattformen mussten im Zuge von Marktbereinigungen ganz aufgeben. Ein späterer Plattformwechsel ist nicht trivial oder gänzlich unmöglich. Schließlich nimmt die Zahl der Autor:innen zu, die sich selbst von den Plattformen abwenden – aus Verdruss über die mangelnde Produktionsqualität, die undurchsichtige Preispolitik, die mancherorts üblichen Vorhaltegebühren, den ungenügenden Service, unverhältnismäßig hohe Versandkosten, unkalkulierbare Zollgebühren usw.

Angesichts dieser künstlichen Verknappung des Angebots wird jeder Bestellvorgang zu einem archivarischen Akt, der zur Sicherung der Überlieferung beiträgt. Diese Archivarbeit lässt sich nicht den Plattformen überantworten, die an einer Langzeitverfügbarkeit der Druckdateien außerhalb kapitalistischer Logiken kein Interesse haben. Ebenso wenig kann man diese Aufgabe den Autor:innen überlassen, die überwiegend dem Literaturbetrieb fernstehen. Man kann sich auch nicht auf die primär ökonomisch oder marktstrategisch begründete Auslese verlassen, die Verlage des ›ordentlichen‹ Buchhandels (die inzwischen immer öfter als Talentscouts auf den Plattformen unterwegs sind) mit der Identifizierung, Rekrutierung und Überführung vielversprechender Autor:innen in ihr eigenes Programm vorgenommen haben. Wenig zielführend scheint es zudem, auf die baldige Änderung der Erwerbungspolitik der Institutionen (Bibliotheken, Sammlungen und Literaturarchive) zu hoffen, die diesem Produktionsausstoß an Auchliteratur bisher (verständlicherweise) mit äußerster Zurückhaltung begegnen.Footnote 34

All diesen Herausforderungen, mit denen die Auchliteratur die Literaturwissenschaft konfrontiert, kommt man weder mit Abwartetaktik noch mit Auslagerung und Delegierung bei. Schließlich überließe man so die Überlieferung der aktuellen Text- und Buchproduktion dem Zufall, der ominösen unsichtbaren Hand und Akteur:innen mit widersprüchlichen, der Literatur(-wissenschaft) eher fremden Motivlagen, Zielstellungen und Erkenntnisinteressen. Damit würden Tatsachen geschaffen, die die Literaturwissenschaft der Möglichkeit berauben würden, selbstbestimmte Entscheidungen über ihren ureigenen Gegenstandsbereich zu treffen, und die sie unnötig beschneiden würden: in der Ausbildung eigenständiger Forschungsfragen, der Verfolgung spezifischer Erkenntnisinteressen, der autonomen Diskussion des Literarischen. Auch wer sich »dezidiert in einem tiefen Gedächtnisraum bewegt«, muss sich somit den Herausforderungen der Gegenwart stellen und im Heute aktiv werden. Denn hier entscheidet sich, auf welcher Überlieferungsbasis später jene »belastbare Einschätzung« der literarischen Produktion und jene »nachhaltige Auseinandersetzung« mit der Literatur der aktuellen Gegenwart erfolgen kann, für die historische Distanz von Vorteil ist.Footnote 35 Auf die veränderten Rahmenbedingungen literarischer Praxis lässt sich nicht erst retrospektiv reagieren. Die entscheidenden Weichen werden im Heute gestellt.