»Es gibt Momente, da fürchtet man, die Gegenwartsliteratur könnte in Zukunft zu einem einzigen großen Müllhaufen emporwachsen«,Footnote 1 entfuhr es vor nicht allzu langer Zeit einem Anonymus beim Auftrag, eine Liste von Buchempfehlungen für den Sommerurlaub zu liefern – und dass unsere hoch dekorierten BestsellerautorInnen nicht einmal das rudimentärste Handwerk beherrschen, fällt mittlerweile sogar der Kritikerzunft führender Tagesblätter auf.Footnote 2 Meine vor knapp zehn Jahren geäußerte Sorge, die völlig unnötige politische Anbiederung zusammen mit einem Common sense-Realismus, dessen kühnstes formales Experiment ein wenig Polyperspektivismus ist,Footnote 3 dürfte bald zur Aushöhlung der Autonomie führen, also des Allerheiligsten moderner Kunst, hat sich längst flächendeckend bestätigt:Footnote 4 Deutschsprachige Gegenwartsliteratur wird ganz überwiegend von Hände ringenden Bedenkenträgern erzeugt, die ›gesellschaftlich relevante‹ Themen verhandeln, literarisch aber gar nichts anzubieten haben. Nie war mehr Ideen- und Alarmismusliteratur als heute, doch wem es umgekehrt nach Sprachreflexion und fortgeschrittenstem Bewusstsein verlangt,Footnote 5 der muss aktuell sehr weit laufen.

Solche Wanderungen können in diesem Rahmen nicht stattfinden, so wenig, wie der übliche Einwand ›Es gibt doch die hervorragenden AutorInnen X, Y und Z?‹ etwas am Gesamteindruck evidenter Misere ändert. Vielleicht aber kann man eine Volte schlagen, denn wenn kaum noch jemand etwas zu sagen hat, was nicht auch die Massenmedien, Sach- und Fachbücher in aller Breite besprechen und dabei – literaturgemäß – dem wissenschaftlichen Begriff wenigstens um eine Handbreit voraus wäre, dann könnte man AutorInnen beobachten, die gerade das Problem, dass der Literatur ihr ›Fachbereich‹ abhanden kommt, beredt werden lassen, indem sie fragen, was ein Schriftsteller eigentlich tut. Auch wegen der gebotenen Kürze meines Beitrags möchte ich mich auf ›kleine‹ Prosa von Rainald Goetz (Dekonspiratione, 2000) und Felicia Zeller (Einsam lehnen am Bekannten, 2008) konzentrieren; dass der Büchnerpreisträger Goetz weithin bekannt, doch Zeller vielleicht noch im Kommen ist, mag neben dem Genderproporz für zusätzlichen Reiz sorgen.

I.

Zunächst jedoch: Ein Blick ins literaturwissenschaftliche Arsenal erweist, dass es zur begrifflichen Fassung kleiner Formen diesseits von Gattungsdiskursen (Aphorismus, Brief, Short story usw.) eher spärlich instrumentiert ist. André Jolles’ »kleine Formen« umkreisen kulturuniversal-generative Muster oder narrative Potenzialitäten, nicht konkret-literarische Typenreihen, stehen also quer zu meiner Fragestellung, zumal sie mit Sprachsubstantialismus und morphologischer Zielsetzung kontaminiert sindFootnote 6 – das ist heute dann doch überholt. Deleuze/Guattaris ›kleine Literatur‹ dagegen, in einem Brückentext zwischen dem Anti-Ödipus und Mille plateaux an Kafka entwickelt,Footnote 7 erscheint völlig überfrachtet, geht es hier doch recht eigentlich nicht um Literatur, sondern umkreist wird ›das Politische‹ im Rahmen einer Philosophie des Werdens (16). An kleinen Literaturen, weil deterritorialisierte Rede von Minderheiten, sei »alles politisch« (25), denn wenn Sprache als Ensemble »kollektive[r] Aussageverkettungen« eine »Ausdrucksmaschine« sei (26 f.), ließe sich gerade hier »das Unterdrückte in der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache entgegenstellen« (38 f.). Das ist Postmoderne pur, wird doch die Subversion von Sprache und Sub-jekt im Rahmen einer Kritik der Repräsentation verhandelt. Heute sieht man besser, dass ein Gutteil dieser Theorieproduktion die Enttäuschung über 1968 – die Revolution wollte sich nicht einstellen – kompensieren musste. »Groß und revolutionär ist nur das Kleine, das ›Mindere‹«(37), glauben Deleuze/Guattari, ich nenne so etwas lieber erhabenes Denken.

Sodann: ›Erzählen um Nichts‹ ist natürlich schon kognitiv zu relativieren, denn Husserl und Niklas Luhmann belehren uns, dass das intentionale Bewusstsein niemals oder allenfalls für den Bruchteil einer Sekunde ›Nichts‹ in gleichsam schwebender Leerintentionalität denken kann; wird es sich dessen bewusst, denkt es dieses Nichts bereits wieder als Etwas. Daher gibt es für Phänomenologie und Systemtheorie weder Nichtsein noch Sinnlosigkeit.Footnote 8

Schließlich: ›Erzählen um Nichts‹ impliziert stets ein Werturteil, das ich hier ganz ungeniert in Anspruch nehme bzw. umkehren möchte. Ohne die Debatte um literarische Wertung aufrollen zu können, ist der Fluchtpunkt meines Interesses die Frage, wie aus dem Umstand, dass sich Autoren in einer Schreib- oder gar Sprachkrise befinden, ihnen vielleicht auch schlicht nichts einfällt, lesenswerte Literatur entsteht. Solch Attitüde hat ebenfalls Vorläufer, doch ein Hinweis etwa auf Robert Walser oder Becketts späte Experimentalprosa à la »Bing« oder »Sans« möge an dieser Stelle genügen: ›When all is said and done‹, liegt es für avanciertere Autoren im Grunde nahe, sich auf ihr einziges Werkzeug zurückzuwenden. »Sprache, was sonst«?Footnote 9

II.

Vor allem sieht man an Rainald Goetz’ nun vier Jahrzehnte währender Karriere, dass es zwar ehrgeizig genug ist, sich als Autor-Subjekt zur Membran der Zeitläufte zu ernennen, fatal jedoch, sein Schreiben dabei an einer jeweils für eine Weile gültigen, aber stets nur diffusen Leitsemantik auszurichten, nämlich chronologisch dem Punk (Irre, 1983), der RAF (Kontrolliert, 1988), Luhmann während der 1990er, dann Techno und dem Internet (Rave, Abfall für alle, 1998/99). Mit Einsicht in die Beliebigkeit dieser Semantiken unter Bedingungen einer »breiten Gegenwart«,Footnote 10 so die These, stellt sich für Goetz das Problem substantieller Autorschaft in zunehmender Schärfe. Irre bleibt ein Geniestreich und trägt auch nach 40 Jahren nicht einmal den Anflug von Patina, Kontrolliert ist besser als sein Ruf;Footnote 11 sicher hat Goetz eifrig Luhmann gelesen, doch fungiert der Bielefelder Soziologe in Goetz’ »ästhetischem System«, so das Motto auf dem Schutzumschlag von Kronos (1993), eher als Catchword, gelegentlich ein Kryptozitat oder die Verwendung seines Porträts in Collagen bzw. als Bildvorlage, um es, recht infantil, mit »Hegel 1927« zu versehen.Footnote 12 Werden Luhmanns Theoreme überhaupt einmal argumentativ bemüht, so geschieht das gelegentlich amüsant, meist aber völlig widersinnig.Footnote 13 Da jedoch der potente Schriftsteller nicht für die Theorieexegese zuständig ist, war eigentlich von Anbeginn offenkundig, dass Goetz in Luhmann primär einen ›Durchblicker‹ bewundert, der die moderne Unermesslichkeit von Text- und Sinnmassen noch zu ordnen verstand, in loslabern wird er zum »größte[n] Geist des 20. Jahrhunderts« entrückt.Footnote 14 Mit dem Rausch als gesteigertem Gegenwartsgefühl freilich ist es so eine Sache, zwar gibt es exzellente Schriften über Drogen, etwa Baudelaires Text über Haschisch und Ernst Jüngers Annäherungen, sehr viel problematischer aber geraten Versuche, die Drogenerfahrung selbst literarisch angemessen zu präsentieren, ich erinnere die bemühten Übungen William S. Burroughs’ und des frühen Jörg Fauser. Nicht nur haben es Musik und bildende Künste diesbezüglich einfacher, auch Goetz teilt den Allgemeinplatz, dass die Drogen der Kreativität selbst keineswegs aufhelfen.Footnote 15 Dass sein Rave die Freunde des Techno und seiner Begleitstimulantien kognitiv überforderte, wie die amazon-Kundenrezensionen erweisen, wiegt vergleichsweise gering; dass das Büchlein, sich fragend, »wie müßte so ein Text klingen, der von unserem Leben handelt?«,Footnote 16 eigentlich nichts anzubieten hat,Footnote 17 dagegen sollte man ernstnehmen. Hier der Kern: »Geil. Der ultraöffentliche Ort der Nacht und sein Privatgeschichtenkatarakt. Allein zwischen den ersten drei, vier Bier wird eine solche Masse Leben hin und her geshiftet, zwischen den einzelnen Menschen, wie nur hier möglich vielleicht, in dieser konzentrierten und kompliziert codierten Form.«Footnote 18 Das jedoch ist bei jedem Thekengespräch schon in der Eckkneipe der Fall und die Rede vom »Sozialexperiment Dance«Footnote 19 genauso trivial, denn jeder Sozialkontakt, gerade mit Luhmann, ist prinzipiell ein Wagnis mit ungewissem Ausgang. Vielmehr hätte Goetz wissen können, dass die zum ›Abfeiern‹ gehörenden Drogen auch das milde Vergessen dessen erlauben, was sie bewirken, denn gemeinhin möchte man lieber nicht erinnern, was morgens um halb fünf noch gebrabbelt wurde. Dass hingegen der ein Jahr währende Internet-Blog vielleicht den Stoff eines Romans generieren könnte, damit aber noch nicht das Formproblem von Abfall für alle gelöst ist, weiß er sehr wohl.Footnote 20 Trotz des argumentativen Aufwands, den man dem keinesfalls unstrukturiertenFootnote 21 Wälzer angedeihen ließ, handelt es sich doch um nichts anderes als um ein Arbeitsjournal in der Tradition von Peter Weiss’ Notiz- oder Einar Schleefs Tagebüchern, wie diese voller Redundanzen und Trouvaillen, das bringt das Genre so mit sich. Bei Goetz allerdings von der forciert hermetischen Spielart, weshalb etwa die Rede vom ›Populären‹ in die Irre führt: Mitschriften der Massenmedien über Alfred Biolek, Harald Schmidt, die Fußball-Weltmeisterschaft 1998, taz- und FAZ-Kommentare etc., ja selbst Telefonate und Zugfahrten des Chronisten von A nach B interessieren heute niemanden mehr. Das Ganze ist vielmehr ein Dekodierungsangebot für Hochintellektuelle, Heuschober für die wenigsten, reinster Elitarismus, nämlich Philologenliteratur – oder glaubt Goetz ernsthaft, ein Freizeitleser wüsste, wer der sehr präsente »Albert« (Oehlen) oder Isabelle Graw ist, oder dass er gar in der Lage wäre, nach etlichen Dutzenden zählende unmarkierte und möglichst kontextferne Zitate als Zwischenüberschriften, die z. B. Inspirationsquellen Luhmanns, längst vergessene Hip-Hopper der 1980er, einen Interviewband mit Irmgard Möller, Titel von Neuübersetzungen Dostojewskis oder Gemälden Renoirs aufrufen, zu referentialisieren?Footnote 22 Qualitativ, also ästhetisch, vermag ich keinerlei Unterschied zu den Resultaten seiner traditionellen ›Kontrolle‹ von Printmedien in den frühen 1980ern zu entdecken, er hat mitnichten ein »neuartiges Textgewinnungsverfahren aus Fragmentierung und Defragmentierung öffentlicher Rede gestiftet«,Footnote 23 sondern schon immer so gearbeitet.

Mit loslabern, deutlich an Thomas Bernhards Rhetorik geschult, gelingt Goetz noch einmal kurzes Aufflackern von Brillanz, Techno aber sei »vorbei und aus«.Footnote 24 Über Johann Holtrop, von Goetz als »Charakterstudie« eines »um Normalität bemühten Realismus« annonciert, der nach der »Kaputtheit der Gesellschaft« frageFootnote 25 (als wäre es jemals anders gewesen), aber betrat er die Niederungen des Kolportageromans.Footnote 26 Goetz versteht von der Welt des Topmanagements so wenig wie alle anderen Kulturproduzenten, auffällig jedoch ist seine eigentliche Stärke, der Sprachwitz, bis auf einige Manierismen hier maximal unterdrückt. Dass er sich mit seinem moralisierenden Impetus nicht zuletzt den von ihm verachteten »Peinsackschriftsteller[n] […] Böll und Grass« annähert,Footnote 27 macht die Sache nicht besser. Doch auch das liegt bereits wieder elf Jahre zurück, von erzählerischen Großtaten wurde seither nichts mehr vernommen, die Schreibkrise der Jahrtausendwende persistiert demnach. Rave war ein Bestseller, Dekonspiratione aber ein Flop,Footnote 28 der sich ex post als markante Bruchstelle erweist.

Das Beste an Rave sind die wenigen, allerdings Goetz-typisch auch unzuverlässigen autobiographischen Notizen, »ich merkte plötzlich: ach so, ich war hier also der Typ, der Irre geschrieben hat«Footnote 29 und schon seither, registriert der verblüffte Leser, herrscht im Grunde Dauerkrise. Wenn sich jedoch die Kritik an Dekonspiratione nicht gerade dazu verstieg, hier »Lebensweisheit und Seelenkunde« einzuklagen,Footnote 30 monierte sie angesichts der vielen narrativen Brüche, dass noch immer nicht ›richtig erzählt‹ werde, obwohl man doch längst wissen könnte, dass dies Goetz’ genuine Art zu erzählen ist.Footnote 31 Ich nähere mich von außen und nenne es Zerschossenheit – die bereits beim Äußeren beginnt, denn Dekonspiratione wirkt völlig aufgeblasen und zerfetzt zugleich. Zwar hat Goetz immer schon seine Bücher mit selbstproduzierten Gemälden, Fotos und Collagen versehen, aber hier fällt doch auf, wie ›geschunden‹ wird, die üblichen Motti pro Kapitel beanspruchen prinzipiell eine eigene Seite, folgt Abbildung, folgt Vakatseite, folgt Kapitelüberschrift auf einer eigenen Seite, folgt Vakatseite... und irgendwann geht es dann doch los, in diesem Fall beginnt die Narration auf Seite 17. Dass hier die »Taggeschichte, Gegenbuch zu ›Rave‹« vorliegt,Footnote 32 hat die Kritik durchweg registriert, nicht aber, was das bedeutet. Das Personal der fünf Segmente rekrutiert sich aus dem einzigen Milieu, das Goetz kennt, alle sind tätig im kulturellen Bereich. 1. Perspektive Katharina: Sie trennt sich von Benjamin, denn sie erträgt sein »mittelprächtiges Loserleben als Talent im Wartestand« nicht mehr (23). 2. Perspektive Benjamin, der als Beschäftigter einer Medien-Agentur der lahmenden Harald Schmidt-Show neue Ideen injizieren soll. Er leidet still, »lässt die Blätter sinken, zieht an der Zigarette, schaut raus in diesen prächtigen Tag und stellt fest: er ist bei Katharina gelandet, versehentlich« (67). 3. »Die Aufgabe der Schrift«, bombastischer Titel, doch absolute Banalität. Was in einem klassischen Drama die Peripetie wäre, gerät in diesem Sommer 1999 – die Sonnenfinsternis vom 11. August ließe sich trefflich als Symbol lesen (125) – zum Gipfel des Entbehrlichen. Berliner Kulturbetrieb, gelegentlich fällt der Stil parodistisch in den Kitsch ab, um das Setting am Wannsee zu pinseln. Eine Lesung, also das Schlimmste, was es gibt (96); alles ist bereits hundert Mal durchexerziert, leeres Ritual, zweite Wahl; Rudolf Stichweh führt ein (97 f.), nur ein Luhmann-Schüler, Katharina und Benjamin sind auch dabei. 4. Der Höhepunkt – leichte Verschiebung und doch sinnig als retardierendes Moment – ist ebenso Fiktionsbruch, wenn ein »Ich« (135) das Wort ergreift und als Werkstattbericht über seine »Krise« (131) Auskunft gibt:

Ich kam nicht gut weiter. Ich probierte die Strategien, die man in der freien, nicht erzwingbaren Arbeit immer neu durchzuwechseln und anzuwenden versucht. Es sind nicht so sehr viele. Und sie haben alle ein aggressiv autolytisches Moment in sich eingebaut: dass sie schon einmal funktioniert haben, macht es unwahrscheinlich, dass sie bei einem nächsten Mal wieder funktionieren. Trotzdem, man muss es probieren. Mal locker lassen und kucken, ob sich vielleicht doch etwas löst, von selber. Dann wieder ganz konsequent und stur sich jeden Tag hinsetzen und aufschreiben, was man denkt. Auch wenn es sich um kompletten Unsinn handelt. Was einen natürlich zusätzlich deprimiert. Es ist aber auch schon passiert, dass nach Tagen, ja Wochen einer solchen Praxis von dumpfer, deprimierender Konsequenz plötzlich durch irgendetwas der berühmte Knoten doch aufgeht, und man sitzt da, erst noch ganz skeptisch, kann es kaum glauben, es ist aber so, es läuft. Darauf hoffte ich. Das passierte aber nicht (148).

Und Kapitel fünf, »De Dekonspiratione«, dann führt Personal und Autor-Ich, das offenbar Teil desselben ist, zusammen, in doppelter Hinsicht, denn auch Katharina und Benjamin nähern sich wieder an. Die große Synthese? Keineswegs, sondern Dekonspiratione. Benjamin weiß, Konspiration heißt »zusammen atmen, unter einer Decke stecken«, das Autor-Ich meint: »Dekonspiration. Offenbarung bzw. Enttarnung politisch-operativer Arbeitsprinzipien« (194 f.). Man könnte die semantische Assoziation weitertreiben und ›Ent-Verschwören‹ übersetzen, Konfigurationsdynamik, man findet zueinander, entfernt sich, nähert sich wieder an, so das Personal, so der Schreibprozess und sein Gegenstand, also er selbst. Dass hier als Präambel ein Goetz’sches Bild von Luhmanns Vertrauen fungiert (163), ist insofern schlüssig: Als Versprechen, Hoffnung oder tatsächlich unabdingbares symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das die Erwartbarkeit von Welt- und Sozialkontakten überhaupt erst auf Dauer stellt? Schreiben nämlich, dies der Gehalt, ist völlig unwägbar, es lässt sich gar nicht sagen, wie ein Text entsteht, Kultur produziert wird: »Und verstehensformentsprechend blitzartig ereignen sich Momente des Aufleuchtens einer Einsicht in irgendein sprachgegebenes Faktum« (157). Passend dazu hätten alle Protagonisten bereits große Mühe anzugeben, was sie den ganzen Tag über eigentlich tun, »[a]b einem Punkt hat man nur noch die Aufgabe, in der Umgebung den Eindruck zu erwecken, man würde ein normales Leben führen« (152). Von der Kritik übersehen aber ist der schmale Text genau gezirkelt, ringkompositorisch oder als ›fade in/fade out‹ eröffnen z. B. Anfangs- und Endkapitel mit einer Taxifahrt (17, 169) – und dass, gleichsam augenzwinkernd, Dekonspiratione das Thema des großen modernen Romans schlechthin verhandelt, nämlich ihn nicht schreiben zu können, bis er schließlich, sein Problem zum eigentlichen Gegenstand ernennend, fertig vorliegt, kam auch niemandem in den Sinn. Goetz gibt ihn im Kleinformat, doch es bleibt das erratische Notat gegen Ende: »TEXT. 1336. Selbstreferenz« (193). Um Luhmann einmal ernsthaft beim Wort zu nehmen, es ist nicht der Kosovo-Konflikt, der den Autor aus dem Tritt bringt, ein Medienereignis wie jedes andere (»worum gehts da eigentlich? Man hat keine Ahnung« [147]), es ist nicht der »Gähnstandard« (66) des Kulturbetriebs mit Durs Grünbein, Benjamin von Stuckrad-Barre, Stanley Kubricks oder Harald Dietls letztem Film, sondern die Einsicht, dass bloße Paradoxie und Tautologie, Selbstwiderspruch oder Verdopplung als Selbstbeschreibung der Gesellschaft, die gerade Goetz’ Arbeit für sich ja in Anspruch nimmt, keinerlei Erkenntniswert haben.Footnote 33 Nimmt man für Paradoxie seine frühen ›Hass-Texte‹ – »Die Kultur ist ja mein Leben. Deswegen schreie ich so«, heißt es noch in IrreFootnote 34 –, für Tautologie hingegen seine ›Medienmitschriften‹, in denen die Gefahr droht, dass das kulturelle Rauschen sich lediglich selbst bestätigt, müsste Goetz nun hinaus aus dem Betrieb ins »duftende, sonnige Reale« (Heine). In einer schönen, finalen Szene dieses als schlanker Schlussstein seiner bombastischen »fünfbändige[n] Geschichte der Gegenwart«Footnote 35 gedachten Textes wankt das Autor-Ich mit Alexa, leicht verliebt und ordentlich betrunken, nach Hause (207), doch das von Harald Schmidt für die Pentalogie geborgte Motto »Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe«, erwiese sich so nicht als Summe, sondern Marschbefehl. »Das ganze fünfbändige ›Heute Morgen‹-Projekt handelt letztlich von einem superkurzen Moment der Intuition, dieser Weg von sich selbst weg wäre möglich, er wäre das Glück. Stimmt nur leider nicht, aber dafür gibt es ›Heute Morgen‹; also stimmts doch.«Footnote 36 Selbstreferenz, zumal als Schreibender, wird man trivialer Weise nicht los, aber man muss es versuchen, sie entfalten, immer wieder – und wie das gehen könnte, wird hier als Fallanalyse demonstriert. Mir scheint daher, Dekonspiratione ist das Beste, was Goetz seit Irre gemacht hat, denn so weit kann man mit ›Erzählen um Nichts‹ als Explikation der Krise kommen. Über eine konzise Poetik verfügt er offenbar gar nicht – und den aufgeblähten Rest von Heute Morgen gebe ich gerne dran. Doch bleibt das produktionsästhetische Problem, denn wenn bei Goetz »Kommentar und Zitat, ›Ich‹ und Material, Subjekt und Objekt« im Text prinzipiell und oftmals schon auf der Ebene der Grammatik zusammenfallen,Footnote 37 könnte es sein, dass diese einst so erfolgreiche narrative Strategie sich längst als Sackgasse erwiesen hat: »Ich versuchte, die Vorstellung zu bekämpfen, die mich wie ein Zwangsgedanke verfolgt, dass nicht ich, sondern die Zeit der Autor meiner Sachen ist« (141). Wenn man sich aber zur Äolsharfe des Zeitgeistes ernennt, bedarf es zur Klangerzeugung mehr als das Rauschen des Kulturbetriebs, man nenne es Entropie oder schlicht ein laues Lüftchen. Das und nichts anderes ist Goetz’ Problem, doch ein Ausweg scheint überaus schwierig. Wie geht es weiter? »Verboten: Aphorismenscheiße«.Footnote 38 Selbstentblößungsliteratur im Stile von Max Frischs Montauk hingegen, die mancher von ihm zu erwarten scheint, wird es von Goetz auch nicht geben, denn er ist zwar, wieder mit Luhmann, eine ›Person‹, öffentlich-erreichbare Figur oder soziale Adresse,Footnote 39 nur das private Individuum wird sich gewiss nicht offenlegen. Und Realismus? Dass Goetz seine kontemplativ-analytische Spielart beherrscht, hat er nicht nur anlässlich einer Lesereise in Suhrkamps Auftrag längst bewiesen, sondern bereits mit einer seiner ersten Prosaarbeiten, die ich nicht anstehe, als Juwel der Neuen Subjektivität zu veranschlagen.Footnote 40 Goetz auf Reisen aber stellt sich die bemerkenswerte Einsicht ein, »dass das Ich nicht so viel über sich wissen darf, wie es im Interview [über sich selbst, I.M.] erfährt, gerade der authentoide Schreiber ist auf Ichblindheit angewiesen, auf das Ich als leere, blanke Stelle, wo der Welteinfall passiert, auf den die Wortfabrik dann reagiert«.Footnote 41 Nur eben, auch das wird nur als kleine Prosa exekutiert. Vielleicht bleibt es fortan bei »lustige[r] Kritik«,Footnote 42 der Art von Intervention, die Goetz zwar nicht erfunden – auch sie stammt von Heine –, doch für den Gegenwartsdiskurs reetabliert hat. Das wäre nicht das Geringste.

III.

Felicia Zeller ist 2001 als Dramatikerin mit Bier für Frauen bekannt geworden, einem Versuch, »sich dem grossen Egal anzunähern«.Footnote 43 Obwohl es so scheinen könnte, als hielte eine ethnologisch teilnehmende Beobachterin das Mikrofon einfach in die Menge, um die Annahme der Textlinguistik zu verifizieren, dass Schrift- und gesprochene Sprache zwei verschiedene Systeme seien (»Kennstu Frank«, »Sammal was« [53, 86]),Footnote 44 ist, ähnlich wie Goetz’ Abfall, natürlich auch dieses Sprachkunstwerk komponiert. Auch hier dienen unmarkierte Zitate als Strukturprinzip, wenn etwa Gittes »Ich will alles«, Nenas »Nur geträumt« oder Godards Außer Atem den Wortschwall ironisch kommentieren (84, 28, 82). Julia Roberts in Notting Hill, James Camerons Titanic, Madonna und Metallica, Whitney Houston, Tom Petty und Phil Collins, Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Volker Rühe: Hier gerät das kulturelle Rauschen der Jahrtausendwende als Zeitmitschrift in den Sog mündlicher Rede, landet freilich im Orkus bloßen Gequassels; Stephen Hawking, der gerade das nicht kann, auf dessen Namen die alkoholisierten Sprecherinnen aber nicht kommen, geistert als Running gag durch das Stück (21, 49). Surreale Ausgriffe oder groteske Fragmentierungen des Körpers sind beinahe schon postdramatischer Standard, doch anders denn bei Sophokles kündet hier noch ein Chor zwar nicht von der Ungeheuerlichkeit des Schicksals, feuert aber eine der Sich-Aussprechenden an: »claudi claudi claudi usw.« (35, 54). Die Gender-Sensibilität ist da, »männer, die viel ficken, nennt man rumficker oder sie haben einfach viel sex. frauen nennt man dann luder oder man sagt gleich nutte« (82). Die Rednerinnen werden, offenbar von einer ›invisible hand‹, geschlagen – und schlagen prompt zurück (68, 89 f., 93), das ist progressiv, aber es gibt hier keinerlei Gender-Bonus. Ganz im Gegenteil zeigt Zeller, dass Frauen sich untereinander noch viel gnadenloser beobachten und aburteilen, als es der männlichen Perspektive jemals einfiele, »ich hab eher das problem, dass ich gut aussehe, vielleicht sogar zu gut, und gleichzeitig auch noch so wahnsinnig intelligent bin. das kriegen viele nicht so zusammen. / du bist so ein richtiges arschloch« (16). Gibt es in diesem trunkenen Sprachreigen noch Utopien? Aber natürlich: »ein rausch ein fick / eine musik / ein gutes buch / ja ja / ein kleiner rausch ein gutes buch eine schöne musik / ein geiler fick« (37 f.). Ganz selten ereignet sich hier ein Dialog oder auch nur eine echte Konsekution, es wird fast durchweg gefaselt, wobei allerdings die letzten Fragen des Seins final geklärt werden können: »großer schwanz? / nö / wie groß? / so / echt? / ja, aber das ist doch, er ist doch trotzdem / ja, aber manchmal ist es doch, manchmal ist man dann doch enttäuscht« (11 f.), oder: »also ich möchte in meinem leben nicht arbeiten, ich mein, ich will schon gern arbeiten, aber das, was ich arbeiten will, das gibt es gar nicht, und wenn, kann man damit kein geld verdienen« (30). Beiläufig ereignen sich so Durchsichten von geradezu metaphysischer Dignität, denn »niemand weiß, was kommt, aber alle wissen, was war« (37), und: »gesellschaft ist eben immer auch chaos und nicht immer nur ordnung« (20).

Bühnenanweisungen sowie Inszenierungsstil sind maximal offen, alles bleibt hier campy, scheinbar improvisiert, könnte so oder auch anders realisiert werden, Kritzelzeichnungen und amateurhaft-verquere Fotos garnieren die Homepage der Autorin, als Wegweiser zum »Kolloquium Gegenwartsdramatik« muss ein an die Tür geklebter Zettel reichen. Diese Dramenpoetik bleibt über die Jahre konstant, auch ein neueres Stück wie Der Fiskus ist eine einzige Feier des Anakoluths, nur gelangt statt des griechischen nun ein Gospel-Chor zum Einsatz,Footnote 45 als V‑Effekt vielleicht eine Reverenz an Brecht? »Felicia Zeller beleuchtet in ihren Dramen regelmäßig die Zerreißproben der Berufswelt, das Auseinanderklaffen von Selbstanspruch und äußeren Erfordernissen: Überall beschleunigt sich der Takt der Arbeitswelt, die To-Do-Listen türmen sich auf, niemand kommt mit dem Tempo mit, nicht einmal die Sprache.«Footnote 46

Das ist kalkuliert medienkonformes Leersprech, Zeller ist klug genug, sich ›nicht wirklich‹ zu kommentieren bzw. souffliert Journalisten, was deren kognitivem Horizont entspricht, damit sie etwas zum Zitieren haben. Stellenweise möchte man gar von Lock-Mimikry sprechen, womit ich bei Zellers Prosa angekommen bin. In Einsam lehnen am Bekannten findet sich als »Nachlassversteigerung. Der Maler R. Dietrich«Footnote 47 ein Seitenhieb auf den Galerie-Boom der Jahre von ca. 2000–2015, als jeder Möchtegern glaubte, mit der Kunst ein schnelles Geld machen zu können. Die von Arno Bojak verfertigten Bilder sind von schreiender Banalität, Zellers Begleittexte reproduzieren dazu den »Transzendentaljargon der Kunstwelt«Footnote 48 täuschend echt: »Die Leere des Glases und die Möglichkeit seines Anfüllens ist eine Aufforderung, das Gute zu tun, weist jedoch immer wieder auf die existentielle Selbstseiung des Menschen und seiner ›linken‹ Hände zurück«, inklusive grammatischer Bolzen wie »einzigster Ausstellung« (90). Es gibt nur zwei Hinweise, dass hier eine SimulationFootnote 49 vorliegt: Die Schätzpreise der Bilder sind mit 300 bis 700 Euro für eine seriöse Galerie viel zu niedrig angesetzt – und wenn ein Auktionator wie der bekannte wilhelminische Kunsthistoriker »Schmarsow« heißt (84), kann es auch nicht mit rechten Dingen zugehen.

Die Standardsituation der kurzen, experimentellen Texte aber lautet »mir fällt nichts mehr ein« (47). Ähnlich wie bei Goetz herrscht ein Hang zur Serialität; imaginiert »Zunixkommen 1« noch, wie komfortabel man es als Elternteil hätte, wäre doch stets eine Ausrede zur Hand, warum man dies und das nicht geschafft habe (9), so zeigt »Zunixkommen 2«, auf das ich mich konzentrieren möchte, die interne Hölle des Kreativitätslochs. Die Erzählinstanz leidet als Berliner Autorin unter ihrem desynchronen Freund, der teuren, doch zu kleinen Wohnung und natürlich mangelnder Inspiration. Banaler geht es nicht, dennoch lässt sich daraus eine aberwitzige Assoziationskette entwickeln, denn »Brettern«, so lernte sie vom Partner, sei ein Synonym für Sich-Betrinken, »bis wir […] sackartig umfallen und gemeinsam wegschnarchen« (43). Desynchronizität jedoch ergibt sich, wenn das Paar nicht gemeinsam brettert, sondern an verschiedenen Tagen, sodass der eine jeweils die Inkompatibilität des anderen zu ertragen hat. »Neben mir der Liegende, der perfekt gefällte Baum, an dem sich schon der eine oder andere flachhütige, bräunliche Pilz festklammert, eine schöne Bierstatue, gegossen aus Beton, ein Denkmal, gekippt und umgeworfen. Dran appliziert: ein Mobile aus Sägen, moderne Kunst. Denn mein Freund ist Künstler, Schlafkünstler und bildender Künstler« (44). Schnarchen heißt umgangssprachlich auch ›Sägen‹, womit eine Polarität aufgespannt ist, die als Initial ausreicht, um spiralförmig ins Absurde zu deszendieren – und wieder zurückzufinden. Die »Zweizimmerwohnung« ist so klein und von schlechter Bausubstanz, dass das Wohnzimmer zugleich »Geräteraum« für die Hardware ist, das andere »für die User zum Abstellen oder -legen (Schlafzimmer)«. Vom Holz und Sägen ist es nicht weit zur »Bretterbude« mit »Wände[n] aus Pappe«, in der an Arbeit nicht zu denken ist, vielleicht hilft die Flucht ins eigens angemietete Kreativ-Büro? Hier jedoch sitzt nebenan die Freundin in noch beengteren Verhältnissen vor dem Computer, in den »wir täglich hineinstarren, egal welche Art Arbeit wir verrichten« (46 f.), hat aber, anders als die Erzählinstanz, die den »Bildschirmschoner« beobachtet, »total viele Ideen« (47), arbeitet ihr also trotz Vorschlag gemeinsamer Projekte wie Kafkas »Nachbar« letztlich entgegen. Man muss darauf achten, wie die Assoziationsmaschine rotiert, von Anaphorik, Alliterationen, Neologismen und Komposita-Ungeheuern (»Scheißkunst, Scheißschriftstellerei, Scheißstatue, Scheißvielzuhohemiete«, »wendig wenden«, 44 f.), beim Wort genommenen Metaphern und Bildbrüchen, metonymischen Verschiebungen und Berührungsassoziationen (vom Pilskonsum zum rankenden »Pilz« an der Bierleiche), 1:1-Wiedergabe von Umgangssprache, kontrastiert mit Archaismen wie »Harm« für Schmerz (45), Animation der Computer, die bei uns wohnen, und Dehumanisierung des Freundes, in dem, sobald bei Bewusstsein, passivisch »Chips und Flips […] verschwinden« (53), reichen die nur auffälligsten Stilmittel. Die Freundin (mit den vielen Ideen, doch einem Kind versehen) kommt zum Plausch und Kaffee, obwohl man nur seine »verpappte Ruhe« (44) haben möchte, verschwindet eilig, nicht ohne auszurufen, »heute schon wieder zu nichts gekommen« zu sein (51), bestätigt also den Verdacht aus »Zunixkommen 1«. Zu Hause sägt der Freund nach dem Brettern; aus dem hintersinnigen Plan, das Sofa im Büro zum Schlaf zu nutzen, falls man selbst oder der Freund gebrettert hat, wurde nichts. Das hier war der Traum: »Während mein Freund zur Arbeit in sein Atelier geht, gehe ich in mein Büro und schlafe. Nach acht Stunden klingelt der Wecker, der Tag ist vorbei, ich kehre in die Zweizimmerwohnung zurück, fit zum Brettern« – die komplett verkehrte Welt (49). Dazu stimmt komplementär, dass unsere digitale Umwelt keinerlei Problem mit dem Abschalten hat, »[s]itzt man lange einfach so da, ohne eine Taste zu drücken, schläft zumindest der Computer ohne Skrupel ein, manchmal schwimmen noch ein paar Fische vorbei, eine schöne, geradezu vorbildhafte Funktion, die schönste Funktion, die dieses Gerät überhaupt zu bieten hat« (50). Und schon wieder verging ein Tag, an dem nichts zustande gekommen ist, obwohl man, anders als der Freund, gar nicht gebrettert hat, »und als Schriftsteller habe ich relativ viele frei verfügbare Momente. Eigentlich nur« (56). Doch siehe, die kumulative Misere führt zu einem kreativen Ausbruch; plötzlich, in der Küche, schreibt die Erzählerin »mit einem ollen Filzstift dieses Filzlied« (53), den Text, den man gerade liest. Mission accomplished. Der Freund muss weiter sägen, die Geräte blinken.

Entscheidend ist hier, dass von der Sprache zur Situation gefunden wird, nicht umgekehrt; die bis zum Mantrahaften reichenden Wiederholungsstrukturen (dreimal »erst mal« und viermal »mir fällt eh nix ein« in fünf Zeilen [51, 47]) sind von Thomas Bernhard inspiriert, der offenkundig auch auf Zeller stilbildend wirkt, mehrfach alludiert, aber auch parodiert wird (25, 27, 31, 128 f.), das digressive Erzählen sicherlich von Max Goldt, die Liebe zu Verbverhunzungen wie »während ich schluf« (115) und Dopplungen teilt sie mit dem frühen Goetz. Erkennbar ist all dies nicht ›so hingeschrieben‹, sondern als Sprachartistik bis in den Mikrobereich ziseliert – und damit gelangt man von den Möglichkeiten zu den Grenzen der kleinen Form. Ähnlich wie in Lisa Eckhardts Omama (2020), kein Roman, sondern eine lange Nummernrevue, gibt es in Zellers Kurzprosa zu wenig Redundanz, man muss höllisch achtgeben, um die Anspielungen und Gags während eines Viereinhalb-Minuten-Auftritts oder einer dreiseitigen Prosaminiatur nicht zu verpassen, was man aber über die Strecke eines Romans, der größere Spannungsbögen und weniger Komprimierung verlangt, nur schwer durchhielte. Doch so lange kaum noch eine/r unserer GegenwartsautorInnen weiß, was ein Roman überhaupt ist, könnte solche Kurzprosa bis auf Weiteres als tragfähigstes Testat lesenswerter Literatur fungieren, denn auch dieses Erzählen um Nichts hat einen Gehalt:

Gelingt es einem nicht mehr rechtzeitig, Neukölln zu verlassen, landet man unweigerlich im Koma, im Dilemma oder im Sandmann. Dort landen Menschen wie du und ich, Menschen zwischen 40 und 60, Menschen, die vor Jahren als Künstler nach Berlin gekommen sind, oder als Keramiker, und die sich heute gern mal als ›Revolutionäre‹ bezeichnen. Wegen früher. Wie gut, sagen sie, dass es in Berlin wenigstens noch Revolutionäre gibt, saufen und meinen sich selbst. Wenn der Morgen dämmert, haben sie wenigstens eine Fahne und können damit so richtig loslegen. Meine Pappkameraden. Sie ziehen mit ihren Fahnen durch die Straßen nach Hause (161 f.).

IV.

Wie aber fasst man solche narrativen Strategien? Martin Seel beobachtete um die Jahrtausendwende gattungsübergreifend eine zunehmende Inanspruchnahme des »Rauschen[s]« als »ein Geschehen ohne Geschehendes«, »in dem nichts Bestimmtes geschieht«.Footnote 50 Das muss für syntaktisch diskret organisierte Texte metaphorisch bleiben, benennt jedoch die Ausgangssituation von Dekonspiratione und Einsam lehnen am Bekannten recht passend. Worauf natürlich der Konkretisierungsimperativ erfolgt, »order from noise«,Footnote 51 ein Vorgang, der Goetz schon immer faszinierte. Auf seinem Schreiben freilich lastet seit den achtziger Jahren zentnerweise Forschung, die ihm Leiden an der Entfremdung qua Schrift, Präsenzbegehren, Ich-Besessenheit usw. attestiert, weshalb ich es mir hier sehr einfach machen und (tautologisch!) sagen möchte, Goetz ist Goetz, sein ›Sound‹ gerät in den besseren Texten noch immer unverkennbar. Bei Zeller hingegen ruft alles nach Ironie (für die Goetz’ Schreiben sicherlich zu ›laut‹ ist). Aber welcher, geht die Ironie anspruchsvollerer Literatur doch in ihrer rhetorischen Definition nicht auf? Wayne C. Booth lancierte die Unterscheidung von stabiler vs. instabiler Ironie, allerdings fällt gerade bei letzterer, dem eigentlich interessanten, modernen Phänomen, auf, das Booth an Beckett expliziert, wie wenig er daraus macht.Footnote 52 Vieles von dem, was hier in Rede steht, wird heute über Matías Martínez und Michael Scheffel als »[u]nzuverlässiges Erzählen« rubriziert,Footnote 53 die wiederum das Unzuverlässige zu eng an Ironie binden, wenn sie eine Beispielsreihe von Lukian und Cervantes über Leo Perutz bis Thomas Mann diskutieren. Vielleicht hilft die Dichotomie von Produktions- und Rezeptionsästhetik weiter. Manfred Frank hat darauf hingewiesen, dass Ironie prinzipiell unter »Unnachweisbarkeit« leide, und neben den allbekannten Aspekten von Selbstbewusstseinsproblematik (Subjektivität ist unbegründbar) sowie Theorie des Kunstwerks (Approximation ans Unendliche) einen dritten Aspekt frühromantischer Ironie erst benannt: das Bewusstsein, dass Textgenese überhaupt kontingent ist. In letzter Instanz artikuliere Ironie ein stets mitgeführtes, beinahe mimisch-gestisches Fiktionsbewusstsein, das allerdings zurückschlägt auf die ontologische Dimension des Textstatus. Solche Ironie »wäre eine Rede, die in der Anmut ihrer Faktur sich durchsichtig macht für ein anderes Sagen, das ebenso an seine Stelle hätte treten können, aber zu seinen Gunsten nicht hat treten wollen«.Footnote 54 Es gibt dergleichen, etwa in den Lügengeschichten des frühen Martin Walser und eben bei Zeller. Rezeptionsästhetisch hat Paul de Man Ironie von Allegorie unterschieden, indem er ihr eine eher »synchrone Struktur« der Bedeutungsdiffusion zuschreibt, eine Art paradigmatischer Zerstreuung. »Sie verliert sich in den immer enger werdenden spiralförmigen Windungen eines sprachlichen Zeichens, das sich von seiner eigentlichen Bedeutung immer weiter entfernt, und sie kann aus dieser Spirale nicht entkommen«Footnote 55 – ist das nicht eine treffliche Beschreibung der in der Tat windungsreichen, mit Jean Paul gesprochen, »Kunst-Prose« Zellers? Die Pointe ihrer Sprachartistik aber ist, dass die Realitätspartikel oder, etwas vollmundig, Erfahrungsgehalte, die in sie eingegangen sind, eben doch für eine wenn auch sehr aparte Variante von ›Realismus heute‹ sprechen. Das muss man erst einmal nachmachen.Footnote 56