I. Die Lektion des Teutonen oder Kunst, Gabe und Anekdoten in der Naturalis historia. Einführendes

Plinius der Ältere (23/24-79 n. Chr.) berichtet an einer Stelle seiner Naturalis historia (zuerst 77 n. Chr.) von einem ausländischen Besucher des Forum Romanum und dessen Reaktion auf dort angebrachte Gemälde: in foro fuit et illa pastoris senis cum baculo, de qua Teutonorum legatus respondit interrogatus, quantine eum aestimaret, donari sibi nolle talem vivum verumque (Naturalis Historia 35.25). »Auf dem Forum befand sich auch jenes ›Bild‹ eines alten Hirten mit einem Stab, von dem ein Gesandter der Teutonen, befragt, wie hoch er ihn schätze, sagte, er wolle einen solchen Menschen nicht einmal lebend als Geschenk erhalten.«Footnote 1

Dieser kleine Text enthält nicht wenige Hinweise auf bildende Kunst, Ökonomie, Macht und ihre Repräsentation in der römischen Kaiserzeit.

(1) Malerei und Skulptur sind nicht nur selbstverständlich mimetisch, sondern naturalistisch, ja veristisch; trompe l’œil-Effekte gelten als staunenswerte Höchstleistungen malerischer oder bildhauerischer Darstellung. (2) Kunst und Kunstverstand sind – aus römischer Sicht – nur in Rom zu Hause. Die Hauptstadt akkumuliert Reichtümer und Leistungen der damaligen Welt und demonstriert in Bauwerken ihre Größe. Zu ihren Schätzen gehören Kunstwerke aus allen Städten und Regionen, in die ihre Macht reicht; sie werden öffentlich präsentiert und dienen dem Ruhm der Stadt, des Kaisers und des Imperiums. Der Teutone, der Barbar, hat keinen Sinn für die Kunstfertigkeit der täuschend echten Darstellung; er sieht naiv nur das Dargestellte, bestätigt aber eben damit den gelungenen Illusionismus. Seine Reaktion stellt ihn auf eine Stufe mit Vögeln, die auf ein Gemälde zufliegen, um gemalte Trauben zu picken, oder mit Pferden, die einen gemalten Artgenossen anwiehern. Das Bild appelliert bei ihm an seine Sklavenhändler-Kompetenz, er ist mit diesem Banausentum aber – genau wie die Tiere, die nur ihrem Verlangen folgen – ein wahrer, unbestechlicher Kunstrichter. (3) Es gibt mindestens zwei Arten, Güter zu transferieren: einen Kreislauf von Ware/Geld und einen des Schenkens. Der eine impliziert eine messbare Wertbestimmung, hier für den Besucher nur die Kraft und Arbeitsfähigkeit eines Mannes. In den anderen gehen Dinge ein, die für den kommerziellen Tausch nicht taugen, hier ist es, wiederum für den Fremden, Wertloses. Es kann aber auch, wie die Frage impliziert, das Gegenteil sein, nämlich übermäßig Wertvolles, etwas, das von keiner Geldmenge aufgewogen und deshalb nur geschenkt werden kann, z. B. ein Kunstwerk. (4) Die beiden Arten der Zirkulation verlaufen nicht vollständig getrennt voneinander, und die zu transferierenden Güter gehören nicht schlechthin der einen oder der anderen Sphäre an. Ob sie Ware oder Gabe sind, hängt vielmehr von den Umständen und den beteiligten Akteuren ab. Dabei sind Missverständnisse nicht ausgeschlossen. (5) In beide Arten der Zirkulation werden – aus heutiger Sicht skandalös – als Gegenstände des Transfers auch Menschen einbezogen.

Diese Anekdote dient wie viele andere in der Naturkunde dazu, um etwas zu demonstrieren, zu tadeln oder zu rühmen oder beides zugleich zu tun. Denn das erwähnte Bild zeugt von der kulturellen Höhe Roms – die Malerei ist technisch extrem fortgeschritten und der Sinn dafür so raffiniert, dass man gerade die Wahl des niedrigen und hässlichen Sujets goutiert –, aber es führt auch vor Augen, dass man sich von robusten Überzeugungen eines schlichteren Lebens, wie sie mit der Väterzeit konnotiert werden, entfernt hat. Diese Ambivalenz von Lob für Rom und Kritik an den zeitgenössischen Sitten, die mit der Expansion des Imperiums verfallen, durchzieht das ganze naturkundliche Werk des Gelehrten.

Dass ein künstlerisch dargestellter Gegenstand mit seinem natürlichen Pendant verwechselt werden kann, ist darin ein wiederkehrendes Thema. Anekdoten, die um diese Möglichkeit kreisen, loten das Konzept einer Verpflichtung auf Naturalismus aus. Dieses erweist sich als besonders brisant und zugleich als besonders faszinierend, wenn das Sujet ein Mensch ist, denn die Vertauschbarkeit von Lebewesen und Artefakt berührt grundsätzliche Fragen des ethisch und religiös Vertretbaren. Die Erwägungen dazu sind aber durchaus andere, als sie heutigen Lesern einfallen, ja, sie wirken in moralischer Hinsicht befremdlich unsensibel, und darin unterscheiden sich die Römer gerade nicht von dem Teutonen der Erzählung. Diese scheinbare oder wirkliche Amoralität hat indes auch etwas mit der Praxis des Schenkens zu tun, von der in der Naturkunde nicht zuletzt im Hinblick auf Kunst öfter die Rede ist. Insofern machen die zitierten Zeilen gewissermaßen von der Peripherie her auf wichtige Fragen des Verhältnisses von Kunst und Gabe aufmerksam.

Die 37 Bände der Naturalis historia waren jahrhundertelang ein Referenzwerk für Wissen über Metalle, Steine, Erden, Pflanzen, Tiere, den Menschen als Lebewesen, Techniken der Gewinnung und Verarbeitung von Naturstoffen, Ackerbau, Medizinisches u. a. m. Das Wort historia meint nicht ›Geschichte‹, sondern ›Untersuchung‹, und ›Natur‹ umfasst praktisch alles.Footnote 2 Die Naturkunde ist weder ein historiographisches noch ein naturwissenschaftliches Werk, sondern die Enzyklopädie eines letzten Endes auf den Menschen bezogenen, in diesem Sinn moralischen Weltwissens. Was für mitteilenswert gilt, sind dabei weniger die normalen Dinge als vielmehr die staunenswerten; es ist eine riesige Sammlung von mirabilia. Bezogen sind sie jedoch nicht zuletzt auf das römische Imperium; aus dessen Weiten stammen die wertvollen Objekte, die man in Rom wie in einem großen Museum versammelt findet, der Reichtum, der sich in seinen Bauten manifestiert und seine militärischen Erfolge bezeugt, aber auch die unzähligen Informationen, Wissenssplitter, Mini-Erzählungen und Kuriosa.Footnote 3 Da die letzten fünf Bände von Mineralogie handeln und damit von Materialien, aus denen auch Kunstwerke gefertigt werden – Gold, Marmor, Edelsteine, Pigmente u. a. –, enthalten sie auch allerhand über bildende Künste. Berühmt ist vor allem der Band 35, der einen unentbehrlichen Fundus an Informationen zur griechischen Malerei darstellt und deren Entwicklungsgeschichte skizziert.

Die Form des Wissens sind vor allem Kunst und Künstler betreffende Anekdoten. Den Behauptungen dieser meist aus seinen Quellen übernommenen Texte steht Plinius selbst oft skeptisch gegenüber, er distanziert sich davon auch zuweilen ausdrücklich. Er verwirft sie aber nicht, sondern fügt sie in sein monumentales Kompendium ein; und nicht zuletzt stellt er sie immer wieder in den Dienst seines eigenen schriftstellerischen Unternehmens samt dessen politischer Agenda: Rom und die Flavische Dynastie zu rühmen. Dem römischen Kaiser dient er selbst als Ritter, dem Sohn des Herrschers Vespasian, Titus, widmet er das Werk. Die Erzählungen von Kunst transportieren, wie andere auch, lobende und mahnende Botschaften und üben Kritik an den aktuellen Zuständen. Überhaupt dominieren die ethischen Aspekte der Kunst, und das heißt, im Fokus stehen die Haltungen der mit ihr befassten Personen, seien sie Produzenten, Auftraggeber, Käufer oder Betrachter. Aus späterer Sicht scheint es daher, dass Plinius für das ›eigentlich‹ Künstlerische wenig Interesse oder keinen Sinn habe, was ihm auch – anachronistisch freilich – zum Vorwurf gemacht wurde.Footnote 4 In der Rezeptionsgeschichte war diese scheinbare Kunstfremdheit aber kein Hindernis für das anhaltende Echo gerade dieser Texte und ihre Produktivität im Kunstbereich. Im Gegenteil haben sie für die longue durée der Naturkunde vor allem in der Frühen Neuzeit gesorgt, und ihre Wirkung reicht partiell bis in die Moderne und gelegentlich sogar bis in die Gegenwart.

Die Künstleranekdoten gelten als die Würze in Plinius’ Darstellung der Kunstentwicklung.Footnote 5 Tatsächlich haben sich die kleinen Geschichten immer wieder als fruchtbar erwiesen; für vormoderne Kunst und Kunstgeschichtsschreibung waren sie eine unentbehrliche Referenz. Sie sicherten über Jahrhunderte eine Kontinuität von intertextuellen und interpikturalen Beziehungen, boten den Akteuren einen gemeinsamen Bezugsrahmen, ermöglichten Wiedererkennung, verliehen Relevanz, legitimierten und autorisierten Sujets. Von jeher wurden sie aber auch so genutzt, dass die normativen Anliegen des Verfassers und die Möglichkeit der Nobilitierung durch bereits Anerkanntes in den Hintergrund traten: Denn die Äußerungen und Erzählungen zur Kunst bieten deren Theorie avant la lettre, sie sind etwas wie prototheoretische Kerne.Footnote 6 Bildende Künstler fanden darin Grundsatzprobleme ihres Metiers formuliert. Die kleinen Geschichten und Dicta betreffen neben Fragen der Technik das Verhältnis zur Natur, zum Publikum, zu künstlerischen Konkurrenten, zur Ökonomie und zur politischen Macht. Insofern der traditionelle Kunstdiskurs in den Anekdoten kristallisiert ist, bleiben sie bis heute zumindest ex negativo präsent.

In den Anekdoten geht es meist um soziale Interaktionen, und diese haben nicht zuletzt mit Geben, Nehmen und Erwidern zu tun, mit der Trias, in die Marcel Mauss das ethnologische Phänomen der ›Gabe‹ auseinanderfaltet.Footnote 7

Die folgenden Überlegungen gehen von der Vermutung aus, dass Künste und Gabe in diesen Texten intrinsisch miteinander verbunden sind. Gabenpraktiken und -konzepte haben in der römischen Kaiserzeit (und in der nicht nur von Plinius immer wieder mahnend beschworenen römischen Vergangenheit sowie in der stilisierten griechischen Kultur) eine wesentliche Funktion für alle möglichen Aspekte des Lebens. Es wäre daher erstaunlich, wenn das nicht auch für Kunst zuträfe.

Ließe sich jedoch ein nicht nur punktueller Konnex von Kunst und Gabe aufweisen, dann wäre das vielversprechend: Es hieße, dass sich im Grundbestand unseres europäischen oder westlichen Kunstdenkens Ansatzpunkte zu anderen Überlegungen ergeben, als sie bisher üblich und vor allem in populären Vorstellungen noch immer verbreitet sind. Es wären Hinweise auf einen Kunstbegriff, der nicht ein schöpferisches (männliches) Künstlerindividuum in den Mittelpunkt stellt, das in der Gesellschaft eine Sonderrolle spielt und von dessen legendärer Gestalt der Weg zu frühneuzeitlicher Verehrung bis hin zur Divinisierung und zum romantischen Geniekult führt. Entsprechend wäre die Geschichte auch nicht nur die der Erhebung handwerklicher Tätigkeit zur ›freien‹ Kunst und der Erringung von Autonomie. Vielmehr träten andere in diesem Paradigma vernachlässigte Seiten des ›Kunst‹ Genannten zutage: Sie erschiene als komplexer Zusammenhang aus Beauftragen, Produzieren, Konkurrieren, Kooperieren, Sammeln, Distribuieren, Rezipieren, Bewerten, Tradieren, Umarbeiten, Privatisieren, Öffentlich-Machen usw., kurz als ein vielfältiges Anfordern, Geben, Nehmen und Erwidern.Footnote 8

Bei diesen Tätigkeiten ist immer mehr als ein Akteur relevant, und selbst duale Konstellationen reichen zur Beschreibung nicht aus. Denn zu den künstlerischen Spezialisten treten Laien hinzu (Betrachter, Käufer, Förderer, Eroberer…), zu den männlichen Akteuren (selten, aber wenn, dann mit bedeutenden Folgen) weibliche Akteurinnen, zu den sozialen dingliche Aktanten, zu den individuellen unbenannte Dritte oder das Kollektiv, zu gegenwärtigen vergangene und künftige, zu menschlichen außermenschliche Instanzen. Die Beschreibung ihres praktischen, interaktiven Zusammenwirkens würde den Weg zu einer gabentheoretischen Konzeption von Kunst bahnen, in der Gaben als reziproke, aber nicht äquivalente und nicht mechanische gedacht werden.

II. Gaben zwischen Herrscher und Künstler

In diesem Aufsatz sei nur eine Facette dieses großen Komplexes in den Blick genommen: das, was man Kunst-Patronage nennen könnte, oder der Gabentausch zwischen Künstler und Herrscher.Footnote 9

In der römischen Gesellschaft ist die entscheidende Bindung und Verbindlichkeit, die auch das ökonomische Handeln trägt, die Beziehung von patronus und cliens. Es ist eine asymmetrische Konstellation von Macht auf der einen und Abhängigkeit auf der anderen Seite. In einem personalen Verhältnis sind hier Ungleiche miteinander verkettet. Sie tauschen Güter und Dienste, wobei die dominante Partei mehr gibt, als sie empfängt. Das Verhältnis, das die Beteiligten mit diesen Praktiken etablieren und reproduzieren, gilt als freiwilliges, zumindest theoretisch wird es auf der Grundlage des Einverständnisses beider Seiten hergestellt und aufgelöst.Footnote 10 Zwischen den Partnern der Beziehung herrscht eine Art unausgesprochenes Abkommen. Jeder kann auf den anderen zählen, macht dem anderen je nach der eignen sozialen Position Geschenke und erweist ihm Dienste höherer oder niedrigerer Art. Aber das Engagement kann von keiner Seite eingefordert oder eingeklagt werden; die wechselseitigen Leistungen sind, anders etwa als die im Verhältnis zwischen Herrn und Sklaven, Gaben und Gegengaben.Footnote 11

Diese patronale Struktur ist grundlegend für die Gesellschaft zur Zeit der Republik, aber auch noch in der Kaiserzeit. Als basale durchzieht sie alle möglichen sozialen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Phänomene. Patronage in diesem Sinn ist deren elementares Muster. Sie bedeutet für die Akteure Hierarchie und zugleich reziproke Verbindlichkeiten. Der sozialen Elite gilt diese Beziehung als Schmach; nach Cicero identifizieren manche sie mit dem Tod.Footnote 12 Da die Gesellschaft aber insgesamt hierarchisch strukturiert ist, befinden sich auch Römer gehobenen Standes trotz eines derartigen Selbstverständnisses in vielfältigen Abhängigkeiten, und dies umso mehr, je mehr sich die politische Macht zu einer autokratischen entwickelt. Während zunächst noch tendenziell ranggleiche Beziehungen innerhalb der Elite bestehen, findet doch ein Umbau zu einem System mit dem princeps an der Spitze statt. Im Zuge dieser Umstrukturierung werden die alten auf Kollektiven und Wahl beruhenden Verfahren der Machtverteilung verändert und letzten Endes ausgehebelt. Um die Ausgestaltung dieses neuen Systems und die Neupositionierung der ursprünglichen Macht- und Würdenträger wird in der frühen Kaiserzeit gerungen. Im Verhältnis zur Machtverteilung in der Republik verschieben sich die politischen Gewichte. Die ehemals mächtige, nun ihre eigene Schwächung fühlende Gruppe reflektiert diese Situation. Die Noblen kämpfen untereinander und suchen sich im Verhältnis zum Kaiser neu zu definieren. Die Beziehung zu ihm wird u. a. ebenfalls als Patronage gefasst.Footnote 13 Wie dieser Begriff selbst umstritten ist, so freilich auch ein derartiges Verständnis des Kaisertums. Zweifelsfrei beruht die kaiserliche Macht jedoch zumindest teilweise auf Gaben; denn Transaktionen von Gütern im Sinn der clementia schaffen und befestigen Hierarchien.

Der Kaiser agiert als erster Gaben-Geber, demonstriert damit seine Macht und lässt sie sich von den Empfängern bestätigen. Es ist das Prinzip des Euergetismus.Footnote 14 Jüngere Forschungen betonen an diesem Phänomen jedoch die Gegenseitigkeit und die aktive Rolle beider Seiten des Vorgangs: Den Gaben der Reichen oder des Kaisers an die Stadt, die Bürger oder eine Gruppe davon entsprechen als Gegengaben öffentliche Ehrungen, wie sie insbesondere Inschriften vom ersten bis zum dritten Jahrhundert n. Chr. bezeugen.Footnote 15

Kunst ist ein Teil dieser ›Wohltaten‹ gewährenden Praxis. In Bemerkungen bei Plinius zu exzessiver und pervertierter Euergesie scheinen Probleme seiner Zeit mit dieser Art Geben auf, aber die Künstler selbst kommen darin nicht vor.Footnote 16 Erzählungen von der gelungenen Kunst-Patronage Alexanders oder anderer griechischer Machthaber in der Naturkunde wären indes wohl auf diesem Hintergrund zu lesen.Footnote 17 Sie zeigen ideale, zur Aktualität in vielen Hinsichten komplementäre Verhältnisse und wünschenswerte Beziehungen, wie sie Plinius mit einigen von ihm favorisierten, von seiner Kritik verschonten Kaisern und vielleicht seinem eigenen Förderer Vespasian verbindet. Für seine Anekdoten von griechischen Künstlern spielen Akte des Gabentauschs als Situationen, in denen die Partner reziprok statt einseitig agieren und sie zumindest momentweise auf gleicher Ebene zu stehen scheinen, jedenfalls eine entscheidende Rolle.

Plinius’ Äußerungen zu Kunst und Künstlern beschwören v. a. ideale Beziehungen: Zwischen Vertretern der Kunst, zwischen diesen und Gesellschaft oder Öffentlichkeit, politischer Macht und nicht zuletzt der Natur findet ein Gabentausch statt. Die Akteure beziehen sich in reziproker, wenn auch nicht symmetrischer Weise aufeinander. Machtgefälle und Hierarchien werden nicht geleugnet, sie widersprechen aber nicht dem Prinzip der Wechselseitigkeit. Die sozialen Praktiken gehen einher mit der Idee eines konvivialen Verhältnisses zur Natur; beide – menschliche und über Menschen hinausgehende – Interaktionen werden immer wieder als Zustände idealer früherer Zeit aufgerufen. Das Geben und Erwidern erfolgt darin agonistisch, aber nicht antagonistisch: Von absichtlich feindseligen Gaben oder wohlwollenden, die in ihr Gegenteil umschlagen, ist selten oder nur indirekt die Rede. Unethisches, gegen die stets präsente Norm der frugalen Lebensweise verstoßendes Verhalten und eine Praxis, die dem Dienst am Gemeinwohl und einer darauf verpflichteten Kunst widerspricht, erfahren nachdrückliche Missbilligung. Perverse Gaben gehen i. d. R. auf das Konto von Zeitgenossen, die Macht und Reichtum gleichermaßen missbrauchen. Verschwendung und gar ein Wettbewerb in Aufwand und Prachtentfaltung sind für den Gelehrten Zeichen des Niedergangs. Die Darlegungen haben daher eine doppelte Richtung: Sie wenden sich zurück und adressieren zugleich die Gegenwart und umgekehrt: Sie zielen auf zeitgenössische Leser und halten ihnen als Spiegel eine idealisierte Vergangenheit vor. Dabei bringen sie ihrerseits griechische und römische Verhältnisse in einen Agon, der trotz der Ausrichtung auf die Glorifizierung Roms nicht immer zugunsten der letzteren ausgeht. Die Anekdoten bleiben jedenfalls mehrdeutig. In ihren höchst verdichteten Formulierungen bieten sie anderes als nur sachdienliche Information und zugleich mehr als moralische exempla.

III. Lektüren

Im Folgenden seien zwei Erzählungen von spannungsvollen Gabenpraktiken näher betrachtet.

III.1 Pankaspe und das hau

quamquam Alexander honorem ei clarissimo perhibuit exemplo. namque cum dilectam sibi e pallacis suis praecipue, nomine Pancaspen, nudam pingi ob admirationem formae ab Apelle iussisset eumque, dum paret, captum amore sensisset, dono dedit ei, – magnus animo, maior imperio sui nec minor hoc facto quam victoria alia. quia ipse se vicit, nec torum tantum suum, sed etiam adfectum donavit artifici, ne dilectae quidem respectu motus, cum modo regis ea fuisset, modo pictoris esset. sunt, qui Venerem anadyomenen ab illo pictam exemplari putent. (NH 35.86 f.)Footnote 18

Doch erwies ihm [Apelles, S.M.] Alexander durch eine beispielhafte Auszeichnung seine Wertschätzung. Als er nämlich veranlaßt hatte, daß eine von ihm ganz besonders geliebte Nebenfrau, namens Pankaspe, wegen ihrer bewunderungswürdigen Gestalt von Apelles nackt gemalt werde, und dabei beobachtete, daß dieser, indem er gehorchte, selbst in Liebe entbrannte, gab er sie ihm zum Geschenk – groß durch seine Gesinnung, noch größer durch seine Selbstbeherrschung und durch diese Tat nicht weniger bedeutend als durch einen seiner Siege. Denn er hat sich selbst besiegt und schenkte nicht nur seine Lagergenossin, sondern auch seine Neigung dem Künstler, wobei er sich nicht einmal durch Rücksicht auf die Geliebte abhalten ließ, die erst einem König angehört hatte und nun einem Maler gehören sollte. Einige meinen, daß dieser seine Aphrodite Anadyomene nach ihrer Gestalt gemalt habe. (Naturkunde 35, S. 71 und S. 73)

Die Erzählung aus der Vita des bekanntesten griechischen Malers idealisiert den Herrscher und nobilitiert den Künstler. Sie handelt von dessen Auszeichnung durch ein generöses Geschenk, also von einem einseitigen Geben, obwohl der so Geehrte auch etwas gibt. Doch dafür interessiert sich die Erzählung prima vista nicht. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf etwas, was in der reziproken, symbolische Anerkennung erzeugenden Gabe keine Rolle spielt: auf die Selbstüberwindung einer Person. Damit dient sie Plinius’ ideologischen und kritischen Anliegen als exemplum. Gleichwohl geht es in der Erzählung m. E. um eine zeremonielle Gabe:Footnote 19 Viele Details entsprechen ihrem Muster und modifizieren es zugleich, nur sitzen die Akzente anders. Es genügt, den Text etwas gegen den Strich zu bürsten, um in ihm eine Praxis sichtbar zu machen, die er selbst nicht eigens in den Blick nimmt. Sie mag dem Erzähler zu selbstverständlich sein oder ihm im Gegenteil fremd oder fremd geworden, doch da es nicht um die Rekonstruktion von Autorintentionen geht, sind die Gründe dafür auch nicht von Belang.Footnote 20

Die Inszenierung – Die Anekdote fokussiert ganz auf das Handeln des Königs. Um dessen Großmut geht es, und weil sie dem Maler zuteilwird, erhöht sie dessen Wert. Der Künstler ist nur Empfänger einer Auszeichnung (honor), und sein Wert bemisst sich allein nach der Größe der Gabe, die er erhält. Dass er seinerseits die Ehre verdient, bleibt implizit; es wird vorausgesetzt oder steht im vorangehenden Text, der schon diverse Vorzüge Apelles’ angeführt hat.Footnote 21 Nach der Anekdote von Alexanders Geschenk wird zwar das Bild Pankaspes erwähnt, aber nur als Gegenstand einer ausdrücklich distanziert vorgebrachten Behauptung (sunt, qui putent…. »Einige meinen…«). Von Interesse ist dabei auch nicht das Werk als Leistung des Künstlers, sondern nur die Ikonographie.

Obwohl das Verhältnis zwischen den beiden Akteuren nicht erst mit diesem Geschenk beginnt, sondern in einer ganzen Kette von Diensten des Malers und Gaben des Königs steht, lenkt die Erzählung alle Aufmerksamkeit auf den königlichen Geber. In dieser herausgehobenen Szene ist er der erste Geber, und er erscheint auch als der einzige. Von der Trias Geben, Annehmen und Erwidern bleibt nur die erste Geste übrig, und das verdunkelt das tatsächlich vorhandene Wechselspiel. Stattdessen profiliert die Erzählung mit der Gabe Alexanders die Machtposition, die dieser qua Institution des Königtums sowieso innehat.

Das entspricht bis zu einem gewissen Grad der Epoche und Kultur, in der die Geschichte situiert wird: derjenigen des hellenistischen Imperiums, und damit auch der des Peripatetikers Duris von Samos, der als Plinius’ Quelle vermutet wird.Footnote 22 Vor allem aber entspricht es der römischen Kaiserzeit und ihrem Euergetismus; im Gegenzug dazu steht die von Seneca formulierte Moralisierung der Gabe zur selbstlosen Tat.Footnote 23 Alexander wird hier als Surplus seiner Autorität ein moralisches Handeln zugeschrieben, das seinen schon vorhandenen Ruhm als Herrscher noch steigert, ja krönt, und ihn doppelt legitimiert.

Dazu gehört, dass er sein Geschenk nicht vor den Augen der Welt überreicht, seine Großzügigkeit also nicht coram publico zelebriert. Die Geschichte trägt sich zu, während der Künstler arbeitet, mithin in dessen Werkstatt. Diese ist ein Ort, der weder privat noch allgemein zugänglich gewesen sein dürfte, vielmehr handelt es sich wohl um einen halböffentlichen Raum. Denn außer dem Maler (und gelegentlich einem Modell) befinden sich dort Mitarbeiter, wie sie die unmittelbar vorangehende Episode erwähnt: Knaben, die Hilfsarbeiten leisten, etwa mit dem Anreiben der Farben. Sie zumindest sind Zeugen des Ereignisses, für einen symbolischen Akt zählen sie jedoch nicht. Abgesehen von ihnen ist von Zuschauern nicht die Rede. Das Ganze geschieht scheinbar auch ganz ohne Vorbereitung, wie aus dem Augenblick geboren, und nicht in einem festlichen Rahmen, kurz, die Großmut des Königs geht auch noch mit Bescheidenheit einher. Er gibt, ohne Aufheben davon zu machen.

Ein scheinbar spektakuläres Geschenk – Das spektakulärste Moment an der Geschichte ist natürlich, dass die ›gegebene Sache‹ eine Frau ist. Das unterscheidet die Erzählung von anderen, die ebenfalls die Hochschätzung des Künstlers durch den Herrscher illustrieren. Ehrungen wie enorme Geldsummen oder persönliche Protektion werden damit überboten.

Für einen Gabentausch zwischen den Akteuren ist dieses Faktum aber eigentlich gar nicht notwendig.Footnote 24 Pankaspe repräsentiert die Gabe des ersten Gebers, doch für das Funktionieren des Tauschs ist es kontingent, dass es sich dabei um eine Frau handelt. Die Gabe könnte auch ein männlicher Geliebter sein, ein leibliches Kind, ein Sklave, das Lieblingspferd, ein Ring, ein Erbstück oder sonstiges wertvolles Ding, jedenfalls ein ›Objekt‹ von großer emotionaler Bedeutung; in der Regel ist es eines, das mit der Verbürgung oder Sicherung von Identität zu tun hat. Es geht prinzipiell um eine Sache, die man unter normalen Umständen nicht weggäbe und auf die der Geber das Recht des Eigentums hat; der Empfänger dagegen wird zwar ihr Besitzer oder besser Nutzer, nicht aber ihr Eigentümer.Footnote 25 Kontingent sind also das Geschlecht und das Faktum, dass es sich um eine lebende Person handelt, nicht kontingent ist die hier durch die Liebe indizierte besondere Bindung an die Sache. Die einen Namen tragende Frau steht für etwas in höchstem Maße Wertvolles.

In einem zeremoniellen Gabentausch ist es nicht gleichgültig, was gegeben wird; es sind besondere, kostbare Sachen. Diese können Wertgegenstände sein oder Dienste (Feste, Tänze, Einladungen, Gastfreundschaft…) oder Personen. Wichtig an den gegebenen Sachen ist, dass sie »Gegenstand einer Teilhabe sein können«,Footnote 26 dass sie also nicht schlechthin privat sind, sondern für die Gesellschaft als Ganze Bedeutung haben können. Eine Geliebte schließt das aus moderner Sicht von einem derartigen Transfer aus, aber eben nur aus dieser Perspektive; im Rahmen eines zeremoniellen Gebens ist sie eine bestens geeignete Gabe. Denn entscheidend ist, dass der Geber sich darin selbst gibt, die Sache somit Unterpfand und Substitut seines Selbst ist.Footnote 27 Das trifft hier zu, nur übersetzt die Erzählung es in Moral.

Eine Gabe, die ein Machtgefälle aufhebt – Im zeremoniellen Gabentausch hat der Geber Macht über den Empfänger. Er hat sie schon allein dadurch, dass er gibt und der andere annimmt. Das impliziert, dass die Machtverteilung zwischen den Akteuren durch und im Gabentausch hergestellt wird; sie existiert nicht unabhängig davon. Die Gabe ist in diesem Sinn strukturbildend. Unter Bedingungen des Königtums oder einer anderen vergleichbaren stabilen Institution verhält es sich anders: Die Macht muss sich nicht unbedingt in Gaben ausdrücken, auch wenn das großzügige Schenken in traditionellen Gesellschaften zu den wesentlichen herrscherlichen Gesten gehört. Besteht eine stabile Macht dagegen nicht, wird eine solche vielmehr durch und im Gabentausch erst oder immer wieder hergestellt, dann hat der Geber Macht über den Empfänger bereits dadurch, dass jener gibt und dieser annimmt.

In der Geschichte hier existiert eine Hierarchie schon vor dem Akt der Gabe und unabhängig davon. Daher erhält die (scheinbar) erste und einzige Gabe eine andere, ja, zu der im zeremoniellen Gabentausch umgekehrte Funktion: Statt ein Machtgefälle herzustellen, hebt sie es (temporär) auf. Der König schenkt etwas ihm höchst Wertvolles an den sozial niedriger stehenden, ihm dienenden Künstler und wertet diesen dadurch auf. Zum Zweck der Glorifizierung dieser Geste wird die Geschichte erzählt, sie feiert den Herrscher. Gleichzeitig will sie aber keine von der unendlichen Unterlegenheit des Künstlers sein; sie will nicht demonstrieren, dass dieser in exzessiver, ewig untilgbarer Schuld zum König steht, sondern dass der Empfänger der außerordentlichen Gabe wert ist. Mit seiner Auszeichnung strahlt er in der Glorie des Herrschers, die auch das Erzählen davon noch vermehrt.

Ein einseitiges Geschenk soll hier den Empfänger erhöhen, obwohl mit dem Hinweis auf den sozialen Abstieg der Geliebten zugleich gesagt wird, dass sich an der Rangordnung zwischen den Akteuren nichts ändert. Nur vorübergehend und nur für die beiden Männer ist die Hierarchie in diesem Transfer aufgehoben. Für Pankaspe bedeutet, was für Apelles eine Erhöhung ist, eine Erniedrigung. Ihre Perspektive zählt aber nur, insofern sie möglicherweise auch diejenige des breiteren Publikums der Geschichte vertritt, an das sich die Naturalis historia auch ausdrücklich wendet (NH 1, epistula praefatoria): Diese Leser dürften nur den äußerlich höchst ungleichen Status der beiden Männer bemerken, während ihnen entgehen mag, dass sich hier zwei auf je eigene Weise Außerordentliche und insofern Gleichrangige begegnen. Dem namentlichen Widmungsadressaten der Naturkunde, Titus, wird die Botschaft dagegen klar sein: Zum noblen Gabentausch, der hier modellhaft stattfindet, gehört zumindest die punktuelle Inszenierung von Ebenbürtigkeit.

Alexander und Apelles tauschen unveräußerliche Güter. Auf eine Gunst (die Gabe der Geliebten) muss eine im Grunde unschätzbare Leistung (das Werk des Künstlers) antworten, die wiederum Gunst, eine freilich immer ungewisse, erhoffen kann, usw. Oder umgekehrt: Für besondere Leistungen (der Maler hat schon seine Exzellenz bewiesen, weshalb er nun die Geliebte des Königs malen soll) und zu erwartende weitere wird eine besondere Gunst gewährt; diese erheischt weitere besondere Leistungen (er wird mit dieser Gabe nicht nur nicht aus dem Dienst entlassen, sondern das damit verbundene Werk muss die anderen überragen, hier geschieht das durch den mythologischen Gegenstand). Die beiden sind einander weder einfach Auftraggeber und Ausführender noch ›Herr und Knecht‹. Ihre Beziehung ist vielmehr potenziell unendlich. Sie endet nur an äußeren, kontingenten Bedingungen und wenn das Verhältnis zwischen ihnen als solches aufgelöst wird.

Es ist eine besondere Beziehung, denn nicht jeder hat unveräußerliche Güter zu geben. Sie agieren beide sozusagen aristokratisch, auch wenn der Maler diesen sozialen Rang nicht hat und zwischen beiden eine Hierarchie besteht.

Die verschobene Macht des Gebers – Im zeremoniellen Gabentausch wird der gegebenen Sache eine Seele und eine magische Kraft zugeschrieben, die Geber und Empfänger beherrscht und bewirkt, dass die Gabe zurückehrt; diese Belebung macht die ›Sache‹ zu einem Subjekt des Geschehens.Footnote 28 Beseelt ist die Gabe in dieser Erzählung, insofern das Geschenk eine Person ist. Aus der magischen Macht aber, die eine Überlegenheit des Gebers und eine ›Besessenheit‹ des Empfängers bewirkt, ist hier die Macht der Schönheit und der Liebe geworden. Pankaspe bannt Apelles: Er wird von ihrem Anblick ergriffen und gefangengenommen (captum). Der ›Geist‹ der Sache, der dieser mythologisierend ein Eigenleben verleiht – hier müsste man sagen, der der Untergebenen wenn nicht Handlungsmacht (agency), so doch Wirkmacht verleiht –, ist ihre erotische Attraktivität. Das unfassbare Moment am Gabentausch, dass der Gebende Macht über den Empfangenden hat, wird auf diese psychologische Weise plausibel; das hau der Sache ist hier der Bann des Eros, die Verführungskraft die Akteurschaft der Frau. Dass auch Alexander dieser Macht unterliegt, wird daran deutlich, dass seine Gabe als heroischer Akt der Selbstüberwindung dargestellt wird. Insofern ist es für eine zeremonielle Gabe zwar im Prinzip, für diese (verkappte) Erzählung von einer solchen aber doch nicht gleichgültig, dass die gegebene Kostbarkeit eine Frau ist.

Die Wirkmacht der Liebe ist ein für nicht mehr ›archaische‹ Lebensverhältnisse nachvollziehbarer Modus jener zwingenden Bindung, die das Geben und Annehmen zwischen den Akteuren eines zeremoniellen Gabentauschs erzeugt. Statt von der Verpflichtung zu geben, zu empfangen und zu erwidern erzählt die Anekdote vom Bann der Liebe; statt von wechselseitigen Rechten und Pflichten zwischen Parteien, die aufeinander angewiesen sind und sich ihrer Bindung nur um den Preis ihres sozialen Daseins wie der Existenz von Sozialität überhaupt entziehen könnten, spricht die Erzählung von der Macht des Eros. Das kommt einem hellenistischen und einem kaiserzeitlichen Publikum entgegen (und den späteren Rezipienten allemal).

Im zeremoniellen Gabentausch ist der Geber in der Sache, in der Gabe gibt er sich selbst: In der Erzählung heißt es, der König habe »sich selbst besiegt« (ipse se vicit) und »seine Neigung dem Künstler gegeben« (adfectum donavit artifici). Pankaspe ist ein Teil des Gebenden, sein Eigentum, aber eben in jenem volleren Sinn, der das unveräußerliche Eigentum meint. Der Empfänger antwortet auf eine derartige Gabe ebenso; nur auf diese Weise kann er sich aus der Position des Schuldners lösen und seinerseits zum Geber werden, der Macht über den ersten Geber ausübt. In diesem Fall respondiert der außerordentlichen Gabe der Geliebten das außerordentliche Gemälde einer Aphrodite Anadyomene. Der Gabe der Geliebten am Anfang des Transfers entspricht am anderen Ende eine gemalte Venus.

In diesem Zusammenhang sei an Mauss’ etymologische Bemerkungen erinnert: Das Verb vendere und das Substantiv venditio kommen von venum dare, in dem das Verb dare noch auf eine Praxis von (nicht-ökonomischem) Tauschen und Schenken deute; das Nomen venus stehe über einige Vermittlungen in Beziehung zur Bedeutung ›Mitgift‹ und ›Kaufpreis der Braut‹;Footnote 29 die doppelte Bedeutung von Gift/gift und das lateinische venenum in dieser Bedeutung sowie venia, venus, venenum (Saft, Tränkchen) – von Sanskrit vanati, Vergnügen bereiten – und gewinnen, to win, gehörten ebenfalls in diesen Zusammenhang.Footnote 30 Das zu gebende Erfreuliche ist im zweiten Teil der Erzählung hier die Venus (Venerem). Sie ist Apelles’ Gabe, die ebenso über das von ihm zu Erwartende hinausgeht wie das Geschenk der Geliebten über das von Alexander zu Erwartende. Nur weil sie das Gewöhnliche überbieten, werden diese Gesten erzählerisch aufbewahrt; die Naturkunde versammelt mirabilia, und allemal die Anekdoten sprechen nicht vom Normalfall, sondern von der bemerkenswerten Ausnahme.

Das Erfreuliche aber kann sich in etwas Tödliches verwandeln. Das geschieht unter besonderen Bedingungen, nämlich dann, wenn die Gabe nicht erwidert wird. Dann wird das gastfreundlich gereichte Getränk zum Gift. Was würde aus Apelles, wenn er Pankaspe nicht als meerentsteigende Göttin ›zurückgäbe‹?Footnote 31

Motivation der Gabe – Eine Ver- und Umsetzung von Momenten des zeremoniellen Gabentauschs gibt es auch auf der Ebene der Handlung, genauer auf der der Reihenfolge der einzelnen Handlungen. Denn die Gabe des Königs steht bei näherem Hinsehen nicht am Anfang der Transferkette. Alexander gibt ein Porträt seiner Geliebten in Auftrag, er will sie dem Künstler zum professionellen Gebrauch überlassen oder sie ihm zu diesem Zweck leihen. Als er jedoch bemerkt – in der Erzählung ist er ein scharfer Beobachter –, dass dieser von Pankaspe gebannt ist, gibt er sie ihm zum Geschenk. Die Gabe wird also motiviert, was nicht nötig ist, wenn das Gabentauschen als gängige Praxis soziale Beziehungen vermittelt und zum Ausdruck bringt. Die Motivation besteht darin, dass der andere Akteur ein Verlangen erkennen lässt. Die Gabe der Frau erscheint zwar im Rahmen dieser narrativ isolierten Begegnung als eine erste, aber sie ist kein primärer Akt, sondern eine Antwort auf einen nicht artikulierten Wunsch, auf eine stumme Bitte. Deren Erfüllung hätte natürlich auch auf anderem Wege geschehen können: durch eine andere Frau. Indem der König aber diese und keine andere gibt, wird deutlich, dass er, auch wenn er einem Wunsch nachkommt, ganz und gar freiwillig handelt; die generöse Geste erfolgt spontan. Ein anderer Modus des Gebens wäre seinem Rang nicht angemessen.

Die Motivation des Geschenks plausibilisiert erneut den Vorgang psychologisch. Aber sie dreht die zeitliche und logische Reihenfolge um: Die zeremonielle Gabe bringt den Empfänger in die Position des Schwächeren. Hier ist der Empfänger dagegen schon vorher in dieser Position, und zwar nicht nur durch seinen sozialen Rang, sondern durch sein Verlangen.Footnote 32 Die Gabe macht seine doppelte Inferiorität explizit. Alexander erscheint dadurch umso größer. Aber diese Proportion ist auch fragwürdig, denn eine Generosität, die der andere nicht mehr erwidern kann, demütigt, und eine derartige Wirkung der Geste würde das hehre Bild des Königs beschädigen. Die ganze Episode soll im Kontext der Erzählungen über Apelles ein Beispiel dafür sein, wie sehr der König den Künstler schätzt. Er will ihn nicht erniedrigen, sondern erheben, indem er ihm das ihm selbst über alle Maßen Kostbare schenkt. Aber als Dienender und nun auch noch als einer, dessen Verlangen durch den Geber gestillt wird, ist der zweite Akteur doppelt unterlegen. Was garantiert, dass der Empfänger sich nicht zutiefst beschämt fühlt? Und was garantiert, dass der Geber nicht als jemand dasteht, der noch im Schenken nichts als sein eigenes Ansehen mehrt? Fragen dieser Art stellt sich zu Plinius’ Zeiten eine Leserschaft, die um die Fallstricke des Gebens und Empfangens nur zu gut weiß. Die Schwierigkeiten des Gebens, Annehmens und Erwiderns hat Seneca in seinen Schriften breit aufgefächert. Aber wie ein Alleinherrscher einen Inferioren – und wer wäre das innerhalb eines derartigen Reiches nicht? – mit Gaben schikanieren, verfolgen, tyrannisieren, ja quälen kann, ist den Zeitgenossen Neros aus bitteren Erfahrungen bekannt.Footnote 33

Die nobilitierende Gabe erweist sich bei näherem Hinsehen auch in der Anekdote als höchst ambivalent, und zwar für beide Seiten des Aktes. Sie kann den Ruhm von Geber wie Empfänger steigern oder beider Reputation beschädigen. Wie sollte aber eine derartige Ambivalenz nicht durch Liebe oder eben eine Frau verkörpert werden?

Der verborgene Agonismus – Andererseits bleibt der Wunsch nach ihr unausgesprochen, er wird nur beobachtet, also gemutmaßt. Man kann von Apelles ebenso annehmen wie von Alexander, dass er sich selbst besiegt. Dann stehen sich zwei Männer gegenüber, die die gleiche Frau begehren – zum Eigentum haben wollen –, dieses Begehren aber nicht gegen den jeweils anderen durchzusetzen versuchen. Der eine behält die wertvolle ›Sache‹ nicht, der andere versucht nicht, sie zu bekommen.

Als die eine Frau Begehrende treffen zwei Akteure aufeinander, die zumindest in dieser Hinsicht gleiches Recht beanspruchen. Ihr Verhältnis ist daher trotz des Machtgefälles ein potenzieller Konflikt, bedeutet die Grundkonstellation des erotischen Dreiecks doch die drohende Streitsituation schlechthin. Die Erzählung bezieht daraus ihr Minimum an narrativer Spannung. Ein Gabentausch aber kann einem tatsächlichen Konflikt entgegenwirken.

In der Erzählung hier entsteht die Spannung erst, als der König den Maler seine Geliebte sehen lässt: Am Sehen entzündet sich das Begehren des anderen. Und das Sehen des Sehens offenbart die potenzielle Rivalität. Der König hat sie begonnen, ja, er hat sie provoziert. Dass er Pankaspe nackt vor den Maler stellt, ist die erste Herausforderung; dass er sie ihm schenkt, die zweite. Ist es nicht eine gute Gelegenheit zu testen, wie weit die Selbstbeherrschung des anderen geht? Und wenn dieser die Probe nicht besteht, was für eine Gelegenheit, die Macht über einen selbst zu demonstrieren! Begehren bedeutet Schwäche, ihm entsagen Souveränität. Auch der Stoizismus hat seine Bosheit. Und allemal ein philosophisch instruierter Autokrat (wer dächte seinerzeit nicht an Nero?) ließe sich eine derartige Chance nicht entgehen.

Beide Male mag keine Provokation intendiert sein, aber die Erzählung präsentiert Handlungen, anstatt über Absichten zu räsonieren. Und Provokation ist das agonistische Prinzip der Gabe, vieler Künstlererzählungen und der Anekdote selbst als narrativer Form. Die Rivalität der beiden Männer ist in dieser nur eine Möglichkeit und wird nicht ausphantasiert. (Eine derartige Dramatisierung der Situation bleibt späteren Versionen vorbehalten.) Das Gleiche gilt für die Konkurrenz in Sachen Selbstkontrolle. Kaum scheint eine derartige Reibung am Horizont der Erzählung auf, ist sie auch schon wieder verschwunden: durch das generöse Geschenk. Die Gabe funktioniert also ganz, wie man es erwartet. Sie befriedet. Hier erfolgt sie prophylaktisch.

Das scheint jedoch allzu schön und in Anbetracht der beschriebenen Ambivalenzen allzu einfach. Eine weniger euphemisierende Lesart könnte so aussehen: Eine Rivalität zwischen den beiden Akteuren liegt nahe. Die Erzählung von Pankaspe schließt an die vom Ringen um Autorität in Sachen Kunst an (NH 35.85). Ein Kräftemessen mit dem König hat also schon stattgefunden, warum soll es kein weiteres geben? Die Anekdote erzählt von der auszeichnenden Gabe, aber sie enthält gleichwohl Momente des Kampfes: Der König geht über seine übliche Großzügigkeit hinaus mit einem extraordinären Geschenk, der Künstler übertrifft sich selbst, indem er ein herausragendes Bild malt. Ihre Rivalität als Männer bricht nicht aus, stattdessen bilden sie Komplemente zueinander in Hinsicht auf Exzellenz. Alexander gibt Schätze, Apelles Kunstwerke – beide befinden sich in einem Wettstreit und setzen ihn fort. Die Gabe der Frau hat die Rivalität angefacht und befeuert; Pankaspe ist eine agonistische Gabe: Mit ihr kommt ein Prozess in Gang, in dem der Geber mit seinem ›Eigentum‹ über den Empfänger Macht ausübt, und der Empfänger mit dem seinen zum Gegengeber werden muss, um nicht als Beschämter dazustehen. Dass es sich dabei um eine Konkurrenz im Sich-selbst-Besiegen oder Sich-selbst-Übertreffen handelt, verschiebt das unabschließbare Miteinander-Ringen auf eine andere Ebene: Der Krieg ist in der Metaphorik vom Sich-selbst-Besiegen erhalten, aber er erscheint als Anspruch, den der Einzelne an sich selbst stellt. Der Agonismus begegnet als Agon der Vortrefflichkeiten. Beiden Akteuren geht es um die Erhöhung ihres Ansehens, und darum streiten sie mit Gaben.

Explizit gibt es darin freilich nur Gutes: Schönheit, Liebe, Generosität, Geschenk, Ehre, nobles Miteinander, Friede zwischen politischer Macht und Kunst ... Das einzige Negative, das die Erzählung erwähnt, ist Pankaspes Erniedrigung, und die taucht nur in Form einer rhetorischen Kontrastbildung auf (cum modo regis ea fuisset, modo pictoris esset), nicht als Moment des Plots; die Degradierung wird nicht erzählt, weil sie nicht als erzählenswert gilt. Es findet vielmehr ein konsequentes Euphemisieren statt: Was auch immer an dieser wunderbaren Szene des Schenkens bedenklich wirken könnte, bleibt unausdrücklich oder ist an den Rand der Handlung und der Aufmerksamkeit verschoben; es erscheint marginal, beiläufig, höchstens möglich, aber nicht tatsächlich.

Zu wem kehrt die Gabe zurück? – Beim zeremoniellen Gabentausch kehrt nicht die identische Sache zum Geber zurück, sondern eine mit ihr gleich- oder höherwertige. Auch hier kehrt die gegebene Pankaspe (vermutlich) zum ersten Geber zurück, aber nicht als identische, sondern als Bild. Davon sagt die Erzählung nichts. Im Anschluss an sie erwähnt Plinius jedoch das Gemälde, zu dem der Maler Pankaspe als Modell verwendet haben soll. Aus der Geliebten ist darin eine übermenschliche Instanz geworden: die Göttin der Liebe. Das Porträt der Geliebten ist ein kostbares Objekt, das Bild der Göttin ein heiliges. Dieses zumindest gehört weder dem, der es gemacht hat, noch dem, dem es eventuell gegeben wird; als sacrum gehört es vielmehr allen, also der Gesellschaft, die sich in ihren symbolischen Erzeugungen selbst darstellt. Es hängt – so jedenfalls endet die von Plinius berichtete Geschichte des Bildes – nicht in den Privatgemächern Alexanders oder eines anderen Königs, sondern wird in einem Tempel ausgestellt.Footnote 34 Es ist ein in eminentem Sinn unveräußerliches Gut.

Die exzeptionelle Gabe des Königs hat ein derartiges Objekt ermöglicht. Seine Großmut geht derart über das Verhältnis zu seinem bevorzugten Künstler hinaus; sie schafft nicht nur etwas Herausragendes zwischen zwei Individuen, sondern etwas von Bedeutung für die ganze Gesellschaft. Damit erhöht die Leistung des Künstlers freilich auch wieder den Ruhm des Herrschers. Die Erzählung bezeugt auch, dass die bildenden Künste für die königliche Macht wichtig sind.Footnote 35

Plinius hält jedoch, wie erwähnt, Distanz zu der Behauptung, der Aphrodite Anadyomene liege Pankaspes Porträt zugrunde. Betrifft diese Reserve nur den faktischen Zusammenhang des Bildes der Göttin mit dem weiblichen Modell? Oder manifestiert sich darin auch ein Unbehagen? Die Überhöhung einer Geliebten zur Göttin, diese Mischung von Profanem und Religiösem, gilt ihm, wie im Fall des Malers Arellius, jedenfalls als Frivolität (NH 35.119). Mit der (obgleich unter Vorbehalt gestellten) Aussage über das Gemälde aber wird erzählerisch der Gabenzyklus geschlossen: Die Gabe kehrt zurück, wenn auch nicht zum Auftraggeber, dann doch zu denen, die Alexander als Herrscher repräsentiert. Die Leser der Anekdote erinnert dies daran, dass es beim Gabentausch immer einen Dritten gibt. »… es wird mir nur unter der Bedingung gegeben, daß ich es [das Gegebene, S.M.] für einen anderen in Gebrauch nehme oder einem Dritten übergebe, dem ›fernen Partner‹«.Footnote 36 Man empfängt eine Sache nicht, um sie zu behalten, sondern um sie weiterzugeben. Das gilt auch für die Gunst, die einem Künstler zuteilwird, und die Leistung, die er für seinen Gönner erbringt. Verwandelt in ein Kultbild würde die Gabe ihr Ziel erreichen: Was erst ›des Königs‹, dann ›des Malers‹ ist, wäre dann ›aller‹. Sollte die erste Silbe des griechischen Namens jener Geliebten – Pankaspe – darauf hindeuten?Footnote 37

Warum die Gabe eine Frau ist – Lässt man Plinius’ Skepsis beiseite, dann hat ein komplexer, durchaus agonistischer Gabentausch zu etwas geführt, was die Akteure miteinander und beide mit anonymen Dritten verknüpft. Die Gabe schafft eine Bindung, bringt sie zum Ausdruck, befestigt und befördert sie. Gebunden werden dabei nicht nur die namentlich Genannten. Als Stellvertreter veranschaulichen sie vielmehr, wie Sozialität aus nicht ökonomischen, nicht vertraglichen, unabsehbaren und zugleich unabdingbaren Akten des Gebens hervorgeht. Was auf diese Weise entsteht, ist weder frei von Unrecht noch von Konflikt noch von Hierarchie. Die generöse Gabe erzeugt – anders als auch und gerade die spätere Verwendung der Erzählung es will – keine idealen Verhältnisse zwischen Macht und Kunst. Gabenanthropologisch gelesen zeigt die Anekdote aber, dass die Beziehung zwischen diesen sozialen Akteuren auf gegenseitigen agonistischen Leistungen beruht, die jeweils ein Moment des nicht Kalkulablen enthalten. Dieses Bedingungslose oder bedingt UnbedingteFootnote 38 fügt die Erzählung ausdrücklich der herrscherlichen Moral und implizit der künstlerischen Fähigkeit hinzu. Entscheidend ist, dass beide Seiten es einander bieten. Veranschaulicht und narrativ greifbar wird dieses Prinzip durch die geschenkte Geliebte, die als Sache und Person zugleich zirkuliert. Pankaspe ist Objekt und Medium des Gabentauschs.

Soll man sagen, sie ist auch dessen Zweck? Godelier betont die ganz und gar soziale (nicht magische oder religiöse) Natur des im Gabentausch über die Subjekte Hinausgehenden. Demnach reproduzieren sich durch die Handlungen der Individuen und Gruppen hindurch die sozialen Beziehungen und verketten sich neu, wobei sich das herstellt, was eine Gesellschaft ausmacht; »es ist die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die sich neu erschafft«.Footnote 39 Sie tut dies in einem Gabentausch, der mehr als die direkten Akteure eines einzelnen Transfers umfasst, in einem Geben und Erwidern auch über lange Zeiträume hinweg.Footnote 40

Dies lässt sich auch auf die Erzählung beziehen. Versteht man sie als eine Art Modell gelungener soziopolitischer Funktionen, dann ist die Tatsache, dass das Geschenk eine Frau ist und die Liebe verkörpert, nicht gleichgültig. Denn was könnte besser symbolisieren, dass sich mit Gaben in der longitudinalen Richtung der Generationen die Gesellschaft als ganze produziert und reproduziert? Die gemalte Frau wiederum, das Kunstwerk, gehört, mit Annette Weiner gesprochen, zu den Wertelementen, die jede Gesellschaft schaffen, erneut hervorbringen und regenerieren muss, um als solche fortzubestehen.Footnote 41

Pankaspe ist also Gegenstand, Mittlerin und Symbol der Gabenbeziehung. Und sie ist die verkörperte charis. Apelles’ Ruhm beruht auf dieser Qualität seiner Bilder: praecipua eius in arte venustas fuit (»[h]ervorragend war in seiner Kunst die Anmut«); allen möglichen von ihm selbst bewunderten Malern fehlte seiner eigenen Einschätzung nach illam suam venerem […], quam Graeci χάριτα vocant (»jener eigene Liebreiz […], den die Griechen cháris nennen«) (NH 35.79, Naturkunde 35, S. 67). Sie zeichnet Apelles vor allen früheren und späteren Künstlern aus, und er gibt allen das unerreichbare Maß vor. Wenn die Faszinationskraft seiner Bilder begreiflich werden soll, dann bedarf es dazu einer Erzählung. Plausibilisierung ist die Funktion der kleinen Geschichten. Das beeindruckende Gemälde einer Göttin muss eine menschliche Frau zum Vorbild gehabt und der Künstler in besonderer Beziehung zu dieser gestanden haben, in einer freilich, die über eine gewöhnliche Liebschaft hinausgeht. Die notwendigen Elemente liefert die Anekdote. Sie gibt der malerischen charis des größten griechischen Künstlers eine Ätiologie, indem sie in einer Narration das breite Bedeutungsspektrum des fremden Wortes zur Geltung bringt: Sie verknüpft die enge, ästhetische und erotische, Bedeutung des Wortes – venus, venustas – mit der weiteren, sozialen, der des reziproken Tauschs wertvoller Güter oder der zeremoniellen Gabe.

Kunst/Gesellschaft – Gesellschaft/Kunst – ein Gabenverhältnis, aber wie? – Einer frühneuzeitlichen und modernen Auffassung erscheint die Relation von Gabe, Kunst, Künstlern und Gesellschaft üblicherweise auch als einseitige, aber umgekehrt zu dem vom großmütigen König Erzählten: Der Künstler gilt als der generös Gebende; er beschenkt die anderen, gibt die ihm von gnädigen Gottheiten oder der Natur verliehene Gabe in seinen Werken weiter, er ist der erste Geber, das Publikum der im Wesentlichen passive Empfänger. In seinem Werk gibt er sich selbst, sein Werk ist eine unauflösliche quasi-magische Verquickung von Person und Sache. Als ›Geist‹ der gegebenen Sache gilt die Psyche des Schöpfers mit ihren Leidenschaften und Pathologien, insbesondere den erotischen. Die Selbst-Gabe im Werk ist unschätzbar, die sie Annehmenden bleiben dem Künstler gegenüber daher in einem Verhältnis nicht auszugleichender Schuld. Imprägniert ist die Beziehung wie fern auch immer von der Praxis des Opfers, die Selbst-Gabe des Künstlers wird zumindest seit der Romantik als eine sakrifizielle verstanden. Die Macht dieses Gebers über die Empfangenden ist dementsprechend unendlich, sie sind von ihm ›besessen‹. Eine Antwort, die ein derartiges Verhältnis umkehren könnte, ist nicht möglich; bezeichnet wird diese Unwucht traditionell mit dem Begriff des Genies, aktuell entspricht dem vielleicht das Image.

Die Erzählung hier weist dagegen vielfach auf ein Wechselspiel zwischen politischer Autorität und spezieller Kompetenz hin. Beide Seiten sind nicht symmetrisch, und sie tauschen keine Äquivalente. Beide Seiten geben vielmehr etwas vom Gegenüber nicht Einzuforderndes und stehen auf Dauer jeweils in des anderen Schuld. Und nicht zuletzt ist in ihren Austausch immer schon ein anonymer anderer, ein ›Dritter‹, den sie nicht kennen, verflochten.

Kunst ist hier Moment eines Gabentausches, der auch Rivalität bedeutet. Sie findet in einer hierarchischen Struktur statt, bleibt aber nicht auf der Seite der Macht, sondern bewegt sich transversal zu Rangunterschieden. Sie geht zwischen dem Pol der besonderen Expertise und der der Allgemeinheit hin und her. Sie gehört zum unablässigen Strom von Geben und Nehmen, in dem – trotz des Machtgefälles – das soziale Leben sich immer neu erschafft, und macht diesen sinnlich wahrnehmbar.

III.2 Misslungene Patronage? Zu Ktesikles und Stratonike

Die Erzählung von Alexander, Apelles und Pankaspe gehört zu den bekanntesten Anekdoten; in den bildenden Künsten ist sie jahrhundertelang immer wieder dargestellt worden.Footnote 42 Niemand aber hat m.W. bisher darauf hingewiesen, dass es auch eine komplementäre Erzählung dazu gibt, nämlich die von dem Maler Ktesikles und der Königin Stratonike. Diese Anekdote bildet keinen Teil des kollektiven Gedächtnisses, sie ist m.W. nie visualisiert worden und findet auch kaum Erwähnung.Footnote 43

Ctesicles reginae Stratonices iniuria [innotuit]. nullo enim honore exceptus ab ea pinxit volutantem cum piscatore, quem reginam amare sermo erat, eamque tabulam in portu Ephesi proposuit, ipse velis raptus. regina tolli vetuit, utriusque similitudine mire expressa. (NH 35.140)

Ktesikles [wurde bekannt] durch sein Spottbild auf die Königin Stratonike. Nachdem er nämlich nicht ehrenvoll von ihr empfangen worden war, malte er sie, wie sie sich mit einem Fischer herumwälzt, von dem die Rede ging, die Königin liebe ihn, und er stellte dieses Bild im Hafen von Ephesos aus und machte sich selbst zu Schiffe davon. Die Königin verbot, das Bild zu entfernen, da die Ähnlichkeit der beiden wunderbar ausgedrückt war. (Naturkunde 35, S. 107; Übers. leicht verändert von S.M.)

Vorgeschichten – Vor der Untersuchung dieses kurzen Textes sei nachgetragen, was als Vorgeschichte der erzählten Ereignisse gilt. Die Verweise sind allerdings unsicher, weil es mehrere Königinnen namens Stratonike gibt und man nicht gewiss sagen kann, ob an den kurz aufeinanderfolgenden Stellen in Plinius’ Text, an denen ihr Name fällt, die gleiche Person gemeint ist. Die vorausgehende Stelle lautet Artemon Danaen mirantibus eam praedonibus, reginam Stratonicen, Herculem et Deianiram (NH 35.139). »Artemon [malte] eine Danae, die von Seeräubern bewundert wird, die Königin Stratonike, Herakles und Deianeira« (Naturkunde 35, S. 107); es folgt die Nennung der Sujets zweier weiterer Herakles-Bilder. Wenn es dieselbe Stratonike ist, nämlich die Tochter des (kunstsinnigen) Demetrios, der wegen eines Werkes von Protogenes darauf verzichtete, Rhodos einzunehmen (NH 35.104-106), und Gattin des Seleukos I. Nikator (358/54-281 v. Chr.), dann lautet die Rekonstruktion der Vorgeschichte folgendermaßen: Am Hof der Königin gab es bereits einen Maler, Artemon, weshalb sie Ktesikles abweisend behandelte.Footnote 44 Implizit wäre darin ein Künstleragon enthalten, in dem Artemon gesiegt hatte. Die Anekdote erzählt von den Folgen; Ktesikles war demnach ein schlechter Verlierer. Damit wäre die Anekdote ein negatives Pendant zu anderen berühmten Wettstreiten, bei denen die Kombattanten einander gegenseitig anerkannten, aber wohlgemerkt auch die Sphäre der Macht nicht mit im Spiel ist. Hier läge also der Fall vor, dass sich die Auseinandersetzung nicht um künstlerische Dinge dreht, sondern um die herrscherliche Gunst. Dass beide im Gedächtnis der Kunst- und Künstlergeschichte wenig Spuren hinterlassen haben, ist so gesehen vielleicht nicht ganz zufällig.

Nachzutragen ist aber noch eine weitere (wesentlich bekanntere) Vorgeschichte; auch sie steht unter dem Vorbehalt, dass es sich um dieselbe oben erwähnte Stratonike handelt. Von ihr heißt es, sie sei um 300 v. Chr. mit dem genannten Seleukos I., dem König von Syrien, verheiratet worden, der sie 294/93 seinem Sohn, Antiochus I., gegeben habe.Footnote 45 Wie es dazu kam, erzählen verschiedene Autoren, darunter Plutarch und Lukian.Footnote 46 Im Mittelpunkt novellistischer Ausschmückungen des Plots steht dabei der Arzt Erasistratos von Keos, einer der bedeutendsten hellenistischen Mediziner, der mit dem Peripatos (evtl. war er Schüler Theophrasts) und der Philosophie von Demokrit und Epikur in Verbindung gebracht wird. In Kürze (und ohne auf Gabenbeziehung, Freundschaft und Agonismus zwischen Arzt und König in dieser Konstellation einzugehen) ist das Geschehen dies: Der Sohn von Seleukos I. leidet so sehr an heimlicher unglücklicher Liebe zur jungen Gattin seines Vaters, dass er dem Tode nahekommt. Der Arzt erkennt die Ursache und bringt den höchst besorgten König mit einem kundigen Manöver dazu, selbst die einzig mögliche Heilung zu fordern. Seleukos verzichtet auf seine Frau Stratonike, gibt sie seinem Sohn und macht das Paar noch zu seinen Lebzeiten zu Herrschern über einen Teil seines Reichs.

Die Parallele zu Alexander im Verhältnis zu Apelles liegt auf der Hand: In beiden Fällen beweisen Könige ihre außerordentliche Tugendhaftigkeit dadurch, dass sie einem anderen die eigene geliebte Frau überlassen, ihr Verlangen also bemeistern. Diese Selbstüberwindung gilt als mindestens ebenso bedeutende, wenn nicht noch als größere Leistung denn militärische Siege.Footnote 47

Die Erzählung vom Dreieck aus Vater, Sohn und Stiefmutter, die sich bis zu Duris zurückverfolgen lässtFootnote 48 und letzten Endes auf Euripides’ Hippolytos beruht, greift Plinius an dieser Stelle (NH 35.139 f.) nicht auf, aber zwei andere in der Naturkunde handeln indirekt davon. Sie ist also durchaus mitzudenken. Stratonike hat bei der Erkrankung des Prinzen bereits einen Sohn mit Seleukos, der wesentlich älter ist als sie – die Existenz des gemeinsamen Erben macht noch einmal die Größe des königlichen Verzichts deutlich und stellt den weiblichen Gehorsam heraus. Wohl wegen des Kindes findet sich die Behauptung, sie habe mit Seleukos in Harmonie gelebt; demnach hat sie also nicht ihn, sondern ihren jungen Ehemann Antiochus mit dem Fischer betrogen. Das würde ihre moralische Verwerflichkeit unterstreichen. Nicht zuletzt werden ihr – man möchte sagen erwartungsgemäß – abnorme Liebschaften nachgesagt.Footnote 49

Die Geschichte von Alexander, Apelles und Pankaspe und diejenige von Seleukos, Antiochus und Stratonike haben die Selbstüberwindung eines (vorbildlichen) Königs gemeinsam. Zur Geschichte um Stratonike und Ktesikles bestehen dagegen strukturelle Parallelen bei gleichzeitiger inhaltlicher Komplementarität: Die eine erzählt von der außerordentlichen Hochschätzung eines Künstlers durch den König, die andere vom Mangel einer solchen durch die Königin. In der ersteren tauschen Künstler und Herrscher außerordentliche Gaben oder Zeichen ihrer wechselseitigen Anerkennung, in der letzteren tauschen sie Zeichen der gegenteiligen Bedeutung. Im einen Fall handelt es sich um einen für beide Seiten und die ganze Gesellschaft gelungenen Gabentausch, im anderen Fall löst sich das Verhältnis zwischen Künstler und Herrscherin gänzlich auf. Erzählt die eine Anekdote von idealer Patronage und Loyalität, einer win-win-Situation für Kunst und Macht, so die andere von einer verweigerten Patronage mit einem schweren Konflikt im Gefolge. Während die Männer, mögen sie Seleukos und Antiochus oder Alexander und Apelles heißen, mit der Frauen- und Frauenbildgabe höchstes Ansehen ausdrücken und zugleich für sich erringen, exemplifiziert Ktesikles’ Pendant die Inversion dazu. Beide Maler schaffen Porträts: Das eine erhöht die sozial inferiore Geliebte am Ende zur Göttin, das andere erniedrigt die sozial Höchstrangige zur Prostituierten. So weit, so misogyn.

Gleichwohl lohnt die Erzählung noch eine nähere Betrachtung, und zwar gerade in Hinsicht auf die darin enthaltenen Akte des Gebens und Erwiderns.

Negative Gaben und eine Überraschung – Die Königin hat es an Wertschätzung für den Künstler fehlen lassen; darauf repliziert dieser mit seiner iniuria. Auf die negative Gabe folgt eine negative Gegengabe. Statt Ehrung gegen Ehrung stehen hier Missachtung gegen Schmähung, Verletzung der künstlerischen Ehre gegen Verletzung der weiblichen und königlichen Ehre.

Die Königin hat einen ganzen Hof und notfalls sogar ein Heer zur Verfügung, um sich gegen ihre Beleidigung zu wehren; der Künstler steht allein. Das Kollektiv, das seine Sache teilen soll, ist hier indes enorm groß: Es ist die Öffentlichkeit, die Gesellschaft, das Volk. Er hat die iniuria am Hafen ausgestellt, d. h. dort, wo sie allen zugänglich ist, und sogar noch mehr: Sie wird hier nicht nur Einheimischen präsentiert, sondern sogar ankommenden Fremden! Ephesos ist eine blühende Stadt, wozu der Verkehr über das Mittelmeer entscheidend beiträgt. Am Hafen kommt die ›Welt‹ zusammen. Mit diesem Ort der Sichtbarkeit seines bösen Werkes wendet sich Ktesikles an die größtmögliche Öffentlichkeit überhaupt. Vor dieser denunziert er das ihm widerfahrene Ungemach und fordert zur Revanche auf; die Gegengabe für Stratonikes mangelnde Anerkennung sollen Spott und Verachtung aller für sie sein.

Wie die positiven Gaben ein nicht beendbares Verhältnis etablieren, so auch die negativen: Es sind die Geschichten von Rache (vendetta), die Personen, Familien und soziale Gruppen in Ketten von gegenseitigen Verletzungen oder gar Morden involvieren.Footnote 50 Der nächste Schritt in dieser Geschichte wäre, dass Stratonike das Bild entfernen und den Maler bestrafen lässt. Wenn er noch handlungsfähig wäre, erfolgte daraufhin eine weitere Schmähung seinerseits, die eine Verschärfung der Sanktionierung nach sich zöge, usw. Der Fortsetzung dieses Spiels entzieht er sich jedoch durch Flucht (wofür der Hafen der strategisch günstigste Ort ist). Die weiteren Gesten negativer Gaben sollen zwischen dem Volk und der Königin stattfinden.

Was er dabei indes offenbar nicht bedacht hat, sind zwei Dinge: Zum einen, dass alle, die er hier gegen die Königin aufbringen will, nicht seine Unterstützergruppe schlechthin bilden; sie funktionieren nicht wie die Familie, die qua Verwandtschaft für eines ihrer Mitglieder eintritt. An die Öffentlichkeit kann sich auch die gegnerische Seite wenden, in diesem Fall die Königin. Zum anderen scheint er übersehen zu haben, dass diese anonymen Dritten auch diejenigen sind, von denen er selbst seine Anerkennung als Künstler beziehen möchte. Er malt die Königin als lasterhafte, appelliert also an die Rezipienten seines Bildes, die Dargestellte moralisch zu verurteilen. Das Bild ist dabei eine Geste der Schmähung, ein performativer Akt der Beschimpfung, den jedoch jeder mit obszönen Gebärden der Hände, mit der gebleckten Zunge oder verbal genauso vollbringen kann; das Bild spielt dabei keine Rolle als Leistung eines Künstlers, d. h. als Manifestation eines speziellen Könnens, für das er normalerweise hoch angesehen werden möchte.

Stratonike ist besonnen: Sie lässt sich nicht dazu hinreißen, die Kette der negativen Gaben fortzusetzen. Und sie ist klug, anders als der Maler hat sie die beiden genannten Dinge verstanden. Sie lässt das Bild am Hafen stehen, statt mit seiner Entfernung einzugestehen, dass es sie gekränkt hat, sie also verwundbar ist durch einen Künstler, der doch von ihr dadurch abhängig war, dass er ihre Anerkennung haben wollte und deren Ausbleiben ihn verletzte. Er hat das Spiel der Ehre bzw. der Nichtehrung als Machtbeweis umgekehrt und hier seine Macht über sie gezeigt. Sie weiß aber, dass sie ihre Überlegenheit nicht auf dem Weg einer weiteren negativen Gabe beweisen kann. Denn das Bild zu entfernen, würde die Sache nicht aus der Welt schaffen; die Aussage, die es übermittelt, ist jetzt in den Köpfen und in aller Munde, nicht mehr nur auf dem materialen Bild. Sie spielt das Spiel weiter – anders als er kann sie nicht fliehen –, gibt ihm aber eine andere Wendung: Zur allgemeinen Überraschung repliziert sie nicht mit einer negativen Gabe (Sanktionierung, materialer Annullierung), sondern mit einer positiven: Sie lässt das Bild stehen – bringt also zum Ausdruck, dass es hier im Mittelpunkt größtmöglicher öffentlicher Aufmerksamkeit stehen soll – und begründet das mit einem Lob. Mit dieser Wendung geht es nicht mehr um königliche und weibliche Ehre und Unehre, sondern um das besondere Können der Kunst. Dieses besteht (wie bei Plinius immer) in bemerkenswerter mimetischer Fähigkeit. Nicht das Sujet ist mehr das Aufsehenerregende, sondern die Art, wie die Akteure dargestellt sind, nämlich bewundernswert ähnlich, lebensecht, unverwechselbar. Es geht nicht mehr um Moral, sondern um das Wunder der Wiedererkennbarkeit lebender Personen auf einem Bild. Der Ort der Diffamierung der Königin wird so zum Ort der Ehre für den Maler; statt Spott über Unmoral soll Bewunderung für die bildnerische Repräsentation stattfinden.

Die Erzählung sagt nichts darüber, ob die Öffentlichkeit diesen Schritt mitgeht und tatsächlich ihre Aufmerksamkeit von der Frage des Was auf die des Wie verlagert. Wenn sie es tut, dann muss sie den Maler hochachten. Die Porträtähnlichkeit muss so schlagend gewesen sein, dass die Dargestellte den Ärger wegen der Beleidigung zurückstellen und ihr diese Dimension wichtiger sein konnte als der diffamierende Akt.

Der Maler hat sich jedoch davon gemacht; er hat den Ort seines aggressiven Tuns verlassen – und damit auch den seines künstlerischen Exzellierens. Dadurch entgeht ihm, was nun möglich wäre: dass alle, die den Hafen betreten und das Bild sehen, die wunderbare Ähnlichkeit mit der Porträtierten bestaunen. Er könnte von allen gerühmt werden – er könnte so viel Ehre und Anerkennung erhalten wie noch nie, nicht nur die der Königin, sondern all derer, an die er sich öffentlich wendet. Er könnte die moralische Zustimmung des Volks in Bewunderung für seine Kunst transformieren. Es könnte öffentlich demonstriert werden, dass sein Stratonike-Porträt demjenigen seines Rivalen Artemon überlegen ist, dass der Sieg in der Konkurrenz mit dem bestallten Kollegen doch ihm gebührte!Footnote 51 Aber er hat schon das nächstbeste Schiff bestiegen und ist davongefahren.

Über Ktesikles weiß man außer dieser Anekdote nichts; übrig ist nur eine Erzählung davon, wie ein Künstler als obszöner Satiriker Aufsehen erregt und sich selbst um seinen Ruhm als herausragenden Porträtisten bringt.

Eine kunstsinnige Königin? – Die Königin dagegen beweist ihre Tauglichkeit zur Herrschaft und noch mehr: Sie besiegt ihren Zorn, kann also – anders als die iniuria ihr unterstellt – ihre Leidenschaften sehr wohl bezähmen; sie entschärft einen Konflikt und verzichtet darauf, die Spannungen durch die Entfernung des Bildes zu erhöhen. Sie beweist, dass sie souverän ist: Herrin über die Lage und über sich selbst.

Und sie geht noch darüber hinaus: Sie zeigt nämlich, dass sie die Herrschertugend schlechthin hat: Großmut. Sie zollt demjenigen, der sie beschimpft, Anerkennung als Künstler, sie lobt ihn. Diese nicht zu erwartende positive Gabe muss den Urheber des Bildes beschämen. Und wenn er selbst es nicht mehr mitbekommt, weil er entflohen ist, so sieht es doch das Publikum: Im Kräftemessen mit ihr ist er erneut in der unterlegenen Position.

Die Königin selbst wird durch das Geschehen gestärkt. Sie münzt die Beschimpfung um zu einem Triumph ihrer Autorität. Die Replik von ihrer Seite hätte nicht nachdrücklicher – nicht königlicher – sein können.

Stratonike lenkt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in eine andere Richtung: vom visuellen Schmähen auf die Eigenart und Qualität des visuellen Mediums dieses Aktes. Statt das Bild nur als Vehikel zu benutzen, wie Ktesikles es tut, kommt es selbst in den Blick. Der Künstler hat mit diesem Gebrauch sein eigenes Metier unterschätzt, die Königin dagegen – nicht umsonst ist sie Tochter des Demetrios – hat Sinn für das besondere Können der Kunst. Sie lässt das Bild als Porträt öffentlich ehren. Das heißt, sie erkennt seinen Wert und bringt es zu seinem eigentlichen Ansehen, während der Künstler selbst es verraten hat; die politische Macht agiert mithin als Fürsprecherin der Kunst, während deren Vertreter sie für seine eigenen beschränkten Interessen benutzt.

Eine derartige Lektüre käme kunsthistorischen Interessen entgegen.Footnote 52 Aber geht es der Königin wirklich um Kunst?

Ganz außer Zweifel steht das nicht; auf jeden Fall geht es ihr jedoch um Macht. Stratonike ist intelligent, sie hat – wie Klytaimestra – politischen Instinkt. Zum Beispiel weiß sie: Macht behauptet sich nicht im Triumph über einen Einzelnen, sondern in der Kontrolle über den öffentlichen Raum und die öffentliche Meinung. Diese Kontrolle übt sie hier aus, denn sie bestimmt nicht nur, was nicht in jenem Raum und im allgemeinen Denken auftauchen darf (ein verunglimpfendes Bild), sondern auch, was nicht daraus verschwinden darf (ein Bild, das sie treffend wiedergibt). Was Stratonike versteht, ist wohl weniger die Bedeutung von Kunst als vielmehr die des Bildes als eines Abbildes der Macht habenden Person, als wahrnehmbarer Repräsentation der herrscherlichen Autorität; das Bild sorgt für deren Visibilität, Erkennbarkeit, sinnenfällige Präsenz.Footnote 53

All dies aber leistet das Bild qua Porträtfunktion, also zwar durch einen spezifischen Einsatz bildender Kunst, aber wiederum einer Leistung, bei der das Bild einen externen Inhalt überträgt; es ist Transportmittel eines Referenten, hier der Herrscherin. Deren treues Konterfei soll, stellvertretend für die Königin selbst, in der Öffentlichkeit präsent sein, und zwar am sichtbarsten, frequentiertesten Ort, und dies nicht nur kurz, zum momentanen Aufschrecken oder Amüsement zufälliger Betrachter, sondern auf Dauer für alle. Kurz: Stratonike kennt die Macht des Bildes in seiner Funktion als Image.

Sie weiß, dass Herrschende so etwas brauchen und dass Künstler es ihnen liefern. Porträtieren ist keine selbstzweckhafte Kunst, sondern eine professionelle Kompetenz. Auf die greift die Macht hier zu und nutzt sie. Der Maler hat mit seinem Bild gegen die Königin agitiert, diese dreht den Spieß um und zeigt der Welt: Was auch immer einer tut, der der Macht zur Wahrnehmung verhilft, und wie auch immer er es tut, ob hymnisch oder schmähend, er dient damit der Macht! Ktesikles tut – welch bittere Ironie! – am Hafen das, was sein Rivale Artemon am Hof tut. Er erweist der Macht den gleichen Dienst, nur ohne selbst davon zu profitieren.

Dieser Lesart nach geht es in der Anekdote also nicht um Kunst im engeren Sinn, sondern um die Logik des Bildes als eines Mediums der Öffentlichkeit. Stratonike versteht die Bedeutung des Images; die Geschichte erzählt von einem Stück Bildpolitik.

IV. Perspektiven auf ein gabentheoretisches Konzept von Kunst? Schluss

Eröffnen diese Lektüren von Künstler-Anekdoten aus der Naturalis historia Perspektiven auf eine Konzeptualisierung von Kunst als Gabe im Sinne des Mauss’schen Essai sur le don und seiner Folgen? Zwei derartige Versuche allein genügen natürlich nicht, aber bei einer eingehenderen Beschäftigung mit den für Kunst relevanten Büchern und deren Kontextualisierung in der umfassenden enzyklopädischen Naturkunde lassen sich eine Menge Hinweise finden, die Kunst und zeremonielle Gabe engführen.

An dieser Stelle lässt sich zumindest sagen: Unbestreitbar untermauern Plinius’ Erzählungen den europäischen Mythos vom Künstler als privilegiertem Individuum. Wenn er als einziger und einzigartiger Geber erscheint, so weil er unter idealen Bedingungen vom Herrscher als dem Anspruch nach einzigem und einzigartigem Geber ausgezeichnet wird. Ebenso zweifelsfrei ist dies aber nicht alles, was die Naturkunde zum Thema Kunst zu bieten hat. Sie ist durchaus nicht auf den singulären staunenswerten Geber fixiert, sondern zeigt Kunst ebenso als Moment von umfassenden ökonomischen, soziopolitischen und ethischen Gabenpraktiken. Diese sind nicht nur prinzipiell, sondern in Plinius’ Zeit – im Zeichen der Erfahrungen mit der Neronischen Herrschaft und den restitutiven Bestrebungen der Flavier, den Umordnungen der Macht in der Elite, den Veränderungen des Lebens in der Hauptstadt durch die Expansion des Reiches u. a. m. – voller Konflikte und interner Spannungen.

Zwischen den Akteuren bestehen fast immer Hierarchien, was aber nichts an der Reziprozität der Bindungen ändert. Die Konflikte durchziehen auch alles, was mit Kunstwerken zu tun hat. Deren Herstellung, Rezeption, Schätzung, (gewaltsame) Aneignung, Privatisierung oder im Gegenteil Restitution an die Öffentlichkeit, Bewahrung, Veräußerung, Umarbeitung, Beschädigung etc. finden in agonistischen Beziehungen statt, und diese sind dem Begriff von Kunst nicht äußerlich. Kunst geht aus Agonismen hervor und bleibt mit solchen verknüpft.

Von all dem ist in den Anekdoten die Rede, sofern man sie nicht nur in ihrer Funktion für ideologische Zwecke wahrnimmt. Sie zeichnen Modelle idealen moralischen Verhaltens und Negativbilder, die zeitgenössischen Verfehlungen einen Spiegel vorhalten. Sie transportieren einen sehr spezifischen, normativen Begriff von Kunst und geißeln deren Missbrauch, aber als literarische, und das heißt mehrschichtige Texte mit eigener Dynamik sprechen sie auch und gerade von unaufhebbaren Ambiguitäten. Die kleinen, hochverdichteten Narrative führen vor, was sich bis in die Versionen heutigen Gabendenkens hinein so schwer auf den Begriff bringen lässt: die Unwägbarkeiten wechselseitigen Gebens.