Über das ältere Genre der Dingbiographie hinaus verhandeln literarische Fiktionen der Gegenwart inzwischen Fragen der kolonialen Provenienz von Objekten und musealen Sammlungen. Während es in Adas Raum (2021) von Sharon Dodua Otoo um die Herkunft und Handlungsmacht eines Fruchtbarkeitsarmbands geht, thematisiert der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Roman La plus secrète mémoire des hommes (2021) des senegalesischen Autors Mohamed Mbougar Sarr die Transmission von immateriellem Kulturgut, konkret: von einem fiktiven Mythos. Dabei wird die Frage nach der kolonialen Plünderung von OraturenFootnote 1 auf eine ironische Weise gespiegelt.

Der Ich-Erzähler des Romans, ein Student aus dem Senegal, begibt sich von Paris aus auf die Spuren eines fiktiven Literaturskandals von 1938. Während die Literaturkritik den bis dahin unbekannten Autor des Romans Le labyrinthe de l’inhumain namens T. C. Elimane zunächst zu einem »schwarzen Rimbaud« stilisierte, wurde er wenig später mit Plagiatsvorwürfen überzogen. Ein »Professor für die Ethnologie Afrikas« am Collège de France behauptete, Elimane habe den Gründungsmythos einer von ihm erforschten senegalesischen Ethnie namens »Bassères« übernommen. Er selbst habe die Erzählung 1930 während eines Forschungsaufenthaltes im Senegal gehört und 1931 Marcel Griaule und Michel Leiris erzählt, der ihn angeblich in L’Afrique fantôme zitiere.Footnote 2 Die Übernahme dieses fiktiven Mythos bezeichnet der Ethnologe als Plagiat. Elimane habe ihn möglicherweise mit der »noblen Absicht«, die Kultur der Bassères bekannt zu machen, abgeschrieben, aber warum habe er diese dann nicht auch genannt? Warum tue er so, als verdanke sich alles in seinem Roman seiner eigenen Vorstellungskraft?Footnote 3 Nicht die Praktiken der kolonialen Aneignung und ihre Rechtfertigung sind hier gemeint, vielmehr delegitimiert die ethnographische Autorität die Autorschaft des senegalesischen Autors. Als dann ein weiterer Professor der gleichen Institution imperialen Wissens Elimanes Roman als »pillage« (Plünderung) literarischer Werke von »europäischen, amerikanischen und orientalischen Autoren der Vergangenheit«Footnote 4 entlarvt, ist das Schicksal des Werks besiegelt. Der Verlag zieht Le labyrinthe de l’inhumain aus dem Verkehr und der Autor verschwindet aus der Öffentlichkeit.

Die Episode ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Sarr fiktionalisiert die Affäre um die Plagiatsvorwürfe, die dem malischen Autor Yambo Ouologuem 1968 gemacht wurden, als die Kritiker in Le devoir de violence Anleihen u. a. bei Graham Greene und André Schwarz-Bart erkannt haben wollten. Dabei wird der doppelte Maßstab deutlich: Was bei einem westlichen Autor als intertextuelle Collage oder Umdichtung gilt, wird bei einem Autor aus Afrika als Plagiat gebrandmarkt. Sarr gibt dem Vorwurf des geklauten senegalesischen Mythos eine eigene satirische Wendung. Die Recherchen des Ich-Erzählers bringen ans Licht, dass der Ethnologe »Henri de Bobinal« sich den Mythos aus rassistischen Motiven ausgedacht hat, weil ihn das Erscheinen des Romans eines Afrikaners so verstört habe.Footnote 5 Der Vorwurf der Aneignung stellt sich als Mittel heraus, Elimane zum Schweigen zu bringen. Die Karikatur des weißen Ethnologen verweist auf eine grundlegende Asymmetrie: Während europäische Autoren sich bei der in Afrika aufgezeichneten Oralliteratur bedienen, sie entstellen oder am Ende vielleicht zum Teil selbst erfunden haben – so schon die Persiflage auf »Fritz Shrobénius« bei Sarrs Referenzautor Ouologuem –, steht ein Autor aus Afrika unter Verdacht, nur ein kollektives Erbe fortzuschreiben und seine eigene Ethnie beklaut zu haben. Mit dem Plagiatsvorwurf wird Elimane (wie Ouologuem)Footnote 6 die Teilhabe an der autonomen Literatur und ihrer Konzeption von individueller Autorschaft verweigert. Sarrs Roman reklamiert auf diese Weise ein symmetrisches Recht auf Plünderung. Er lässt Elimane seinem Verleger, dem die literarischen Anleihen im Manuskript noch vor der Veröffentlichung aufgefallen waren, sagen: »la littérature est un jeu de pillage«.Footnote 7 Bereits der fiktive Literaturkritiker von L’Humanité hatte auf den Plagiatsvorwurf reagiert, indem er Le labyrinthe de l’inhumain als spielerische »réécriture« der Literatur »de Homère à Baudelaire«Footnote 8 verstand und die Geschichte der Literatur zu einer einzigen Geschichte von Plagiaten erklärte.Footnote 9 Mit der Figur Elimanes, der danach strebt, sein Leben in das Buch der Bücher zu verwandeln, erfindet Sarr einen afrikanischen Vorläufer von Jorge Luis Borges und Roberto Bolaño. Wie Elimane erweitert Sarr dieses Modell um die Synthese von Literatur und Oratur.

I.

aufzeichnung und aneignung

Voraussetzung für den Plagiatsvorwurf und den Ausschluss aus der Sphäre individueller Autorschaft ist die Verschriftlichung von Oraturen. Geistiges Eigentum ist an die Schriftform oder zumindest an ein materielles Zeugnis gebunden – und das nicht nur im westlichen Urheberrecht, wie eine andere Szene der Gegenwartsliteratur zeigt. Im ersten Kapitel ihres autobiographischen Berichts Menschwerdung eines Affen (2020) reflektiert die deutsche Ethnologin und Afrikanistin Heike Behrend die Erfahrung einer »Schreibstunde« bei den Tugen in Kenia. Während ihrer Feldforschung in den 1980er Jahren beobachtete sie »die Sorgen, die sich einige der Ältesten um ihre Worte und Geschichten machten«. »Kesir«, das Wort für Schreiben, bedeute u. a. »etwas in Besitz nehmen«: »Während die im Alltag gesprochenen Worte allen gehörten, überführte das Aufschreiben sie in ein Besitzverhältnis. Wenn ich etwas aufschrieb (oder auf Tonband aufnahm), dann wurde das Geschriebene, ihr Wissen, mein Besitz.« Die Ethnologin – so die Befürchtung – könnte das Gesagte »verdrehen und verfälschen« oder »gegen viel Geld in Europa verkaufen«, während sie »leer ausgingen«. Behrends Fazit: »Die Überführung in Schrift schuf also eine asymmetrische Situation, einen ungleichen Tausch, bei dem sie sich als potenzielle Verlierer sahen.«Footnote 10

Seit dem 19. Jahrhundert wurden Oraturen vermehrt zum Objekt ethnologischer, sprachwissenschaftlicher, kolonialer und missionarischer Begierde. Im Zeichen der sogenannten Rettungsanthropologie entstand ein äußerst umfangreiches Korpus von verschriftlichten Liedern, Erzählungen, Mythen, Sprichwörtern, zeremoniellen und religiösen Texten. Was aufgezeichnet wurde, war aber nie ein »Original«. Alle Beteiligten – Erzähler:innen, Dolmetscher:innen, Ethnolog:innen – hatten Einfluss auf den Text und konnten Teile zusammenfassen, weglassen, ausbauen oder an den Geschmack des Publikums anpassen, was in der Situation kolonialer Asymmetrie zu deutlichen Verzerrungen geführt hat, wie u. a. Isidore Okpewho argumentiert.Footnote 11

In Europa blieben die Texte zunächst einem Fachpublikum vorbehalten, das sie als Quellen für linguistische Untersuchungen oder als Belege für Theorien über »Totemismus« und »Animismus«, »primitive Mentalität« und den »Ursprung der Literatur« heranzog. Nach 1900 entdeckten die Autor:innen der Avantgarde in diesem Textkorpus eine Ressource der ästhetischen Regeneration und der Auflehnung gegen die bürgerliche Institution Literatur. Die wissenschaftlichen Sprachproben der ethnologischen Forschung wurden auf Dada-Soiréen vorgetragen, als Literatur gedruckt und ohne Rücksicht auf Gattungsunterschiede zu Märchen oder Sprichwörtern gemacht. Autoren wie Carl Einstein oder Blaise Cendrars und Verleger wie Eugen Diederichs publizierten Anthologien und versammelten darin die Literatur der Anderen, so wie die Museen die »Kunst der Anderen« ausstellten.Footnote 12 »Kaum eine Kolonie wurde bei der […] Jagd nach Märchentexten ausgespart«, bilanziert Doris Jedamski und betont, dass das »im Schutz von Kolonialherrschaft« gesammelte Textmaterial bis heute »ausgiebig Verwendung findet«.Footnote 13

Ein Beispiel für die verlegerische Ausschlachtung ist die 2021 bei Reclam erschienene Anthologie Die schönsten Märchen aus Afrika. Zwar enthält der Band ein Quellenverzeichnis, dieses aber ist irreführend. Die genannten Quellen sind Neuauflagen älterer Anthologien – darunter Carl Einsteins Afrikanische Legenden (1925) und Carl Meinhofs Afrikanische Märchen (1917) aus der Reihe »Märchen der Weltliteratur« des Diederichs Verlags – und beruhen ihrerseits auf noch weiter zurückliegenden Sammlungen. Damit verschleiert das Verzeichnis, wer die Texte wann, unter welchen Bedingungen und mit welcher Absicht aufgezeichnet hat. Während Museen zunehmend über die Provenienz und Geschichtlichkeit der Exponate informieren, präsentiert Reclam die »Märchen« als zeitlose Werke, deren Herkunft kein wesentlicher Teil ihrer Bedeutung ist. Von der mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit artikulierten Kritik an kultureller Aneignung oder am Umgang mit kolonialen Sammlungsbeständen bleibt die Reihe im Reclam Verlag völlig unberührt.Footnote 14

Ob immaterielles Kulturgut nicht nur angeeignet, sondern geklaut werden kann, war Thema einer Debatte, die sich Anfang der 1990er Jahre in der kanadischen Presse entzündete. »Stop stealing native stories«, forderte die Anishinabe-Schriftstellerin Lenore Keeshig-Tobias in The Globe and Mail.Footnote 15 In ihrem Artikel kritisiert sie, dass weiße Kanadier:innen in Literatur und Film die Geschichten der First Nations erzählen, die diese selbst nicht mehr erzählen können, nachdem ihnen an Residential Schools mit brutalen Methoden die eigene Sprache ausgetrieben wurde und sie am Markt marginalisiert waren. Die erwartbare Reaktion eines Leserbriefs, namentlich von Alberto Manguel: »No one can ›steal‹ a story because stories don’t belong to anyone.«Footnote 16 Dass der Fall doch komplizierter lag, spiegelte sich in den Reaktionen aus der Rechtsanthropologie, insbesondere von Rosemary Coombe, die auf den Konflikt konkurrierender Eigentumsbegriffe hinwies sowie auf die Schwierigkeit, innerhalb eines westlich-liberalen rechtlichen Rahmens Ansprüche nach anderen Rechtsordnungen geltend zu machen. Darin sieht sie aber auch ein subversives Potenzial: Indem First Nations das koloniale Recht mit eigenen Begriffen belagern, stellen sie seine Kategorien und seinen Gültigkeitsanspruch in Frage.Footnote 17

Auch das Literarische steht damit vor seiner Neuverhandlung: Sarr, Behrend und Keeshig-Tobias fordern es als Kategorie heraus, die nicht voraussetzungslos und universal gültig ist, sondern in konkreten Medienpraktiken verfertigt wird. An den bislang vernachlässigten Anthologien und Geschenkbüchern, wie dem erwähnten von Reclam, kann eine Literaturwissenschaft der Gegenwart Marktbedingungen, Verlagslandschaften und Formen der Zirkulation untersuchen. Von hier aus lassen sich einerseits optimistische Narrative einer immer inklusiveren und immer weniger eurozentrischen Gegenwartsliteratur überprüfen. Andererseits wird man die Geschichte der literarischen Moderne und speziell die der Avantgarde, die mit der Hochphase des europäischen Imperialismus zusammenfällt, anders denken müssen. Ihre unkenntlich gemachten Quellen gerieten hinter der Originalitätsemphase der Autor:innen und der literaturwissenschaftlichen Kanonisierung in Vergessenheit.

II.

philologie und provenienz

Der Punkt, an dem eine philologische Provenienzforschung ansetzt, ist der tote Winkel zwischen der eher materiell und historisch orientierten Provenienzforschung der Kunstgeschichte einerseits und der eher immateriell und an gegenwärtigen Identitätsfragen interessierten Kritik kultureller Aneignung andererseits. Dazwischen eröffnet sich ein Forschungsfeld, dessen Gegenstände immateriell geraubt und materiell angeeignet werden konnten (und umgekehrt) oder die Unterscheidung selbst nachhaltig durcheinander bringen; Gegenstände, die in der Gegenwart identitätspolitisch relevante Fehlvorstellungen materiell manifestieren (z. B. von »afrikanisch«) und zugleich auf einer langen Dauer historischer Ungleichheit im Umgang mit immateriellem Kulturerbe beruhen (z. B. von gemeinfreien und urheberrechtlich geschützten Texten, von Collagen und Plagiaten). Die Methode, die wir zur Erforschung dieses bislang vernachlässigten Feldes vorschlagen, verbindet vor allem Ansätze aus der praxeologischen Medienwissenschaft, der Editionsphilologie und der postkolonialen Provenienzforschung.

Bruno Latour und Adam Lowe haben in ihrem Aufsatz über die Reproduktion von Kunstwerken das Konzept der Trajektorie (~ Flugbahn) gegen eine auratische Überhöhung des Originals vorgeschlagen: »A given work of art should be compared not to any isolated spring but to a catchment area, a river along with its estuaries, its tributaries, its rapids, its meanders, and, of course, its hidden sources«.Footnote 18 Die Trajektorie verstehen sie nicht als lineare Flugbahn, sondern als verzweigten Fluss. Zwei wesentliche Konsequenzen aus dieser Perspektive sind hier relevant: Erstens erscheint das Original als Effekt von Praktiken der Reproduktion. Gerade weil (und nicht obwohl) ein Text in vielen Versionen veröffentlicht wird, entsteht ein hypothetischer Urtext in Originalsprache als auratischer Fluchtpunkt, der die vermeintliche Authentizität des Inhalts der Reproduktionen plausibilisiert, aber selbst nicht mehr benötigt wird. Und gerade weil es einen solchen Urtext nicht gibt, sondern in der Regel die Vielfalt der Versionen die Oratur ausmacht, interessiert, zweitens, nicht so sehr, ob es sich um eine Reproduktion handelt, sondern vielmehr, wie diese gemacht ist. Die Versionen lassen sich hinsichtlich der jeweils eingesetzten Medienpraktiken vergleichen und unterscheiden. Zu fragen ist, wie Texte auf-, ab- und umgeschrieben wurden, wie sie formatiert, skaliert, gekürzt, erweitert, übersetzt oder auch gedruckt, gerahmt, kopiert wurden, kurz: wie in der Praxis aus Oratur Literatur gemacht wurde. Mit dem Akzent auf einer Pluralität der involvierten Medien soll vermieden werden, hinter dem Text seine Einbettung in performative, rituelle und materielle Zusammenhänge auszublenden.Footnote 19 In der Regel wird ein solcher Medienverbund erst unterwegs nach Europa in Text, Musik, Theater, bildende Kunst und anderes mehr zerlegt und sortiert. Dabei rückt vor allem die Anthologie als Format ins Interesse der Forschung: Editorische und verlegerische Praktiken wie das Auswählen, Arrangieren und Klassifizieren der Inhalte, aber auch die Buchgestaltung, neue Paratexte und das Marketing zielen darauf, die Flugbahnen und Verbreitungsgeschwindigkeiten der Texte zu beeinflussen, bestimmen aber gleichzeitig über ihre Bedeutung mit.

Eine ausschließlich praxeologisch informierte Perspektive läuft Gefahr, bei einer Art »Rückseitenbefund«Footnote 20 stehen zu bleiben und die textuelle Ebene aus dem Blick zu verlieren. Deshalb sei an die Methoden erinnert, die die Literaturwissenschaft zur Erforschung der Provenienz bereithält. Gemeint ist damit nicht in erster Linie, dass die Thematisierung von Provenienz innerhalb von Texten oder die Provenienzgeschichten der materiellen Textträger Eingang in eine Interpretation finden sollen, die ihren literarischen Gegenstand weiterhin als immateriell und ästhetisch autonom voraussetzt.Footnote 21 Im Gegensatz dazu geht der Ansatz von der Verflechtung materieller und immaterieller Anteile sowie von der prinzipiellen Heteronomie literarischer Erzeugnisse aus und priorisiert deshalb gegenüber der hermeneutischen Interpretation die philologische Kritik. Diese verlangte bereits während ihrer Konjunktur im 19. Jahrhundert die zusammenhängende Untersuchung von materiellen wie immateriellen, oralen wie schriftlichen Quellen. Sie stellte zugleich die mediale Infrastruktur für die Verschriftlichung und Veröffentlichung großer Mengen an Oraturen aus kolonisierten Gebieten bereit.Footnote 22 Das philologische Paradigma, das den Vergleich und die Korrektur von Textzeugen zur Hauptaufgabe erklärte, produzierte dabei wiederum eine Fülle neuer Textzeugen. Deshalb empfiehlt es sich, die Textkritik als historisierende Methode auf ihre eigenen Erzeugnisse anzuwenden und sie zugleich als Paradigma selbst einer historischen Kritik zu unterziehen.

Schließlich hat die postkoloniale Provenienzforschung der Museumsethnologie auf die Schwächen des objektbiographischen Ansatzes hingewiesen und außerdem eine stärkere Berücksichtigung der gewaltvollen Situation des Raubs gefordert.Footnote 23 Für die hier vorgeschlagene Methode bedeutet das, nicht nur nah an den Textversionen vorzugehen, sondern auch den breiteren historischen Kontext der jeweiligen, besonders aber der ersten Fixierung von Oraturen einzubeziehen. Auch oder gerade wenn keine konkreten Belege dafür vorliegen, dass Aufzeichnungen unter Zwang und Gewalt stattfanden, muss historisch möglichst genau rekonstruiert werden, welche (kolonialen) Infrastrukturen das Aufzeichnen erst möglich machten. Von der Museumsethnologie lässt sich außerdem lernen, dass die Erforschung der Provenienz von Sammlungsbeständen immer auch eine Erforschung der eigenen Fach- bzw. Wissenschaftsgeschichte impliziert. Analog wäre die Geschichte der Literaturwissenschaft, ihrer Grundbegriffe und ihrer Theorien auf ihre Provenienz hin zu prüfen – und gegebenenfalls als Geschichte von Aneignungspraktiken neu zu erzählen.

Aus der Perspektive einer so verstandenen Provenienzforschung wird das Geschenkbuch von Reclam als Ausgangspunkt einer philologischen Untersuchung plausibel. Als Beispiel skizzieren wir nur die Trajektorie der ersten beiden Texte in dem Band. Sie handeln von Ngurangurane und seinem triumphalen Sieg über Ombure, das Krokodil. Geographisch werden die Texte von Reclam in Äquatorialguinea verortet, als Quelle wird Carl Einsteins Anthologie Afrikanische Legenden (1925) genannt. Dort findet sich ein umfangreicherer Zyklus, der wesentlich drastischer endet: nicht mit dem Sieg Nguranguranes, sondern mit seiner späteren Ermordung. So trägt die Aussparung des Schlussteils bei Reclam dazu bei, die Legende in ein Märchen mit Happy End umzudeuten. Anstelle der nationalstaatlichen Zuordnung »Äquatorialguinea« steht bei Einstein mit »Fang« eine ethnische. In den 1920er Jahren erschienen die Texte außerdem in Blaise Cendrars’ Anthologie n**** (1921), die wiederum als Grundlage für die englische Übersetzung von Violette De Mazia in Opportunity. A Journal of N**** Life (1926) fungierte. Während De Mazia den Ngurangurane-Zyklus in den Kontext der African American Studies und der Harlem Renaissance verlegte, ordnete ihn Cendrars als Beispiel einer historischen Legende ein.

Die Quellen von Cendrars und Einstein waren zwei verschiedene Publikationen des Missionars Henri Trilles, der von 1893 bis 1907 im Auftrag der Congrégation du Saint-Esprit im heutigen Gabun (und nicht Äquatorialguinea) eingesetzt war, damals Teil der Kolonie Französisch-Kongo. Zugang zu den Erzähler:innen der Geschichte erhielt Trilles nur durch Absolvent:innen der Missionsschule in Libreville. Die koloniale Infrastruktur Französisch-Kongos und die der katholischen Mission war die Voraussetzung für die Zirkulation von ›Ngurangurane‹ im Westen.Footnote 24 Trilles veröffentlichte den Zyklus mehrfach in leicht veränderten und anders gerahmten Versionen. Im Vergleich lässt sich erkennen, dass Cendrars auf den Reisebericht Chez les Fang (1912) zurückgriff und dabei zwar den Schluss kürzte, sonst aber nah am Text der Vorlage blieb, während Einstein die Version der Proverbes, légendes et contes fang (1905) ins Deutsche übersetzte und sich dabei Freiheiten erlaubte, die den Text in die Nähe expressionistischer Prosa rückten.

Wie für Ethnographien und Reiseberichte üblich, ist der Ngurangurane-Zyklus in Chez les Fang in der Form eines Zitats in den Haupttext eingespannt und mit der Reiseerzählung verbunden. Er fungiert dort als Belegstelle für ein ethnologisches Argument über die Herkunft der Fang.Footnote 25 Der Kontext seiner Aufzeichnung wird ausführlicher geschildert, man erfährt von »le vieux chef fang, Nkoro«, der Trilles die Geschichte erzählt habe.Footnote 26 Bereits in den Proverbes verzichtete Trilles allerdings auf die genaue Situierung der Aufzeichnungen, dem Format einer literarischen Anthologie entsprechend, in der die Reihe ausgewählter Texte gegenüber einer meist nur knappen Einleitung im Vordergrund steht. Passend dazu diskutiert er die »valeur littéraire et philosophique du folklore fang«Footnote 27 in der Anthologie deutlich prominenter als im Reisebericht. Diese Betonung des Literarischen zulasten des Kontexts potenzierte sich in den späteren Versionen von Cendrars, Einstein, De Mazia und Reclam.

Eine Form der Rückaneignung des Ngurangurane-Zyklus findet sich in Bonaventure Mvé Ondos Interpretation von Fang-Mythen. Obwohl Mvé Ondo einleitend kurz Trilles’ ungenügende Kenntnis der Kultur der Fang problematisiert,Footnote 28 nutzt er die Version der Proverbes als Textgrundlage. Das Verhältnis des Krokodils zu Ngurangurane deutet er als Reflexion auf die Rolle des Bösen in der Metaphysik der Fang, die er explizit von westlichen Pendants absetzt.Footnote 29 So dient ihm der Zyklus als Beleg für die Unabhängigkeit einer zentralafrikanischen Philosophie von griechischen und christlichen Traditionen.

Wie das Beispiel zeigt, verlaufen die Trajektorien keineswegs linear und folgen nicht zwingend einer Pfadabhängigkeit. Mvé Ondo ging direkt zur Erstaufzeichnung zurück, ungeachtet der Rezeption in der Avantgarde, wohingegen Reclam Einsteins Dritt- oder Viertverwertung zur Grundlage machte, offensichtlich ohne die geographisch genauere Verortung bei Trilles berücksichtigt zu haben. Deutlich wird auch, wie das mediale Umfeld (z. B. das Format der Anthologie) und selektive Eingriffe in den Text (z. B. Auslassungen) die orale Quelle in ein westliches Verständnis von Literatur überführen und je unterschiedlich funktionalisieren: als Mittel zur poetischen Regeneration der Avantgarde, zur Afrikanisierung des Expressionismus, zur Berufung auf eine Tradition Schwarzer Literatur, für eine philosophiehistorische Unabhängigkeitserklärung der Fang oder als Märchen in einem Geschenkbuch. Gerade diese jüngste Aneignung durch Reclam verweist auf die Kommodifzierung afrikanischer Texte auf dem Weltmarkt der Literatur, während ihnen gleichzeitig als bloße Folklore die akademische wie öffentliche Anerkennung als Weltliteratur versagt bleibt.Footnote 30

III.

provenienzen der literaturtheorie

Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass philologische Provenienzforschung zentrale Konzepte der Literaturwissenschaft herausfordert. Das gilt offensichtlich für Autorschaft, Urheberrecht und Zirkulation, aber darüber hinaus auch für Bestimmungen der Literatur insgesamt. »Clearly, any coherent conception must include ›oral literature‹«, heißt es in der Theory of Literature von Wellek und Warren (1949).Footnote 31 Gehen damit wesentliche Transformationen des Literaturbegriffs im 20. Jahrhunderts auf kolonialzeitliche Aneignungspraktiken und ihre »Bumerang-Effekte«Footnote 32 zurück? Erhard Schüttpelz hat die Krise des Literaturbegriffs analysiert, die aus der Begegnung mit den während des Kolonialismus nach Europa importieren Oraturen resultierte: Die Kenntnis mündlicher Literaturen habe erstens eine Umwertung von Schriftlichkeit als etwas aus mündlichen Ursprüngen und rituellen Institutionen Abgeleitetes zur Folge gehabt, zweitens die »vor jede Autonomieästhetik« zurückgehende Frage nach der sozialen Funktion von Literatur vor ihrer Verschriftlichung und damit einen »funktionalistischen Literaturbegriff« provoziert und drittens die Ästhetik und Poetik der »Primitiven« zum universellen Maßstab gemacht.Footnote 33

Aber wie kann ein solcher Befund durch philologische Provenienz- und Trajektorienforschung eingeholt und präzisiert werden? Und welche bis in die Gegenwart hineinwirkenden Konzepte ließen sich in Situationen des »ungleichen Tauschs« zurückverfolgen? Kandidaten für ein solches provenienzphilologisches Arbeitsprogramm gibt es viele, zum Beispiel die Theorie der Metapher der literarischen Moderne,Footnote 34 die Materialität des Zeichens,Footnote 35 die Heteronomie des Ästhetischen,Footnote 36 die (Wieder-)entdeckung von sprachlicher Formelhaftigkeit, Rhetorik und Performanz oder das Lautgedicht als eine emblematische Gattung der Avantgarden. Den vorhandenen Diskurs- und Ideengeschichten des literarischen Primitivismus könnte man mit der Erforschung von Trajektorien ein philologisches und empirisches Fundament geben, um sie auf diese Weise für kollaborative Forschung zu erschließen, die über die Relektüre der historischen Diskurse der Ethnologie als »Ressource fremden Wissens«Footnote 37 hinausgeht.

Exemplarisch skizzieren lässt sich die Trajektorie der von Jean Paulhan zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgezeichneten madagassischen Sprichwörter. Paulhan (1884–1968) gilt vor allem aufgrund seiner Tätigkeit als Herausgeber der Nouvelle Revue Française (seit 1925) und Berater von Gaston Gallimard als Strippenzieher des französischen Literaturbetriebs der 1920er bis 1960er Jahre. Kanonbildende Kompendien betonen seinen Einfluss als Literaturtheoretiker und Vermittler zwischen Stéphane Mallarmé, den Avantgarden und Maurice Blanchot.Footnote 38 Letzterer publizierte 1942 unter dem Titel »Comment la littérature est-elle possible?« eine für die Genese seines um Konzepte wie Negativität und Unmöglichkeit kreisenden Literaturbegriffs bedeutende Besprechung von Les fleurs de Tarbes, ou La terreur dans les lettres (1941).Footnote 39 Paulhans Essay behandelt die von der Romantik bis zum Surrealismus verdrängte Bedeutung der Rhetorik. Gegen den Kult des authentisch Individuellen und das von ihm »terroristisch« genannte Unternehmen der Zerstörung jeglicher Gemeinplätze in der Literatur, plädiert er für die Unvermeidlichkeit der sprachlichen Klischees und für eine rhetorische Auffassung der Sprache. Auch der »Terror« erweist sich am Ende als eine Form von Rhetorik. Gegen die Idee einer von rhetorischen Figuren befreiten Transparenz der Sprache führt Paulhan die Unmöglichkeit vor, zwischen eigentlicher und figürlicher Bedeutung zu unterscheiden, wie Hans-Jost Frey die sprachphilosophischen Reflexionen mit Anklängen an Paul de Man resümiert.Footnote 40 Wenn auch Michael Syrotinski die Grundgedanken von Les fleurs de Tarbes und Blanchots Rezension auf Begriffe wie »radical undecidability« oder »ambiguity […] between saying and doing, stating and performing«Footnote 41 bringt, wird deutlich, wie Paulhan als Wegbereiter der Dekonstruktion rezipiert wird. Dazu beigetragen hat auch die Paulhan gewidmete Nummer der Yale French Studies von 2004 unter dem Titel »The Power of Rhetoric«.Footnote 42 Das Vorläufer-Narrativ verbirgt ein wesentliches Moment der Provenienz von Paulhans Sprach- und Literaturtheorie: Die Rehabilitierung der Rhetorik und die Reflexionen über die paradoxen Verhältnisse zwischen Semantik und Performanz in Les fleurs de Tarbes beruhen ganz wesentlich auf seinen Studien zu madagassischen Sprichwörtern.Footnote 43 Vielleicht verdanken linguistic turn und Dekonstruktion der Begegnung mit außereuropäischen Oraturen mehr, als die Geschichte der »French« Theory wissen will. Vielleicht sind sogar die Theoreme vom Missverständnis, von der Intransparenz und Negativität des Mediums Sprache selbst eine Strategie der Bewältigung der kolonialen Situation.Footnote 44

Paulhan verbrachte zwischen 1908 und 1910 fast drei Jahre als Lehrer am Collège de Tananarive in Madagaskar, seit 1896 eine französische Kolonie.Footnote 45 Neben seiner Lehrtätigkeit interessierte er sich nach dem Vorbild von Victor Segalens Tahiti-Roman Les immémoriaux (1907) für ein Genre der mündlichen Dichtung, die sogenannten »hain-teny«. Es handelt sich um ritualisierte soziale Dramen und verbale Dispute, häufig Liebesdispute, die eine eigene Literaturform hervorgebracht haben, in der stereotypen Redewendungen und Sprichwörtern eine zentrale Funktion zukommt. Wer sie passend und zahlreich verwenden kann, gewinnt den Redewettstreit. Paulhan zeichnete über 3000 dieser Sprichwörter auf. Er gilt als der Erste, der diese durch Christianisierung und Kolonisierung aus der Sphäre der Hochkultur verdrängten und wegen ihrer Freizügigkeit verfemten Texte nicht nur aufschrieb, sondern auch übersetzte und kommentierte. Seine 2007 publizierten Lettres de Madagascar geben einen Einblick in die Situation der Aufzeichnung: Paulhan lernte intensiv Madagassisch und lebte in einheimischen Familien. Dort beobachtete er die gespielten Streitgespräche und die spezifische Autorität der Sprichwörter. Nach Frankreich zurückgekehrt, meldete Paulhan nicht nur eine Doktorarbeit über die »Sémantique du proverbe malgache« an,Footnote 46 er publizierte auch 1913 eine kommentierte Anthologie mit dem Titel Les hain-teny merinas – Poésies populaires malgaches. Im Gegensatz zu ähnlichen Anthologien aus französischen Kolonien in Afrika, welche dem Leser eine vermeintliche »sagesse noire« in Form von Sprichwörtern in die Hand gaben, löste Paulhan die hain-tenys zwar nicht aus ihrem pragmatischen und sozialen Kontext,Footnote 47 aber er nahm sie für eine allgemeine Theorie der Dichtung und der Sprache in den Dienst.

Paulhans Anthologie wurde auch in Deutschland rezipiert. In der Literarischen Welt erschien 1927 eine Rezension von Ivan Goll mit dem Titel »Liederkämpfe in Madagaskar«. Aus ihr spricht eine typisch primitivistische Begeisterung für die »Urquellen« der Dichtung. Nach ihrem Vorbild, so Golls Empfehlung, sollen sich die europäischen Literaturen erneuern. Während die europäische Dichtung »verwässert, versteinert, verfilzt«, kurz: »nicht mehr ursprünglich« sei, handele es sich hier um »Zweckkunst, in derselben Art wie bei unseren alten Troubadouren«: »Die Malgaches singen keine Lieder, sie veranstalten Wortschlachten.« Die von Paulhan aufgezeichneten Texte werden zu einer immateriellen Ressource: »Bei N*****, bei Indianern gibt es noch ebenso reiche Lyrikquellen wie Petroleumquellen.«Footnote 48

Wird der Extraktivismus hier unverhohlen ausgestellt, ist Paulhan diese Form von Primitivismus fremd. Ihm ging es darum, mithilfe der madagassischen Dichtung etwas über Sprache und Dichtung überhaupt zu erfahren. So übersetzte er auch die Bedeutung von »hain-teny« als »Wissen(schaft) von der Sprache«.Footnote 49 Seine weitere Auseinandersetzung mit dem in Madagaskar verschriftlichten Textkorpus in »L’expérience du proverbe« (1925)Footnote 50 und »D’un langage sacré« (1939)Footnote 51 verschiebt den Akzent auf die autobiographische Erzählung vom Scheitern seiner Versuche, die Sprache der Sprichwörter zu verstehen, zu übersetzen und selbst anzuwenden.Footnote 52 Auch wenn er sich Sprichwörter vor einem Gespräch zurecht legte, gelang es ihm nicht, sie »richtig« einzusetzen. Das Verhältnis von Semantik und Kommunikationssituation blieb ihm undurchdringlich. Statt weiter zu anthologisieren, schrieb Paulhan sprachphilosophische Abhandlungen. Das madagassische Material diente ihm dazu, Paradoxien der Sprichwortsprache zu diskutieren. Aus seinem Scheitern und den Missverständnissen machte Paulhan die Theorie der Unentscheidbarkeit der Sprache zwischen Bedeutung und Gebrauch und der Literatur zwischen »Rhetorik« und »Terror«, die er schon in Les fleurs de Tarbes von der madagassischen Quelle ablöste. Im Vortrag von 1939 heißt es dann schließlich »Il n’est pas besoin d’aller à Madagascar pour faire l’expérience du proverbe.«Footnote 53

IV.

restitution und kollaboration

Die Implikationen dieser Abtrennung von den Quellen lassen sich erneut mit Latours Trajektorienforschung in den Blick nehmen, die sich auch als Analyse globaler Machtungleichgewichte versteht. Verkürzt zusammengefasst: Wer mehr Information kompakter komprimieren und dadurch schneller zirkulieren kann, tritt als mächtigerer Akteur in der geopolitischen Landschaft auf. Mit dem Grad der Vermittlung wächst der Machtvorsprung.Footnote 54 Übertragen auf das Projekt einer philologischen Provenienzforschung lässt sich dieser Vorsprung als Etablierung und Konsolidierung von Deutungshoheit begreifen. Die lange Kette der Aneignungen, Vervielfältigungen und Umdeutungen oraler Überlieferungen im Schriftmedium machen diese im Westen verfügbar, in manchen Fällen sogar populär, verschieben aber gleichzeitig die Herrschaft über die Texte. Wenn man die oralen Schätze nach Europa importiert hat, muss man nicht mehr nach Madagaskar gehen, wie Paulhan sagt.

Besonders, aber nicht nur da, wo die Aufzeichnung parallel zur Unterdrückung lokaler Sprachen oder kultureller Praktiken im Rahmen kolonialer Assimilationspolitik erfolgte, wurde aus der Aneignung Enteignung. Westliche Deutungen der Texte konnten sich auch über die einheimische Zirkulation stülpen.Footnote 55 Von einer solchen diskursiven Verdrängung hat Ngũgĩ wa Thiong’o gesprochen, als er Oratur als »stolen legacy« bezeichnete: »Ironically even when this great tradition of oraliture is researched, conferenced upon, and recorded, it is often done in European languages. Once again Africa produces, the West disposes.«Footnote 56

Die plausibelste Form der Restitution von Oraturen ist demnach nicht unbedingt, ein originales Objekt, zum Beispiel die Erstausgabe einer ethnologischen Fachzeitschrift, einer avantgardistischen Anthologie oder eine phonographische Wachswalze an die Aufzeichnungsorte zu senden. Die Restitution müsste sich stattdessen auf die Rückgabe von Deutungshoheit konzentrieren, das heißt: auf eine Kursänderung bei festgefahrenen Flugbahnen. Dominant westliche Übertragungs- und Verbreitungswege müssten unterbrochen, wenn nicht, wie im Fall von kulturell sensiblen Oraturen, abgebrochen werden. Dazu tragen einerseits bereits existierende Rückaneignungen bei, wie sie Rosemary Coombe und Elizabeth Coleman für die kanadischen Kwakwaka’wakw beschrieben haben,Footnote 57 oder auch Mvé Ondos Interpretation der Fang-Texte, denen eine komparatistische Literaturwissenschaft zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen kann.

Andererseits lassen sich mithilfe einer philologischen Provenienzforschung Dossiers über die vergessenen Verbreitungswege erstellen, um diese zunächst transparent zu machen. Zur Restitution gehört auch der Abbau infrastruktureller Hürden, das heißt, Archivmaterial nicht nur theoretisch verfügbar, sondern praktisch zugänglich zu machen. Damit wäre die Grundlage geschaffen für kollaborative Forschung mit Menschen aus »Herkunftsgesellschaften«, die nicht zur Untermauerung europäischer Lesarten instrumentalisiert werden dürfen, sondern denen vielmehr die Möglichkeit zur Korrektur historischer Zerrbilder und zur Wiederaneignung für eigene Zwecke geboten werden muss.Footnote 58

Im Kontext von Museen, Bibliotheken und Archiven zielt die Frage nach der Provenienz auf einen Urteilsspruch darüber, ob ein Objekt legitim oder illegitim erworben wurde und, als Konsequenz, ob es zurückgegeben werden sollte oder nicht – ganz gleich, auf welcher Seite die Beweislast liegt.Footnote 59 Bei der philologischen Provenienzforschung verhält es sich umgekehrt: Die Rückgabe von Deutungshoheit empfiehlt sich unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Aufzeichnung und ermöglicht vielleicht erst eine umfassende Rekonstruktion der je spezifischen Aufzeichnungssituation. Restitution wäre damit weniger die letzte Konsequenz der Provenienzforschung als vielmehr ihr notwendiges Komplement: Ohne Perspektiven der Rückrezeption oder Kollaboration bleibt die Beschreibung von Provenienzketten ein eintöniges Unterfangen.

Erprobt haben wir diese Form der Zusammenarbeit an einem anderen Beispiel im Rahmen der Ausstellung »Literatur als koloniale Beute? Provenienzgeschichten 1910–2021«.Footnote 60 Eine dieser Geschichten war die von »Toto Waka«, einem Kanugesang der Māori, den der Dadaist Tristan Tzara zum semantisch leeren Lautgedicht machte. Stefan Schawe hat die Provenienz über Karl Büchers Arbeit und Rhythmus (1899) bis 1842 nach Neuseeland zur vermutlich ersten Verschriftlichung und Übersetzung durch Edward Shortland zurückverfolgt. In die andere Richtung lässt sich eine Trajektorie darstellen, die vom Dada Almanach (1920) über verschiedene avantgardistische Publikationen und Tzaras Werkausgabe bis in neuere Anthologien von Lautpoesie und daraus abgeleitete Theoriebildungen führt, so etwa Umberto Ecos »linear text manifestation«.Footnote 61 Abgeschriebene Oraturen als Provenienz der Lautpoesie und ihrer Theoretisierung sind bislang nicht Teil ihres Gattungsbegriffs, weil sich die Originalitätsansprüche der Avantgarden bis heute auf ihre Erforschung auswirken.

Nach der Lektüre unseres Dossiers zu »Toto Waka« schlug Te Kahautu Maxwell, Professor für Māori Studies an der University of Waikato, im Gespräch zwei neue Lesarten vor. Sowohl in der ersten Transkription des Māori-sprachigen Originals als auch in Shortlands Übersetzung ins Englische konnte er Fehler beobachten, die spätere Missverständnisse begünstigt hatten. Kritik übte er an der uninformierten Zirkulation des Lieds als Nonsens-Gedicht in Europa, bei der die eigentlich sakrale wie genealogische Bedeutung bis heute nie eine Rolle gespielt hat.Footnote 62

Eine kollaborative Erforschung von Provenienzen und Trajektorien ist nicht als abschließende Wiedergutmachung zu verstehen, sondern als Anfang einer »Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte«Footnote 63 und einer »nouvelle éthique relationnelle«Footnote 64 mit einer gerechter verteilten Deutungshoheit. Sie könnte dazu beitragen, die in Europas Bibliotheken lagernden Oraturen für eine kosmopolitisch gedachte (Welt‑)Literatur zurückzugewinnen, wie sie Mohamed Mbougar Sarr als eigener dritter Kontinent vorschwebt, der weder Afrika noch Europa heißt.Footnote 65 Die hier zitierten Beispiele – der Māori Kanugesang, die madagassischen Sprichwörter, der Ngurangurane-Zyklus der Fang, aber auch die nacherzählten Geschichten kanadischer First Nations – sollen vor allem die Vielfalt der möglichen Fälle und die Breite der künftigen Aufgaben einer philologischen Provenienzforschung abbilden. Jeder einzelne Fall verdient seine eigene Studie, in der die Trajektorien und ihre teils sehr unterschiedlichen historischen Kontexte philologisch genau zu rekonstruieren sind.