I.

lyrik seit 2000 als nische autonomer literatur

Im Jahr 2023 erscheint die deutschsprachige Lyrik dreifach randständig: als Randphänomen im deutschsprachigen Literaturbetrieb, der global selbst eher am Rand steht, so wie die Literatur in der medialen Epochengegenwart im Ganzen. Das so lakonisch zu vermerken, zielt gleichwohl nicht auf eine Verlusterzählung – wann hätte welche deutsche Lyrik je im Zentrum welcher Weltengegenwart gestanden? –, sondern bezeigt im Gegenteil deren aktuelle Sonderposition als Literaturszene, die ohne viel Apologetik von sich sagen könnte:

Gerade weil wir unter dem Radar segeln, bieten wir derzeit – zwischen einer teils verkaufs- und aufmerksamkeitsträchtigen, mittlerweile aber strikt auf Populären RealismusFootnote 1 abonnierten Epik einerseits und einer nahezu verschwundenen Print-Dramatik andererseits – den generischen Kontext, in dem sprachaffine Literatur noch genuin entstehen und blühen kann. Daher bleiben wir auch von den aktuellen Herausforderungen des Gegenwartsliteraturbetriebs vergleichsweise verschont:

Heteronome Indienstnahmen haben im Lyrikkontext wenig zu gewinnen; Aktivismus sucht sich spektakulärere, Karrierismus üppigere Biotope.

Partizipation ist, wie in allen Feldern eingeschränkter Produktion, längst Standard, weil ohnehin fast alle alles machen (müssen): dichten, publizieren, kritisieren, preisen, kuratieren, kompilieren, übersetzen und tradieren.

Fiktionalität und Faktualität sind nicht so genreleitend wie in narrativen Texten, rezente Verlagerungen und Verschleifungen daher weniger brenzlig.

Analog bei Perspektivverschiebungen: Das ›lyrische Ich‹ (›Du‹, ›Wir‹ etc.Footnote 2) ist, wo überhaupt zugegen, meist entweder auktorial authentifiziert oder so klar Rollenrede, dass die anderswo brodelnde Frage, wem noch welche Innensicht zusteht, hier nicht so recht verfängt; Streit um Stimmenrechte gibt es höchstens im Ausnahmefall prominenter und identitätspolitisch aufgeladener Übersetzungen wie der des 2021er-Inaugurationsgedichtes von Amanda Gorman.

Ästhetik und Literarizität schließlich sind in der aktuellen deutschsprachigen Lyrik – als Ambiguität, Verfremdung, Form- und Metareflexion – nicht nur ungefährdet, sondern solide Nicht-Geschäftsgrundlage. Die Herausforderung besteht in erster Linie darin, finanziell zu überleben.Footnote 3

Zwar wirkt das so skizzierte Genrebild einer autonomieästhetischen Oase im heteronom umtosten Literaturbetrieb bei näherem Hinsehen nicht ganz so idyllisch. Fraktionierungen und Sonderwege treten ebenso hervor wie die Schattenseiten aller Nischenwelten: Ressourcenneid, Revierkämpfe und Idiosynkrasien. Grosso modo aber ist die deutschsprachige Lyrik seit 2000Footnote 4 in azyklischer Blüte zum Residuum und generischen Zentrallabor einer dezidiert literarischen Literatur geworden.

Entsprechend ist auch der literaturgeschichtliche Horizont dort gegenwärtig weiter aufgespannt als im Drama oder in der Epik. Neuerscheinungen von frühavantgardistischer ›Unlesbarkeit‹ oder in Sonettform sind in der Lyrik zwanglos möglich, während Analoges in der Belletristik – blickt man in einschlägige Verlagsvorschauen – heute so unvorstellbar scheint wie Lohenstein-Alexandriner auf der Bühne.

Was die Herausforderungen des Literarischen durch jüngere Gegenwartstendenzen angeht, wirkt die Gegenwartslyrik so zunächst merkwürdig außen vor, gibt damit aber Anlass, nach der Pluralität realer Gegenwarten innerhalb und außerhalb von Literatur zu fragen.

II.

gegenwart und gegenfragen

Wer ohne Weiteres von ›der‹ Gegenwart spricht, meint in der Regel seine eigene und postuliert damit einen hybriden Sprechort: weder ganz drinnen, wie jemand, der gerade »Tor!« ruft, noch ganz draußen, wie jemand, der im Jahr 2923 vielleicht sagen wird: »Vor tausend Jahren wurde die DVjs gegründet.« Wie ›die Gegenwart‹, über die man so zugleich extern (als ganze) und intern (als eigene) befindet, jeweils zeitlich, ontisch und situativ limitiert sei, bleibt in solcher Rede tunlichst implizit.

Das Hybride entzerrt sich, sobald getrennte Gegenwartssegmente an Kontur gewinnen: Wenn Literaturwissenschaft sich in ihrer institutionalisierten Eigengegenwart mit Gegenwartsliteratur befasst, spricht sie – so wie schon eine von der Literaturproduktion deutlich geschiedene Literaturkritik – idealiter zeitgleich von außen. Und so ist es kein Zufall, wenn Begriff und Gegenstand deutschsprachiger ›Gegenwartsliteratur‹ Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der disziplinären Autonomisierung der germanistischen Literaturwissenschaft manifest wurden,Footnote 5 um seither eine eigene, 2023 ihrerseits größtenteils geweseneFootnote 6 und weithin vergesseneFootnote 7 Geschichte auszubilden.

Realiter bleibt die Ambivalenz pauschaler Gegenwartsdiagnostik indes auch in den einzelnen Fachgebieten und bis heute durchgehend akut. Denn nicht nur sind Umfang und Niveau des germanistischen Gegenwartsliteratur-Diskurses, wie in jedem Kultursegment zu jeder Zeit, an die je zur Verfügung stehenden ökonomischen, intellektuellen und enthusiastischen Ressourcen gebundenFootnote 8 – was allseits den Argwohn nährt, der Gegenwart könne zu viel oder zu wenig Raum zukommen. Sondern vor allem bleibt bis heute ungewiss, ob bzw. wo die Beschäftigung mit ihr eher auf dem Gipfel literaturhistorischer Selbstreflexivität oder im Keller selbstverzagter Anbiederung stattfindet, eher luxurierenden Scharfblick oder schielenden Mangel indiziert.

In dieser Lage könnte es zumindest theoretisch hilfreich sein, verschiedene Aspekte, die im Reden über ›Gegenwartsliteratur‹ habituell vielfach verschmelzen, deutlicher zu trennen. Als propädeutische Übung könnte man versuchen, persistente, zumal schriftliche Gegenwartsbefunde fortan möglichst so zu formulieren, dass auch jeweils ›Außergegenwärtige‹ sie ohne moderierenden oder kommentierenden Paratext verorten könnten.Footnote 9 Zwar sieht man sich so unversehens mit Explikationserfordernissen konfrontiert, die im je präsenten Gegenwartskontext redundant oder gar spielverderberisch wirken mögen, der Verwissenschaftlichung gegenwartsbezogener Analysen aber – in der Literatur wie allgemeinFootnote 10 – zugute kommen könnten.

Sollte man auf solche Art etwa erklären, was Gegenwartslyrik im Jahr 2023 sei, müsste man auf Rückfragen wie die folgenden gefasst sein, die hier teils aus Raum-, oft aber aus tatsächlicher Erklärungsnot durchweg nur oberflächlich zu beantworten sind:

In bzw. aus welcher Gegenwart sprechen Sie?

  • Aus einer germanistisch-literaturwissenschaftlichen Publikationsgegenwart im zweiten bzw. vierten Quartal des Jahres 2023.

Wie stehen Sie zu der ›Gegenwart(slyrik)‹, von der Sie sprechen?

  • Uneinheitlich: MJ teilinvolviert als Mitglied in Lyrikjurys, Moderatorin von Lyrikveranstaltungen und v. a. Rezipientin zeitgenössischer Gedichte; JU als interessierter, aber externer Beobachter.

Sprechen Sie (nur) über Inhalte der Lyrikgegenwart oder (auch) über deren Form bzw. Zeitgestalt?

  • Möglichst über beides, wobei zwischen den Zeitstrukturen innerhalb der Lyrikszene und denen in der Lyrik selbst bzw. deren Rezeption zu unterscheiden wäre.

Wie ist die Gegenwart, von der Sie reden, intern strukturiert?

  • Schmerzhaft verkürzt: im 2023er-Gegenwartslyrik-Fokus Verlage wie kookbooks, edition korrespondenzen, Urs Engeler bzw. roughbooks, hochroth, Schöffling, Das Wunderhorn, Zeitschriften und Anthologien (Jahrbuch der Lyrik, Bella Triste, Schreibheft…), Plattformen wie lyrikline.org, signaturen-magazin.de, lyrikkritik.de, poetenladen.de sowie sog. soziale Medien, Akteure, Festivals, Orte wie Berlin (Haus für Poesie, Lettrétage, Poesiefestival etc.), München, Basel, Wien; ferner die Literaturhäuser im deutschsprachigen Raum sowie Außenposten in Meran, Münster, Edenkoben usw. Was diesen sichtbaren Fokus implizit umgibt, aus welchen Latenzgründen er sich speist und welches Priming gerade wirkt, liegt aus literaturwissenschaftlicher Perspektive derzeit weitgehend im Dunkeln.

Mit welchen anderen Gegenwarten ist die deutschsprachige Hochlyrik, von der Sie offenbar ausschließlich reden, verbunden? Und wie?

  • Das wäre umfassend zu kartieren: mit denen anderer Lyriksphären wie Spoken Word und Slam Poetry, den regionalen Gegenwarten volkstümlicher Dialektdichtung, den Eigengegenwarten der Lied‑, Pop‑, Schlager- und Rap-Lyrics, ferner mit der Gegenwart des allgemeinen Literaturbetriebs und denen anderer Untergattungen (›Hoch‹- und Genre-Belletristik, Drama, Hörspiel, Kinderbücher), Institutionen (Verlage, Gremien, Akademien), ferner denen der lyrikbezogenen Segmente innerhalb der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft sowie schließlich mit der außerliterarischen Gegenwart.

Welche zeitliche Größenordnung hat sie?

  • Sehr verschiedene: als Gegenwartsepoche ca. 20 Jahre, als Debatten- bzw. Besprechungs-Gegenwart zwischen ca. einem Jahr und wenigen Wochen, als »punctuelles Zünden der Welt«Footnote 11 nur einen Augenblick.

Was liegt zeitlich hinter ihr, was vor ihr?

  • Einerseits die bislang nicht kanonisch rubrizierte Lyrikepoche der 1980er und 1990er Jahre mit Zentralstimmen wie Thomas Kling, Friederike Mayröcker, Barbara Köhler u. a.; andererseits eine um Mitte 2023 prinzipiell kaum absehbare Zukunft.

Unterscheiden Sie zwischen ›Gegenwart‹ und ›Gegenwärtigkeit‹ von Lyrik?

  • Generell wäre mindestens zu trennen zwischen a) je aktuellen Lyrikneuerscheinungen, b) Lyrik von Lebenden und c) Lyrik der jeweils jüngsten Generationskohorte einerseits und a) themen-aktueller Außengegenwartsbezogenheit, b) Präsenzerfahrungspotenzial und c) der programmatischen Kombination aus beidem andererseits.

Müssen die Objekte und Kriterien, die Sie 2023 für besonders gegenwartsaffin halten, notwendig aus Ihrer eigenen Gegenwart stammen?

  • Nicht unbedingt, gerade die letzten zwanzig Jahre legen – in der Lyrik wie in anderen Kultursphären – nahe, das Innovative, Relevante, Flüchtige, Intensive, Plötzliche, Symptomatische, Jetzige, Visionäre, Zeitgenössische, Aktuelle, Jugendliche, Coole, Modische etc. nicht umstandslos in eins zu setzen und auch nicht stets nur saisonal zu suchen.

Sprechen Sie über einzelne Stadien oder über das Verlaufskontinuum von Gegenwartslyrik?

  • Letzteres wäre kompliziert und raumgreifend, daher beschränken wir uns im Folgenden auf vier, bewusst heterogen gewählte Szenarien, in denen wir jeweils eine charakteristische Gegenwarten-Konstellation exemplifiziert sehen.

III.

szenario 1: anfang 2023. konfrontation von lyrik-interner gegenwart und lyrik-externer mediengegenwart: der shitstorm um den huchel-preis für judith zander

Im Jahr 2023 wurde Judith Zanders Gedichtband im ländchen sommer im winter zur see (2022) mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet, der mit 15.000 Euro dotiert ist und seit 1983 alljährlich vom Land Baden-Württemberg und dem SWR »für ein herausragendes lyrisches Werk des vergangenen Jahres« verliehen wird.Footnote 12 Die Auszeichnung soll, so die Selbstdarstellung auf der Homepage, »die literarische Arbeit deutschsprachiger Lyrikerinnen und Lyriker würdigen« und »das Interesse der Öffentlichkeit auf die von den Medien oftmals marginalisierte lyrische Gattung lenken«.Footnote 13 In diesem Jahr ist zumindest letzteres den Stiftern gelungen, wenngleich wohl nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten.

Blieben (I) Nominierungen und (II) Juryentscheidung – durch sieben berufene »Persönlichkeiten des literarischen Lebens« – noch ›Hochlyrik‹-intern, so wie weitgehend auch die ersten Meldungen Ende Januar auf der Homepage oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunksender,Footnote 14 geschah unmittelbar nach dem diesbezüglichen Post vom 28.01.2023 in der SWR-facebook-timeline (III) etwas vorhersehbar Unvorhersehbares: Die Aussendung generierte (IV) innerhalb weniger Stunden erheblichen traffic in Form von knapp 2.000 Kommentaren.

Statt die Kommentarfunktion zu schließen, lud der SWR die Lyrikerin Nora Gomringer ein, die Sache der Lyrik am Mikrofon zu verteidigen;Footnote 15 am 3.02. bat der DLF die hörbar angefasste Preisträgerin selbst zum Gespräch.Footnote 16 Erst in dritter Instanz (V) und ein bis zwei lange Wochen später schaltete sich das Printfeuilleton ein: Angesichts von social media-›Rezensionen‹ wie »Cringe«, »HURZ!«, »wie eine verwirrte ChatGPT« oder »WTF?!« fragten sich nun Literaturprofis stoßseufzend, ob und warum »neue Lyrik so schwer sein« müsse,Footnote 17 wollten aufmerksamkeitsökonomischen Gewinn darin sehen, dass Gedichte nie »in so vielen unberufenen Mündern« waren,Footnote 18 oder suchten nachzuweisen, dass »Zanders Texte SEHR WOHL LYRIK sind!«Footnote 19 Am 12.02. (VI) bemühte sich Insa Wilke, Kritikerin und Huchel-Preis-Jurorin, mit einer engagierten Würdigung der Gedichte Zanders und einem emphatischen Plädoyer für Offenheit und ›schwierige Lyrik‹ um späte Schadensbegrenzung.Footnote 20 Gegenwartsanalytisch signifikant war dabei Wilkes Beobachtung, dass die Räume kleiner würden, in denen man machen dürfe, was man wolle – mit einem geneigten und geduldigen Publikum, sei es in Feuilletons oder Veranstaltungshäusern. Hier sei die Literaturkritik, so Wilke selbstkritisch, ihrer Vermittlungsfunktion nicht gerecht geworden. Allein, auf welchem Mediengegenwartskanal hätte sie vermitteln sollen? Und gilt Analoges nicht auch für die Literaturwissenschaft? Hat sie nicht auch einen Vermittlungsauftrag für schwierige Texte, zumal in der Lehramtsausbildung?Footnote 21

Nun ist es kein Novum, dass Preisvergaben umstritten sind; nicht jede Entscheidung der Huchel-Preis-Jury wurde einhellig begrüßt – nur fand der Widerspruch in der Regel nicht-öffentlich statt, drang allenfalls auf szeneinterne social media-Accounts und blieb so auf die Gegenwartssphäre der Hochlyrik begrenzt. Keineswegs neu ist auch die Kontroverse ›formexperimentell-sprachspielerisch vs. alltagssprachlich-subjektiv vs. klassizistisch‹ – nur wurde diese bislang meist unter Lyriker:innen selbst ausgefochten.Footnote 22 Neu hingegen ist die gegenwartsmediale Verschaltung vormals strikt getrennter Teilöffentlichkeiten, womit plötzlich die am lautesten wurden, die selten bis nie Gedichte lesen – was wiederum dazu führte, dass eine Dichterin wie Sabine Scho, die im Lyriksoziotop zuvor eher durch Kritik an Preisentscheidungen aufgefallen war, die Lyrik nun insgesamt – so tapfer wie vergeblich – gegen die aggressive Ignoranz der social media-Außen-Gegenwart verteidigte.

Was folgt aus der ›Debatte‹? Mag sich der Staub inzwischen gelegt haben – und zwar schlicht dadurch, dass der Post in der SWR-timeline nach unten gerutscht ist –, so zieht die Causa Zander in der Lyrikgegenwart doch einige Primingverschiebungen nach sich: bei der Jury, den Verlagen, den Vermittler:innen, womöglich auch bei den Dichter:innen selbst – in Gestalt der Lektion: Wenn man Gedichte veröffentlicht, die nicht auf den ersten Blick verständlich sind, und womöglich einen Preis dafür bekommt, muss man mit Krawall rechnen. Die meisten wussten das natürlich längst und werden deshalb nicht auf Schlagertexte umsatteln, aber allen ist nun gewahr: Die Membranen der autonomieästhetischen Lyrikgegenwart sind löchrig geworden, durchlässiger, als es das Printfeuilleton je war. Und zwar nicht etwa, weil die Dichtung selbst heteronom geworden wäre, denn der ausgezeichnete Gedichtband spielte in dem ganzen Kommunikationsgeschehen, dessen Gegenwarts-Peristaltik sich nach Dauer und Ablauf nicht von derjenigen non-literarischer Netz-Aufreger unterschied, so gut wie keine Rolle. Formatkonform bestand der SWR-Post lediglich aus einem Foto und der ersten Hälfte eines Gedichts aus Zanders (zudem bereits zehn Jahre zuvor erschienener) Sammlung oder tau.Footnote 23 Das genügte.Footnote 24

IV.

szenario 2: 2016 ff. ungleichzeitig-werden einstiger gegenwartslyrik im aktuellen öffentlichen gegenwartskontext: die ›fassadendebatte‹ um eugen gomringers AVENIDAS

Anders als Insa Wilke ging es Nora Gomringer im Streit um Zander weniger um die Verteidigung hermetischer Lizenzen in der Lyrik als vielmehr um den Hinweis, dass es neben ›schwierigen Gedichten‹ ja auch verständliche, performative und teils durchaus populäre Lyrik (einschließlich ihrer eigenen) gebe – was gegenwartsstrukturell die Frage aufwirft, ob sie sich dabei eher selbst im Schnittbereich zweier sonst getrennter Eigengegenwarten (Slam-Sieg oder Huchel-Preis) positionieren oder damit deren vermeintlich vollzogene Symbiose annoncieren wollte.

Unterdes bezog sie auch noch einmal Stellung zu einem – nominell entschiedenen, doch latent weiterschwelenden – Konflikt, der in den Jahren 2016 ff. über das Lyriksoziotop hinausdrang: die sogenannte ›Fassadendebatte‹ um die Überschreibung eines Gedichts ihres 1925 geborenen Vaters Eugen Gomringer – konkret: avenidas aus dem Jahr 1951 – auf der Außenwand der Alice Salomon-Hochschule in Marzahn-Hellersdorf.

Das Gedicht war nach der Verleihung des Alice Salomon Poetik Preises 2011 an ihn an der Südfassade angebracht worden, schon damals begleitet von Kritik aus dem Akademischen Senat, der die Repräsentativität des neuen Wandschmucks anzweifelte. 2016 trug der AStA im Senat eine feministische Interpretation vor und bat um Prüfung;Footnote 25 schließlich schrieb der Senat einen Wettbewerb zur Neugestaltung der Fassade aus. Nach der Grundsanierung wurde im Dezember 2018 ein Kunstwerk der Preisträgerin des Jahres 2017 Barbara Köhler aufgetragen: ein Palimpsest, das auf Gomringers Gedicht zugleich antwortet und es durchscheinen lässt.Footnote 26 Gleichwohl wurde der Vorgang im Feuilleton und in sozialen Netzwerken als ›cancel culture‹ und Akt der Barbarei rubriziert. Was war geschehen?

Als auktoriale inscriptio auf einem Gebäude wurde das spanischsprachige Gedicht aus Gomringers konstellationen (1953) in den öffentlichen Raum von Berlin 2011 remediiert, qua Amt und Auftrag heteronom und zwangsläufig partizipativ – und verlor dort in einer über ein Jahrzehnt veränderten gesellschaftlichen Gegenwartsatmosphäre seine Legitimation: »Im Buch«, so Barbara Köhler in ihrem Statement in der FAZ vom 25.09.2017, »findet sich der Text unter zwei Augen, in einer Situation intimer Zwiesprache; an der Wand steht oder hängt er als Gegenüber. […] Fassaden kann man sehen als jene Seiten, mit denen sich Gebäude an die Öffentlichkeit wenden, als repräsentative Wände, Grenzflächen des öffentlichen Raumes. […] Wofür, für wen spricht das Gedicht?«Footnote 27

In der bislang eingehendsten Analyse hat der Mediävist Hans Jürgen Scheuer »Köhlers Auflösung jenes Dilemmas« als »Lehrstück [in] politischer Klugheit und in poetischer Intelligenz« ausgewiesen. Denn als Überschreibung, nicht Auslöschung, trete Köhlers mehrsprachig-mehrdeutiges Gedicht »sie bewundern sie«Footnote 28 in »Konstellationen, die nicht mehr nur Räume zwischen Wörtern, sondern Lebensräume unter Menschen einschließen.«Footnote 29 Jenseits dieser salomonischen poetischen Bewältigung aber erweist sich an Gomringers Gedicht, wie schnell medial gerahmte Historizität, wie sie in Lyrikbänden möglich ist, derzeit an öffentlichen Außenwänden endet.

V.

szenario 3: anfang 2022. anglophone versus deutsche lyrik-gegenwart als occasio -debatte: wollen ›wir‹ eine:n parlamentspoet:in?

Seit 1945 ist der traditionell deutschsprachige Raum in mehreren Schüben (Re-Education, Popkultur, Internet) stark von nordamerikanischen und britischen Strömungen mitbestimmt, zuletzt in einem Ausmaß, das das im 19. Jahrhundert dezidiert nationalsprachlich markierte und temporär völkisch ideologisierte Eigengegenwartskontinuum einer mehr oder weniger autochthon ›deutschen‹ Literatur zunehmend in Frage stellt. Was in der deutschen Belletristik spätestens seit Mitte der 1990er mit Durchsetzung des »International Style«Footnote 30 ratifiziert ist, geht auch an der Lyrik nicht mehr ganz vorbei und zeigte sich besonders pur etwa in der Diskussion darüber, ob der Bundestag eine:n poet laureate brauche.

Ein Jahr, nachdem Amanda Gorman ihr Gedicht The Hill We Climb bei der Amtseinführung von Joe Biden am 20. Januar 2021 vorgetragen hatte – die Kontroversen um die Auswahl der Übersetzerinnen in verschiedenen Ländern waren kaum verklungen –,Footnote 31 forderten Simone Buchholz, Dmitrij Kapitelman und Mithu Sanyal, bis dato sämtlich nicht im Gegenwartsfokus deutschsprachiger Lyrik, in einem offenen Brief in der Süddeutschen Zeitung, eine »Parlamentspoetin« einzustellen, damit ›die Politik poetischer und die Poesie politischer‹ werde.Footnote 32

Prompt und zeitgleich mit einzelnen Politiker:innenFootnote 33 reagierte das Feuilleton; binnen weniger Tage griffen Rundfunk und Tageszeitungen das Thema begierig auf; mit geringfügiger Verzögerung meldeten sich Mitte Januar auch erste Stimmen aus der Academia.Footnote 34 Beim Netzwerk Lyrik e.V. freute man sich über die »jetzt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückte Diskussion um den Stellenwert von Lyrik für und in unserer Gesellschaft«, wies aber darauf hin, dass es nicht Aufgabe einer sprachreflektierenden und kritischen Lyrik sein könne, im repräsentativen Auftrag »politische Inhalte in poetische Sprache zu übersetzen«. Stattdessen nutzte man dort eigengegenwärtig die Gelegenheit, einen öffentlich finanzierten Lyrikfonds anzumahnen, um »dauerhafte, bedarfsgerechte Strukturen für eine zeitgemäße Unterstützung der Lyrikschaffenden« zu etablieren.Footnote 35

Nun ist es nicht das Kerngeschäft der Philologie, interventionistisch zu erörtern, ob und wie ein:e deutsche:r Parlamentspoet:in »Risse in der Gesellschaft heilen« kann und sollte; gleichwohl wäre sie – zumal als selbst nicht direkt involvierte Literaturinstanz der Gegenwart – in guter Lage, das aktuelle Ansinnen historisch einzubetten und die Debatte damit neu zu perspektivieren: Bald ein halbes Jahrhundert nach Segebrechts grundlegender StudieFootnote 36 erfreut sich Kasualpoesie in der universitären Germanistik als Untersuchungsgegenstand jüngst wieder wachsender Beliebtheit.Footnote 37 Mögen Patronage und Panegyrik im 21. Jahrhundert auch andere Formen angenommen haben, so wäre es doch – gerade im Bewusstsein der historisch die längste Zeit selbstverständlichen Anlass- und Auftragsbindungen – lohnend, das Wimmelbild der Gegenwartslyrik mit ihren Ermöglichungsinstanzen und occasiones unter diesem Aspekt zu betrachten. Denn ungeachtet ihrer Marginalität und vermeintlichen Autonomie ist selbst die jüngere Hochlyrik keineswegs ortlos und erfüllt teils durchaus praktische Funktionen. Aus dem Nährboden poetischer Freund- und Verwandtschaften erwachsend, lebt sie auch 2023 nicht nur als Gelegenheitsgedicht anlässlich von Todesfällen, sondern entsteht, wie alle kulturellen Hervorbringungen, in einem Realgeflecht von mehr oder minder autonomen Teilgegenwarten, häufig geregelt und/oder querfinanziert durch Institutionen, (kollektive) Praktiken, Riten oder Angehörige. Produziert wird sie – hierin akademischen Abstracts, Vorträgen und Aufsätzen nicht unähnlich – im Rahmen von Stipendien, für Anthologien, Preise, Festivals und lyrikexterne wie -interne Veranstaltungen, in Residenzen, Künstlerhäusern und akademischen Kooperationen,Footnote 38 als Antwort auf kuratierte Calls usf.Footnote 39

Kämen literaturwissenschaftliches und öffentliches Gegenwartsinteresse an der Kasualpoesie hier ernsthaft ins Gespräch, könnte die als internet-globalisiertes US/Kanada-issue unvermittelt importierte Reizfrage »Parlamentspoet:in – ja oder nein?« in einen produktiven Dialog münden. Die Unterkomplexität polarisierender Dichotomien wie ›woke‹ versus ›anti-woke‹, USA/Kanada versus Europa/Deutschland, ›abgehobenes lyrisches Wortgeklingel‹ versus ›realpolitische Parlamentsprosa‹ oder poésie pure versus poésie engagée wiche der Aussicht auf ein vielgestaltiges Spektrum gewesener wie möglicher kasuallyrischer Epochengegenwarten, über die – egal in welcher Sprache – differenziert zu urteilen wäre.

VI.

szenario 4: blindflug ins jetzt 6/2023 . * nach dieser zeile bricht der krieg aus. aktuelle lyrische epochengegenwärtigkeit bei yevgeniy breyger

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die allgemeine Gegenwartserfahrungslage seit dem 24.02.2022 auch im deutschsprachigen Raum abrupt verändert, ähnlich wie zuvor die Covid-19-Pandemie ab März 2020. Vieles, was zuvor gedankenlos zum Gegenwartsstandard zählte (wie billiges Erdgas 2021 oder Händeschütteln 2019), war/ist auf einmal explizit Vergangenheit; und vieles, was bis dato als besonders gegenwärtig galt, wirkt plötzlich epochal vorbei.Footnote 40 Auch gegenwartsliterarisch gerät mit jeder ›Zeitenwende‹ jeweils alles, was im vorigen, als jüngst vergangenes noch kontrastiv präsenten GegenwartsstadiumFootnote 41 für relevant, weil zeitgemäß galt, unter Legitimationsdruck und wirkt leicht gestrig, weil realitätsflüchtig.

Trat das in punkto Produktion und Publikation – gemessen am ›großen Roman‹ – vermeintlich schnelle Gedicht schon in mehr oder minder literarischen Coronatagebüchern als beliebte kleine Form hervor,Footnote 42 so werden in der Lyrik seit dem Kriegsbeginn vollends Wirkungsabsichten wieder virulent, die spätestens die Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts abgeschüttelt zu haben glaubten: consolatio und aedificatio, Ermutigung und Zornabfuhr. Neben affektrhetorischen Heteronomisierungen feiert das Gedicht – ausgehend von der Ukraine und der allgemeingegenwarts-bestimmenden Realitätswucht des dortigen Geschehens – eine Wiedergeburt als Mittel politisch-ethischer Intervention und agitatorisches Instrument zur Hebung der Moral und kollektiven Stärkung.Footnote 43 Oder wird zum Formgefäß für Chronistenpflicht und Zeugenschaft.Footnote 44

Könnte eine Philologie der Gegenwartslyrik diese Tendenzen wahrnehmen, ohne über diesem noch längst nicht erkalteten Gegenstand ins Handgemenge mit der Lyrikkritik zu geraten? Vielleicht empfiehlt sich eine Umkehrung der Fragerichtung, hier am Beispiel des im März 2023 erschienenen Gedichtbands des 1989 in Charkiw geborenen Yevgeniy Breyger,Footnote 45Frieden ohne Krieg, der in drei Sektionen – »HEIMKERN«, »STREUOBST«, »APRILLEN« – den Bogen von den jüdischen Opfern des Massakers von Babyn Jar 1941 bis zu jenen schlägt, die vor russischen Bomben aus Charkiw geflohen sind. Der Band inkorporiert Wutreden und Polemiken angesichts von offenen Briefen, gutgemeinten Kulturveranstaltungen und zynisch verfrühten Versöhnungspodien, ist getragen von Zorn und verbirgt nicht, dass er schnell geschrieben wurde, schneller als das ursprünglich zur Publikation vorgesehene Manuskript.Footnote 46 In einem Tagesspiegel-Beitrag beschreibt Breyger (im Rekurs auf Volha Hapeyeva) das Dilemma der Gegenwartsverschränkungen, in deren prekärem Schnittpunkt er sich weiß: »An der Front werden sie sich keine Gedichte leisten können, in der Ukraine werden sie keine guten zum Krieg schreiben können, irgendwo im Westen wird sitzen Dichter:in, die’s toll beschreibt bildhaft weil aus Ferne, Distanz. Aber die will ich doch sicher nicht sein – mir schaudert.«Footnote 47

Das neunseitige Schlussgedicht, das die Sektion »APRILLEN« ausmacht,Footnote 48 nimmt seinen Ausgangspunkt von T. S. Eliots The Waste Land und mäandriert zwischen dem Englischen, dem Russischen und dem Deutschen, inkorporiert Namen und Fragmente in russischer Sprache und Schrift – ist somit ein bemerkenswerter Fall nicht nur von poetischer (und politischer) Mehrsprachigkeit, sondern auch von Mehrschriftlichkeit.Footnote 49 Das Gedicht stellt seine epochale Gegenwärtigkeit im Titel aus: * Nach dieser Zeile bricht der Krieg aus.Footnote 50

Hätten sich nicht Philolog:innen – es sind zahlreiche, wenn man die seit zwanzig Jahren geradezu explodierenden literaturwissenschaftlichen Forschungsaktivitäten zu poetischer Trans- und Multilingualität als Indikator nimmt – auf der jüngst v. a. von Till Dembeck überzeugend vorgetragenen Position »Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit«Footnote 51 dieser Herausforderung zeitgleich zu stellen?

Warum warten? Worauf? Wie der Krieg ausgeht? Ob man in zehn Jahren noch über den Autor spricht? Sein Gedicht klassisch wird?

Wieso schielt die Literaturwissenschaft auf die Literaturkritik? Um sie die Kohlen aus dem Feuer holen, sprich: die allfälligen Selektions- und Urteilsfehler machen zu lassen, die sich aus nachfahrender Distanz klüglich bespötteln lassen? Wie ist es um die philologische Urteilsfähigkeit bei unbesprochenen Gegenständen bestellt? Was hat man zu befürchten? Reputationsverluste? Risiken? Nebenwirkungen? Verlorene Wetten auf die Ewigkeit sind ähnlich melancholisch wie die Gegenwartsenzykliken von vorgestern. Aber deshalb nie zu wetten, wäre ewig schade.