Literatur ist ein Seismograf der Welt, in der sie entsteht.Footnote 1 Natürlich nicht nur und ausschließlich. Sie ist zugleich der Raum, in dem um Freiheit gegenüber der Welt gerungen wird. Aber noch in dem entschiedensten Subjektivismus und der stärksten Autonomiegeste, die der Welt den Rücken zu kehren suchen, ist sie in gewisser Weise Ausdruck von Empfindungen und des Weltbewusstseins ihrer Zeit. Wo sie dieses Bewusstsein als Wirklichkeit gestaltet, ist sie der Form nach eine je spezifische Gliederung des sinnlich Wahrnehmbaren.Footnote 2 Auch wenn wir heute Vorbehalte haben, an dieser große Tendenzen der Weltgeschichte abzulesen, wie es Erich Auerbach und seine Generation noch getan haben,Footnote 3 spricht doch einiges dafür, dass die Literatur trotz ihrer enormen Diversifizierung noch immer Aufschlüsse über kulturelle Ordnungen und das Bewusstsein unserer Zeit geben kann.Footnote 4

Obwohl ähnliche Prozesse sicher etwa für die USA und Großbritannien zu beobachten sind, hat man in den vergangenen Jahren für kaum ein literarisches Feld so klar den Umbruch von einer postmodernen Literatur der Innerlichkeit zu einem neuen Realismus konstatiert wie für das französische.Footnote 5 Nach Jahren der Reflexion des fragmentierten Selbst und des postmodernen Spiels mit der Wirklichkeit lasse sich seit Ende der 80er Jahre eine Rückkehr zum realistischen Roman, zur Verschmelzung von Faktualität und Erzählen, zur Autosoziografie feststellen, deren berühmteste Protagonisten – Annie Ernaux, Didier Éribon, Virginie Despentes und Édouard Louis – auch in Deutschland stark wahrgenommen worden sind und auch dort eine neue Literatur des sozialen Ernstes und des Klassenbewusstseins angestoßen haben.Footnote 6 Natürlich gibt es nicht nur eine realistische Literatur, die einem soziologischen Wirklichkeitsbegriff entspringt, so wie die genannten französischen Autofiktionen stark auf Pierre Bourdieus Werk fußen.Footnote 7 Auch besteht durchaus noch eine Literatur jenseits des Romans. Ist man aber gewillt, den Realismus-Begriff ästhetisch breiter anzusetzen, ihm Aspekte subjektiver, kompensatorischer, ja magisch durchdrungener Darstellungen von Wirklichkeit zuzuschreiben, so lässt sich zumindest die Kraft dieser Bewegung nicht leugnen, die sich in einem neuen gesellschaftlichen SelbstverständnisFootnote 8 vieler Schriftsteller:innen niedergeschlagen und ihren symbolischen Höhepunkt in der Verleihung des Nobelpreises an Annie Ernaux gefunden hat. Viel stärker als in der deutschen Gegenwart setzt sich in Frankreich fort, dass die Verhandlung der Welt in der Literatur noch immer nicht weniger als eine Verhandlung des Gemeinwesens ist; auch die fünfte ist noch eine »République des Lettres«.Footnote 9 Das Zeitalter eines neuen Ernstes und der Repolitisierung der Kultur, als dessen symbolische weltpolitische Zäsur im Rückblick 1989 erscheint, hat seine Substanz und seinen Ausdruck jenseits des Rheins in einem neuen Ringen um die Beschaffenheit der (sozialen) Welt gefunden. 2007 schreibt das Kollektiv Incultes, das ein wichtiger Akteur dieser Bewegung ist, zur Zukunft des Romans:

Mehr als die Frage nach dem ›Warum?‹ bedeutet uns jene nach dem ›Wie?‹: ›Wie die Pyramide erbauen?‹, hätte Flaubert gesagt; oder anders gesagt: Wie das alles zusammenhalten? Wenn es darum geht, den Roman unserer Gegenwart (und vielleicht den Roman überhaupt) aufzurufen und zu befragen, wird zumeist dessen Bezug zum Wirklichen befragt. Daran haben wir uns also gehalten. Was sind die Bezüge des Romans zum Wirklichen? Zur Welt unserer Gegenwart?Footnote 10

Wenn Literatur also ein Seismograf für Intensitäten der Gegenwart ist, was meine Ausgangsannahme war, dann lässt sich die Melancholie als Stoff, aus dem dieses Ringen hervorgeht, in den vergangenen Jahren nicht übersehen: Allein auf der Liste des wichtigsten Literaturpreises Frankreichs, des Prix Goncourt, finden sich in den letzten 20 Jahren reichlich düstere Bücher über zerstörte Beziehungen und sadistische Störungen, Gewalt und Krieg, Weltverlust, Sinnkrise der Moderne und den Abschied vom Menschen.Footnote 11 Es ist daher wenig verwegen zu sagen, dass der seit den 1990ern florierende französische Realismus Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise ist. Es stellt sich die Frage, welcher Natur diese Krise genau ist.

Ihr auf der Spur hat Jean-Christophe Bailly mit Le Dépaysement eine Rundreise durch Frankreich unternommen, mit der er im Jahr 2011 an die große Tradition der Tour de France anknüpft, die von Germaine de Staëls De l’Allemagne über die Tour de France par deux enfants, jenen Schulklassiker des 19. Jahrhunderts, der Einheit in den französischen Köpfen herstellen sollte, bis hin zur weltberühmten Radrundfahrt geht. Dabei ist Baillys Buch aber keine patriotische Feier des Hexagons, keine Erziehung zur Nation, die den immer schon erkannten Reichtum des Landes illustrierte. Vielmehr trägt es die Einsamkeit und Entrückung der Rêveries du promeneur solitaire in sich, ein Rousseau’sches Befremden über die eigene Zeit. Baillys Blick auf die Landschaften zwischen Rhein und Atlantik geht von der Frage aus, was Frankreich denn eigentlich sei, und damit vielmehr von einem Verlust, einer inneren Leere des Landes, die in den stets wiederholten Parolen des Front National (jetzt: Rassemblement National) und anderer Rechter von der Größe Frankreichs nur umso dumpfer widerhallt. Frankreich hat sich verloren, die Gewissheiten des republikanischen Universalismus greifen nicht mehr selbstredend.Footnote 12 Die Haltung zur und das Bewusstsein von Welt sind zum Problem geworden.Footnote 13

I.

japan zum zeichen: barthes und lévi-strauss

Natürlich ist es eine Konstruktion – und mag sie politisch noch so plausibel sein –, 1989 als Epochenzäsur anzunehmen. Vor allem gemeinsam mit 1789 (oder gar 1769, Napoléon Bonapartes Geburt) stellt sie einen suggestiven Rahmen dar, der das Zeitalter des westlichen Universalismus markiert.Footnote 14 Dieser umfasst systematisch einen ethischen und einen erkenntnistheoretischen Aspekt, den Hegels Philosophie mit dem Begriff von Geschichte als »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« einholt.Footnote 15 Seinen Ort aber hat dieses Bewusstsein in Paris, der Hauptstadt des langen 19. Jahrhunderts, die ihren Zentralismus in ein universalistisches Selbstverständnis wendet, das Eigene wird zum Maßstab der Menschheit erhoben. Kritik an dieser Vorstellung wird daher über Dezentralisierung formuliert, sie kommt als Denken des ›Anderen‹ daher, formuliert sich, in der französischen Tradition seit der Aufklärung, als »innerer Orient«.Footnote 16 Dieser wird gegen die normierende Gewalt des Zentrums imaginiert.

So erscheint 1970 – in der Schweiz – Roland Barthes’ Reich der Zeichen.Footnote 17 Es ist das Meisterwerk seiner Landschaften der Theorie, mit denen Barthes immer und immer wieder das Zentrum infrage gestellt hat.Footnote 18 Was Barthes schon in seinem kleinen Text über den ägäischen Archipel entfaltet hatte,Footnote 19 jene Welt flottierender Inseln, in der der Logos einst als gleißendes Licht erschienen war, wird in seinem Buch über ›Japan‹ systematisiert: eine Theorie des leeren Zentrums, die eine Kritik der universalistischen französischen Staatsräson ist. Wie für Jacques Derrida ist der französische Universalismus für Barthes nicht mehr Träger der Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern ein Akteur normativer und physischer Gewalt des Zentrums gegen die ›Peripherie‹, wie sie im Indochina- und Algerienkrieg massiv manifest geworden war, wie Barthes sie aber auch gesellschaftspolitisch empfand. Der harte, zivilisatorische Universalismus hatte für viele in der Generation Barthes’ seine emanzipatorische Kraft da verwirkt, wo er sich mit der Nation identisch gemacht hatte. Japan wird zu einer semiotischen Landschaft, anhand derer Barthes diese Kritik formuliert.

Ausgangspunkt von Reich der Zeichen ist eine phänomenologische Anlage der Theorielandschaft als Stadtlandschaft. Centre-ville, centre vide ist die Miniatur überschrieben, die im Zentrum des Buches steht und eine Leere markiert, die es zu umkreisen gilt: das unbetretbare Areal des Kaiserpalasts.Footnote 20 »Eine der zwei mächtigsten Städte der Moderne«, Tokyo also, in Kontrast natürlich zu Paris, europäische Hauptstadt der Moderne, folgt für Barthes nicht einer Logik der Fülle und Präsenz, sondern eines »leeren Zentrums« (centre vide), eines »heiligen ›Nichts‹« (›rien‹ sacré).Footnote 21 Keine Place de la Concorde, keine Place de la République – wie auch immer man die Zentren von Paris verorten will, auf die das Leben nicht nur zulaufe, sondern auf denen es sich finde, seine »›vérité‹ sociale«, seine »›plénitude‹ superbe de la ›réalité‹«.Footnote 22 Wahrheit, Fülle, Wirklichkeit – all diese Erkenntnisbegriffe verweisen auf jene Kette des Verstehens, die dem griechisch-rationalistischen Wahrheitsbegriff Europas entfließt, und den Jacques Derrida als »Logozentrismus« kritisiert hatte.Footnote 23

Entgegen den trivialen Einwänden unserer Gegenwart gegen die Dekonstruktion bedeutet das für Barthes nicht, dass es Wahrheit und Geltung nicht gebe. Sie kann jedoch nicht mehr schlicht als Zentrum vorausgesetzt werden, sondern muss, wie jener von Barthes ins Zentrum gestellte Umweg um den verbotenen Bezirk des Tokyoter Kaiserpalasts, jedes Mal neu gesucht und begründet werden.Footnote 24 Dabei kann die Setzung des Zentrums vor allem eines nicht mehr tun: von der Verkörperung dieser Suche, vom Subjekt und seiner Stimme abstrahieren. In seinen posthum veröffentlichten Vorlesungen La préparation du roman, die er in den Jahren 1978–1980 vor dem Collège de France hielt, wird Barthes diesen Prozess rekapitulieren und ihn zum poetologischen Programm erheben: »Dieses ist ein allgemeingültiges Prinzip: Was nicht mehr auszuhalten ist, ist die Verdrängung des Subjekts – welche Risiken auch immer Subjektivität mit sich bringt.«Footnote 25 Universalität kann nur aus einem Konkreten heraus hergestellt werden, wobei sich das Konkrete gerade über die subjektive Stimme oder écriture zu einem Allgemeinen in Bezug setzen, sich zum universellen Horizont ausdehnen kann.Footnote 26 Barthes geht es also nicht um Selbstbefindlichkeit.

In La chambre claire. Note sur la photographie formuliert er einen gegen den individualistischen Erfüllungsgedanken gerichteten Gültigkeitsanspruch für Erkenntnis: »Ich mußte mir eingestehen, daß meine Lust ein unvollkommener Mittler war und daß eine auf ihr hedonistisches Ziel beschränkte Subjektivität das Universale nicht zu erkennen vermochte.«Footnote 27 Im Sinne der Fortführung der Freiheitsfrage der Moderne geht es Barthes um eine Befragung der Normierung und der Grenzen von Subjektivität.Footnote 28

Schon bei Barthes steht die Kritik des französischen Universalismus für die Kritik an einer exklusorischen Dynamik des Rationalismus der Moderne. Bei Claude Lévi-Strauss weitet sich diese Kritik konsequent zur Kritik an der standardisierenden Macht der Vereinheitlichung nach westlichem Maß. Globalisierung ist für den späten Lévi-Strauss das sich durchsetzende Prinzip westlicher Denk- und Lebensformen. Dies formuliert er in einer Art Vermächtnis in seinen drei Tokyoter Vorlesungen von 1986, die er unter dem Titel L’anthropologie face aux problèmes du monde moderne bündelt.Footnote 29

In ihnen geht Lévi-Strauss von einem historischen Scheitern des europäischen Humanismus als Überlegenheitsideologie aus – er unterscheidet dabei einen »klassischen« und einen »exotistischen« Humanismus des 19. Jahrhunderts – und stellt diesem einen »anthropologischen Humanismus« entgegen, der aus den Schrecken des 20. Jahrhunderts hervorgegangen und »demokratisch«, weil »doppelt universell« sei: Indem dieser ausgehend von einer grundsätzlichen biologischen Gleichheit nichts Menschliches als dem Menschen fremd erachte, betone der anthropologische Humanismus die strukturelle Gleichwertigkeit der Kulturen; zudem versöhne er den Menschen mit der nichtmenschlichen Natur.Footnote 30 »Wird dieser anthropologische Universalismus besser als die anderen in der Lage sein, Antworten auf die Fragen zu finden, die uns heimsuchen?«Footnote 31

Was Lévi-Strauss umtreibt, ist, um es kurz zu sagen, die Tatsache, dass evolutionärer und kultureller Fortschritt nur aus der Zusammenarbeit differenter Akteure entstehe. Lévi-Strauss ist Epigenetiker: Differente biologische und kulturelle Formen gehen für ihn aus umweltbedingten Impulsen hervor. Kontakt sei daher überlebenswichtig, denn aus der Auseinandersetzung entstünden neue Kulturansätze und letztlich auch Einschreibungen in die Gene. Wenn also Differenz zunehmend entfalle, sei die Entwicklungsfähigkeit der Menschheit, ihr Entfaltungs- und Innovationspotenzial bedroht.

Die Welt strebe aber genau zu einer »civilisation mondiale«, die von den Kooperateuren im Sinne einer Durchsetzung westlicher Lebensstile immer stärkere Homogenisierung einfordere. Aufgrund dessen gäbe es kaum mehr Überschüsse in der Kooperation, beraube sich die Welt des Potenzials zur Innovation durch Reibung und Integration von Differenz.Footnote 32 Lévi-Strauss formuliert damit in gewisser Weise noch einmal jene Sorge gegenüber den Standardisierungseffekten der Globalisierung, die in der Stoßrichtung ganz ähnlich schon AuerbachFootnote 33 vertreten hatte, dessen Kritik wiederum schon auf einem Denken des frühen 19. Jahrhunderts fußt.Footnote 34

Lévi-Strauss’ Rede ist dabei deshalb interessant, weil sie keinen Relativismus, weder biologischen noch kulturellen, vertritt. Es geht ihm nicht um eine simplizistische Ablehnung der Menschheitsidee. Schon gar nicht hält es Lévi-Strauss mit der Idee biologischer (»rassischer«) Reinheit, die er grundlegend bereits in seiner UNESCO-Schrift Race et histoire von 1952 entkräftet hatte.Footnote 35 Den Begriff der »Rasse«, der die europäische Anthropologie so fundamental geprägt hat, entplausibilisiert er noch einmal ausführlich in seinem Kapitel »›Race‹ – un terme impropre«.Footnote 36 Nur sind Universalismus und Globalisierung für Lévi-Strauss nicht das Gleiche. Universalismus bedeutet für ihn, die universelle Grundlage der kulturellen Tätigkeit des Menschen anzuerkennen, wobei menschheitlicher Fortschritt nur im Kontakt zwischen den Kulturen entsteht. Globalisierung aber bedeute zunehmende kulturelle Standardisierung, aufgrund derer Stagnation drohe. Und hier nun kommt Japan ins Spiel: Indem die Inselwelt sich trotz aller Öffnungen eine starke Eigenheit gegenüber dem Westen bewahrt habe, habe sie ihre »savoir-faire traditionnels« bewahrt. Es sei nicht wie andere nicht-westliche Länder der totalen Adaptation westlicher Lebensformen erlegen, sondern habe ein Spiel aus Offenheit und Verschluss zur Entwicklung eines eigenen Wegs betrieben. Daraus könne der »anthropologische Universalismus« viel lernen.Footnote 37

Es wäre interessant, Lévi-Strauss’ Reden historisch genauer zu lokalisieren: Gehören sie zum globalisierungskritischen Denken im Frankreich der 80er Jahre? Oder sind sie eher die Fortschreibung einer Trauer, die in den Tristen Tropen ihren Grund gefunden hatte? Klar erscheint, dass auch Lévi-Strauss’ ›Japan‹ eine Konstruktion ist,Footnote 38 die eine bestimmte Verortung zum westlichen Universalismus erlaubt. Mit Barthes teilt er eine tiefe Skepsis gegenüber der Fortschrittsteleologie einer westlichen Moderne, die sich selbst zu universalisieren sucht. Wenn Barthes vor allem auf deren gewaltbehaftete Exklusionen zeigt, so Lévi-Strauss auf die sinkenden Innovationspotenziale und Überlebenschancen einer Menschheit, die Universalismus mit dem westlichen Modell gleichsetzt.

II.

hase und igel des geistes

Den von Barthes und Lévi-Strauss vorformulierten geschichtspolitischen Herausforderungen sieht sich Frankreich heute massiv ausgesetzt: Während der europäische Universalismus durch seine imperiale Gewalt weltweit infrage gestellt wurde und heute stark diskreditiert ist,Footnote 39 wird er zugleich von identitären und neo-nationalistischen (relativistischen) Bewegungen in westlichen Gesellschaften selbst abgelehnt, denen Vielfalt und Vermischung der Horror sind. Frankreich ist von beiden Aspekten betroffen, denn, wie keine zweite Gesellschaftsform, ist der französische Republikanismus aus den erkenntnistheoretischen Bedingungen und ethischen Forderungen des Universalismus von 1789 hervorgegangen. Hierin besteht die Verbindung der realistischen Konjunkturen nach 1789 und nach 1989: Sie stehen in einer Relation beschädigter Freiheitserzählungen.

Wenn es einigen Denkern schien, als sei die Zäsur von 1989 das Zeichen einer intellektuellen Situation, in der keine Alternative zum westlichen Universalismus mehr bestünde, so war dies Ausdruck einer narzisstischen Fehleinschätzung.Footnote 40 Das ist heute offensichtlich. Bereits 2007 schrieb Camille de Toledo:

Der Geist vergisst immer den Körper unseres Seins.

Er ist schneller und verachtet dessen Trägheit.

Er rennt wie der Hase, um das Ziel zu feiern, beugt sich den neuen Bedingungen der Gegenwart, vollzieht seine Verwandlungen, nimmt die neuartigen Gegebenheiten der Welt zur Kenntnis, interpretiert sie. Er schreit: »Die Mauer ist gefallen! Die Mauer ist gefallen!«, klammert sich an die antitotalitäre Erregung, an den Triumph dessen, was wir beharrlich als Freiheit definieren. Und dabei vergisst der Hase die Schildkröte, das Gewicht, die Persistenz der Vergangenheit, ihre Fähigkeit, das sie erschütternde Ereignis zu überleben. Der Geist sieht die verschreckten Gesichter all derer nicht, für die Freiheit eines dieser Worte ist, das man in den Bibliotheken der Hoffnung abstellt und aus Respekt vor dem Schönen, Kultivierten mit einem kleinen Staubtuch auf Hochglanz poliert, das einen aber, wenn man es am Samstag oder Sonntag betrachtet, ratlos und oft unglücklich hinterlässt.

Der Geist hat während und nach dem Fall der Berliner Mauer die Traurigkeit nicht gesehen.Footnote 41

Der Geist der Freiheit und die Hysteresis der Körper spielen Hase und Igel (der hier mit Jean de La Fontaine treffender eine Schildkröte ist). Im Gegensatz zur westlichen Euphorie steht 1989 nicht als Zäsur der absoluten Freiheit, sondern der Widerständigkeit all jener, die nie ihre Profiteure waren und sich jetzt zurückgelassen fühlen. Sie ruft Melancholie, Angst, Widerstand und Ranküne auf den Plan. So ist sie nicht Symbol des Triumphs einer Weltordnung, sondern vielmehr Ausdruck des Verlusts eines Ordnungssystems.

Schon seit Montaigne lassen sich der Rückzug auf die sinnliche Erfahrung und die Rehabilitierung der Phänomene als Strategien ausmachen, auf den Zweifel und das Zusammenbrechen von Ordnungssystemen zu reagieren.Footnote 42 So wird die Wirklichkeit auch in der großen realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts als eine republikanische Kraft gegen die Restauration aufgerufen, wenn sie gegen die Worte des allgemeinen, öffentlich legitimierten Diskurses ihre eigene Ordnung der Dinge stellt.Footnote 43 Der daraus hervorgehende Realismus meint also gerade nicht, dass die Realität abgebildet wird. Als »‑ismus« zeigt er vielmehr die Realität als Problem an, setzt die Welt nicht als gegeben voraus, sondern befragt ihre Darstellung als spezifische Haltung zur Welt.Footnote 44 In der Gliederung des sinnlich Wahrnehmbaren und in der Darstellung in der Sprache erfindet er eine eigene Weise der Einrichtung von Welt und Gesellschaft.

III.

realismus

Die Realismus-Bewegung seit den 1990er Jahren entspringt dieser Episteme des Übergangs. Sie macht sich auf die Suche nach einer Welt, deren Kernprämisse ist, dass ihre gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mehr von einem zentralistischen Universalismus her erfasst werden kann. Wie aber soll sie dann die Welt ordnen, eine Weltdarstellung vornehmen, die Geltung haben, ja wahr sein kann? Literatur kann das philosophische Dilemma nicht lösen. Sie verweist vielmehr auf die Gewinne und Verluste, auf die Hoffnungen und Ängste, die mit der Suche einer neuen Universalität einhergehen. Insofern sie diese Affekte in ihrer Verwobenheit zum Ausdruck bringt, sie in Lebenswelten einbindet und erfahrbar macht, hat sie bereits Teil an der historischen Bewegung. Gleichzeitig sind in Frankreich wichtige literaturwissenschaftliche Studien erschienen, die die neue realistische Ästhetik zu greifen suchen.

Der Frage nach der Stellung der realistischen Romane in unserer Zeit hat Laurent Demanze seine Studie Un nouvel âge de l’enquête. Portraits de l’écrivain contemporain en enquêteur gewidmet.Footnote 45 Seine Grundthese ist, dass sich das Verhältnis zur Totalität von Gesellschaft grundsätzlich gewandelt hat. Die große realistische Literatur des 19. Jahrhunderts habe eine gemeinsame Erfahrung des sozialen Raums noch vorausgesetzt, dessen Störungen sie im Sinne einer Bildungsgeschichte auf die Beschreibung des Einzelnen und den Zustand des Gesamten zurückführt. Émile Zolas Naturalismus schließlich entfaltet vom Einzelfall aus eine Pathologie des Sozialen, die seiner Zeit daher plausibel erscheint, weil sie Totalität der Welt im Sinne einer ›wahren‹ Wirklichkeit voraussetzen kann. Dass »race«, »milieu« und »moment« Faktoren der Vorhersehbarkeit von historischer Entwicklung sind, basiert auf der Annahme, dass es eine republikanische Ordnung von Wissen und Gesellschaft gibt. Im Abschmelzen genau dieser Vorannahme muss der Realismus unserer Zeit hingegen das, was die Wirklichkeit wäre, überhaupt erst erschaffen: »Die Wirklichkeit ist genau das Phänomen, dem in der hartnäckigen Arbeit investigativer Kritik und figurierender Annahme überhaupt erst eine Form verliehen werden muss, um zu versuchen, das zu greifen, was sich entzieht.«Footnote 46 Der Einzelfall ist nicht mehr das, was pathologisch auf das gesicherte Ganze verweist, in deren Normalität er als Abweichung aufgeht; vielmehr erscheint er als die einzig gesicherte Wirklichkeit, von der aus ein Ganzes erst noch zu konstruieren wäre.Footnote 47 Demanze spricht in diesem Zusammenhang von »micropolitiques locales« im Gegensatz zur »position de surplomb de la littérature engagée«.Footnote 48

Damit aber betreibt der neue Realismus auch wahrnehmungsästhetisch, was Alexandre Gefen als eine Hauptfunktion der französischsprachigen Gegenwartsliteratur beschrieben hat, nämlich reparative Prozesse.Footnote 49 Die therapeutische Kraft entfaltet sich wesentlich auf der motivischen, narratologischen, (gegen-)diskursiven und psychologischen Ebene einer literarischen Reparation des (individuellen oder kollektiven) Selbst. Dabei muss sie aber jene Universalität erst miterschaffen, mit der sie die »Verluste« der Moderne zu transzendieren sucht.Footnote 50 Die Wirklichkeit, die der neue Realismus erschafft, ist daher notwendig fragmentarisch, Totalität bleibt ein Zielhorizont, der als »expérience poétique«Footnote 51 aufscheint. Von besonderem Interesse sind daher in diesem Zusammenhang Romane, die selbstreflektorisch diesen Prozess zu gestalten suchen.

Ohne den Romanen hier in der gebotenen Kürze auch nur im Ansatz poetisch Rechnung tragen zu können, seien abschließend zwei jüngste Beispiele aufgerufen, die mit je eigener Intention, aber dezidiert, die hier beschriebenen Probleme bearbeiten: Matthias Enards Jahresbankett der TotengräberFootnote 52 und Mohamed Mbougar Sarrs Geheimste Erinnerung der Menschen (La plus secrète mémoire des hommesFootnote 53).

IV.

reparationen

War schon der mit dem Goncourt ausgezeichnete Roman KompassFootnote 54 im Kern eine Suche nach Universalität in den Trümmern der zerstörten Beziehungen zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹,Footnote 55 so ist das Jahresbankett der Versuch einer reparativen Totalgeschichte, in der den Unterlegenen und Opfern der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren kann. Diese Geschichte wird, ganz französisch, als Geschichte der Gewalt der Moderne und ihres zentralistischen Rationalismus aufgerufen, deren erster Feind, das wird in der postkolonialen Diskussion um den Universalismus oft vergessen, die ›innere Provinz‹ ist. Diese aber wirft – in suggerierter Verbindung zu den philosophischen Reden der Totengräber über Idealismus und Materialismus als Grundhaltungen zur Welt bei ihrem barocken Festbankett –Footnote 56 die Frage nach Leben und Tod, nach dem großen Zyklus alles Lebendigen auf.

Der Roman ist den »wilden Denkern« gewidmet, das erste Kapitel heißt zudem »Das wilde Denken«, womit Enard Lévi-Strauss’ Begriff der »pensée sauvage«, der Bezeichnung eines kosmologischen Denkens naturnah lebender Kulturen aufruft – und mit dem Erzählaufbau gleich in doppelter Hinsicht nicht nur den europäischen Exotismus ad absurdum führt, sondern auch Lévi-Strauss’ »anthropologischen Universalismus« selbst kommentiert. Der Antiheld nämlich, der seine Geschichte erzählt, ein gewisser David Mazon, ein aufstrebender Jung-Ethnologe, bricht von Paris in das vergessene Département Deux-Sèvres nördlich von La Rochelle auf, um dort Feldstudien über das Landleben zu betreiben. Damit steht er in der langen Tradition der Anthropologie, die von den Zentren der Zivilisation aufbricht, um das »Wilde«, das Fremde, die Vergangenheit zu kartografieren. Um es kurz zu sagen: Das Land wird David verschlucken und das Stadtleben und seine Überlegenheit zunehmend infrage stellen: »Ein Provinzler kann Pariser werden, gewiss, aber umgekehrt? Unmöglich. Heute, einige Monate später, bin ich noch immer hier, dreißig Kilometer entfernt: ein Pariser auf dem Land, eine ›Rückkehr zur Scholle‹, eine Figur aus einem Comic, eine Karikatur.«Footnote 57 Die Liebe spielt ihre Rolle, aus dem Beobachter wird ein mit dem Leben verstrickter Akteur. Schon die ironischen fiktiven Tagebucheinträge über die Würmer im Badezimmer der angemieteten Unterkunft setzen den anthropologischen Blick auf das Wilde der Lächerlichkeit aus. Dass die moderne Weltsicht nicht weniger »bricolage«, also Bastelei, betreibt, um sich die Lebenswelt zu ordnen, als das kosmologische Denken der sogenannten Naturvölker, das hatte schon Lévi-Strauss eingestanden. Die Differenzannahme der disziplinären Anthropologie löst sich hier in die Erkenntnis des Anthropologischen auf: in der strukturalen Erkenntnis von der ordnenden Funktion von Kultur überhaupt.

Was aus den Familiengeschichten der David umgebenden Personen aufsteigt wie der Nebel aus dem Sumpf des Poitevin, ist die Verbundenheit der Schicksale, das Leid von Mensch und Tier, das die große Geschichte im Landstrich des Marais Poitevin zurückgelassen hat. In Form eines magischen Realismus wird diese Vergangenheit nach und nach erzählt und sichtbar, tritt neben die Lebenden, formt eine Totalgeschichte, in der Lebende und Tote verbunden sind – gerade so, wie im »wilden Denken« der Naturvölker die Welt belebt ist. In dieser durchaus romantischen Totalgeschichte wird nicht nur der Zyklus des Lebens wiederhergestellt, sondern den historischen Schicksalen schließlich auch Gerechtigkeit zuteil. Dem Ausschluss aus der Rationalität des Zentrums wird eine lebensbejahende Kraft abgewonnen, die nicht nur gegen die klassische Aufstiegsgeschichte nach Paris (»on monte à Paris«) steht, sondern auch gegen die Abspaltungspolitik des Zentrums. Der Roman kann die Geschichte natürlich nicht eigentlich reparieren; er nimmt aber eine symbolische Verhandlung vor, die eine andere Universalität aufscheinen lässt.

Wenn sich in der Diegese von Enards Roman das Textvorhaben von David Mazon zunehmend in Lebenswirklichkeit auflöst und sich so unweigerlich die romantische Frage nach Authentizität stellt, ruft Mohamed Mbougar Sarrs mit dem Goncourt gekrönter Roman die Frage auf, wie Welt in einen wahrhaftigen Text überführt werden könne: Was ist wahre, universelle Literatur?

Diese Frage wird im Roman als Lebensfrage gestellt, indem in der Diegese zwei mögliche Antworten durchgespielt werden: Diégane Latyr Faye und sein bester Freund Musimbwa, ebenfalls Schriftsteller im Werden, treffen entgegengesetzte Entscheidungen in der Frage, ob ihre Suche nach einer universellen Kraft der Literatur in der Hinwendung zum eigenen Leben oder gerade in der Abstraktion von diesem liege. Musimbwa kehrt zu den afrikanischen Orten und Erinnerungen seiner Traumatisierung zurück, die in der Ermordung seiner Eltern in einem willkürlichen Massaker an der Dorfbevölkerung begründet ist. Schreiben bedeutet für ihn, von dieser Wunde aus das Selbst zurückzufinden, sich mit der Zeugenschaft in die Gemeinschaft zu reintegrieren und so Schreiben und Heilen im Tun zu verbinden. Diégane dahingegen nimmt an, dass die eigenen Verletzungen, so wie alles Menschliche, nicht einzigartig seien. Darin liegt für ihn die harte, kaum überwindbare Herausforderung des Schreibens: Es muss sich vom Individuellen lösen, das Erfahrene allgemein erfahrbar machen, um eine wahrhaft menschheitliche Kraft zu entfalten. Nur dann kann Literatur »wirklich«, universell sein. Und: Nur dann kann sie befreien. Diégane macht sich daher auf die Suche nach einem geheimnisvollen, verschwundenen Autor namens TC Elimane, dessen Roman Le labyrinthe de l’inhumain für ihn absolute Literatur ist.

In der Diegese wird Elimanes Erfolg allerdings nicht nur von der Presse zerrissen, sondern auch von der renommierten Anthropologie am Collège de France als »unafrikanisch« gebrandmarkt und so als vermeintliches Plagiat entlarvt: Hat Elimane sich ›nur‹ die europäische humanistische Tradition angeeignet? Als Afrikaner Weltliteratur zu schreiben, sich Stoffe anzueignen und umzuformen, wird Diégane so als beinahe unmögliches Unterfangen vor Augen geführt – und genau hier trifft sich das diegetische Wissen mit jenem des Autors Mohamed Mbougar Sarr, dessen Roman sich einschreibt in die lange Geschichte einer Rezeption frankophoner Literatur aus Afrika, die seit ihren Erfolgen bei den großen Preisen und der Leserschaft der France métropolitaine als unauthentisch und letztlich plagiiert delegitimiert wurde.Footnote 58 Mohamed Mbougar Sarr schreibt seinen Roman in diese Beziehungsgeschichte ein, darauf verweist schon die Doppelveröffentlichung durch die Verlagshäuser Philippe Rey (Paris) und Jimsaan (Dakar).

Wenn im Roman schließlich die Kritiker einer nach dem anderen mysteriös versterben, eine »magie noire«, eine psychologische Präsenz Elimanes die Täter nicht entkommen lässt, so ist diese wie das leere Zentrum, um das sich das Buch dreht. Sie ist Handlungsmotiv und poetische Dynamik zugleich: Diéganes Suche nach Elimane ist Sarrs Suche nach den Möglichkeiten wahrer Literatur, die menschheitliche Bedeutung hätte. Poetisch spielt Sarr dies in den Anleihen bei Ouologuem, Borges, Joyce, Bolaño und anderen durch. So wird seine literarische Detektivgeschichte auf allen Ebenen zur Befragung der Möglichkeiten von Weltliteratur, die Welt in Literatur und Literatur von menschheitlicher Bedeutung in einem wäre.Footnote 59

Die beiden reparativen Anläufe an den Roman führen so die Zerstörung des Universellen im anthropologischen Blick und im (literarischen) Humanismus der europäischen Moderne vor und machen sich auf die ethische wie erkenntnistheoretische Suche nach einer neuen Universalität. Dass das von ihnen formulierte Problem nicht (allein) Ausdruck einer sozialen Krise ist, sondern der Krise einer Weltauffassung, auf der das Soziale fußt, zeigt, mit Auerbach, dass sie sich als Grundproblem der Darstellung von Welt manifestiert. Gesucht werden Formen der Weltbeschreibung, in denen die Verluste der Moderne, ihr unermesslich Irreparables, dennoch in eine Zukunft überführt werden können, in der das Argument einer geteilten Welt auf neue Weise Geltung hätte. Der ›neue Realismus‹ markiert unsere Gegenwart von 1989 so als Zeit des Übergangs.