Seinen Roman Requiem schrieb Karl Alfred Loeser Mitte der dreißiger Jahre im brasilianischen Exil, nachdem er vor den Nazis aus Deutschland geflohen war. Seine Hoffnung, für das Manuskript nach Ende des Krieges einen Verlag zu finden, erfüllte sich nicht. Die aus dem unmittelbaren Erleben erzählte Geschichte der Verfolgung, Entrechtung und Vertreibung der Juden aus einer westfälischen Kleinstadt wollte in Deutschland niemand drucken. Die abschlägigen Antworten der Verleger wanderten wie das Manuskript in die Schublade, erst im Frühjahr 2023 ist das Buch bei Klett-Cotta erschienen. Sein Autor hat es, wie viele andere, nicht mehr erlebt.

Auch in einer Literaturzeitschrift wie Sinn und Form erscheinen immer wieder Archivfunde, Briefe, Manuskripte: Theodor W. Adornos Korrespondenz mit Hans Magnus Enzensberger, Lotte Lenya oder Ingeborg Bachmann, Tagebuchnotizen von Imre Kertész, Briefe von Wolfgang Hilbig, ein Dramenfragment von Anna Seghers, frühe Gedichte von Franz Fühmann, Aufzeichnungen aus dem besetzten Warschau von Aurelia Wyleżyńska, ein nicht realisiertes Filmexposé von Wolfgang Kohlhaase und vieles andere mehr. Man könnte all dies, wie den Roman von Karl Alfred Loeser, auch in einem ganz anderen, vielleicht zeitgemäßeren Kontext publizieren, auf einer institutionellen Website, in der Datenbank eines Archivs oder in einem privaten Blog. Die Bedingungen der Präsentation und Partizipation könnten hier selbst bestimmt, Erscheinungstermin und -dauer festgelegt, mögliche Ausschlusskriterien umgangen werden. Dennoch scheint der Wunsch, bestimmte Texte nicht auf einer selbst gewählten und frei zugänglichen, eventuell sogar eigens entworfenen Plattform, sondern an einem kuratierten Ort mit festen, nicht zu beeinflussenden Regeln zu platzieren, größer zu sein.

Das gilt nicht nur für von Herausgebern edierte Beiträge längst verstorbener Autorinnen und Autoren. Auch für jüngere Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die mit den Publikationsmöglichkeiten des Internets aufgewachsen und vertraut sind, hat die Veröffentlichung in einem Verlag, bei einer Zeitschrift nicht grundsätzlich an Bedeutung verloren. Die Publikation eines gedruckten oder elektronisch vertriebenen Buches hat nach wie vor eine entscheidende Legitimierungsfunktion, mit der das Geschriebene in der Welt ist und am Austausch der kulturellen Öffentlichkeit teilnimmt. Name und Renommée des Verlags, Attraktivität des Programms sowie die damit verbundenen Möglichkeiten von Werbung und Vertrieb spielen, wie das Honorar, eine eigene Rolle. In einer literarischen Zeitschrift kommen all diese Punkte ebenfalls zum Tragen. Die vielleicht deutlichste Einschränkung, dass es sich hier um keine selbstständige Veröffentlichung handelt, macht zugleich die größte publizistische Besonderheit aus: Der Autor, die Autorin wird Teil einer Gemeinschaft, begibt sich in eine Nachbarschaft, die er, die sie sich nicht aussuchen kann, die aber Einfluss auf die Wahrnehmung des Textes hat.

In der 1949 in der Sowjetischen Besatzungszone gegründeten, seit 1950 von der Akademie der Künste herausgegebenen Zeitschrift Sinn und Form spielt die Zusammensetzung der Hefte seit den Zeiten des ersten Chefredakteurs Peter Huchel eine besondere Rolle. Die inhaltliche Komposition wurde geradezu zum Markenzeichen der »Beiträge zur Literatur«. Auf Editorials wurde von vornherein verzichtet, das Gewicht jedes Beitrags sollte sich aus einer möglichst unvoreingenommenen Lektüre ergeben, aber eben auch aus der Beziehung zu den anderen Texten des Heftes, mit denen er in einen Dialog tritt oder eine Reibung erzeugt. In einem Essay entwickelte Gedanken können durch den folgenden Beitrag untermauert oder abgeschwächt werden, eine Erzählung kann die historischen Hintergründe eines Archivstücks literarisch aufnehmen oder in Zweifel ziehen. Kein Text bleibt unabhängig von dem, was ihm vorausgeht oder nachfolgt, es entsteht ein Geflecht von Bezügen und Verbindungslinien, die auch über das einzelne Heft hinausweisen, frühere Ausgaben einbeziehen, dort erschienene Beiträge direkt benennen oder beiläufig darauf anspielen – Inspirationen für Insider. Auch für die Redaktion ist es immer wieder überraschend, welche literarischen Resonanzräume sich über Monate, Jahre, Jahrzehnte hinweg eröffnen, wie Traditionen sich bilden und verzweigen, wie der Vers eines Gedichts auf das Motiv eines Essays zu antworten scheint. Huchel ging es weniger um die »Ausgewogenheit im einzelnen Beitrag« als um die zwischen den Texten mögliche »Widersprüchlichkeit« (Hub Nijssen). Uwe Schoor schreibt dazu in seinem Buch Das geheime Journal der Nation. Die Zeitschrift ›Sinn und Form‹:

Das Vorstellen von verschiedenen Auffassungen zu einem Themenbereich führt die Annäherung an Literatur und an Fragen anderer Künste als einen Prozeß vor, dessen Geradlinigkeit und Eindimensionalität von vornherein bestritten wird. In diesen Annäherungsprozeß ist der Leser einbezogen, nicht allein insofern er einer vorgeführten Position zustimmen oder sie ablehnen kann, sondern er ist aufgefordert, in den Streit einzugreifen, d. h.: die Kompetenz dazu zu erwerben. […] Die Redaktion hat sorgfältig abgewogen, wo ein Gegeneinander verschiedener Standpunkte diskussionsfördernd, ob eine Fortsetzung der Diskussion zweckmäßig war. Die Kontrastierungsverfahren reichen dabei vom offenen Nach- und Nebeneinander gegensätzlicher Meinungen […] über Beiträge, die ihren Charakter als ›Gegenrede‹ erst im Bezug auf aktuelle Vorgänge offenbaren […], bis zum Vorstellen von Literatur in der Kombination von Werk und Lesart, die dem Leser die eigene Interpretation abverlangt.

Echte Literatur, so Peter Huchels Überzeugung, kann gar nicht einseitig oder parteiisch sein. Die Vielzahl ihrer Perspektiven eröffnet Anschlussmöglichkeiten. Und erweitert die Einzelstimme zum Chor.

Dadurch werden in den sechsmal im Jahr erscheinenden Ausgaben auch Autorinnen und Autoren ganz unterschiedlicher Lebensalter und Herkünfte, manchmal sogar verschiedener Epochen zu Zeitgenossen, wie in Heft 3/2022, in dem die 1873 geborene Willa Cather von ihrer zufälligen Begegnung mit der Nichte Flauberts berichtet, das Ingomar von Kieseritzkys aus dem Archiv geborgene Phantasie eines Jenseits-Baedekers ebenso enthält wie Thomas Hettches Essay Männer sind sinkende Sterne und Veronika Reichls Erzählung Der doppelte Kompass, die sich mit einer Lektüreerfahrung Judith Butlers auseinandersetzt. Michael Krüger erinnert sich in dieser Ausgabe an die israelischen Dichter, mit denen er gearbeitet hat und befreundet war, der verstorbene Adam Zagajewski erscheint noch einmal im Gespräch, Kurt Darsow leitet seinen Briefwechsel mit dem ebenfalls nicht mehr lebenden Peter Rühmkorf ein und Gabriele Helen Killert untersucht das Uneigentliche Leiden und uneigentliches Sprechen im Werk von Adolf Muschg. Nicht zu vergessen die Gedichtbeiträge von Kornelia Koepsell (Klage um Dostojewski) oder Laurynas Katkus (Auf der Rolltreppe gegen die Laufrichtung), Ali Abdollahi (Der gebrochene Blick) oder Nina Lenz (Salamander), Tadeusz Dąbrowski (Wie ein Komet am Himmel) oder Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki (Lieder und Ziegel).

Eine Zusammenstellung, die Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft stiften, aber auch Abwehr auslösen kann. Wer hier mit wem zusammenkommt, bestimmen nicht die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, sondern die Redaktion. Was auch unverhoffte Begegnungen zur Folge haben kann. Wem die Gesellschaft der in einer bestimmten Zeitschrift publizierten Autoren grundsätzlich nicht behagt, wird sich auf solche Überraschungen aber auch nicht einlassen. Darum ist die Vielfalt der Zeitschriften mit ganz eigenen Profilen ebenso wichtig wie die der Verlage – um Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzern, aber auch Leserinnen und Lesern entsprechende Entscheidungsmöglichkeiten zu lassen. Hier von Konkurrenz zu sprechen wäre völlig unsinnig. So lange eine Zeitschrift, ein Verlag nicht durch exorbitant höhere Honorare die kulturelle Landschaft dominiert und alle potenziellen Beiträgerinnen und Beiträger an sich bindet, profitieren alle Akteure von der Attraktivität einer publizistischen Gattung. Je beliebter etwa Kultur- oder Literaturzeitschriften an sich sind, je stärker sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, desto größer ist das Interesse für jedes einzelne Organ, desto häufiger werden sie gelesen. Diese Vielfalt ist Voraussetzung für Partizipation und Austausch. Gäbe es nur noch eine Literaturzeitschrift, wäre die Gattung als solche tot.

Die spezielle Verbindung von Tradition, Auswahl, Textarbeit und Nachbarschaft spielt, wie die Zuschriften und Einsendungen an die Redaktion belegen, auch für jüngere Autorinnen und Autoren eine entscheidende Rolle, wenn sie ihre Gedichte, Erzählungen oder Essays gerade Sinn und Form anbieten. Oder, aus ähnlichen Erwägungen, einer anderen literarischen Zeitschrift, die entweder ebenso klassisch ausgerichtet ist oder etwa stärker auf experimentelle Texte setzt oder beispielsweise jede Ausgabe nach einem bestimmten Thema ausrichtet. Auch Stil und Geschichte eines Periodikums können Grundlage auffälliger nachbarschaftlicher Mischungen sein. Der Beitrag eines Debütanten wirkt in einem von prominenten, mit der Historie der Zeitschrift eng verbundenen Autoren geprägten Umfeld anders als in einem Organ mit vornehmlich jüngeren Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Wobei es für Sinn und Form von Anfang an ein wichtiges Anliegen war, nicht nur etablierte Namen zu bringen, sondern auch neue Stimmen zu entdecken. Man könnte sagen, dass eine interessante Mischung, eine bestimmte Diversität für diese Form von Nachbarschaft entscheidend ist. Die Lebendigkeit des Miteinanders schützt vor Verkrustung und Erstarrung.

Der von einer Redaktion gesetzte Rahmen, die von Herausgebern getroffene Auswahl scheint gerade in Zeiten der individuell erstellten Themenprofile der Sozialen Medien, der von Algorithmen aufgrund persönlicher Nutzerdaten errechneten Timelines einen eigenen Reiz zu entwickeln. Auch bei sehr jungen Leserinnen und Lesern, wie wir der zunehmenden Zahl der Schüler- und Studentenabonnements entnehmen. Die Möglichkeit, auf eine schier unendliche Menge von Inhalten frei und unmittelbar zugreifen zu können, macht eine auf eine bestimmte Seitenzahl beschränkte, in größeren Zeitabständen erscheinende und auf nicht unmittelbar nachvollziehbaren Kriterien beruhende Zusammenstellung, die obendrein erworben werden muss, zu einem Gegenmodell. Wer sich darauf einlässt, vertraut darauf, hier etwas zu erfahren, was er anderswo nicht erfährt. In diesem Sinne ist das Gegenmodell auch Ergänzung und Erweiterung der neuen literarischen Partizipationsmöglichkeiten. Im idealen Fall grenzen sie sich nicht völlig voneinander ab, sondern nehmen sich gegenseitig wahr, greifen Einflüsse und Entwicklungen auf. Auch eine klassische Zeitschrift wie Sinn und Form kann sich den Sozialen Medien nicht verschließen, muss auf neue kommunikative Bedürfnisse reagieren, den Austausch mit Nutzerinnen und Nutzern suchen, die auch Leserinnen und Leser werden können oder es bereits sind. Der Wegfall früher üblicher Zeitschriftenrundschauen und regelmäßiger Besprechungen hat ohnehin dazu geführt, andere Wege der Bewerbung und Bekanntmachung zu suchen, neue Formen der Leserbindung zu erproben. Die Übergänge sind fließender, die Grenzen durchlässiger geworden.