Zusammenfassung
Anhand von vier Szenarien skizziert der Beitrag divergente Gegenwarten in der jüngsten Lyrik: 1) Medien-Parallelgesellschaften: am Streit um den Huchel-Preis für Judith Zander, 2) Epochen-Ungleichzeitigkeit: an der ›Fassadendebatte‹, 3) Internationale Interferenzen: am Beispiel Parlamentspoesie; und 4) den Abyssus akuter Zeitenwenden-Diagnostik: an Yevgeniy Breygers Frieden ohne Krieg.
Abstract
On the basis of four scenarios, the article outlines divergent presences within recent poetry: 1) parallel medial societies: in the dispute over the Huchel Prize for Zander, 2) epoch-dissimilarity: in the ›Fassadendebatte‹, 3) international interference: in the example of poet laureate; and 4) the abyss of turn-of-the-times diagnostics: in Breyger’s Frieden ohne Krieg.
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I.
lyrik seit 2000 als nische autonomer literatur
Im Jahr 2023 erscheint die deutschsprachige Lyrik dreifach randständig: als Randphänomen im deutschsprachigen Literaturbetrieb, der global selbst eher am Rand steht, so wie die Literatur in der medialen Epochengegenwart im Ganzen. Das so lakonisch zu vermerken, zielt gleichwohl nicht auf eine Verlusterzählung – wann hätte welche deutsche Lyrik je im Zentrum welcher Weltengegenwart gestanden? –, sondern bezeigt im Gegenteil deren aktuelle Sonderposition als Literaturszene, die ohne viel Apologetik von sich sagen könnte:
Gerade weil wir unter dem Radar segeln, bieten wir derzeit – zwischen einer teils verkaufs- und aufmerksamkeitsträchtigen, mittlerweile aber strikt auf Populären RealismusFootnote 1 abonnierten Epik einerseits und einer nahezu verschwundenen Print-Dramatik andererseits – den generischen Kontext, in dem sprachaffine Literatur noch genuin entstehen und blühen kann. Daher bleiben wir auch von den aktuellen Herausforderungen des Gegenwartsliteraturbetriebs vergleichsweise verschont:
Heteronome Indienstnahmen haben im Lyrikkontext wenig zu gewinnen; Aktivismus sucht sich spektakulärere, Karrierismus üppigere Biotope.
Partizipation ist, wie in allen Feldern eingeschränkter Produktion, längst Standard, weil ohnehin fast alle alles machen (müssen): dichten, publizieren, kritisieren, preisen, kuratieren, kompilieren, übersetzen und tradieren.
Fiktionalität und Faktualität sind nicht so genreleitend wie in narrativen Texten, rezente Verlagerungen und Verschleifungen daher weniger brenzlig.
Analog bei Perspektivverschiebungen: Das ›lyrische Ich‹ (›Du‹, ›Wir‹ etc.Footnote 2) ist, wo überhaupt zugegen, meist entweder auktorial authentifiziert oder so klar Rollenrede, dass die anderswo brodelnde Frage, wem noch welche Innensicht zusteht, hier nicht so recht verfängt; Streit um Stimmenrechte gibt es höchstens im Ausnahmefall prominenter und identitätspolitisch aufgeladener Übersetzungen wie der des 2021er-Inaugurationsgedichtes von Amanda Gorman.
Ästhetik und Literarizität schließlich sind in der aktuellen deutschsprachigen Lyrik – als Ambiguität, Verfremdung, Form- und Metareflexion – nicht nur ungefährdet, sondern solide Nicht-Geschäftsgrundlage. Die Herausforderung besteht in erster Linie darin, finanziell zu überleben.Footnote 3
Zwar wirkt das so skizzierte Genrebild einer autonomieästhetischen Oase im heteronom umtosten Literaturbetrieb bei näherem Hinsehen nicht ganz so idyllisch. Fraktionierungen und Sonderwege treten ebenso hervor wie die Schattenseiten aller Nischenwelten: Ressourcenneid, Revierkämpfe und Idiosynkrasien. Grosso modo aber ist die deutschsprachige Lyrik seit 2000Footnote 4 in azyklischer Blüte zum Residuum und generischen Zentrallabor einer dezidiert literarischen Literatur geworden.
Entsprechend ist auch der literaturgeschichtliche Horizont dort gegenwärtig weiter aufgespannt als im Drama oder in der Epik. Neuerscheinungen von frühavantgardistischer ›Unlesbarkeit‹ oder in Sonettform sind in der Lyrik zwanglos möglich, während Analoges in der Belletristik – blickt man in einschlägige Verlagsvorschauen – heute so unvorstellbar scheint wie Lohenstein-Alexandriner auf der Bühne.
Was die Herausforderungen des Literarischen durch jüngere Gegenwartstendenzen angeht, wirkt die Gegenwartslyrik so zunächst merkwürdig außen vor, gibt damit aber Anlass, nach der Pluralität realer Gegenwarten innerhalb und außerhalb von Literatur zu fragen.
II.
gegenwart und gegenfragen
Wer ohne Weiteres von ›der‹ Gegenwart spricht, meint in der Regel seine eigene und postuliert damit einen hybriden Sprechort: weder ganz drinnen, wie jemand, der gerade »Tor!« ruft, noch ganz draußen, wie jemand, der im Jahr 2923 vielleicht sagen wird: »Vor tausend Jahren wurde die DVjs gegründet.« Wie ›die Gegenwart‹, über die man so zugleich extern (als ganze) und intern (als eigene) befindet, jeweils zeitlich, ontisch und situativ limitiert sei, bleibt in solcher Rede tunlichst implizit.
Das Hybride entzerrt sich, sobald getrennte Gegenwartssegmente an Kontur gewinnen: Wenn Literaturwissenschaft sich in ihrer institutionalisierten Eigengegenwart mit Gegenwartsliteratur befasst, spricht sie – so wie schon eine von der Literaturproduktion deutlich geschiedene Literaturkritik – idealiter zeitgleich von außen. Und so ist es kein Zufall, wenn Begriff und Gegenstand deutschsprachiger ›Gegenwartsliteratur‹ Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der disziplinären Autonomisierung der germanistischen Literaturwissenschaft manifest wurden,Footnote 5 um seither eine eigene, 2023 ihrerseits größtenteils geweseneFootnote 6 und weithin vergesseneFootnote 7 Geschichte auszubilden.
Realiter bleibt die Ambivalenz pauschaler Gegenwartsdiagnostik indes auch in den einzelnen Fachgebieten und bis heute durchgehend akut. Denn nicht nur sind Umfang und Niveau des germanistischen Gegenwartsliteratur-Diskurses, wie in jedem Kultursegment zu jeder Zeit, an die je zur Verfügung stehenden ökonomischen, intellektuellen und enthusiastischen Ressourcen gebundenFootnote 8 – was allseits den Argwohn nährt, der Gegenwart könne zu viel oder zu wenig Raum zukommen. Sondern vor allem bleibt bis heute ungewiss, ob bzw. wo die Beschäftigung mit ihr eher auf dem Gipfel literaturhistorischer Selbstreflexivität oder im Keller selbstverzagter Anbiederung stattfindet, eher luxurierenden Scharfblick oder schielenden Mangel indiziert.
In dieser Lage könnte es zumindest theoretisch hilfreich sein, verschiedene Aspekte, die im Reden über ›Gegenwartsliteratur‹ habituell vielfach verschmelzen, deutlicher zu trennen. Als propädeutische Übung könnte man versuchen, persistente, zumal schriftliche Gegenwartsbefunde fortan möglichst so zu formulieren, dass auch jeweils ›Außergegenwärtige‹ sie ohne moderierenden oder kommentierenden Paratext verorten könnten.Footnote 9 Zwar sieht man sich so unversehens mit Explikationserfordernissen konfrontiert, die im je präsenten Gegenwartskontext redundant oder gar spielverderberisch wirken mögen, der Verwissenschaftlichung gegenwartsbezogener Analysen aber – in der Literatur wie allgemeinFootnote 10 – zugute kommen könnten.
Sollte man auf solche Art etwa erklären, was Gegenwartslyrik im Jahr 2023 sei, müsste man auf Rückfragen wie die folgenden gefasst sein, die hier teils aus Raum-, oft aber aus tatsächlicher Erklärungsnot durchweg nur oberflächlich zu beantworten sind:
In bzw. aus welcher Gegenwart sprechen Sie?
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Aus einer germanistisch-literaturwissenschaftlichen Publikationsgegenwart im zweiten bzw. vierten Quartal des Jahres 2023.
Wie stehen Sie zu der ›Gegenwart(slyrik)‹, von der Sie sprechen?
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Uneinheitlich: MJ teilinvolviert als Mitglied in Lyrikjurys, Moderatorin von Lyrikveranstaltungen und v. a. Rezipientin zeitgenössischer Gedichte; JU als interessierter, aber externer Beobachter.
Sprechen Sie (nur) über Inhalte der Lyrikgegenwart oder (auch) über deren Form bzw. Zeitgestalt?
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Möglichst über beides, wobei zwischen den Zeitstrukturen innerhalb der Lyrikszene und denen in der Lyrik selbst bzw. deren Rezeption zu unterscheiden wäre.
Wie ist die Gegenwart, von der Sie reden, intern strukturiert?
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Schmerzhaft verkürzt: im 2023er-Gegenwartslyrik-Fokus Verlage wie kookbooks, edition korrespondenzen, Urs Engeler bzw. roughbooks, hochroth, Schöffling, Das Wunderhorn, Zeitschriften und Anthologien (Jahrbuch der Lyrik, Bella Triste, Schreibheft…), Plattformen wie lyrikline.org, signaturen-magazin.de, lyrikkritik.de, poetenladen.de sowie sog. soziale Medien, Akteure, Festivals, Orte wie Berlin (Haus für Poesie, Lettrétage, Poesiefestival etc.), München, Basel, Wien; ferner die Literaturhäuser im deutschsprachigen Raum sowie Außenposten in Meran, Münster, Edenkoben usw. Was diesen sichtbaren Fokus implizit umgibt, aus welchen Latenzgründen er sich speist und welches Priming gerade wirkt, liegt aus literaturwissenschaftlicher Perspektive derzeit weitgehend im Dunkeln.
Mit welchen anderen Gegenwarten ist die deutschsprachige Hochlyrik, von der Sie offenbar ausschließlich reden, verbunden? Und wie?
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Das wäre umfassend zu kartieren: mit denen anderer Lyriksphären wie Spoken Word und Slam Poetry, den regionalen Gegenwarten volkstümlicher Dialektdichtung, den Eigengegenwarten der Lied‑, Pop‑, Schlager- und Rap-Lyrics, ferner mit der Gegenwart des allgemeinen Literaturbetriebs und denen anderer Untergattungen (›Hoch‹- und Genre-Belletristik, Drama, Hörspiel, Kinderbücher), Institutionen (Verlage, Gremien, Akademien), ferner denen der lyrikbezogenen Segmente innerhalb der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft sowie schließlich mit der außerliterarischen Gegenwart.
Welche zeitliche Größenordnung hat sie?
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Sehr verschiedene: als Gegenwartsepoche ca. 20 Jahre, als Debatten- bzw. Besprechungs-Gegenwart zwischen ca. einem Jahr und wenigen Wochen, als »punctuelles Zünden der Welt«Footnote 11 nur einen Augenblick.
Was liegt zeitlich hinter ihr, was vor ihr?
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Einerseits die bislang nicht kanonisch rubrizierte Lyrikepoche der 1980er und 1990er Jahre mit Zentralstimmen wie Thomas Kling, Friederike Mayröcker, Barbara Köhler u. a.; andererseits eine um Mitte 2023 prinzipiell kaum absehbare Zukunft.
Unterscheiden Sie zwischen ›Gegenwart‹ und ›Gegenwärtigkeit‹ von Lyrik?
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Generell wäre mindestens zu trennen zwischen a) je aktuellen Lyrikneuerscheinungen, b) Lyrik von Lebenden und c) Lyrik der jeweils jüngsten Generationskohorte einerseits und a) themen-aktueller Außengegenwartsbezogenheit, b) Präsenzerfahrungspotenzial und c) der programmatischen Kombination aus beidem andererseits.
Müssen die Objekte und Kriterien, die Sie 2023 für besonders gegenwartsaffin halten, notwendig aus Ihrer eigenen Gegenwart stammen?
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Nicht unbedingt, gerade die letzten zwanzig Jahre legen – in der Lyrik wie in anderen Kultursphären – nahe, das Innovative, Relevante, Flüchtige, Intensive, Plötzliche, Symptomatische, Jetzige, Visionäre, Zeitgenössische, Aktuelle, Jugendliche, Coole, Modische etc. nicht umstandslos in eins zu setzen und auch nicht stets nur saisonal zu suchen.
Sprechen Sie über einzelne Stadien oder über das Verlaufskontinuum von Gegenwartslyrik?
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Letzteres wäre kompliziert und raumgreifend, daher beschränken wir uns im Folgenden auf vier, bewusst heterogen gewählte Szenarien, in denen wir jeweils eine charakteristische Gegenwarten-Konstellation exemplifiziert sehen.
III.
szenario 1: anfang 2023. konfrontation von lyrik-interner gegenwart und lyrik-externer mediengegenwart: der shitstorm um den huchel-preis für judith zander
Im Jahr 2023 wurde Judith Zanders Gedichtband im ländchen sommer im winter zur see (2022) mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet, der mit 15.000 Euro dotiert ist und seit 1983 alljährlich vom Land Baden-Württemberg und dem SWR »für ein herausragendes lyrisches Werk des vergangenen Jahres« verliehen wird.Footnote 12 Die Auszeichnung soll, so die Selbstdarstellung auf der Homepage, »die literarische Arbeit deutschsprachiger Lyrikerinnen und Lyriker würdigen« und »das Interesse der Öffentlichkeit auf die von den Medien oftmals marginalisierte lyrische Gattung lenken«.Footnote 13 In diesem Jahr ist zumindest letzteres den Stiftern gelungen, wenngleich wohl nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten.
Blieben (I) Nominierungen und (II) Juryentscheidung – durch sieben berufene »Persönlichkeiten des literarischen Lebens« – noch ›Hochlyrik‹-intern, so wie weitgehend auch die ersten Meldungen Ende Januar auf der Homepage oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunksender,Footnote 14 geschah unmittelbar nach dem diesbezüglichen Post vom 28.01.2023 in der SWR-facebook-timeline (III) etwas vorhersehbar Unvorhersehbares: Die Aussendung generierte (IV) innerhalb weniger Stunden erheblichen traffic in Form von knapp 2.000 Kommentaren.
Statt die Kommentarfunktion zu schließen, lud der SWR die Lyrikerin Nora Gomringer ein, die Sache der Lyrik am Mikrofon zu verteidigen;Footnote 15 am 3.02. bat der DLF die hörbar angefasste Preisträgerin selbst zum Gespräch.Footnote 16 Erst in dritter Instanz (V) und ein bis zwei lange Wochen später schaltete sich das Printfeuilleton ein: Angesichts von social media-›Rezensionen‹ wie »Cringe«, »HURZ!«, »wie eine verwirrte ChatGPT« oder »WTF?!« fragten sich nun Literaturprofis stoßseufzend, ob und warum »neue Lyrik so schwer sein« müsse,Footnote 17 wollten aufmerksamkeitsökonomischen Gewinn darin sehen, dass Gedichte nie »in so vielen unberufenen Mündern« waren,Footnote 18 oder suchten nachzuweisen, dass »Zanders Texte SEHR WOHL LYRIK sind!«Footnote 19 Am 12.02. (VI) bemühte sich Insa Wilke, Kritikerin und Huchel-Preis-Jurorin, mit einer engagierten Würdigung der Gedichte Zanders und einem emphatischen Plädoyer für Offenheit und ›schwierige Lyrik‹ um späte Schadensbegrenzung.Footnote 20 Gegenwartsanalytisch signifikant war dabei Wilkes Beobachtung, dass die Räume kleiner würden, in denen man machen dürfe, was man wolle – mit einem geneigten und geduldigen Publikum, sei es in Feuilletons oder Veranstaltungshäusern. Hier sei die Literaturkritik, so Wilke selbstkritisch, ihrer Vermittlungsfunktion nicht gerecht geworden. Allein, auf welchem Mediengegenwartskanal hätte sie vermitteln sollen? Und gilt Analoges nicht auch für die Literaturwissenschaft? Hat sie nicht auch einen Vermittlungsauftrag für schwierige Texte, zumal in der Lehramtsausbildung?Footnote 21
Nun ist es kein Novum, dass Preisvergaben umstritten sind; nicht jede Entscheidung der Huchel-Preis-Jury wurde einhellig begrüßt – nur fand der Widerspruch in der Regel nicht-öffentlich statt, drang allenfalls auf szeneinterne social media-Accounts und blieb so auf die Gegenwartssphäre der Hochlyrik begrenzt. Keineswegs neu ist auch die Kontroverse ›formexperimentell-sprachspielerisch vs. alltagssprachlich-subjektiv vs. klassizistisch‹ – nur wurde diese bislang meist unter Lyriker:innen selbst ausgefochten.Footnote 22 Neu hingegen ist die gegenwartsmediale Verschaltung vormals strikt getrennter Teilöffentlichkeiten, womit plötzlich die am lautesten wurden, die selten bis nie Gedichte lesen – was wiederum dazu führte, dass eine Dichterin wie Sabine Scho, die im Lyriksoziotop zuvor eher durch Kritik an Preisentscheidungen aufgefallen war, die Lyrik nun insgesamt – so tapfer wie vergeblich – gegen die aggressive Ignoranz der social media-Außen-Gegenwart verteidigte.
Was folgt aus der ›Debatte‹? Mag sich der Staub inzwischen gelegt haben – und zwar schlicht dadurch, dass der Post in der SWR-timeline nach unten gerutscht ist –, so zieht die Causa Zander in der Lyrikgegenwart doch einige Primingverschiebungen nach sich: bei der Jury, den Verlagen, den Vermittler:innen, womöglich auch bei den Dichter:innen selbst – in Gestalt der Lektion: Wenn man Gedichte veröffentlicht, die nicht auf den ersten Blick verständlich sind, und womöglich einen Preis dafür bekommt, muss man mit Krawall rechnen. Die meisten wussten das natürlich längst und werden deshalb nicht auf Schlagertexte umsatteln, aber allen ist nun gewahr: Die Membranen der autonomieästhetischen Lyrikgegenwart sind löchrig geworden, durchlässiger, als es das Printfeuilleton je war. Und zwar nicht etwa, weil die Dichtung selbst heteronom geworden wäre, denn der ausgezeichnete Gedichtband spielte in dem ganzen Kommunikationsgeschehen, dessen Gegenwarts-Peristaltik sich nach Dauer und Ablauf nicht von derjenigen non-literarischer Netz-Aufreger unterschied, so gut wie keine Rolle. Formatkonform bestand der SWR-Post lediglich aus einem Foto und der ersten Hälfte eines Gedichts aus Zanders (zudem bereits zehn Jahre zuvor erschienener) Sammlung oder tau.Footnote 23 Das genügte.Footnote 24
IV.
szenario 2: 2016 ff. ungleichzeitig-werden einstiger gegenwartslyrik im aktuellen öffentlichen gegenwartskontext: die ›fassadendebatte‹ um eugen gomringers AVENIDAS
Anders als Insa Wilke ging es Nora Gomringer im Streit um Zander weniger um die Verteidigung hermetischer Lizenzen in der Lyrik als vielmehr um den Hinweis, dass es neben ›schwierigen Gedichten‹ ja auch verständliche, performative und teils durchaus populäre Lyrik (einschließlich ihrer eigenen) gebe – was gegenwartsstrukturell die Frage aufwirft, ob sie sich dabei eher selbst im Schnittbereich zweier sonst getrennter Eigengegenwarten (Slam-Sieg oder Huchel-Preis) positionieren oder damit deren vermeintlich vollzogene Symbiose annoncieren wollte.
Unterdes bezog sie auch noch einmal Stellung zu einem – nominell entschiedenen, doch latent weiterschwelenden – Konflikt, der in den Jahren 2016 ff. über das Lyriksoziotop hinausdrang: die sogenannte ›Fassadendebatte‹ um die Überschreibung eines Gedichts ihres 1925 geborenen Vaters Eugen Gomringer – konkret: avenidas aus dem Jahr 1951 – auf der Außenwand der Alice Salomon-Hochschule in Marzahn-Hellersdorf.
Das Gedicht war nach der Verleihung des Alice Salomon Poetik Preises 2011 an ihn an der Südfassade angebracht worden, schon damals begleitet von Kritik aus dem Akademischen Senat, der die Repräsentativität des neuen Wandschmucks anzweifelte. 2016 trug der AStA im Senat eine feministische Interpretation vor und bat um Prüfung;Footnote 25 schließlich schrieb der Senat einen Wettbewerb zur Neugestaltung der Fassade aus. Nach der Grundsanierung wurde im Dezember 2018 ein Kunstwerk der Preisträgerin des Jahres 2017 Barbara Köhler aufgetragen: ein Palimpsest, das auf Gomringers Gedicht zugleich antwortet und es durchscheinen lässt.Footnote 26 Gleichwohl wurde der Vorgang im Feuilleton und in sozialen Netzwerken als ›cancel culture‹ und Akt der Barbarei rubriziert. Was war geschehen?
Als auktoriale inscriptio auf einem Gebäude wurde das spanischsprachige Gedicht aus Gomringers konstellationen (1953) in den öffentlichen Raum von Berlin 2011 remediiert, qua Amt und Auftrag heteronom und zwangsläufig partizipativ – und verlor dort in einer über ein Jahrzehnt veränderten gesellschaftlichen Gegenwartsatmosphäre seine Legitimation: »Im Buch«, so Barbara Köhler in ihrem Statement in der FAZ vom 25.09.2017, »findet sich der Text unter zwei Augen, in einer Situation intimer Zwiesprache; an der Wand steht oder hängt er als Gegenüber. […] Fassaden kann man sehen als jene Seiten, mit denen sich Gebäude an die Öffentlichkeit wenden, als repräsentative Wände, Grenzflächen des öffentlichen Raumes. […] Wofür, für wen spricht das Gedicht?«Footnote 27
In der bislang eingehendsten Analyse hat der Mediävist Hans Jürgen Scheuer »Köhlers Auflösung jenes Dilemmas« als »Lehrstück [in] politischer Klugheit und in poetischer Intelligenz« ausgewiesen. Denn als Überschreibung, nicht Auslöschung, trete Köhlers mehrsprachig-mehrdeutiges Gedicht »sie bewundern sie«Footnote 28 in »Konstellationen, die nicht mehr nur Räume zwischen Wörtern, sondern Lebensräume unter Menschen einschließen.«Footnote 29 Jenseits dieser salomonischen poetischen Bewältigung aber erweist sich an Gomringers Gedicht, wie schnell medial gerahmte Historizität, wie sie in Lyrikbänden möglich ist, derzeit an öffentlichen Außenwänden endet.
V.
szenario 3: anfang 2022. anglophone versus deutsche lyrik-gegenwart als occasio -debatte: wollen ›wir‹ eine:n parlamentspoet:in?
Seit 1945 ist der traditionell deutschsprachige Raum in mehreren Schüben (Re-Education, Popkultur, Internet) stark von nordamerikanischen und britischen Strömungen mitbestimmt, zuletzt in einem Ausmaß, das das im 19. Jahrhundert dezidiert nationalsprachlich markierte und temporär völkisch ideologisierte Eigengegenwartskontinuum einer mehr oder weniger autochthon ›deutschen‹ Literatur zunehmend in Frage stellt. Was in der deutschen Belletristik spätestens seit Mitte der 1990er mit Durchsetzung des »International Style«Footnote 30 ratifiziert ist, geht auch an der Lyrik nicht mehr ganz vorbei und zeigte sich besonders pur etwa in der Diskussion darüber, ob der Bundestag eine:n poet laureate brauche.
Ein Jahr, nachdem Amanda Gorman ihr Gedicht The Hill We Climb bei der Amtseinführung von Joe Biden am 20. Januar 2021 vorgetragen hatte – die Kontroversen um die Auswahl der Übersetzerinnen in verschiedenen Ländern waren kaum verklungen –,Footnote 31 forderten Simone Buchholz, Dmitrij Kapitelman und Mithu Sanyal, bis dato sämtlich nicht im Gegenwartsfokus deutschsprachiger Lyrik, in einem offenen Brief in der Süddeutschen Zeitung, eine »Parlamentspoetin« einzustellen, damit ›die Politik poetischer und die Poesie politischer‹ werde.Footnote 32
Prompt und zeitgleich mit einzelnen Politiker:innenFootnote 33 reagierte das Feuilleton; binnen weniger Tage griffen Rundfunk und Tageszeitungen das Thema begierig auf; mit geringfügiger Verzögerung meldeten sich Mitte Januar auch erste Stimmen aus der Academia.Footnote 34 Beim Netzwerk Lyrik e. V. freute man sich über die »jetzt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückte Diskussion um den Stellenwert von Lyrik für und in unserer Gesellschaft«, wies aber darauf hin, dass es nicht Aufgabe einer sprachreflektierenden und kritischen Lyrik sein könne, im repräsentativen Auftrag »politische Inhalte in poetische Sprache zu übersetzen«. Stattdessen nutzte man dort eigengegenwärtig die Gelegenheit, einen öffentlich finanzierten Lyrikfonds anzumahnen, um »dauerhafte, bedarfsgerechte Strukturen für eine zeitgemäße Unterstützung der Lyrikschaffenden« zu etablieren.Footnote 35
Nun ist es nicht das Kerngeschäft der Philologie, interventionistisch zu erörtern, ob und wie ein:e deutsche:r Parlamentspoet:in »Risse in der Gesellschaft heilen« kann und sollte; gleichwohl wäre sie – zumal als selbst nicht direkt involvierte Literaturinstanz der Gegenwart – in guter Lage, das aktuelle Ansinnen historisch einzubetten und die Debatte damit neu zu perspektivieren: Bald ein halbes Jahrhundert nach Segebrechts grundlegender StudieFootnote 36 erfreut sich Kasualpoesie in der universitären Germanistik als Untersuchungsgegenstand jüngst wieder wachsender Beliebtheit.Footnote 37 Mögen Patronage und Panegyrik im 21. Jahrhundert auch andere Formen angenommen haben, so wäre es doch – gerade im Bewusstsein der historisch die längste Zeit selbstverständlichen Anlass- und Auftragsbindungen – lohnend, das Wimmelbild der Gegenwartslyrik mit ihren Ermöglichungsinstanzen und occasiones unter diesem Aspekt zu betrachten. Denn ungeachtet ihrer Marginalität und vermeintlichen Autonomie ist selbst die jüngere Hochlyrik keineswegs ortlos und erfüllt teils durchaus praktische Funktionen. Aus dem Nährboden poetischer Freund- und Verwandtschaften erwachsend, lebt sie auch 2023 nicht nur als Gelegenheitsgedicht anlässlich von Todesfällen, sondern entsteht, wie alle kulturellen Hervorbringungen, in einem Realgeflecht von mehr oder minder autonomen Teilgegenwarten, häufig geregelt und/oder querfinanziert durch Institutionen, (kollektive) Praktiken, Riten oder Angehörige. Produziert wird sie – hierin akademischen Abstracts, Vorträgen und Aufsätzen nicht unähnlich – im Rahmen von Stipendien, für Anthologien, Preise, Festivals und lyrikexterne wie -interne Veranstaltungen, in Residenzen, Künstlerhäusern und akademischen Kooperationen,Footnote 38 als Antwort auf kuratierte Calls usf.Footnote 39
Kämen literaturwissenschaftliches und öffentliches Gegenwartsinteresse an der Kasualpoesie hier ernsthaft ins Gespräch, könnte die als internet-globalisiertes US/Kanada-issue unvermittelt importierte Reizfrage »Parlamentspoet:in – ja oder nein?« in einen produktiven Dialog münden. Die Unterkomplexität polarisierender Dichotomien wie ›woke‹ versus ›anti-woke‹, USA/Kanada versus Europa/Deutschland, ›abgehobenes lyrisches Wortgeklingel‹ versus ›realpolitische Parlamentsprosa‹ oder poésie pure versus poésie engagée wiche der Aussicht auf ein vielgestaltiges Spektrum gewesener wie möglicher kasuallyrischer Epochengegenwarten, über die – egal in welcher Sprache – differenziert zu urteilen wäre.
VI.
szenario 4: blindflug ins jetzt 6/2023 . * nach dieser zeile bricht der krieg aus. aktuelle lyrische epochengegenwärtigkeit bei yevgeniy breyger
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die allgemeine Gegenwartserfahrungslage seit dem 24.02.2022 auch im deutschsprachigen Raum abrupt verändert, ähnlich wie zuvor die Covid-19-Pandemie ab März 2020. Vieles, was zuvor gedankenlos zum Gegenwartsstandard zählte (wie billiges Erdgas 2021 oder Händeschütteln 2019), war/ist auf einmal explizit Vergangenheit; und vieles, was bis dato als besonders gegenwärtig galt, wirkt plötzlich epochal vorbei.Footnote 40 Auch gegenwartsliterarisch gerät mit jeder ›Zeitenwende‹ jeweils alles, was im vorigen, als jüngst vergangenes noch kontrastiv präsenten GegenwartsstadiumFootnote 41 für relevant, weil zeitgemäß galt, unter Legitimationsdruck und wirkt leicht gestrig, weil realitätsflüchtig.
Trat das in punkto Produktion und Publikation – gemessen am ›großen Roman‹ – vermeintlich schnelle Gedicht schon in mehr oder minder literarischen Coronatagebüchern als beliebte kleine Form hervor,Footnote 42 so werden in der Lyrik seit dem Kriegsbeginn vollends Wirkungsabsichten wieder virulent, die spätestens die Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts abgeschüttelt zu haben glaubten: consolatio und aedificatio, Ermutigung und Zornabfuhr. Neben affektrhetorischen Heteronomisierungen feiert das Gedicht – ausgehend von der Ukraine und der allgemeingegenwarts-bestimmenden Realitätswucht des dortigen Geschehens – eine Wiedergeburt als Mittel politisch-ethischer Intervention und agitatorisches Instrument zur Hebung der Moral und kollektiven Stärkung.Footnote 43 Oder wird zum Formgefäß für Chronistenpflicht und Zeugenschaft.Footnote 44
Könnte eine Philologie der Gegenwartslyrik diese Tendenzen wahrnehmen, ohne über diesem noch längst nicht erkalteten Gegenstand ins Handgemenge mit der Lyrikkritik zu geraten? Vielleicht empfiehlt sich eine Umkehrung der Fragerichtung, hier am Beispiel des im März 2023 erschienenen Gedichtbands des 1989 in Charkiw geborenen Yevgeniy Breyger,Footnote 45Frieden ohne Krieg, der in drei Sektionen – »HEIMKERN«, »STREUOBST«, »APRILLEN« – den Bogen von den jüdischen Opfern des Massakers von Babyn Jar 1941 bis zu jenen schlägt, die vor russischen Bomben aus Charkiw geflohen sind. Der Band inkorporiert Wutreden und Polemiken angesichts von offenen Briefen, gutgemeinten Kulturveranstaltungen und zynisch verfrühten Versöhnungspodien, ist getragen von Zorn und verbirgt nicht, dass er schnell geschrieben wurde, schneller als das ursprünglich zur Publikation vorgesehene Manuskript.Footnote 46 In einem Tagesspiegel-Beitrag beschreibt Breyger (im Rekurs auf Volha Hapeyeva) das Dilemma der Gegenwartsverschränkungen, in deren prekärem Schnittpunkt er sich weiß: »An der Front werden sie sich keine Gedichte leisten können, in der Ukraine werden sie keine guten zum Krieg schreiben können, irgendwo im Westen wird sitzen Dichter:in, die’s toll beschreibt bildhaft weil aus Ferne, Distanz. Aber die will ich doch sicher nicht sein – mir schaudert.«Footnote 47
Das neunseitige Schlussgedicht, das die Sektion »APRILLEN« ausmacht,Footnote 48 nimmt seinen Ausgangspunkt von T. S. Eliots The Waste Land und mäandriert zwischen dem Englischen, dem Russischen und dem Deutschen, inkorporiert Namen und Fragmente in russischer Sprache und Schrift – ist somit ein bemerkenswerter Fall nicht nur von poetischer (und politischer) Mehrsprachigkeit, sondern auch von Mehrschriftlichkeit.Footnote 49 Das Gedicht stellt seine epochale Gegenwärtigkeit im Titel aus: * Nach dieser Zeile bricht der Krieg aus.Footnote 50
Hätten sich nicht Philolog:innen – es sind zahlreiche, wenn man die seit zwanzig Jahren geradezu explodierenden literaturwissenschaftlichen Forschungsaktivitäten zu poetischer Trans- und Multilingualität als Indikator nimmt – auf der jüngst v. a. von Till Dembeck überzeugend vorgetragenen Position »Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit«Footnote 51 dieser Herausforderung zeitgleich zu stellen?
Warum warten? Worauf? Wie der Krieg ausgeht? Ob man in zehn Jahren noch über den Autor spricht? Sein Gedicht klassisch wird?
Wieso schielt die Literaturwissenschaft auf die Literaturkritik? Um sie die Kohlen aus dem Feuer holen, sprich: die allfälligen Selektions- und Urteilsfehler machen zu lassen, die sich aus nachfahrender Distanz klüglich bespötteln lassen? Wie ist es um die philologische Urteilsfähigkeit bei unbesprochenen Gegenständen bestellt? Was hat man zu befürchten? Reputationsverluste? Risiken? Nebenwirkungen? Verlorene Wetten auf die Ewigkeit sind ähnlich melancholisch wie die Gegenwartsenzykliken von vorgestern. Aber deshalb nie zu wetten, wäre ewig schade.
Notes
Vgl. Moritz Baßler, Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens, München 2022.
Vgl. Claudia Hillebrandt, Sonja Klimek, Ralph Müller, Rüdiger Zymner (Hrsg.), Grundfragen der Lyrikologie, Bd. 1, Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher?, Berlin, Boston 2019.
Vgl. die 2017 vom Haus für Poesie in Auftrag gegebene Umfrage zur Einkommenssituation von Dichter:innen, unter https://www.netzwerk-lyrik.org/details/studie-zur-einkommenssituation-von-dichterinnen-in-deutschland.html (11.06.2023). Ihr zufolge liegen 75 % der Dichter:innen mit ihrem Gesamteinkommen unter dem durchschnittlichen deutschen Bruttoeinkommen von 32.486 Euro. Von Markterfolgen wie im Fall der indisch-kanadischen Autorin Rupi Kaur, von deren instapoetry-Sammlung milk and honey über 3,5 Mio. Buchexemplare verkauft wurden, kann jüngere Lyrik sonst nur träumen.
Diese Periodisierung unternimmt und begründet Christian Metz im Rückblick auf »die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts als Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik« im ersten Kapitel »Warum Lyrik jetzt« seiner Studie: Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2018, 9–72.
Zur Begriffsgeschichte von »Gegenwartsliteratur« vgl. Johannes F. Lehmann, »Gegenwartsliteratur historisieren – oder Gegenwart versus Literatur (Angelika Meier zum Beispiel)«, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 67 (Aug. 2020), 254–266, hier: insbes. 258–261.
Vgl. Kai Kauffmann, »Ohne Ende? Zur Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«, in: Kai Kauffmann, Matthias Buschmeier, Walter Erhart (Hrsg.), Literaturgeschichte: Theorien – Modelle – Praktiken, Berlin, New York 2014, 357–376, der gegen Ende fragt, »ob das Konzept Gegenwartsliteratur nicht einer historischen Zeit angehört« (374).
Als frühem Mahnmal einer gegenwartsliteraturhistorischen Zukunftswette, die bald und klar verloren ging, gedenkt Carlos Spoerhase, »Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft«, Merkur (Januar 2014), 15–24, hier: 24, der sechzehnbändigen Werkausgabe, die der Germanist Berthold Litzmann (1857–1926) seinem Zeitgenossen Ernst von Wildenbruch (1845–1909) nach dessen Ableben gewidmet hat.
Vgl. hierzu das präzise Lagebild, das Christian Metz, »Im Sowohl-als-auch von Literaturkritik und -wissenschaft. Methodologische Reflexionen aus einem Zwischenraum«, Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 67 (Aug. 2020), 244–253, insbesondere für die »Verschränkung« (244) von Literaturkritik und Gegenwarts-Literaturwissenschaft um 2020 zeichnet.
Die Notwendigkeit solcher heuristischen Externalisierung zeigt sich, wenn man etwa den globalen Gegenwartsbegriff von Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010, neben den ebensolchen von Otto Friedrich Bollnow, »Hans Lipps. Ein Beitrag zur philosophischen Lage der Gegenwart«, Blätter für Deutsche Philosophie 16 (1941) Nr. 3, 292–323, hält; bzw. in der Lyrik – obschon durch die generische Begrenzung und kalendarische Spezifikationen entscheidend eingehegt – analog etwa den »Gegenwartslyrik«-Begriff, der Otto Knörrich, Die deutsche Lyrik der Gegenwart. 1945–1970, Stuttgart 1971, zugrunde liegt, neben den von Gudrun Blecken, Lyrik der Gegenwart (1960 bis heute), Hollfeld 2008, oder der Anthologien von Björn Kuhligk, Jan Wagner (Hrsg.), Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen, Köln 2003; Björn Kuhligk, Jan Wagner (Hrsg.), Lyrik von Jetzt zwei, Berlin 2008, und Max Czollek, Michael Fehr, Robert Prosser (Hrsg.), Lyrik von Jetzt 3. Babelsprech, Göttingen 2015.
Vgl. dazu Johannes Ullmaier, »Manual der Gegenwart. Einige Vorschläge zum Reden über Zeit«, in: Johannes F. Lehmann, Kerstin Stüssel (Hrsg.), Gegenwart denken. Diskurse, Medien, Praktiken, Hannover 2020, 25–57.
Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik oder: Wissenschaft des Schönen. Dritter Theil: Die Kunstlehre. Zweiter Abschnitt: Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtkunst. (Schluß des ganzen Werkes), Stuttgart 1857, 1331, https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/vischer_aesthetik030205_1857?p=195 (11.06.2023).
Zur Aktualität von Literaturpreisen und Literaturpreisforschung vgl. Dennis Borghardt, Sarah Maaß, Alexandra Pontzen (Hrsg.), Literaturpreise. Geschichte, Theorie und Praxis, Würzburg 2020.
http://peter-huchel-preis.de (11.06.2023).
»wenn man so zerrissen wird, ist es heftig«: Nora Gomringer über den schweren Stand der Lyrik (SWR2, 30.01.2023), in: https://www.swr.de/swr2/literatur/nora-gomringer-spoken-word-ist-ein-potentielles-massenphaenomen-100.html (11.06.2023).
»Judith Zander im Gespräch mit Nora Karches: Debatte um Peter-Huchel-Preis. Judith Zander antwortet auf Kritik: die Schmähungen sind ›erbärmlich‹« (DLF, 03.02.2023), in: https://www.deutschlandfunk.de/eine-neue-lyrikdebatte-judith-zander-antwortet-auf-kritik-dlf-acf004e4-100.html (11.06.2023).
Peter Neumann, »Streit ums Gedicht. Muß neue Lyrik denn so schwer sein?«, Die Zeit, 02.02.2023.
Andreas Platthaus, »Gedichtschmähungen. Lyrikliederlich«, Frankfurter Allgemeine Zeitung,06.02.2023.
Leisz Shernhart, »Apologie. Sehr wohl Lyrik! Zum Shitstorm gegen Judith Zander«, taz-Blog (10.02.2023); https://blogs.taz.de/postfaktisch/sehr-wohl-lyrik/ (11.06.2023).
Insa Wilke, »Warum sich ›schwere Lyrik‹ lohnt – Antwort auf die Kritik an der Peter-Huchel-Preisträgerin Judith Zander«, SWR2 lesenswert Magazin, 12.02.2023; https://www.swr.de/swr2/literatur/schwere-lyrik-kritik-an-peter-huchel-preistraegerin-100.html (11.06.2023).
2019 erschien ›Lyrik seit den 1990er Jahren‹ auf den Berliner Rahmenlehrplänen der gymnasialen Oberstufe (GK und LK, 4. Kurshalbjahr). Als abiturrelevant drang die »Epochenzeit: Gegenwart« so in die davon zuvor entkoppelte gymnasiale Gegenwart. Das führte zu Verunsicherung in den Schulen und akutem Fortbildungsbedarf. Noch ernster wurde es, als das NRW-Kultusministerium im Mai 2023 Sascha Kokots Gedicht »sobald die Stadt zur Ruhe gekommen ist« (aus: Ferner, Dresden 2017) für eine Zentralklausur der 10. Klasse auswählte. Im Netz (v. a. bei TikTok, aber auch auf https://titel-kulturmagazin.net/2019/10/27/lyrik-sascha-kokot-zwei-gedichte/ [11.06.2023]) entlud sich der Hass der Schüler:innen auf den Autor, dem »NRW-Verbot« erteilt wurde, »[w]eil unser Lehrer hat uns Gedichte der Gegenwart beigebracht aber das war einfach shit.« Denn: »kein Metrum, kein Reimschema, keine Stilmittel NICHT MAL EINEN TITEL HAT DER ROTZ! Ich seh die 5 schon kommen.« Vgl. auch Cornelius Pollmer, »Krise, Bruder, Krise. Moderne Lyrik in der NRW-Zentralklausur: Jetzt dichten Betroffene ihre Verzweiflung ins Internet«, Süddeutsche Zeitung, 31.05.2023, 9: »Bro schreibt Gedicht ohne Gedicht«.
Stellvertretend sei etwa an den Streit um die ›Neue Subjektivität‹ erinnert, der Ende der 1970er Jahre in Akzente – v. a. zwischen Jörg Drews und Jürgen Theobaldy – ausgetragen wurde, ferner an das 1995er-Scharmützel zwischen Franz Josef Czernin und Durs Grünbein v. a. im Schreibheft.
Vgl. Judith Zander, oder tau. Gedichte, München 2011, 42.
Nicht zuletzt die Kürze des Gedichtausschnittes, in dem man das gesamte Werk wie eine instant message gleich zu überblicken meinte, mag die Urteilswut befördert haben. Über einen Roman kann man sich auf diese Weise erst erregen, wenn er auf ›Stellen‹ reduziert wurde, was meistens etwas dauert.
Im offenen Brief vom 11.04.2016 heißt es, das Gedicht reproduziere eine »patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinner[e] zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind.« Eine Dokumentation der Auseinandersetzung findet sich auf https://www.ash-berlin.eu/hochschule/organisation/referat-hochschulkommunikation/pressespiegel-fassadendebatte/ (11.06.2023).
avenidas wurde auf einer Edelstahl-Tafel im Sockelbereich mitsamt einem Kommentar Eugen Gomringers neu angebracht.
Barbara Köhler, »Ein öffentlicher Text«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.2017, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/barbara-koehler-zur-debatte-um-gomringers-gedicht-15214670.html (11.06.2023).
Zu sehen unter https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Alice_Salomon_Hochschule_January_2019_08_(verzerrt).jpg (11.06.2023).
»Barbaralexis«, die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 65 (2020), 162–173, hier: 169.
Vgl. Baßler (Anm. 1).
Einen Ausschnitt bieten die links auf https://de.wikipedia.org/wiki/The_Hill_We_Climb (11.06.2023).
»Dichterin gesucht«, Süddeutsche Zeitung, 03.01.2022.
Katrin Göring-Eckardt hielt dies für einen »tolle[n] Vorschlag«, Wolfgang Kubicki fand das Projekt elitär, wünsche er sich Künstler doch als »Stachel im Fleisch der Herrschenden […], nicht deren Angestellte«. (Hans Monath, »Debatte um Parlamentspoetin. Wolfgang Kubicki stellt sich gegen ›elitäres Projekt‹«, in: https://www.tagesspiegel.de/politik/wolfgang-kubicki-stellt-sich-gegen-elitares-projekt-4301962.html [11.06.2023]).
Jochen Hörisch, Poesie und Politik: Szenen einer riskanten Beziehung, Berlin, München 2022; Carolin Amlinger, »Parlamentspoetin. Die Poesie der Macht«, Die Zeit, 14.01.2022.
Vgl. www.netzwerk-lyrik.org/diskurs (11.06.2023).
Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik, Stuttgart 1977.
Exemplarisch: Johannes Franzen, Christian Meierhofer (Hrsg.), Gelegenheitslyrik in der Moderne. Tradition und Transformation einer Gattung, Frankfurt a.M. u. a. 2022; Andreas Keller u. a. (Hrsg.), Theorie und Praxis der Kasualdichtung in der Frühen Neuzeit, Amsterdam, New York 2010; Joachim Küpper, Patricia Oster, Christian Rivoletti (Hrsg.), Gelegenheit macht Dichter. Bausteine zu einer Theorie des Gelegenheitsgedichts. L’occasione fa il poeta, Heidelberg 2018; Johannes Birgfeld, Claude D. Conter, Oliver Jahraus, Stefan Neuhaus (Hrsg.), Widmungsgedichte und Gedichte bei Gelegenheit, Hannover 2021; sowie die Tagung des SFB 1391 Andere Ästhetik »Literatur und Kunst ›bei Gelegenheit‹. Kontinuitäten und Transformationen im 18. und 19. Jahrhundert« im April 2023 an der Universität Tübingen.
Besonders im Rahmen von Poetikdozenturen, bei denen die kasualpoetische Trias ›Auftrag – Anlass – Adressat‹ zur (selbst-)exegetischen, finanziellen und akademischen Win-Win-Konstellation kurzgeschlossen ist und mittlerweile eine eigene Gegenwarts-Gelehrtendichtung konstituiert; vgl. dazu Gundela Hachmann, Julia Schöll, Johanna Bohley (Hrsg.), Handbuch Poetikvorlesungen. Geschichte – Praktiken – Poetiken, Berlin, New York 2022; Kevin Kempke, Vorlesungsszenen der Gegenwartsliteratur. Die Frankfurter Poetikvorlesungen als Gattung und Institution, Göttingen 2021. An den institutionellen Schnittstellen könnten sich so z. B. Heinrich Detering, Monika Rinck, Ulrike Draesner oder Michael Lentz selbst einladen, um im eigenen Seminar die eigene Poetik zu erörtern und historisch einzuordnen.
Vgl. etwa den fragwürdigen Reanimationsversuch des politischen Gedichts im Jahr 2011 u.d.T. »Macht, Gedichte« in der Zeit: https://www.zeit.de/2011/11/Gedichte-ueber-Politik (11.06.2023).
Gerade die emphatisch ausgeflaggten ›Gegenwarts‹-Vitalismen einer post-avantgardistischen deutschsprachigen Popmoderne vor der Millenniumswende (in der Literatur paradigmatisch: Rainald Goetz’ Internet-Tagebuch Abfall für alle von 1998 bzw. 1999) erscheinen seit 2022 manifest historisch. Dabei hatte die Volatilisierung der Kommunikationskanäle durch social media auch zuvor schon – und bereits vielfach konstatiert – eine in diesem Ausmaß schwer vorhersehbare Mediengegenwarts-Dynamik entfacht, deren Effekte auf die jüngste Literatur und deren gleichzeitige Wissenschaft vor allem in Greifswald intensiv erkundet werden. Offenkundig wird es dabei immer schwieriger, das jeweils Neueste im Verhuschen zu erhaschen: Dissertationen über Snapchat, Twitter, Instapoetry u. a. müssen damit rechnen, dass es die Phänomene, die sie wissenschaftlich aufarbeiten, bei Abschluss, spätestens bei Publikation nicht mehr oder nicht mehr in der analysierten Form gibt; vgl. stellvertretend Elias Kreuzmair, »Was war Twitteratur?«, Merkur Blog, 04.02.2016, https://www.merkur-zeitschrift.de/2016/02/04/was-war-twitteratur/ (11.06.2023). Die Eigenzeit philologischer Arbeit, die nicht beliebig zu beschleunigen ist, gerät hier an eine Synchronisationsgrenze; so wie die Herausforderung, im heißen Gegenstand nicht zu verbrennen, an eine Mindestabstandsgrenze. Umso heroischer alle Versuche, literaturhistorisch dranzubleiben.
Das kollektive Gegenwarts-Kurzzeitgedächtnis pauschalisiert es tendenziell zur ›(gerade) noch heilen Welt‹, egal wie unheilvoll sie lokal faktisch war. Mit wachsender Realvergessenheit kann sie zur ›guten alten Zeit‹ weitermutieren.
Zeitverschoben findet man sich jetzt in einer publizistischen Welle von Lockdowngedichten, die unter dem Eindruck des Krieges – und verglichen mit ukrainischen, belarussischen usf. kleinen Formen – ungewollt betulicher oder larmoyanter wirken als ihr pandemischer, ggf. sehr tragischer Erfahrungsgrund.
Wolodymyr Selenskyj generierte mit einer am 11.09.2022 zunächst auf Telegram veröffentlichten Wutrede in Gedichtfaktur u.d.T. »Без ваc«, »Ohne euch«, mehr traffic als mit sämtlichen anderen Aussendungen im Herbst 2022.
Daneben ist zu konstatieren, dass ein erheblicher Teil nicht allein ukrainischer Lyriker:innen nach dem 24.02.2022 vorübergehend oder bis heute – sei es aus produktions- und (über-)lebenspraktischen, sprachpolitischen, ethischen usw. Gründen – keine Gedichte mehr geschrieben hat.
Ein weiteres erhellendes Szenario wäre die von Max Czollek angestoßene Debatte um den Leonce-und-Lena-Preis beim Darmstädter Literarischen März 2023, dem er (wie dem ganzen Literaturbetrieb) Blindheit für postmigrantische, jüdische und queere Themen und Autor:innen vorhielt; Breyger hat Czolleks Kritik mit einer Replik ad personam und einem Plädoyer für den Lyrikbetrieb scharf zurückgewiesen. Vgl. Max Czollek, »Verschlossenes Land. Gedanken zum gegenwärtigen Literaturbetrieb«, https://faustkultur.de/literatur-portraets/verschlossenes-land (11.06.2023); Yevgeniy Breyger, »Meine jüdische und migrantische Perspektive auf das Anliegen von Max Czollek«, https://www.lyrikkritik.de/baer/meine-juedische-und-migrantische-perspektive-auf-das-anliegen-von-max-czollek/ (11.06.2023); dazu Gregor Dotzauers Kommentar: »Lyrikbetrieb. Agitiert und angefasst. Der Berliner Dichter und Publizist Max Czollek wähnt sich, was die Poesie betrifft, in einem verschlossenen Land. Welcher Teufel reitet ihn?«, Tagesspiegel, 04.04.2023, https://www.tagesspiegel.de/kultur/lyrikbetrieb-agitiert-und-angefasst-9612479.html (11.06.2023).
Frieden ohne Krieg trägt seine Genese als Gedicht in sich: »statt erklärung« berichtet von der Entstehungsgeschichte des Bandes; vgl. Breyger, Frieden ohne Krieg. Gedichte, Berlin 2023, 37 f.
Yevgeniy Breyger, »Krieg schreiben können. Notizen zum Poesiefestival Berlin«, Tagesspiegel, 09.06.2023, https://www.tagesspiegel.de/kultur/krieg-schreiben-konnen-notizen-zum-poesiefestival-berlin-9948486.html (11.06.2023).
Breyger (Anm. 46), 69–77.
Monika Schmitz-Emans, »Mehrschriftlichkeit«, in: Till Dembeck, Rolf Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch, Tübingen 2017, 221–232.
Breyger (Anm. 46), 4, 69. Im Lyrischen Quartett wagte der Literaturwissenschaftler und -kritiker Frieder von Ammon Ende März 2023 die literarhistorische These, diese Zeile könnte »in einiger Zeit […] eine wirkliche Zäsur in der deutschsprachigen Lyrik markieren«; »Das Lyrische Quartett. Vom Ausdeuten der Sinnesdaten«, https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-lyrische-quartett-gedichte-im-gespraech-dlf-kultur-17ed99dc-100.html (11.06.2023).
Prägnant etwa in: Till Dembeck, »Es gibt keine einsprachigen Texte! Ein Vorschlag für die Literaturwissenschaft«, ZiG 11/1 (2020), 163–176.
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Jäger, M., Ullmaier, J. Gegenwartslyrik um 2020. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 97, 901–915 (2023). https://doi.org/10.1007/s41245-023-00229-2
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