Wer sich in die Gegenwartsliteratur begibt, kommt darin zwar nicht um, aber er wird zum Player. Als ich mich vor einem Vierteljahrhundert zum ersten Mal ernsthaft mit aktuellster Literatur beschäftigte, damals mit der Pop-Literatur der späten 1990er Jahre, und dazu einen Kurs als Gastdozent in Athens/Georgia anbieten wollte, erkundigte sich der dortige Kollege besorgt, ob es denn auch sicher sei, dass meine Auswahl zukünftig zum Kanon gehören würde (wie, so meinte er, Patrick Süßkinds Das Parfum). Nein, dachte ich so bei mir, aber wir arbeiten dran. Und so war es dann auch.

Die Idee, man müsse eine Generation warten, um ein literarisches Werk wissenschaftlich solide behandeln zu können, beruht auf der Vorstellung eines gesicherten Kanons, der sich aus den unübersichtlichen Gemengelagen jeder Gegenwart mit der Zeit herausmendeln würde. Diese Vorstellung hat sich aus verschiedenen Gründen überlebt: Zum einen hat ein neueres Verständnis der Literatur- als Kulturwissenschaft die enge Kopplung von wissenschaftlicher Aufmerksamkeit und Valorisierung gelöst. Es lassen sich relevante wissenschaftliche Studien zu Werken und Autoren anfertigen, an deren Kanonisierung oder Re-Kanonisierung einem nicht gelegen ist, und auch ohne zu einer solchen beizutragen. Wenn ich, sagen wir, zu Gustav Frenssen, Gerd Gaiser oder Rammstein arbeite, dann behaupte ich zwar eine Bedeutung von deren Werk in ihrer Zeit, möchte sie aber nicht zwangsläufig für einen transhistorischen Kanon oder Gegenkanon reklamieren. Dies zeigt sich auch in jüngeren Ausstellungskonzepten zu historischen Epochen, die zu einer breiteren Repräsentation nicht-kanonischer und einer kontextualisierenden Relativierung kanonischer Werke tendieren. Selbst zu Paul Heyse, dessen rapide Entkanonisierung im frühen 20. Jahrhundert zu der germanistischen Überzeugung, man brauche diesen zeitlichen Puffer, mutmaßlich beigetragen hat, gab es in jüngster Zeit wieder recht interessante Forschungsbeiträge.

Zum anderen erweist sich immer deutlicher, dass Carl Einstein mit seiner Beobachtung, »jede Zeit schafft sich ihre Geschichte, durch die ihr gemäße Auswahl«,Footnote 1 auch für die Literaturgeschichte recht hatte. Gerade in jüngster Zeit werden, das ist ja nicht zu übersehen, vermeintlich überhistorische Klassiker verstärkt durch feministische, postkoloniale, klassenbezogene, aber auch neokonservative, postsäkulare, nationalistische und andere Diskurse und Interventionen in Frage gestellt. Umgekehrt gibt es (auch von rechts) die Bemühung um Gegenkanones, die bisher marginalisierte Autor:innen und Werke aufwerten sollen. Die allgemeine und umfassende synchrone Zugänglichkeit der digitalen Archive, die es ja noch gar nicht so lange gibt, ist eine Ermöglichungsbedingung solcher Tendenzen. Hierbei ergeben sich oft schmerzhafte und aus gutem Grund umkämpfte Aushandlungsprozesse, in deren Verlauf sich auch zeigt, wie eng bestimmte literarische Bestände mit der eigenen Identität, auch der professionellen, verknüpft waren und sind.

Wenn sich aber selbst das vergangene Gute, Schöne und Wahre als Funktion der Gegenwart erweist, dann ist das Separationsgebot hinfällig. Was Literaturwissenschaftler:innen zu interessanten Playern im Bereich der Gegenwartsliteratur und -kultur machen könnte, wäre dann nicht mehr irgendeine obsolete Definitionsmacht im Bereich des Kanonischen, sondern ganz schlicht ihr theoretischer und methodologischer Werkzeugkasten zur Analyse von Texten und Kontexten. Wir können, einfach aufgrund unserer Profession, besser lesen als andere. Das gilt es unter Beweis zu stellen.

Die Herausforderung der Gegenwartsliteratur für die Literaturwissenschaft ist also gar nicht so verschieden von der Herausforderung, vor die uns jede andere Literatur auch stellt. Wie wir inzwischen gelernt haben, historische Werke in ihren diskursiven, medialen, ökonomischen und historischen Kontexten zu lesen, so können wir auch bei einem Gegenwartsroman nicht einfach davon ausgehen, er wäre von derselben Art wie, sagen wir, ein Roman von Thomas Mann oder Franziska zu Reventlow; steht er doch in einer ganz anderen Medienkonkurrenz, in ganz anderen ökonomischen Verwertungsketten, auch seine Leser:innen befinden sich in ganz anderen Bildungs- und Verständigungszusammenhängen. Es mag banal klingen, überhaupt darauf hinzuweisen, aber nichts davon ist trivial (wie sich überhaupt wenig von selbst versteht), und so gilt es im Einzelfall genau zu analysieren.

I.

Um den Ball der Herausgeber:innen aufzunehmen: Zweifellos hat es eine gewisse Plausibilität, die gegenwärtig dominante »Tendenz zu erfahrungsbasiertem«, sprich: auktorial beglaubigtem »Schreiben und gleichermaßen einen Plausibilitätsverlust fiktionaler literarischer Formen« zu konstatieren und als, womöglich marktförmige, Bedrohung oder doch Veränderung des Literaturbegriffs wahrzunehmen. Umgekehrt kann man aber auch fragen, warum all diese mehr oder weniger gestalteten Selbsterfahrungsberichte denn unbedingt als Literatur, meist als Romane, in Erscheinung treten wollen. Warum genügt ihnen der Status des Faktualen (des Sachbuchs, der Autobiografie) nicht? Nun, die sogenannten ›Autosoziobiografien‹ erzählen eben nicht einfach von Arbeitswelt und Freizeit irgendwelcher Berufstätiger. Das würde vermutlich auf begrenztes Interesse stoßen, und es ergäbe eben auch keine ›Kunst‹ im emphatischen Sinne, als Zeichen zweiter Ordnung. Das neue autofiktionale Schreiben aber setzt durchaus auf starke Bedeutungsstrukturen: Der niedrigprivilegierte Lebensbericht muss seinerseits noch einmal etwas bedeuten, und um diese literarische Bedeutsamkeit zu erzeugen, dazu dienen – von allem Realitätsgehalt abgesehen – die Traumata, Unterdrückungs- und Diskriminierungsfigurationen, die solchen Texten ihre Tiefenstruktur geben; das ist ihre Funktion in der semiotischen Struktur des literarischen Textes. Sie werden nicht einfach faktual mitgeteilt, sondern konstituieren eine Bedeutsamkeit des Textes auf höherer Ebene: schwere Zeichen als Marker gehobener Literarizität mit dem Anspruch auf Valorisierung und Literaturpreiswürdigkeit. Es ließe sich also geradezu umgekehrt argumentieren: Diese neue autorzentrierte Literatur weicht den klassischen Literaturbegriff womöglich gar nicht auf, sondern braucht ihn ganz wesentlich und bedient sich seiner für ihre Zwecke.

Das ist nun in der Geschichte der Kunst und Literatur kein ungewöhnlicher Vorgang. Ob dabei gute, progressive Literatur entsteht, lässt sich kaum pauschal, sondern nur im Einzelfall durch sorgfältige Lektüre entscheiden; bestenfalls zeigen sich Tendenzen. So stieß jüngst ein Romanauszug einer Autorin mit Migrationserfahrung bei einer erfahrenen Lektorin eines führenden Literaturverlags auf Ablehnung, weil er aus der Sicht einer jungen Frau und Mutter erzählt ist, die misogyne Züge hat und ihre Tochter gegenüber ihrem Sohn benachteiligt. Die Autorin – das war allen Beteiligten klar – teilt diese Misogynie nicht, kann sie aber als verbreitete Haltung im entsprechenden Milieu beglaubigen. Ich vermeinte hier eine außergewöhnlich interessante und literarisch vielversprechende Erzählposition im entsprechenden Genre zu erkennen, die Lektorin aber argumentierte, allein die Repräsentation dieser Misogynie ginge in die falsche Richtung. Wenn ich das mal (in unzulässiger Weise, wäre dies ein Einzelfall) generalisiere, dann geht die Nachfrage offenbar nicht einfach auf beglaubigte Erzählpositionen, sondern die autornahe Erzählfigur soll überdies noch ein positives Identifikationsangebot für die Leserin liefern. Figur und Autorin sollen, mit anderen Worten, zwar aus einer Sphäre jenseits des privilegierten Publikums kommen, das in der Regel überhaupt literarische Texte rezipiert, dennoch aber dessen Werte (z. B. Feminismus, Antirassismus) teilen und, ja, bestätigen. (Wo tatsächlich Niedrigprivilegierte, die über wenig Bildung und Theorie verfügen, ihre Weltsicht unsublimiert darlegen, kommen in vielen Fällen misogyne, rassistische, homophobe, antidemokratische und anders vorurteilsbehaftete Stimmen zutage, die uns abstoßen und befremden und die wir ungern gedruckt sehen wollen.)

Stephen Greenblatt hat mal darauf hingewiesen, dass wir dazu tendieren, solche Positionen in historischen Texten für besonders progressiv zu halten, die unseren eigenen, heutigen entsprechen – und so auch hier. Dass dabei eine Trivialität im Literarischen insofern droht, als die Bedeutung eines literarischen Textes zwischen Produktions- und Rezeptionsseite von vornherein immer schon klar und geteilt ist, hat auch mit den allgegenwärtigen neuen Rückkopplungsstrukturen in den digitalen und sozialen Medien zu tun. Sie sorgen, etwas schlicht gesprochen, dafür, dass ich zuverlässig genau das angeboten bekomme, was ich und meine ästhetische Stilgemeinschaft ohnehin nachfragen. Ich muss mir dann keinen Roman mehr zumuten, in dem die Zentralfigur eine misogyne junge Frau ist und mich in meiner Identifikation irritiert. Es gibt schließlich genügend Alternativangebote, in denen die Heldin, wie in jeder besseren Netflix-Serie, als eine sicher auch problembeladene, aber im Grunde doch sympathische Person durch die Widrigkeiten des Lebens geht und ihre Traumata verarbeitet. Indem ich mich mit dieser Figur identifikatorisch gegen jene anderen verbünden kann, die an diesen Widrigkeiten schuld sind, werden meine eigenen Werte und die meiner Crowd bestätigt, ich fühle mich insgesamt auf der richtigen Seite und wohl.

II.

Das Problem ist nicht, dass es solch triviale Literatur gibt; es entsteht erst, sobald sie über die relevanten Diskurse und schweren Zeichen eine literarische Bedeutsamkeitsbehauptung transportiert, die sie – eben aufgrund ihres trivialen Verfahrens – nicht einzulösen imstande ist. Argumentiert man so und versucht, die literarischen Unzulänglichkeiten analytisch zu belegen, wird man alsbald einer weiteren Herausforderung durch die Gegenwartsliteratur begegnen: Die Stilgemeinschaften, in deren Erwartungsraum sich erfolgreiche Literatur hineinschreibt, sind nämlich keineswegs mehr ohne Weiteres bereit, sich dem Urteil der alten Gatekeeper literarischer Valorisierung anzuschließen. Sie urteilen längst mit eigenen Maßstäben und verfügen – auch dies ist eine Errungenschaft des digitalen Dispositivs – über Medien, um sich darüber auszutauschen; jenseits der alten Kanäle von Feuilleton und Akademie. In Deutschland hat sich das exemplarisch in der Debatte um Takis Würgers Roman Stella (2019) gezeigt, in der sich elementare Player des Literarischen wie Verlag, Buchhändler:innen und Leser:innen vehement gegen die einhelligen und gut begründeten Verrisse des Buches im Qualitätsfeuilleton zusammenschlossen. In einem offenen Brief wurde den Kritiker:innen die übergeordnete Gatekeeperfunktion abgesprochen; die vermeintlich interesselos-objektive Instanz der Kritik sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, selbst nur eine Bubble zu sein, eine interessierte Partei, der es im laufenden Streit nur um ihre eigene Bedeutungssicherung gehe.Footnote 2

Solche Vorwürfe lassen sich mutatis mutandis auch an die akademische Literaturwissenschaft adressieren. Hier muss die wissenschaftliche Lektüre den Mut aufbringen, sozusagen mit der Stilgemeinschaft gegen sie zu lesen – zu verstehen, was diese hier liest, und womöglich die strukturelle Lüge aufzuzeigen, der sie dabei aufsitzt.Footnote 3 Dass so etwas auf Widerstände stößt, ist erwartbar und womöglich auch richtig. Als Player im Gefüge der literarischen Gegenwartskultur wird sich die Literaturwissenschaftlerin hier allein über ihre Kompetenz, also eine solide, theoriegestützte, in der wissenschaftlichen Gemeinschaft erprobte Analyse legitimieren können. Dabei bleibt ihre Stimme allerdings eine unter anderen, und sie muss sich damit auseinandersetzen, dass auch die Kritik an den eigenen Argumenten nicht allein mit wissenschaftlichen Argumenten erfolgt.

III.

Weiterhin spielt dabei die Kopplung von Analyse und Valorisierung eine Rolle. Mir scheint der Impuls nicht falsch, relevant zu finden, was populär ist – massenhaft populär oder eben populär in bestimmten Stilgemeinschaften. Sicher, relevant heißt noch nicht gut. Und selbstverständlich gibt es auf der Gegenseite die verbreitete Meinung, das literarisch Relevante und Gute erschließe sich ohnehin nur den Chosen Few. In Szenen, wie sie sich in Lyrikzirkeln oder um Literaturzeitschriften konstituieren, scheint oftmals noch ein alter, an die Avantgarden angelehnter Begriff des Literarischen einigermaßen intakt, der, obzwar tendenziell zu schwierigen Texten neigend, unseren überkommenen Literaturbegriff kaum herausfordert. Wo Literaturwissenschaft sich auf diese Art komplexer Literatur beschränkte, bliebe sie in der Tat Teil einer elitären und minoritären Bubble.

Auf der letzten Leipziger Buchmesse traf ich am geliebten Kookbooks-Stand genau eine Person, die ich noch dazu kannte; eine Halle weiter wartete eine endlose Schlange junger Frauen geduldig vor einem Stand mit Young Adult Fiction (YA). Bis vor Kurzem wusste ich gar nicht, was das überhaupt ist – im Unterschied zu meinen Studierenden übrigens. Auch die Gattungen definieren sich derzeit auf dem Markt aus und nicht an der Universität. Sich von der Gegenwartsliteratur herausfordern zu lassen, bedeutet aber, sich auch mit solchen neuen Formen des Populären einzulassen, die sich vermeintlich unterkomplex geben, mit dem Populären Realismus, dem seriellen Erzählen, dem Ludischen oder dem World Building.

Dabei gilt es jedoch a fortiori, die wissenschaftlichen Maßstäbe zu wahren. Akademische Literaturwissenschaft darf sich als solche (und wieder klingt es banal) selbst nicht der Unterkomplexität schuldig machen. Insbesondere sollte sie sich nicht an dem Spiel beteiligen, vorschnell literarisch zu valorisieren, was diskursiv angesagt ist. Kraft ihrer analytischen Kompetenz obliegt es ihr vielmehr, in jedem Einzelfall zu fragen und zu zeigen, was einem literarischen Werk kraft seiner ureigenen Verfahren innerhalb solcher Diskurse für eine Funktion zukommt, und wie umgekehrt das literarische Werk von ihnen profitiert. Und das ist zuverlässig immer ein komplexes Unterfangen. Dass einige postmoderne und -strukturalistische Optionen derzeit womöglich an Reiz und Erklärungskraft verloren haben, macht einen vermeintlich einfachen Realismus der Erzählens und eine dazugehörige simpel-inhaltistische, aussagen- und autorbezogene Hermeneutik, wie wir sie aus guten Gründen längst überwunden hatten, nicht plötzlich wieder gut. Unser Einsatz angesichts solcher Texte wäre, zu zeigen, warum das so ist. So ließe sich auf Stellen hinweisen, an denen das stereotype Erzählen, das einen vermeintlich ungekünstelten Realismus prägt, zu stereotypen Menschen‑, Rollen- und Feindbildern führt, die wir aufgrund unserer Identifikation mit der autornahen Erzählinstanz gar nicht als solche bemerken.Footnote 4

Gleichzeitig, und das fällt naturgemäß schwerer, gilt es aber auch, das neue Dispositiv wahr- und ernstzunehmen, in dem Literatur heute produziert, distribuiert und rezipiert wird. Dass irgendeine Kunst sich heute noch in einer seligen Sphäre jenseits der Einflüsse des Marktes, des Digitalen oder der neuen Medien befände, dass literarische Werke sich aufgrund eines obsoleten Begriffs von Ästhetik den aktuellen Diskursen schadlos verweigern könnten, das können ja nur Anhänger:innen von Authentizitätsmythen ernsthaft glauben. Wer sich mit den Formen des Populären beschäftigt, wird dagegen rasch nicht nur auf eine Gegenwartsliteratur stoßen, die diese bedient, sondern auch auf eine, die diese Formen wiederum selbst aufnimmt, reflektiert und verarbeitet. Das war in den 1990ern die Pop-Literatur, heute ist es eine mal mehr, mal weniger pop-affine Literatur, die sich den simpleren Formen des Populären Realismus verweigert, paradigmatische Alternativen erkundet und über ihre erzählerischen Tentakel Möglichkeitsräume erschließt. Eine solche post-digitale, post-ironische Literatur auf der Höhe der Zeit fordert die Literaturwissenschaft auch heraus, aber diesmal mit der schönen Challenge, unsere eigenen ästhetischen und analytischen Maßstäbe auf die Höhe ihrer Komplexität weiterzuentwickeln.Footnote 5