Zusammenfassung
Der Beitrag geht der Frage nach, was ein Konzept von Postautonomie gegenüber demjenigen der Heteronomie für die Beschreibung aktueller Tendenzen der Gegenwartsliteratur leisten könnte. Argumentiert wird, dass eine Beobachtung von Gegenwartsliteratur und Literarizität davon profitiert, an frühere theoretische und literarische Entwürfe zum Verhältnis von Ästhetik und Gesellschaft angebunden zu werden.
Abstract
This article explores the question of what a concept of postautonomy, as opposed to one of heteronomy, might do to describe current trends in contemporary literature. It is argued that a reading of contemporary literature and literariness benefits from being tied to earlier theoretical and literary conceptions of the relationship between aesthetics and society.
Avoid common mistakes on your manuscript.
I.
Die Autonomie, so wird behauptet, sei in der Kunst der Gegenwart an ihr Ende gekommen.Footnote 1 Für die Gegenwartsliteratur steht das Autonomiepostulat aufgrund neuerer Entwicklungen ebenfalls infrage. Dabei handelt es sich zum einen um veränderte Rahmenbedingungen der Produktion, Distribution und Rezeption literarischer Texte. Aber auch die (Selbst‑)Verortung von Literatur hinsichtlich ihrer ästhetischen bzw. gesellschaftlichen Bezugssysteme ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung.
Das aktuell viel diskutierte Genre der Autosoziobiographie kann hier beispielhaft für miteinander verwandte Textformate der Gegenwartsliteratur angeführt werden, die – mehr oder weniger explizit – den Anspruch verfolgen, Narration und Gesellschaftsanalyse, Poetik und Politik miteinander zu verbinden.Footnote 2 Eine Reihe stark beachteter gegenwartsliterarischer Texte verortet sich sogar ganz in der Lebenswelt und nicht im Feld von Ästhetik: So formuliert etwa Dinçer Güçyeter, sein mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 ausgezeichneter Roman Unser Deutschlandmärchen suche seinen »Wert nicht in der Kunst, sondern mitten im Nabel des Alltags«.Footnote 3 Und Édouard Louis, einer der Protagonisten der französischsprachigen Autosoziobiographie, stellt in seinem jüngsten Buch Changer: méthode (2021) klar, dass es ihm gar nicht in erster Linie um die Produktion von Büchern gehe. Das Schreiben sei ihm lediglich zufällig als eine Möglichkeit begegnet, der Vergangenheit zu entfliehen und sich selbst »noch einmal grundlegend zu verändern«.Footnote 4
Dass die Selbstbestimmung von Literatur als Teil der Alltagsrealität oder als Mittel zum Erreichen außerliterarischer Zwecke die Positionierung literarischer Texte im Spannungsfeld von ästhetischer Autonomie und Heteronomie tangiert, womöglich gar die Frage nach einer postautonomen Literatur aufwirft, darf angenommen werden und scheint Auseinandersetzungen mit gegenwartsliterarischen Phänomenen nicht fremd zu sein; selten wird diese Frage in den literaturwissenschaftlichen und kulturkritischen Auseinandersetzungen mit Entwicklungen und Erscheinungsformen der Gegenwartsliteratur jedoch nachdrücklich entfaltet.Footnote 5
Dieser Umstand könnte darin gründen, dass die Heteronomie der Gegenwartsliteratur nur allzu offensichtlich ist und angesichts dessen Überlegungen zu deren (autonomie)ästhetischen Status unangemessen, nämlich als Anachronismus, erscheinen. Gleichwohl kann aber festgestellt werden, dass auch die Analysepraxen gegenwartsliterarischer Texte weiterhin insofern von einem autonomieästhetischen Postulat grundiert werden, als Lektüreverfahren vorherrschen, die tradierten Literarizitätskonzepten folgen und mithin davon ausgehen, dass sich literarische Texte in singulärer und prinzipieller Weise durch ihre ›eigenständige‹ Poetizität auszeichnen.Footnote 6
II.
Für die Gegenwartsliteratur von postautonomen Tendenzen auszugehen, könnte nicht nur bedeuten, dass diverse Heteronomien (wie zum Beispiel ökonomische Interessen, politische Belange, institutionelle Zwänge oder die Vulnerabilität des Körpers und der Psyche) aus den Texten nicht ausgeschlossen werden können – vielmehr haben gegenwartsliterarische Texte (ihre) Heteronomität selbst zum zentralen Thema. Das scheint zumindest für eine gewisse Zahl literarischer Entwürfe der Fall zu sein, die Fiktion und außerliterarische Erfahrungswelten nicht scharf voneinander trennen und sich daher (immer auch noch) als etwas Anderes als Literatur verstehen, als Gesellschaftsanalyse, als politisches Statement oder als Mittel zur Selbsthilfe – und dies in aller Deutlichkeit ausweisen und darin ihre eigene Sinnhaftigkeit finden: indem sie die ›Eigenständigkeit‹ ihrer Literarizität aufgeben. Die Annahme einer postautonomen Literatur könnte demnach als Preisgabe einer Verteidigung der Erfahrung autonomer Kunst gefasst werden, die so prominent von Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie (1970) als immer wieder neu und eigens zu leistende Aufgabe angenommen wurde.Footnote 7 Die Vermutung, dass dies formal-ästhetischen Innovationen nicht zuträglich sein kann, erscheint gleichermaßen zutreffend wie als Bewertungsmaßstab gegenüber den infrage stehenden Texten dann als unangemessen, wenn es ihnen a) gar nicht um literarische Originalität geht oder b) sie sich der Suche nach literarischen Ausdrucksmitteln widmen, die gerade aufgrund von Erzähltraditionen und Genrekonventionen, die von einem als bürgerlich interpretierten Autonomiepostulat geprägt seien,Footnote 8 bisher keine oder nur eine nicht befriedigende Ausprägung gefunden haben.
Josefina Ludmer, die 2007 mit ihrem Aufsatz Literaturas postautónomas das Konzept der Postautonomie in den literaturtheoretischen Diskurs einspeist, beobachtet anhand der Gegenwartsliteratur, dass diese sich sowohl innerhalb wie außerhalb der literarischen Sphäre und »at the end of the cycle of literary autonomy«verorte: »[P]ostulate of these writings would be that reality (which is constituted by its changing media) is fiction and fiction is reality.«Footnote 9 Ludmer behauptet also für die von ihr ins Auge gefassten literarischen Texte nicht nur eine Äquivalenz,Footnote 10 sondern vielmehr eine Identität von Realität und Fiktion. Während die performativen Qualitäten von Literatur wie die der medial vermittelten Realität betont werden, steht, folgt man dieser Beschreibung postautonomer Literatur, die Dichotomie von Wirklichkeit und Poesie grundlegend infrage – und damit zuletzt auch der Literaturbegriff als solcher. Sicher lässt sich dann nur noch mit Schwierigkeiten von einem (literarischen) Realismus sprechen, erscheint es doch nicht mehr möglich, die infrage stehenden Texte ohne Weiteres als ›realistisch‹ zu klassifizieren – weder in referentieller noch in wahrheitsgetreuer Hinsicht,Footnote 11 insofern diese die Gegenübersetzung von Fiktionalität/Faktizität oder Ästhetik/Ethik programmatisch unterlaufen und sich daher nicht nach Maßgabe solcher Dichotomien fassen lassen. Dass sie damit die Autonomie von Literatur grundsätzlich diskreditieren, wird aber auch in einer Beschreibung ihrer als ›ästh-ethische‹ TexteFootnote 12 nicht unmittelbar sichtbar, sondern in der (impliziten) Behauptung einer mehr oder weniger gelungenen, aus literatur- und kulturkritischer Perspektive mehr oder weniger zulässigen Diffusion oder Oszillation der Konzepte von Ästhetik und Ethik überschrieben. Die infrage stehenden Spielarten der Gegenwartsliteratur bilden ihrem Selbstverständnis nach kein eigenes Feld, kein distinktes System und keine außer-gesellschaftliche Sphäre. Damit verbindet sich deshalb aber noch kein genereller Paradigmenwechsel von der autonomen Literatur zu einer heteronomen oder postautonomen: Auch wenn dies dem Bedürfnis nach dezidierten Diagnosen entgegensteht, so widersprechen dem sowohl die Komplexität und Heterogenität der Gegenwartsliteraturen als auch das Vorhandensein von Heteronomie (und vielleicht sogar von Postautonomie) in vormodernen Formationen, aber auch in der Literatur der Moderne.
III.
Ich wollte unbedingt mal von mir absehen, weil mir nämlich eingeleuchtet hat, was da neulich im Feuilleton stand: dass diese ganzen Klassenfragetexte doch immer nur von der Herkunft der Schreibenden handeln und wie heldenhaft sie da jeweils rausgekommen sind. Das sei kitschig, hieß es, und das hat mir eingeleuchtet. Weg mit dem Ich, hab ich gedacht, her mit der Schwiegermutter. Deren Elend baller ich euch ins Gehirn.Footnote 13
Wenn Anke Stelling solcherart in vermeintlichem Missverstehen der im Feuilleton geäußerten Kritik an ihren Romanen, darunter einer, Schäfchen im Trocknen, der, 2019, ebenfalls mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, gerade nicht auf eine formal-ästhetische Aufwertung ihres literarischen Schreibens setzt, sondern im Gegenteil einen »mit heißer Nadel gestrickt[en] und mit stumpfer Feder geschrieben[en]«Footnote 14 Text zur Anthologie Klasse und Kampf (2021) beiträgt und dieser Entwurf am Ende nicht auf Miserabilismus aus ist, sondern als ziellos wütende Anklageschrift formuliert wird, dann zeigt sich darin zugleich eine Zurückweisung (autonomie)ästhetischer Ansprüche als auch eine Verspottung des literarischen Realismus: »Gut kommt’s, wenn’s echt ist«,Footnote 15 höhnt Stelling. Jenseits einer Bewertung dieses Einsatzes (in ästhetischer, politischer, ethischer oder welcher Hinsicht auch immer) lässt sich zunächst einmal nüchtern feststellen, dass hier eine Form der Verweigerung gegenüber dominierenden Weisen, gegenwartsliterarisches Schreiben zu fassen und zu evaluieren, vorliegt.
Wie tief das Nähe-Distanzverhältnis von Autonomie, Heteronomie – und Postautonomie –, von literarischer Zweckfreiheit und außerliterarischen Funktionen, oder auch ein Kassieren dieser Gegensätze, literaturtheoretisch und -geschichtlich zurückreicht, lässt sich ausgehend von dem Zitat aus Stellings Beitrag zu Klasse und Kampf exemplarisch anhand von Präfigurationen des in der Gegenwartsliteratur(wissenschaft) rezenten Genres der Autosoziobiographie erörtern: Verwandte Formen aktueller autosoziobiographischer Darstellungen, die früh Klassen-Phänomene zum Sujet haben und sehr ähnliche narrative Verfahren verwenden sowie vergleichbaren postautonomen Zielsetzungen folgen wie die aktuell diskutierten Texte, lassen sich spätestens in den 1970er Jahren beobachten.Footnote 16 So ist etwa bezeichnend, dass der Umschlag des Begriffs Classism von einer analytischen Kategorie zum performativen Konzept einer anti-klassistischen Bewegung selbst literarischen Ursprungs ist: Als politischer Begriff wurde er erstmals in dem Essayband Class and Feminism (1974) der US-amerikanischen Frauengruppe The Furies, die sich selbst als »lesbian/feminist collective composed of white lower, working, and middle class women«Footnote 17 beschreibt, verwendet. Class and Feminism arbeitet dabei mit ganz ähnlichen Erzählweisen, wie sie die Autosoziobiographie verwendet: Zu minimalen Szenen verdichtete Schilderungen von Kindheitserlebnissen werden mit klassentheoretischen Reflexionen verbunden;Footnote 18 Fotografien aus dem privaten Kontext werden in die Darstellung integriert; die zu einer kollektiven Stimme versammelten Texte weisen sich deutlich als ›engagierte‹ Literatur aus; und auch der intersektionale Modus der Autosoziobiographie ist klar erkennbar, insofern Klassismus in Class and Feminism als Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft und als Problem, das die feministische Bewegung spaltet, in Erscheinung tritt.
IV.
In einer diachronen Perspektivierung autosoziobiographischer Schreibverfahren lässt sich nun aber auch noch deutlich weiter ausgreifen – dies insbesondere, wenn es darum geht, die produktions- und wirkungsästhetischen Impulse, die von gegenwartsliterarischen Tendenzen ausgehen, zu erhellen. Denn wenn sich feststellen lässt, dass es in Texten der Gegenwartsliteratur zu einem auffällig gehäuften Auftreten von Sozialfiguren, wie der transclasses (C. Jaquet), kommt und im Medium der Literatur gesellschaftliche Problemlagen und aktuelle Transformationsprozesse nicht nur abgebildet und analysiert werden, sondern, während deren Komplexität und Gestalt außer-literarisch nur in Umrissen erkennbar sind, zu deren figuraler Konkretion beitragen, dann darf dies sicherlich nicht als ein literarisches Novum gewertet werden. Eine solche Beschreibung lässt sich nämlich nicht erst anhand gegenwartsliterarischer Texte gewinnen, sondern auch bereits anhand von Gattung(sexperiment)en vergangener Epochen.Footnote 19 Hinsichtlich der aktuellen Konjunktur autosoziobiographischer Herkunfts- und Bildungsgeschichten darf dabei ›um 1800‹ als ein einschlägiger Vergleichshorizont gewertet werden, lässt sich doch für die Sattelzeit – analog zur gegenwärtigen Auseinandersetzung mit autosoziobiographischen Bildungserzählungen – ebenfalls angesichts neuer Deutungsmuster von Bildung und weitreichender gesellschaftlicher Umbrüche eine literarische Auseinandersetzung mit Modellen der Vermittlung von Sozial- und Bildungsverhältnissen beobachten, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht verfestigt und lediglich ihren Konturen nach sichtbar waren: In der longue durée fällt auf, dass diejenigen autobiographischen Bildungsgeschichten, die zunächst im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum publiziert werden, ausgerechnet von solchen Autor:innen stammen, die in der heutigen Diktion wohl als transclasses bezeichnet werden würden, wie zum Beispiel Anna Louisa Karsch, Ulrich Bräker oder Johann Heinrich Jung-Stilling.Footnote 20 Als literarische Underdogs, als poeta non doctus und als Protegés ihrer im Literaturbetrieb etablierten Förderer verkörperten diese ein ›ungelehrtes Dichten‹,Footnote 21 das als Beleg der Möglichkeit einer autonomen, nämlich vermeintlich durch äußere Einflüsse (wie eben die Geburt in einen privilegierten Stand) unbeeinflussten Literatur gelten konnte. Zugleich trugen deren Texte aber auch von Anfang an zu einer sozialhistorischen Grundierung der autobiographischen Gattung bei.Footnote 22
Mit Blick auf die Gegenwartsliteratur liegt die besondere Bedeutung dieses Befunds darin, dass offenbar bereits in der Entstehungszeit der Autobiographie diese in eine Reflexion über die soziale Bedingtheit literarischer Ausdrucksformen eingebunden ist, was in der aktuellen Ausprägung autosoziobiographischer transclasses-Literatur ebenfalls der Fall ist. Darüber hinaus, und darauf liegt hier das Augenmerk, stehen die frühen autobiographischen Berichte der ›ungelehrten Dichter:innen‹ aus niederem Stand auch mit der Herausbildung literaturtheoretischer Positionen in Verbindung, wenn sie aufgrund des Narrativs eines ungelehrten Dichtens, in dem sich ein von Natur gegebenes Talent im Schriftstellerischen Bahn bricht, einerseits autonomieästhetischen Vorstellungsinhalten Modell stehen, andererseits aber gerade die Heteronomie der Literatur sich im Sinne ihrer Abhängigkeit von Systemen der Patronage und ihrer Relevanz als Brotverdienst zeigt. So ist es auch charakteristisch, dass diese Texte von einer Kontradiktion bestehend aus der Förderung durch Vertreter der frühen Autonomieästhetik und einer (späteren) Abwertung ihrer literarischen Qualitäten innerhalb der Genieästhetik betroffen sind.
Dass das Autonomiepostulat auch bereits innerhalb seiner Entstehungszeit – und nicht nur im Kontext der frühen auto(sozio)biographischen Texte im engeren Sinne, aber mit diesen in latenter Verbindung stehend – nicht ohne Widerspruch auskommt, lässt sich nicht zuletzt daran ersehen, dass einer der wichtigsten Protagonisten und Vordenker dieser literaturtheoretischen Position, Karl Philipp Moritz, parallel zu seiner einflussreichen theoretischen Schrift Ueber die bildende Nachahmung des Schönen (1788) mit seinem Roman Anton Reiser (1785–1790) einen Text vorlegt, der die autonomieästhetische Position aus einer autobiographisch grundierten, sozial-psychologischen und pädagogischen Sicht zu beleuchten und in einem anderen Licht zu erhellen vermag: Moritz erkundet in seinem negativen Bildungsroman anhand der Biographie seines Titelhelden nicht nur ein nach »Menschenklasse[n]«Footnote 23 geschichtetes Gesellschaftsmodell und dessen Bedeutung für individuelle Bildungs- und Subjektivierungsprozesse,Footnote 24 sondern zeigt dieses auch als mit ästhetischen Autonomievorstellungen in Konflikt stehend. Anton Reisers scheiternde künstlerische Ambitionen können als Figuration dessen, was Moritz in Ueber die bildende Nachahmung des Schönen als misslingende Kunstschöpfung aufgrund eines überschäumenden, vor allem auf Wirkung zielenden ›Bildungstriebs‹ beschreibt,Footnote 25 verstanden werden.Footnote 26 Damit entfaltet der Roman die soziale und ökonomische Bedingtheit dieses Phänomens, auf die einzugehen die theoretischen Texte Moritz’ verzichten (müssen).Footnote 27Ex negativo wird Autonomie hier als ein von mannigfaltigen heteronomen Voraussetzungen abhängiges Privileg sichtbar. Dass eine solche Perspektivierung des intrikaten Verhältnisses von (Auto‑)Biographie, Sozioanalyse und Autonomieästhetik in der Gegenwartsliteratur weiterhin aufgerufen wird, findet seinen symptomatischen Ausdruck dann womöglich auch darin, dass der Protagonist von Thomas Melles sozialkritischem Roman 3000 Euro (2014) in Anlehnung an Moritz’ Protagonisten den Namen Anton trägt.
V.
Ludmer konstatiert, das Postulat vom ›Ende der Autonomie der Literatur‹ resultiere in einer Schwächung etablierter Institutionen wie der universitären Literaturwissenschaft, aber auch der Literaturkritik in ihrer bisher bekannten Form.Footnote 28 Die Beobachtung, dass aktuell eine gewisse Verunsicherung im Umgang mit Gegenwartsliteratur festzustellen ist, spielte auch bei der Konzeption des vorliegenden Themenheftes der DVjs eine Rolle. Die obigen Überlegungen sind vor diesem Hintergrund als Plädoyer für eine Perspektivierung dieser Problematik in der longue durée zu verstehen: Wenn die Betrachtung von Gegenwartsliteratur unter dem Vorbehalt des mangelnden Abstands, der fehlenden Distanz steht, profitiert die Auseinandersetzung mit aktuellen und vermeintlich neuen Genreskripten von einer Betrachtung derjenigen Konzepte von Literarizität und Ästhetik, die in ihr fortgeführt oder auch variiert werden. Umgekehrt trägt ein an gegenwärtigen literarischen Ausprägungen, neuen Genrekonzeptionen und Literaturverständnissen geschulter Blick dazu bei, frühere (literarisch oder theoretisch formulierte) Verschränkungen von Poetik und Politik, Form und Sozialität klarer zu erfassen. Ausgehend von diesen Prämissen wurde hier gezeigt, dass die Literatur der Gegenwart die Debatte um die Autonomie der Kunst nicht in neuer Weise forciert, sondern bereits seit Längerem verhandelte Positionen beerbt und Konflikte und Widersprüche zum Ausdruck bringt, die dem Konzept von Literatur grundlegend inhärent sind.
Der Fokus auf die Entstehung eines postautonomen Literaturbegriffs ist nur eine von vielen Möglichkeiten, das diffundierende Verhältnis der Gegenwartsliteratur zum Außerliterarischen zu diskutieren. Der aktuell vermehrt zu beobachtende Zugriff auch anderer Wissenschaften auf literarische Texte als ihrer je eigenen wissenschaftlichen Fragestellungen gemäßem ErkenntnismittelFootnote 29 verdeutlicht vielmehr erneut, dass es letztlich auf die Frage ankommt »how literature is read today. Or from where it is read.«Footnote 30
Innerhalb der Literaturwissenschaft sollte es dabei auch darum gehen, die oben skizzierten Kategorienfehler in der Einschätzung von gegenwartsliterarischen Tendenzen mithilfe von Konzepten, die ihnen selbst fremd sind, zu vermeiden. Offenbar braucht es in diesem Zusammenhang verstärkt Lektüreverfahren, die nicht allein auf Struktur und Ästhetik abstellen.Footnote 31 Die literatursoziologische Erforschung weist hier gleich mehrere alternative Wege.Footnote 32 Zwingend stellt sich indes nicht zuletzt die Frage, inwiefern nicht nur die Gegenwartsliteratur selbst, sondern auch aktuelle literaturwissenschaftliche und kulturkritische Debatten von dem Literarischen externen Faktoren motiviert sind.
Notes
Wolfgang Ullrich, Die Kunst nach dem Ende der Autonomie, Berlin 2022.
Vgl. Eva Blome, Philipp Lammers, Sarah Seidel (Hrsg.), Autosoziobiographie. Poetik und Politik, Berlin 2022. – Als Genres, die der Autosoziobiographie nahestehen, sind die Autohistoriographie (z. B. Ewald Frie, Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland, München 2023; Lea Ypi, Free: Coming of Age at the End of History, London 2021) und die Autoethnographie (z. B. Heike Behrend, Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung, Berlin 2020; Nastassja Martin, Croire aux fauves, Paris 2019) zu nennen, aber auch der soziologische Gegenwartsroman.
Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen. Roman, Berlin 2022, 191.
Édouard Louis, Anleitung ein anderer zu werden, Berlin 2022, 147 f.
Dies lässt sich zum Beispiel für Moritz Baßlers Buch Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens, München 2022 feststellen: Womöglich sei das darin verhandelte »Problem […] ein aus der Autonomieästhetik herrührendes und mithin altbekanntes«, vermutet Christine Magerski in ihrer Besprechung von Baßlers Studie; vgl. Christine Magerski, »Vom Gegenwartsroman zur Kulturkritik. Literaturessay zu Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens von Moritz Baßler«, Soziopolis. Gesellschaft beobachten, https://www.soziopolis.de/vom-gegenwartsroman-zur-kulturkritik.html (26.05.2023).
Bis heute unterrichtete Lektüretechniken, die trotz der »allmählichen theoretischen Erosion« der Autonomieästhetik weiterhin von dieser dominiert werden, reichen »von der explication de texte, der ›Werkimmanenz‹ der Zürcher und Konstanzer Schule, über das angelsächsische close reading und den New Criticism bis hin zum Strukturalismus und Poststrukturalismus« (Irene Albers, Marcus Hahn, Frederic Ponten, »Die Heteronomieästhetik der Moderne und das Projekt der symmetrischen Literaturwissenschaft«, in: Irene Albers, Marcus Hahn, Frederic Ponten [Hrsg.], Heteronomieästhetik der Moderne, Berlin, Boston 2022, 1–23, hier: 9).
Vgl. Ullrich (Anm. 1), 22.
Zur Kunstautonomie als bürgerliche Kategorie vgl. Christine Magerski, »Kunstautonomie als Problem. Avantgarde, Kulturindustrie und Kulturpolitik«, in: Uta Karstein, Nina Tessa Zahner (Hrsg.), Autonomie der Kunst? Zur Aktualität eines gesellschaftlichen Leitbildes, Wiesbaden 2017, 105–121.
Josefina Ludmer, »After Literature«, Mitos Magazín, https://www.mitosmag.com/infideles/2018/9/26/postautonomous-literatures (26.05.2023).
Vgl. Mariana Simoni, »Postautonomie und Spekulation – das Werk von Veronica Stigger und die Ausweitungen des literarischen Feldes in Lateinamerika«, in: Albers, Hahn, Ponten (Hrsg.) (Anm. 6), 313–335, hier: 315.
»These diasporic writings not only cross the frontier of literature but also that of fiction, and remain inside-outside in both frontiers. This occurs because they reformulate the category of reality: it is not possible to read them as mere ›realism‹ in either referential or verisimilar terms.« (Ludmer [Anm. 9]).
Baßler (Anm. 5), 192.
Anke Stelling, »Plastikteile«, in: Maria Barankow, Christian Baron (Hrsg.), Klasse und Kampf, Berlin 2021, 96–108, hier: 102 f.
Ebd., 98.
Ebd.
Für den deutschsprachigen Kontext sei exemplarisch auf Karin Strucks Klassenliebe (1973) verwiesen; vgl. Eva Blome, »Formlos. Zur Gegenwart sozialer Desintegration in Karin Strucks Klassenliebe (1973)«, in: Blome, Lammers, Seidel (Hrsg.) (Anm. 2), 211–233.
Charlotte Bunch, Nancy Morgen (Hrsg.), Class and Feminism. A Collection of Essays from THE FURIES, Baltimore 1974, 7.
Christian Baron macht darauf aufmerksam, dass es The Furies darum geht, »das kapitalistische Credo ›Vom Tellerwäscher zum Millionär‹, wonach in einer Marktwirtschaft alle alles erreichen können, wenn sie sich nur genügend anstrengen, als Lüge zu entlarven« (Christian Baron, »Klasse und Klassismus. Eine kritische Bestandsaufnahme«, Prokla 175 [2014], 225–235, hier: 226).
Vgl. exemplarisch Marcus Twellmann, »Franz Michael Felder: Aus meinem Leben – Autofiktion, Autosoziobiografie, Autoethnografie«, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 47/2 (2022), 480–514.
Vgl. dazu ausführlicher Eva Blome, Ungleiche Verhältnisse. Bildungsgeschichten als literarische Soziologie, Göttingen 2024 [im Erscheinen].
Vgl. Annika Hildebrandt, »Beobachtete Begeisterung. Ungelehrtes Dichten und Geniekonzept im 18. Jahrhundert«, DVjs 95 (2021), 23–41.
So argumentiert bereits Klaus-Detlef Müller, Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit, Tübingen 1976, 220.
Karl Philipp Moritz, Anton Reiser, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, I, Text, hrsg. Christof Wingertszahn, Tübingen 2006, 379.
Vgl. dazu auch Roman Widder, »Die Form des Sozialen zwischen Kasus und Roman bei Karl Philipp Moritz«, in: Thomas Wegmann, Martina King (Hrsg.), Fallgeschichte[n] als Narrativ zwischen Literatur und Wissen, Innsbruck 2016, 95–118.
Vgl. Karl Philipp Moritz, »Über die bildende Nachahmung des Schönen«, in: Ders., Werke. Reisen, Schriften zur Kunst und Mythologie, Bd. 2, hrsg. Horst Günther, Frankfurt a. M. 1981, 549–578, hier: insb. 566.
Dass auch schon Moritz’ Ueber die bildende Nachahmung des Schönen eine heteronomieästhetische Dimension aufweist, zeigt Carolin Rocks, »Praktiken zur Autonomie. Zu Moritz’ Über die bildende Nachahmung des Schönen«, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 63/2 (2018), 187–203; vgl. auch Carolin Rocks, »The Moral Force of Art. Karl Philipp Moritz on Formative Imitation and ›Bildung‹«, in: Frederike Middelhoff, Adrian Renner (Hrsg.), Forces of Nature. Dynamism and Agency in German Romanticism, Berlin, Boston 2022, 57–77.
Vgl. Rüdiger Campe, »Zeugen und Fortzeugen in Karl Philipp Moritz’ Über die bildende Nachahmung des Schönen«, in: Christian Begemann, David E. Wellbery (Hrsg.), Kunst – Zeugung – Geburt, Freiburg i.Br. 2002, 225–249, hier: 227.
Ludmer unterstreicht »[t]he end of one era in which the literature had an internal logic and a crucial power. The power of defining itself and being directed by its own laws with its own institutions (criticism, universities) that publically debate their function, valor and meaning« (Ludmer [Anm. 9]).
Vgl. z. B. Sina Farzin, »Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose«, in: Heiner Hastedt (Hrsg.), Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2019, 137–148; Markus Rieger-Ladich, »Erkenntnisquellen eigener Art? Literarische Texte als Stimulanzien erziehungswissenschaftlicher Reflexion«, Zeitschrift für Pädagogik 60/3 (2014), 350–367.
Ludmer (Anm. 9).
Denn: »Die Struktur von Werken ist und war immer nur die halbe Wahrheit über sie – in der Kunst wie in der Literatur.« (Magerski [Anm. 8]).
Vgl. Magerski (Anm. 8) sowie Carolin Amlinger, »Wozu Literatursoziologie?«, Merkur 868 (2021), 85–93.
Funding
Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Additional information
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Rights and permissions
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de.
About this article
Cite this article
Blome, E. Postautonome Literatur?. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 97, 973–981 (2023). https://doi.org/10.1007/s41245-023-00216-7
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s41245-023-00216-7