I.

geistesgeschichte

Wie sich die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs) bei ihrer Gründung 1923 innerhalb der Forschungslandschaft positionierte, war bereits an ihrem Titel abzulesen. Mit den Schlagworten ›Literaturwissenschaft‹ und ›Geistesgeschichte‹ wurden zwei relativ junge Forschungsparadigmen aufgerufen, die alles andere als unumstritten gewesen sind.Footnote 1 Anlässlich der ersten Nummer der Zeitschrift erläuterten Verleger und Herausgeber deren programmatische Ausrichtung: »Neben der geistesgeschichtlichen Richtung, vornehmlich Diltheyscher Schule, soll besonders die form- und stilanalytische gepflegt werden« (DVjs 1, 1923, V).Footnote 2 Verbunden war das mit einer dezidiert kritischen bis ablehnenden Haltung sowohl der historistischen als auch der empirisch-sozialwissenschaftlichen Forschung gegenüber. Vielmehr strebte die Zeitschrift eine geistesgeschichtlich motivierte Synthese von Forschungsergebnissen unterschiedlicher Disziplinen an, wobei jedoch »die transdisziplinären Gemeinsamkeiten sich am ehesten über eine Reihe von Negationen oder (durchaus polemische) Abgrenzungen verdeutlichen lassen«.Footnote 3 Diese teils polemischen Abgrenzungsversuche, vor allem in der Gründungsphase der Zeitschrift, stehen im Zentrum der folgenden Ausführungen.

Zwar lassen sich Pläne für ein ähnliches Zeitschriftenprojekt bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zurück datieren.Footnote 4 Nachhaltiger Erfolg war jedoch erst der Gründung von 1923 beschieden, die in einem anderen wissenschaftsgeschichtlichen, vor allem aber gesellschaftspolitischen und intellektuellen Umfeld als vor dem Krieg erfolgte. Günther Müller, der mit seinen wegweisenden Studien zum Formproblem des Minnesangs bereits im ersten Heft der DVjs präsent gewesen ist (DVjs 1, 1923, 61-103), formulierte das zu Beginn seines Eröffnungsbeitrags für das Themenheft »Mittelalter« Ende 1924 folgendermaßen:

In geistig geschlossenen Zeiten pflegt die Wissenschaft unbedenklich mit einem überkommenen Begriffsapparat zu arbeiten. Ihre Leistung besteht dann der Hauptsache nach in der Durchdringung des gesamten zuständigen Stoffs mit den vorbestimmten Gesichtspunkten. Die heutige Lage der Literaturgeschichte fordert von sich aus und unabhängig von allen subjektiven Neigungen eine Besinnung auf die Tragweite der gewohnten Denk- und Gliederungsmittel, eine Verständigung über die methodischen Voraussetzungen. (DVjs 2, 1924, 681)

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde nicht nur von den Beiträgern der DVjs als eine intellektuelle Krisenzeit wahrgenommen, in der alte Deutungsmuster und Methoden nicht länger Bestand hatten, zumindest aber auf den Prüfstand gehörten.Footnote 5 Eine entsprechende ›Nullpunkt-Rhetorik‹Footnote 6 prägt auch eine Reihe von Beiträgen in den Gründungsjahren der DVjs. Sie wird, neben den Zeitläuften, durch zwei Umstände befördert, die sich aus der Gründungsgeschichte der Zeitschrift herleiten. Zum einen, darauf hat Holger Dainat bereits hingewiesen,Footnote 7 versucht die DVjs insofern methodisches Neuland zu betreten, als sie unter dem zwar noch jungen, aber bereits etablierten Begriff der ›Geistesgeschichte‹ unterschiedliche Strömungen zusammenführt und mit dem Konzept einer – zumindest was die strukturelle Beschreibungsebene betrifft – nicht primär nationalphilologischen, sondern auf Form- und Stiluntersuchungen konzentrierten Literaturwissenschaft verbindet. Zum anderen ist die DVjs ein Projekt von Nachwuchswissenschaftlern. Das »Experiment«,Footnote 8 das der Verleger Niemeyer wagt, indem er zwei junge Privatdozenten, Paul Kluckhohn und Erich Rothacker, zu Herausgebern der Zeitschrift macht, erweist sich rückblickend als ihr größtes Startkapital. Denn es ist nicht zuletzt auch eine junge Generation an Geisteswissenschaftlern,Footnote 9 der die DVjs in ihren Gründungsjahren eine Plattform bietet, und die mit ihrer Etablierung im Wissenschaftsbetrieb in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zum dauerhaften Erfolg der Zeitschrift beiträgt. Viele Angehörige dieser Generation sind zugleich Protagonisten einer intellektuellen Erneuerungsbewegung. Bei ihnen kommen persönliche, zeitgeschichtliche und intellektuelle Erfahrungen zusammen, um die Legitimität eines ideengeschichtlichen ›Nullpunkts‹ zu plausibilisieren.Footnote 10 ›Geistesgeschichte‹ fungiert dabei als spezifisch deutsche Variante eines in ganz Europa zu beobachtenden Paradigmenwechsels in den Kultur- und Sozialwissenschaften.Footnote 11 Die Gründung der DVjs ist Symptom wie Motor dieser Entwicklung.

Der folgende Beitrag möchte darlegen, mit welchen, teils polemischen, Strategien die DVjs an der Neuordnung zentraler geisteswissenschaftlicher Forschungsfelder in den 1920er-Jahren beteiligt ist und welche Funktion dem Texttyp der Sammelrezension in diesem Kontext zukommt. Auf inhaltlicher Ebene soll das am Beispiel der Barockforschung aufgezeigt werden, da hier spezifische Parallelisierungs- und Rückkoppelungseffekte mit der ›Geistesgeschichte‹ zu beobachten sind. Mit der Sammelrezension rückt dabei eine Textsorte in den Fokus, die in der wissenschaftshistorischen ebenso wie in der Rezensions- und Kritikforschung bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren hat, die aber für die (polemische) Neuordnung eines Forschungsgebietes oder sogar einer ganzen Forschungslandschaft besonders gut geeignet scheint. Es dürfte jedenfalls kein Zufall sein, dass diese Textsorte in der DVjs eine ausgesprochen prominente Rolle spielt.

II.

sammelrezensionen

Die erste Nummer der DVjs wartet mit einem vergleichsweise schmalen, nur zwei Seiten umfassenden Editorial auf: »Eher zurückhaltend und knapp wird das ambitionierte Programm im ersten Heft der DVjs vorgestellt.«Footnote 12 Traditionellerweise wird diese Rubrik bei einer publizistischen Neugründung dafür genutzt, den angestrebten Ort innerhalb der Medienlandschaft genauer zu definieren. Darin unterscheiden sich wissenschaftliche Zeitschriften nicht von anderen Periodika; bei der DVjs kommt hinzu, dass sie durchaus ein etwas weiter gefasstes Publikum als ein rein fachakademisches ansprechen wollte.Footnote 13 Neben der bereits erwähnten »geistesgeschichtlichen Richtung« wird im Editorial ein formales bzw. texttypologisches Programm präsentiert, das sich gleichsam vice versa aus den Ausschlusskriterien der Zeitschrift ergibt: »Arbeiten, die bloß Materialsammlungen sind, rein stoffliche Quellenuntersuchungen, Funde, die nicht von ganz besonderer geistesgeschichtlicher Bedeutung sind, Miszellen u. dergl. sollen aus der Vierteljahrsschrift ausgeschlossen bleiben« (DVjs 1, 1923, VI). Aus dieser Negativliste lässt sich als implizite Norm für akzeptierte Beiträge herauslesen, dass es sich bei ihnen um allgemein gehaltenere Arbeiten mit einem breiteren thematischen Fokus handeln soll, auch wenn sich diese dann durchaus einzelnen speziellen Themen und Autoren widmen konnten. Auf methodischer Ebene entspricht das in etwa dem von Rudolf Unger entwickelten Konzept der »Problemgeschichte«.Footnote 14 Unger war schon vor dem Ersten Weltkrieg in die Pläne zur Gründung einer Zeitschrift eingebunden gewesen, die dann in Form der DVjs nach dem Krieg realisiert werden sollte.Footnote 15

Im Editorial folgt auf die inhaltlichen Ausführungen ein Hinweis zu den Rubriken und Textsorten innerhalb der Zeitschrift, namentlich den Rezensionen: »Besprechungen sind nicht vorgesehen, aber größere Sammelreferate auf den verschiedenen Gebieten werden vorbereitet« (DVjs 1, 1923, VI). Diese kurze Notiz räumt sowohl in ihrer Negation (keine Einzelrezensionen) wie in ihrer Ankündigung, stattdessen würden Sammelreferate erscheinen, einer vergleichsweise seltenen Textsorte besonderes Gewicht im Gesamtkonzept der Zeitschrift ein. Mit dieser Vorgehensweise ist die Zeitschrift »praktisch konkurrenzlos in der Fachpublizistik der Zeit«.Footnote 16

Der in dieser Zeit durchaus übliche Terminus ›Sammelreferat‹ verweist auf den letztlich unentschiedenen Status der Rubrik zwischen Rezension bzw. Sammelrezension auf der einen und Forschungs- oder Literaturbericht auf der anderen Seite.Footnote 17 Eine einheitliche Terminologie ist in den ersten Jahrgängen der DVjs jedenfalls nicht erkennbar. Am ehesten ist noch von »Literaturbericht« die Rede (wie beispielsweise in dem Überblick »Zur Geschichte der neueren Philosophie« von Hermann Glockner in DVjs 2, 1924, 131–166). Oft begnügt man sich aber auch mit der Ankündigung neuer Literatur zu bestimmten Themen, wie etwa im selben Jahrgang die »Dante-Literatur der neuen Zeit« (DVjs 2, 1924, 852–884). In der Tendenz entsprechen die meisten dieser Beiträge in den Gründungsjahren der Zeitschrift dem stärker wertenden Charakter der Sammelrezension als dem eher informierenden des Forschungsberichts. Deswegen findet im vorliegenden Beitrag der aus der Rezensionsforschung entlehnte und dort etablierte Begriff der Sammelrezension Verwendung,Footnote 18 zumal durch die »Überschneidung mit dem Textbildungsmuster der Rezension […] Referate in der Regel fast immer Urteile enthalten«.Footnote 19

Sammelrezensionen sind per se nichts Ungewöhnliches, sie bilden aber sowohl in der akademischen wie literaturkritischen Publizistik eher die Ausnahme; obwohl sie gewissermaßen am Anfang der Geschichte des wissenschaftlichen Rezensierens stehen. In der Frühen Neuzeit waren Sammelreferate, die oft eher Zusammenfassungen verschiedener Publikationen aus einem Wissensgebiet darstellten und als ein Kernelement der historia literaria fungierten, durchaus keine Seltenheit.Footnote 20 Vor dem Hintergrund einer noch vergleichsweise gering ausgebildeten wissenschaftlichen Bibliothekslandschaft und angesichts der hohen Preise sowie der nicht überall garantierten Verfügbarkeit einzelner Bücher konnte man sich mittels Sammelreferaten über eine Reihe von Neuerscheinungen zu einem Thema informieren, ohne die entsprechenden Texte lesen zu müssen (oder zu können). So bestehen die Monats=Gespräche/über allerhand/fürnehmlich aber Neue Bücher (1688–1690) von Christian Thomasius im Wesentlichen aus einer Folge von Sammelrezensionen, die auf dialogische, narrative oder thematische Weise miteinander verbunden sind.

Die Funktion der Sammelrezensionen in der DVjs dürfte freilich eine andere sein, stehen sie doch im Kontext eines ausdifferenzierten wissenschaftlichen Rezensionswesens, wie es sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, das jedoch durch seine zunehmende Unüberschaubarkeit Anfang des 20. Jahrhunderts mehr und mehr in die Kritik geriet. So hatte bereits Oskar Walzel in einem Vorgängerprojekt zur DVjs geplant, »Besprechungen über einzelne Werke«Footnote 21 auszuschließen, und Martin Heidegger hatte gefordert, »kein geschwätziges Rezensionswesen sondern wirkliche Kritik« in Form von »Forschungsberichte[n]« zu publizieren.Footnote 22 Diesen Empfehlungen sind die Herausgeber bei Gründung der DVjs weitgehend gefolgt. Analog zu den publizierten Abhandlungen sollen sich auch die Rezensionen in der Zeitschrift nicht Einzelphänomenen und erst recht nicht detailverliebten Einzeluntersuchungen widmen, sondern größere problemgeschichtliche Zusammenhänge herstellen bzw. diese gegebenenfalls durch die jeweilige Zusammenstellung mit entwickeln helfen, da die betreffenden Veröffentlichungen »erst in ihrer Gesamtheit eine Geschichte deutschen Geistes möglich [machen]« (DVjs 1, 1923, V), wie es an anderer Stelle im Editorial heißt. Mit anderen Worten: Ihrem Material nach unterscheiden sich Abhandlungen und Sammelrezensionen in der Zeitschrift durchaus voneinander, was ihre Anlage und Struktur betrifft, sind sie einander jedoch oft sehr ähnlich. Darum verzichtet die DVjs nicht nur auf eine eigene Rubrik mit Rezensionen.Footnote 23 Die Sammelrezensionen sind zudem zwischen den Abhandlungen in die Einzelhefte integriert und oft nur an ihrem Titel als solche zu erkennen. Und manchmal nicht einmal das. In dem Maße, wie einzelne Sammelrezensionen zu problemorientierten Beiträgen werden, verwandeln sich einzelne Abhandlungen, die aktuelle Forschungsbeiträge diskutieren, in Literaturberichte.Footnote 24

Das hat drei medienimmanente Voraussetzungen, die zugleich Effekte einer solchen Verwischung der Genregrenzen bzw. Rubriken sind:

Erstens: Aktualität. Dass Sammelrezensionen und Abhandlungen sich wechselseitig durchdringen können, unterstreicht den Aktualitätsmoment der DVjs und hebt ihren Gegenwartsbezug im Sinne einer Intervention in aktuelle wissenschaftliche Debatten hervor. Selbst wenn sich der thematische Schwerpunkt der Abhandlungen in der Regel mit historisch weit zurückliegenden Epochen beschäftigt, werden diese vor dem Hintergrund der aktuellen wissenschaftlichen Literatur akzentuiert, die deshalb auch immer wieder dort auftaucht und besprochen wird. Umgekehrt zeigen die Sammelrezensionen an, dass genau jene Probleme, denen sich die Abhandlungen in der Zeitschrift widmen, auch jene sind, welche die aktuellen Publikationen im betreffenden Forschungsgebiet bestimmen.

Zweitens: Material. Ein solches Vorgehen setzt ein gewisses Maß an Referenzmaterial voraus, mit dem es sich auseinanderzusetzen lohnt. Im Sinne der programmatischen Ausrichtung der Zeitschrift kann es sich dabei nicht allein um jene, noch in den Fragestellungen und Methoden des Historismus verankerten, Untersuchungen handeln, von denen sich die neue geistesgeschichtliche Bewegung abzugrenzen versucht. Es müssen ausreichend Forschungsarbeiten aus der ›eigenen‹ Schule vorliegen, oder zumindest mit ihr verwandtes oder kompatibles Material, um das Projekt der Geistesgeschichte in der Forschungslandschaft zu rechtfertigen. Denn erst auf der Basis eines entsprechenden Referenzmaterials macht ein solcher problembezogener Fokus überhaupt Sinn, der die Durchsetzung eines neuen Forschungsparadigmas demonstrieren will; und zwar sowohl in den Abhandlungen wie in den Forschungsberichten.

Drittens: Autorschaft. Die Sammelrezensionen in der DVjs sind fast ausnahmslos von einem einzigen Autor verfasst. Auch darin unterscheiden sie sich wenig von den problemorientierten Abhandlungen in der Zeitschrift. Sie werden daher auch im Inhaltsverzeichnis nach demselben Muster (›Autor: Titel‹) annonciert. Das bedeutet aber, dass sowohl die Abhandlungen als auch die Rezensionen aus einer individuellen Perspektive heraus verfasst bzw. einer solchen Autorperspektive zugerechnet werden können.Footnote 25 Insofern eine Reihe der Autoren (wenngleich nicht alle) sich »der geistesgeschichtlichen Richtung« verpflichtet fühlt, ist es gleichsam die Perspektive dieser Richtung, die sowohl in den Abhandlungen als auch in den Sammelrezensionen zum Ausdruck kommt, nicht zuletzt weil sich Kluckhohn als Auftraggeber und Kommentator der Referate in deren Entstehung engagiert einmischt. Die individuelle Autorenperspektive ist damit zugleich eine kollektive, da die Autoren mit ihrer eigenen und der Stimme der Zeitschrift sprechen, die diesen programmatischen Anspruch vertritt.Footnote 26 Die Autorinstanz der Sammelrezensionen kann und will nicht beanspruchen, in irgendeinem intersubjektiven Sinn ›objektiv‹ zu sein. Vielmehr vertritt sie ein Kollektiv, für das sie stellvertretend die ›Herrschaft‹ über das MaterialFootnote 27 der Rezension und damit über den aktuellen Forschungsstand auf einem bestimmten Wissensgebiet übernimmt. Titel wie Die neue Perspektive. Ein Literaturbericht zum frühgermanischen Altertum (DVjs 3, 1925, 642-657), eine Rezension aus der Feder von Hans Naumann, sprechen diese Selbstermächtigung des Rezensenten relativ deutlich aus.

Die individuelle Perspektivierung im Umgang mit der zeitgenössischen Forschung, die ihrerseits Bedingung für die Inszenierung einer Kollektivstimme ist,Footnote 28 war für das Konzept der DVjs offenbar von so zentraler Bedeutung, dass sogar die in wissenschaftlichen Zeitschriften übliche Rubrik der »Eingesandten Bücher« bereits am Ende des zweiten Jahrgangs wieder fallengelassen wurde.Footnote 29 Der DVjs ging es eben nicht darum, einen unkommentierten und durch die Listenförmigkeit deutlich weniger perspektivierten Überblick über die zeitgenössische Forschungslandschaft zu geben. Vielmehr wurde die Forschungsliteratur als Material für die eigene programmatische Zielsetzung angesehen und in Form von Sammelrezensionen in die Abfolge der einzelnen Abhandlungen, oder auch direkt in diese selbst, integriert.

Die Besonderheit dieses Vorgehens zeigt sich im Vergleich mit der aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wohl wichtigsten Konkurrenzzeitschrift, dem Euphorion.Footnote 30 Dort nehmen die Literaturberichte einen eigenen, im Inhaltsverzeichnis sogar den größten Raum ein. Dabei handelt es sich fast durchwegs um Einzelrezensionen, die nach dem Muster: ›Autorname und Titel des rezensierten Buches‹ verzeichnet werden. Der Name des Rezensenten erscheint in Klammern nachgestellt, also beispielsweise: »Croce, Dantes Dichtung (Josef Wihan)«. Und selbst bei den seltenen Sammelrezensionen, etwa zu aktueller »Goethe-Literatur« im Euphorion von 1924, die von dem auch in der DVjs publizierenden Franz Koch verfasst wurde, sind die betreffenden Einzelpublikationen noch einmal nach demselben Muster aufgelistet. Der Fokus wird in den Rezensionen im Euphorion auf den jeweils rezensierten Text bzw. die literarischen Autoren gelenkt, denen sich die jeweiligen Untersuchungen widmen. Die DVjs dreht diese Logik um und stellt den Rezensenten in den Mittelpunkt, der über das Material der Rezension – und das heißt auch: über das jeweilige Forschungsfeld – relativ frei verfügen kann.

Die drei hier skizzierten Effekte, die sich aus der Spezifik der Textsorte ›Sammelrezension‹ in der DVjs ergeben, wirken ihrerseits auf deren Funktionsweise und Reichweite in der Zeitschrift zurück. Die Sammelrezensionen dienen in erster Linie dazu, zentrale Themenfelder der zeitgenössischen Forschungslandschaft vorzustellen, zu bewerten und neu zu ordnen; und zwar meist nach den Kriterien jener geistesgeschichtlichen Richtung, der sich die Zeitschrift bei ihrer Gründung programmatisch verschrieben hat. Dass die einzelnen Autoren der Sammelrezensionen von dieser Option unterschiedlich Gebrauch gemacht haben, steht auf einem anderen Blatt. Wichtig ist, dass damit die Möglichkeit eröffnet wurde, die Sammelrezensionen zum potenziellen Ort für »Negationen oder (durchaus polemische) Abgrenzungen«Footnote 31 jeder Art werden zu lassen.

III.

polemik

Rezensionen sind eine polemogene Gattung; geht es in ihnen doch oft genug darum, eine dezidierte Wertung vorzunehmen und gegebenenfalls eine gegnerische Position bzw. einen Autor konkret anzugreifen. Zudem bieten sie Gelegenheit für eine der gängigsten Legitimationsstrategien polemischer Texte, nämlich nur die Sache und nicht die Person treffen zu wollen.Footnote 32 Wenngleich der Sachbezug bei der Besprechung von wissenschaftlicher Sachliteratur bereits durch die ›Sache‹ selbst gegeben scheint, gilt der polemische Kommunikationsakt dennoch in der Regel weit öfter den betreffenden Personen als der Sache.

Das trifft freilich hauptsächlich auf die Einzelrezension zu, also die Besprechung eines einzelnen Textes bzw. Autors. In Sammelrezensionen gelten andere polemische Spielregeln, doch auch sie bieten »eine Möglichkeit für kritische Rezensionen und Kontroversen«.Footnote 33 Hier geht es indes weit eher darum, die strategische Komponente der Polemik als Kunst der Kriegsführung in den Bereich der Wissenschaften zu übertragen und ein Forschungsfeld zu erobern bzw. zu besetzen.Footnote 34 Mustergültig dafür sind unter anderem die sogenannten Literaturbriefe, jenes Rezensionsorgan also, das Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing im Siebenjährigen Krieg herausgegeben haben.Footnote 35 Zwar überwiegen auch dort die Einzelrezensionen. Aber durch die Verknüpfung der Rezensionen im (fiktiven) Medium eines fortlaufenden Briefwechsels, der das reale Medium eines periodischen Rezensionsorgans substituiert, wird der durchaus treffende Eindruck erweckt, hier gehe es um eine systematische und zudem hochgradig polemische Neuordnung des literarischen Feldes als Ganzes. Verbunden ist das mit einer ›Nullpunkt-Rhetorik‹, die sich sowohl aus der Absetzung von gelehrten Kommunikationsformen als auch von mehr oder weniger populärer Unterhaltungsliteratur speist, und die ihren entschiedenen Ton nicht zuletzt der Referenz auf die parallelen zeithistorischen Kriegsereignisse verdankt.Footnote 36

Neben einer ›Nullpunkt‹-Rhetorik finden sich in der DVjs auch Parallelen zu jenem ›Ton der Entschiedenheit‹, wie er nicht nur die Literaturbriefe, sondern auch die Publizistik nach dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik über weite Strecken prägte. In diesem Punkt unterscheiden sich die (Sammel‑)Rezensionen kaum von den Abhandlungen und sollen es vielleicht auch nicht, da beide jeweils größere Felder (bzw. Forschungsgebiete) und deren (polemische) Neuordnung im Fokus haben. So versteckt sich unter dem Aufsatztitel Zur Periodisierung der deutschen Literatur (DVjs 2, 1924, 770-776) eine von dem Hallenser Germanisten Georg Baesecke verfasste Rezension der Studie Barock als Gestaltung antithetischen Lebensgefühls von Arthur Hübscher, die im Jahr zuvor im Euphorion erschienen war.Footnote 37 Hübschers Arbeit steht stellvertretend für eine stärker kulturpublizistisch ausgerichtete Strömung innerhalb der Geistesgeschichte, die von ihren akademischen Vertretern als unliebsame Konkurrenz wahrgenommen wird. Die Rezension hat also ein größeres Spektrum geistesgeschichtlicher Forschung und der Kritik daran im Blick, wie der Schluss zeigt, wo auf grundsätzliche methodische Vorbehalte Troeltschs und von Harnacks eingegangen wird (ebd., 775 f.). Bemerkenswert sind die Vehemenz der Kritik und die pejorative Wortwahl in der Rezension, die sich als Beitrag versteht zur »Säuberung von der majestätischen Dilettanterei, die […] mit ein viertel philosophischer und dreiviertel stilistischer Hypostasenkunst« (ebd., 775) argumentiere. Solche »jugendlich-journalistischen Enzyklopäden […], die (in den Zeiten der Volkshochschule) den dritten Schritt vor dem – sagen wir zweiten zu tun lieben« (ebd., 775), will der Rezensent kategorisch aus der Wissenschaft ausschließen. Das zeigt der rabiate Ton des Ordinarius, der keinen Widerspruch zulässt und das Gegenüber, einen frisch Promovierten, als (Volkshoch‑)Schuljungen disqualifiziert, von dem das Feld einer akademischen Auseinandersetzung mit der Geistesgeschichte ›rein‹ zu halten sei.Footnote 38

Verallgemeinern lässt sich dieses Beispiel allerdings nicht; zumal es sich in diesem Fall um eine Einzelrezension mit einer deutlich ausgeprägten Argumentation ad hominem handelt. Stattdessen sind eine Reihe von Sammelrezensionen durch das Bemühen gekennzeichnet, einen umfassenden Einblick in die aktuelle Forschungslage zu bestimmten Themen zu bieten. Das geschieht freilich unter einem doppelten Vorzeichen: Zum einen widmen sich die Rezensionen solchen Themen, die für die Geistesgeschichte von besonderer Relevanz sind, also gleichsam jene Felder darstellen, denen die intendierten Neuordnungsversuche in erster Linie gelten. Zum anderen sind diese Überblicke selbst vom Forschungsparadigma der Geistesgeschichte vorgeprägt bzw. projizieren deren Perspektive auf ihre Gegenstände. Es gibt also eine latente polemische ›Voreinstellung‹, was die Beiträge in der DVjs betrifft, und zwar sowohl nach Inhalt als auch nach Methode.

Das genuin polemische Potenzial der Sammelrezensionen ist mithin weder ausschließlich auf der Ebene des Stils noch auf derjenigen des Diskurses zu verorten. Es ist vielmehr Teil ihrer textsortenspezifischen Kommunikationslogik. Die Sammelrezensionen nehmen eine größere Anzahl an Texten und Autoren in den Blick, wodurch sie einen vom Einzelfall abstrahierenden ›Feldcharakter‹ gewinnen. Falls es dabei um die Neuordnung eines solchen Feldes geht, dann wohnt den Sammelrezensionen als Sammelrezensionen per se ein polemisches Potenzial inne, das sie je unterschiedlich ausagieren.

Polemisches Sprechen folgt einer manichäischen Rhetorik.Footnote 39 Es scheidet die Welt in Hell und Dunkel, Gut oder Böse. Diese Logik bestimmt auch die jeweilige Kommunikationssituation, wo ein polemisches Subjekt sich selbst bzw. seinem Anliegen eine positive Relevanz zuspricht, während das Gegenüber als polemisches Objekt besonders negativ gezeichnet wird. Man muss sich dieses Setting nicht notwendig als eine personale Konstellation denken, auch wenn eine solche Suggestion naheliegt. Das polemische Subjekt kann ebenso gut eine Kommunikationsinstanz, wie etwa eine wissenschaftliche Zeitschrift oder ein bestimmtes Theoriemodell, sein, von dem aus konträre Ansichten oder Medien bekämpft werden.

Eine manichäische Kommunikationslogik prägt auch die Sammelrezension als Texttyp; und zwar schon deshalb, weil sie unter wertenden Vorzeichen ein größeres Feld strukturiert. Selbst die neutralste Sammelrezension, die sich weitgehend auf das Zusammenfassen der besprochenen Texte konzentriert, wird durch Auswahl, Gewichtung und semantische Frames eine Wertung innerhalb des rezensierten Korpus vornehmen, die ihrerseits als ›Feldeffekt‹ eine unmittelbare Wirkung auf die Ordnung des Feldes ausübt.Footnote 40 In der Sammelrezension erscheint, bei allen Abstufungen, dieses Feld zwischen zwei Pole gespannt, welche sich mit Akzeptanz bzw. Ablehnung beschreiben lassen. Strukturell gesehen wohnt Sammelrezensionen insofern ein polemisches Element inne, weil sie ein ganzes Feld unbeschadet von dessen thematischer oder methodischer Vielfalt einer bipolaren Kommunikationslogik des Einverständnisses oder der Ablehnung unterwerfen bzw. die einzelnen Texte innerhalb einer solchen Feldlogik verorten: »Rezensierte Bücher nämlich haben die Vermutung für sich, in Affirmation oder Kritik rezensionswürdige Bücher zu sein«.Footnote 41 Natürlich spielt auch bei Einzelrezensionen der Wertungsaspekt eine zentrale Rolle. Aber abgesehen davon, dass dort die Polemik ad personam weitaus stärker anzutreffen ist, bleibt die Reichweite der manichäischen Kommunikationslogik aufgrund des Objekts der Polemik vergleichsweise überschaubar. Erst in der Sammelrezension kann sie ihr energetisches Potenzial, ganze Felder kultureller bzw. intellektueller Produktion neu zu strukturieren, voll entfalten; erst recht, wenn es sich, wie bei den Debatten der 1920er-Jahre, letztendlich um weltanschauliche Problemstellungen handelt, die auf Letztbegründungen hinauslaufen. Im Diskurs der Weltanschauung potenziert sich eine manichäische Rhetorik, die selbst Ausdruck einer Weltanschauung ist.Footnote 42

In den Sammelrezensionen der DVjs wird die besprochene Literatur oft danach bewertet, ob sie einem älteren (und kritisierten) historistischen Paradigma oder neueren geistesgeschichtlich orientierten Forschungsansätzen verpflichtet ist.Footnote 43 Dass die Unterscheidung alt/neu hier die polemische Unterscheidung schlecht/gut camoufliert, ist ein Phänomen, das seit der Querelle des anciens et des modernes im Diskurs der Moderne beobachtet werden kann.Footnote 44 Dem Forschungsparadigma der Geistesgeschichte wird als methodische Innovation eine Option auf die Zukunft ausgestellt, während das Alte auch als methodisch veraltet gelten soll. Paradigmenwechsel, das lässt sich daraus lernen, benötigen in der Regel eine recht intensive polemische Vorarbeit.

Allerdings sind Sammelrezensionen noch aus einem weiteren Grund ein probates Mittel für polemische Interventionen. Indem sie ein ganzes Feld überschauen, oder zumindest einen größeren Ausschnitt daraus präsentieren, dürfen sie eine höhere Geltung innerhalb der Fachkommunikation für sich beanspruchen. In Widerspruch dazu scheint auf den ersten Blick zu stehen, dass die Sammelrezensionen in den Anfangsjahren der DVjs auch von jüngeren Autoren stammen, die noch nicht über eine ausgeprägte disziplinäre bzw. institutionelle Autorität verfügt haben. Sie beziehen ihre Autorität aus dem Medium, in dessen Namen sie sprechen, aber auch aus dem quantitativen Gewicht des Gegenstands selbst, das heißt aus der Vielzahl der besprochenen Texte. Das verleiht ihnen die Legitimation, aktuelle Forschungen zu zentralen Themen und Aspekten der Literatur- und Kulturgeschichte unter der methodischen Prämisse der Geistesgeschichte neu zu gruppieren und zu strukturieren. So entsteht der Eindruck einer Forschungslandschaft als polemisches Feld, bei dem ganze Forschungsgebiete im Zuge einer »allgemeinen Umstellung der Geisteswissenschaften«Footnote 45 zur Verschiebemasse werden.

Wie zentral dieser quantitative Aspekt, der Sammelrezensionen eignet, für die DVjs gewesen ist, zeigt sich auch darin, dass dezidierte Gegenstimmen zum geistesgeschichtlichen Paradigma meist in Einzelrezensionen zu Wort kommen. Sie werden damit deutlich markiert und aus der üblichen Praxis der Sammelrezension herausgehoben; und zwar schon deshalb, weil sie dem bei Gründung der Zeitschrift angekündigten Konzept widersprechen, gerade keine Einzelrezension zu veröffentlichen. Dadurch wird ihre Kritik textsortenspezifisch zu einem ›Sonderfall‹ erklärt, der den grundlegenden Tenor der Sammelrezensionen kaum zu irritieren vermag.

Beispielhaft zeigt sich das an der Auseinandersetzung um die Greifswalder Antrittsvorlesung von Wolfgang Stammler Ideenwandel in Sprache und Literatur des deutschen Mittelalters.Footnote 46 Sie wurde in Heft 4/1924 der DVjs veröffentlicht (DVjs 2, 1924, 753–769). Im darauffolgenden Jahr druckte die Zeitschrift eine scharfe Kritik an diesem Text, die von dem Gießener Germanisten Otto Behaghel stammt (DVjs 3, 1925, 333–338). Interessanterweise erscheint sie in Form einer Einzelbesprechung. So trägt sie, wie das bei dieser Textsorte typisch ist, denselben Titel wie der von Behaghel inkriminierte Text Stammlers. Darüber hinaus ist sie als einziger Text dieses Heftes in einer kleineren Schriftgröße gedruckt, die eigentlich Literaturhinweisen vorbehalten ist. Stammler wird unmittelbar im Anschluss an diese Kritik die Möglichkeit zur Gegendarstellung eingeräumt (DVjs 3, 1925, 338). In seiner knappen Entgegnung argumentiert er vor allem aus der Perspektive jenes wissenschaftsgeschichtlichen Paradigmenwechsels, der für ihn mit dem Konzept der Geistesgeschichte verbunden ist:

Wir stehen eben vor einem »Ideenwandel« auch in der wissenschaftlichen Auffassung der Gegenwart; er hängt eng zusammen mit der erkenntnistheoretischen Frage nach Wesen und Sinn der Wissenschaft überhaupt, also mit der Weltanschauung eines jeden. (DVjs 3, 1925, 338)

Stammlers ›Nullpunkt-Rhetorik‹, die sich auf den mit der Geistesgeschichte verbundenen Paradigmenwechsel beruft, resultiert aus einer binären Logik, die sie im selben Atemzug reproduziert: Während Behaghel eine sprachgeschichtlich-philologische Forschungsrichtung vertritt, die unter den Bedingungen dieses Paradigmenwechsels als veraltet einzuschätzen sei, positioniert sich Stammler auf der Seite der Zukunft, nämlich jener neuen geistesgeschichtlichen Richtung, die als »Weltanschauung« eine umfassende intellektuelle (Neu‑)Orientierung anstrebt.Footnote 47 Wenn er abschließend hinzufügt: »Weiterer Ausbau wird Weiteres lehren« (ebd.), ist diesem Zeitschema zufolge klar, welcher Ausbau damit gemeint ist (der Geistesgeschichte als Forschungsparadigma), und auch, wer als Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervorgehen wird; zumal Stammlers Kontrahent zu diesem Zeitpunkt bereits siebzig Jahre zählt.

Die Herausgeber der DVjs waren im letzten Punkt weniger optimistisch. Im Briefwechsel mit Stammler betont Kluckhohn, Hauptinteresse der Herausgeber sei es, »die Niederlage, die gerade heraus gesagt Behagels Antwort meines Erachtens denn doch bedeutet, möglichst abzuschwächen«.Footnote 48 Sie strebten daher an, »alles zu vermeiden was der ganzen Richtung von Schaden sein könnte«. Kluckhohn bat Stammler, in seiner Erwiderung deutlich zu machen, dass es sich bei der Kontroverse »nicht so sehr um den Gegensatz der Welt- und Wissenschaftsanschauungen handelt«; vielmehr besäße Stammlers Argumentation schlicht »für ihre Schlüsse nicht genug zwingende Unterlagen«. Auf diese Argumentationslinie ließ sich Stammler verständlicherweise nur bedingt ein, auch wenn er die ursprünglich für den Schluss seiner Erwiderung vorgesehene Anspielung auf das Marburger Religionsgespräch zwischen Lutheranern und Calvinisten, und damit auf einen fundamentalen Glaubenskonflikt, wieder tilgte.Footnote 49

Wie die Korrespondenzen belegen, waren die Herausgeber der DVjs darum bemüht, die Auseinandersetzung gerade nicht als wegweisende Diskussion um das Konzept der Geistesgeschichte erscheinen zu lassen, während Stammler genau darin »die letzte Wurzel aller dieser Gegensätze«Footnote 50 erkannte. Die »Niederlage«, die Kluckhohn – im Gegensatz zu StammlerFootnote 51 – in dieser Auseinandersetzung glaubte konstatieren zu müssen, sollte nach Möglichkeit als Einzelfall erscheinen, von dem gerade nicht auf die geistesgeschichtliche Forschungsrichtung als Ganzes geschlossen werden dürfe. Stammler erkannte diese Argumentationsstrategie zwar an und milderte seine Polemik entsprechend ab, war aber nicht bereit, seine polemische Erwiderung ausschließlich auf die persönliche Ebene zu transferieren.Footnote 52

Textsortenspezifisch betrachtet, fällt diese in der Gattung der Einzelrezension erlittene »Niederlage« trotz ihrer vergleichsweisen Prominenz gegenüber dem Gros der Sammelrezensionen am Ende wenig ins Gewicht. Denn diese bestätigen en masse Stammlers Argumentation von einem »›Ideenwandel‹ auch in der wissenschaftlichen Auffassung der Gegenwart«. Insofern fügt sich seine Replik auf die Kritik Behaghels letztlich nahtlos in jenes Bild eines paradigmatischen Umbruchs in der Forschungslandschaft zugunsten der Geistesgeschichte ein, das die Sammelrezensionen entwerfen. Behaghels vernichtende Besprechung Stammlers erscheint dagegen als Einzelstimme, welche die (Neu‑)Ordnung des geisteswissenschaftlichen Feldes nicht ernsthaft in Misskredit zu ziehen vermag.

IV.

barock

Die bisherigen Beobachtungen sollen abschließend durch das Beispiel der Barockforschung in den frühen Jahrgängen der DVjs ergänzt werden. Die Barockforschung ist nicht zufällig ein Gebiet, das von Anfang an vergleichsweise prominent in der DVjs vertreten gewesen ist. Es lieferte der Geistesgeschichte als historische Epochenkonstruktion einen Gegenstand, an dem sie sich methodisch bewähren konnte.Footnote 53 Die dafür aufgerufene ›Nullpunkt-Rhetorik‹ war in Bezug auf die Barockforschung selbst innerhalb der DVjs nicht unumstritten. So moniert der bereits erwähnte Georg Baesecke, »man könne erste neuangelegte Kolleghefte als Grundlagen in gewissen Arbeiten über das Barock erkennen: als ob da die Welt begönne« (DVjs 2, 1924, 774).

Methode und Gegenstandsbereich, Geistesgeschichte und frühe Barockforschung werden dabei in ein produktives Verhältnis zueinander gesetzt:

[D]er im eigentlichen Sinne inhaltliche Anstoß für eine intensivierte Barockforschung ist daraus erklärbar, daß die Barockliteratur sich nicht nur als terra incognita zum Experimentierfeld der neuartigen Wissenschaftsorientierungen anbot, sondern daß die Intentionen der geistesgeschichtlichen Syntheseversuche […] sich mit wesentlichen Erscheinungsformen und Wesensqualitäten der Barockliteratur treffen.Footnote 54

In einer solchen Perspektive erscheint das Barock als ideales Beispiel für eine Epoche, in der sich Nietzsches, die Geistesgeschichte präjudizierendes Diktum zu erfüllen scheint, Kultur sei »Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes«.Footnote 55 Wenn dabei geistesgeschichtliche mit Stil- und Formuntersuchungen zusammenfallen, wie es das Programm der DVjs bei ihrer Gründung als Schwerpunkt versprach, komplettiert dies das Bild eines passgenauen Forschungsgegenstandes.Footnote 56

Darüber hinaus ließ sich das Barock in das polemische Narrativ integrieren, das dem Konzept der Geistesgeschichte – oder genauer: einer deutschen Geistesgeschichte – zugrunde lag.Footnote 57 Es richtete sich nicht zuletzt gegen einen ›westlichen Rationalismus‹, der mit der englischen und französischen Aufklärung ins europäische Denken Einzug hielt. »Die Wiederentdeckung der deutschen Barockliteratur«Footnote 58 erlaubte es, eine Kontinuität in der deutschen Geistesgeschichte zu behaupten, die durch die (west-)europäische Aufklärung nur kurz unterbrochen worden sei, bevor sie mit dem Sturm und Drang und der deutschen Klassik wieder ein spezifisch nationales Gepräge erhalten habe. Protagonist eines solchen Denkens ist Herbert Cysarz.Footnote 59 Für ihn sind Wieland und Goethe die »Erwecker und Meister des barocken Formenschatzes in der nach-Gottschedischen Zeit […]. So werden die Kunstformen des 17. Jahrhunderts den neuen Lebensformen entgegengetragen. Auf dieser Bahn ist das Barock in die Unsterblichkeit eingegangen.« (DVjs 1, 1923, 268)

Sowohl die geistesgeschichtliche Konzeption des Barock als auch deren Einpassung in das Narrativ einer spezifisch deutschen Literaturgeschichte warfen bereits bei den Zeitgenossen eine Reihe von Fragen auf, mit denen sich auch die Forschungsreferate in der DVjs auseinandersetzen mussten. So kann trotz der Normierungsbestrebungen durch die neuhumanistische Rhetorik und Poetik von einem einheitlichen ›Barockstil‹ kaum die Rede sein.Footnote 60 Als weitaus problematischer für das Konzept einer dezidiert deutschen Geistesgeschichte erwies sich jedoch die Internationalität der Barockliteratur, die nicht nur wichtige Einflüsse aus Frankreich und Italien erhielt, sondern die schon aufgrund ihrer partiellen Latinität in eine europäische Textproduktion eingebunden gewesen ist. Hier brachte die geistesgeschichtliche Forschung unter anderem die Konfessionalität der Barockliteratur ins Spiel, um im Zusammenwirken von antiker bzw. neuhumanistischer Tradition und konfessioneller Programmatik die Spezifik eines deutschen Barock zu behaupten.Footnote 61

Damit waren die ›Frontlinien‹, an denen entlang das Feld der Barockforschung aus einer geistesgeschichtlichen Perspektive geordnet werden sollte, mehr oder weniger deutlich gezogen: Im Zentrum sollten Untersuchungen stehen, die die Barockliteratur als genuin deutsches, dabei aber breit gefächertes soziokulturelles Phänomen beschreiben. Kritisch beäugt bzw. polemisch bekämpft wurden hingegen Untersuchungen, welche die Internationalität des Barock hervorhoben oder die Epoche selbst in Zweifel zogen und sie wahlweise der Renaissance oder der (Früh‑)Aufklärung zuschlagen wollten; mithin zwei Epochen, deren Schwerpunkte außerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraums lagen.

Tatsächlich findet man eine solche Feldstruktur in den meisten Abhandlungen und Sammelrezensionen zur Barockforschung in der DVjs wieder. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der bereits erwähnte Herbert Cysarz. Der Wiener Germanist arbeitete in den frühen 1920er-Jahren an seiner Habilitationsschrift zum deutschen Barock und nutzte die DVjs, um sich selbst und seine Arbeiten in der Forschungslandschaft zu positionieren. Cysarz kann als einflussreicher Popularisierer einer geistesgeschichtlich ausgerichteten Literaturwissenschaft gelten,Footnote 62 dessen Bücher in den 1920er-Jahren oft im selben Verlag wie die DVjs, bei Niemeyer, erschienen. Nicht zufällig zählte Cysarz über viele Jahre zu den engsten Mitarbeitern der Zeitschrift und zeichnete insbesondere für Sammelrezensionen zu unterschiedlichen Themen und Epochen verantwortlich.Footnote 63

Bereits der erste Jahrgang der DVjs brachte einen problemgeschichtlichen Aufsatz von Cysarz unter dem programmatischen Titel Vom Geist des deutschen Literatur-Barocks (DVjs 1, 1923, 243–268).Footnote 64 Der Beitrag wird von einer knappen, typographisch abgesetzten »Vorbemerkung« eingeleitet, die den aktuellen Forschungsstand zum Thema in Form einer Kurzrezension referiert; ein Beleg mehr dafür, wie nah sich Abhandlung und Forschungsbericht in der Zeitschrift stehen konnten. Die Vorbemerkung beginnt mit der Feststellung: »Der Begriff des Barock ist unserer Literaturwissenschaft noch nicht verbindlich einverleibt« (DVjs 1, 1923, 243). Als Beleg dafür wird mit dem Aufsatz Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts von Fritz Strich aus dem Jahr 1916 der älteste Forschungsbeitrag angeführt, mit dem tatsächlich eine neue, stärker systematisch orientierte Auseinandersetzung mit der deutschen Barockliteratur einsetzte.Footnote 65 Man befindet sich also auf einem wenig bestellten Feld. Noch Richard Alewyn wird diese Metaphorik in seinem Rückblick auf die geistesgeschichtliche Barockforschung der 1920er-Jahre aufgreifen: »Hier lag nicht nur abseits von den dicht besiedelten und häufig bereisten Gebieten ein Neuland, das zu Entdeckungen einlud, hier waren überhaupt Wege und Grenzen entweder überhaupt nicht oder fehlerhaft vermessen.«Footnote 66 Cysarz nutzt seine kurze Vorbemerkung, um erste ›Landmarken‹ in diesem »Neuland« zu setzen und eine erste Vermessung vorzunehmen. In Klammern (und dadurch bereits als Randphänomen markiert) wird mitgeteilt, »das Schriftchen von R. v. Delius, Die deutsche Barocklyrik, Stuttgart 1921, ist geistesgeschichtlich belanglos« (ebd.). Rudolf von Delius war Schriftsteller und Kulturpublizist, der im Ersten Weltkrieg Deutschlands geistige Weltmachtstellung (1915) erkannt haben wollte und im selben Jahr Die Eigenarten des deutschen Geistes […] auf geistigen und künstlerischen Gebieten aufzuzeigen (1915) versprach. Aus der Sicht des Universitätsphilologen Cysarz handelte es sich um einen unliebsamen Konkurrenten, der auf dem Gebiet der Geistesgeschichte dilettierte, die noch immer darum rang, als seriöse Wissenschaft und nicht als Kulturpublizistik wahrgenommen zu werden, gerade weil die Grenzen de facto fließend waren.Footnote 67 Schon aus Standesgründen muss Cysarz die Publikation von Delius für »geistesgeschichtlich belanglos« erachten. Als Alternative weist er stattdessen auf seine eigene »im Erscheinen begriffene Habilitationsschrift über das deutsche Literatur-Barock« (ebd.) hin.

Eine ausführliche Sammelrezension von Cysarz erschien dann zwei Jahre später unter dem Titel Zur Erforschung der deutschen Barockdichtung. Ein Literaturbericht (DVjs 3, 1925, 145–176) im dritten Jahrgang der DVjs, und damit ein Jahr nach der 1923 annoncierten Publikation von Cysarz’ Monographie zum Thema. Gleich im ersten Satz wird mit einer ›Nullpunkt-Rhetorik‹ einmal mehr das geringe Alter des Forschungsgebiets betont: »Das jüngste Jahrzehnt hat der literaturwissenschaftlichen Erhellung des deutschen Barock mit wachsendem Eifer gedient.« (DVjs 3, 1925, 145) Im Anschluss nennt Cysarz die Kriterien, nach denen dieses im Entstehen begriffene Forschungsfeld in seinem Literaturbericht bewertet werden soll: »Jede einzelne Schrift soll irgendwie [sic!] in dreifachem Bezug gewürdigt werden: als philologische Mehrung, als geistesgeschichtliche Deutung, als menschliches Bekenntnis« (ebd.). Das erste Kriterium, die »philologische Mehrung«, bezieht sich auf die Erschließung neuen Materials bzw. auf neue philologische Erkenntnisse. Ihre Einordnung soll der zweite Punkt vornehmen, die »geistesgeschichtliche Deutung«. Diese kann auf zweierlei Weise erfolgen: Erstens geht es um die Frage, inwiefern die besprochenen Arbeiten selbst eine solche Deutung vornehmen, das heißt inwiefern sie sich vom Forschungsparadigma der Geistesgeschichte beeinflusst zeigen bzw. diesem zuzurechnen sind. Und zweitens als geistesgeschichtliche Deutung der Forschungsbeiträge durch den Rezensenten, das heißt als Einschätzung, inwiefern diese Beiträge einer solchen Forschungsrichtung entsprechen. Die Geistesgeschichte wird damit zum entscheidenden Ordnungskriterium, und zwar nicht nur für die Sammelrezension selbst, sondern auch für das Forschungsgebiet, dem sie sich widmet. Äußerst vage bleibt das dritte Kriterium des »menschlichen Bekenntnisses«. Mit ihm verlässt Cysarz den Boden einer auf rational und intersubjektiv überprüfbaren Kriterien basierenden Wissenschaftskommunikation. Stattdessen verortet er die jeweiligen Forschungsbeiträge bzw. ihre Autoren mehr oder weniger direkt in der Weltanschauungsliteratur seiner Zeit und ihrem »Daseinskampf«,Footnote 68 wie er später sagen wird. Es ist dieser Dreischritt, der eine geistesgeschichtliche Forschung von älteren Forschungskonzepten wie Positivismus und Historismus abgrenzen soll.

Im Einzelnen gliedert sich die Sammelrezension wie folgt: Zu Beginn sind einige allgemeine Studien zur Barockliteratur und zum Barockbegriff angeführt. Diese werden in erster Linie auf ihr geistesgeschichtliches Potenzial hin befragt. Kritik trifft dabei jene Arbeiten, die einen anderen methodischen Ansatz verfolgen oder aus einer anderen als der akademischen Sphäre stammen. So wird beispielsweise noch einmal die bereits 1923 in Cysarz’ Aufsatz Vom Geist des deutschen Literatur-Barocks inkriminierte Publikation von Rudolf von Delius aus dem Fachdiskurs ausgeschlossen, da sie »nicht den Anspruch auf eine wissenschaftliche Kritik« (DVjs 3, 1925, 152) erheben könne. Der Unmut des Rezensenten trifft auch den Publizisten Arthur Hübscher, dessen Aufsatz Barock als Gestaltung antithetischen Lebensgefühls (1923) bereits im Jahr zuvor in der DVjs in einer Einzelrezension polemisch angegriffen wurde.Footnote 69 Hübschers Arbeit wird von Cysarz nun in den Kontext des Forschungsfeldes ›Barockliteratur‹ eingeordnet und dabei unter geistesgeschichtlichen Vorzeichen kritisiert. Immerhin hatte Hübscher selbst seinen Aufsatz als »Grundlegung einer Phraseologie der Geistesgeschichte«, so der Untertitel, annonciert.Footnote 70 Seine umstrittene Parallelisierung von Barock, Sturm und Drang sowie Expressionismus basiert jedoch in erster Linie auf (hypostasierten) Strukturhomologien und steht damit einem morphologischen Formbegriff, wie ihn die geistesgeschichtliche Richtung vertrat, geradezu diametral gegenüber. Entsprechend resümiert Cysarz wenig schmeichelhaft: »Science sans conscience est vanité.« (DVjs 3, 1925, 157)Footnote 71

Der zweite und umfangreichste Teil der Sammelrezension widmet sich Spezialuntersuchungen zu einzelnen Autoren des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Der Abschnitt beginnt mit einer Würdigung der Monographie von Friedrich Gundolf über Martin Opitz (DVjs 3, 1925, 157–159).Footnote 72 Mit Gundolf und seiner »monumentalen Porträtkunst« (ebd.) erweist Cysarz dem in der Öffentlichkeit wohl prominentesten Vertreter der geistesgeschichtlichen Richtung seine Reverenz, auch wenn das besprochene Werk – im Gegensatz zu Gundolfs Goethe-Biographie von 1916 – mit 52 Seiten wenig monumental ausfällt. An den Einzeluntersuchungen, die Cysarz anführt, fällt ihre Aktualität auf: Sie reichen maximal bis 1914 zurück, mit einem Schwerpunkt auf der Nachkriegszeit. Allerdings wird dabei meist verschwiegen, dass monographische Studien zu einer Reihe von Autorinnen und Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts bereits aus der Zeit des Historismus vorliegen.Footnote 73 Diese oft positivistisch orientierten Abhandlungen hatten sich meist auf eine Sicherung und Sichtung des überlieferten Materials konzentriert und gehörten größtenteils jener »atomistischen Auffassungsweise« und »mikrologischen Nichtigkeitskrämerei« an, die das Verdikt der Geistesgeschichte (hier von Rudolf Unger)Footnote 74 traf. In einem polemischen Akt wird hier das Forschungsfeld neu strukturiert und als genuin ›eigenes‹ proklamiert. Die aktuellen Einzeluntersuchungen, denen sich Cysarz widmet, sind fast alle mit einem Deutungsrahmen versehen, der sich mehr oder weniger explizit in ein geistesgeschichtliches Forschungsparadigma einfügen lässt. Sie unterstreichen die Relevanz dieses Paradigmas für die aktuelle Forschungslandschaft sowie dessen Etablierung und Ausdifferenzierung in unterschiedliche Fragestellungen für diverse Korpora.

Den dritten Teil der Rezension bildet Cysarz’ eigene Habilitationsschrift, die 1924 unter dem Titel Deutsche Barockdichtung veröffentlicht worden ist.Footnote 75 Zwar leistet der Autor wortreich Abbitte für diese Selbstrezension, die angeblich allein auf Wunsch des Verlegers sowie der Herausgeber der Zeitschrift erscheint (DVjs 3, 1925, 170). De facto aber fügt sie sich – und zwar unabhängig vom Quantum möglicher Selbstkritik – nahezu folgerichtig in die Feldlogik ein, die die Rezension entwirft. Denn die Arbeit fungiert als »Synthesis«Footnote 76 aus den zuvor besprochenen allgemeinen Untersuchungen auf der einen und den Einzeluntersuchungen auf der anderen Seite; und zwar schon deshalb, weil sie – mit Publikationsjahr 1924 – die meisten dieser Texte in sich aufnimmt. Sie avanciert damit aus Sicht des Autors zur »ersten umfassenden Darstellung unseres literarischen Barock«Footnote 77 sowie zur einzigen aktuellen geistesgeschichtlichen Gesamtdarstellung dieses Forschungsgebietes, das sie, wenig überraschend, nach ähnlichen Kriterien wie die Sammelrezension aus der Feder desselben Autors erschließt.

Allerdings gibt es noch eine vierte Gruppe besprochener Arbeiten, denen kein eigenständiger Teil in der Rezension zugebilligt wird. Dort verbirgt sich die eigentliche Brisanz von Cysarz’ Forschungsbericht. Es handelt sich dabei um Forschungsbeiträge, die nur in den Anmerkungen Erwähnung finden, aber keiner eigenen Besprechung für Wert erachtet werden. Darunter fällt die Monographie Gesellschaftsideale und Gesellschaftsroman des 17. Jahrhunderts (1921) von Egon Cohn.Footnote 78 Als Rechtfertigung dafür, dass diese Studie nicht ausführlicher besprochen wird, heißt es lapidar: »nicht zur Besprechung geliefert« (DVjs 3, 1925, 173, Anm. 1). Das hindert Cysarz nicht daran, eine Einschätzung von Cohns Buch mitzuteilen, das er vermutlich im Rahmen seiner Habilitationsschrift rezipiert hat, ohne es freilich dort zu nennen.Footnote 79 Die Anmerkung in der Sammelrezension nutzt Cysarz jedenfalls zu einer Kurzrezension: »Freilich, die Stoffülle der Arbeit ist weder sachlich noch auch stilistisch bewältigt. Cohn schüttet seinen Zettelkasten aus, häufig mit anspruchsvollen Glossen. Trotz vielseitigem Wissen und beträchtlichem Fleiß kein Umriß und kein Hintergrund!« (ebd.) Analog zur Kritik Baeseckes an Hübscher wird auch hier aus der Position der institutionellen Überlegenheit heraus polemisiert; schließlich stellt Cohns Arbeit lediglich eine Dissertation dar, während Cysarz eine Habilitation zu diesem Thema verfasst hat, die sich außerdem als geistesgeschichtliche Synthese versteht. Was Cysarz nicht sehen kann oder nicht sehen will: Cohns Arbeit ist eine soziologische Pionierstudie, die auch Bildungsinstitutionen sowie Zeitungen und Zeitschriften des 17. Jahrhunderts im Blick hat.Footnote 80 Sie erscheint nicht zufällig in einer bildungswissenschaftlichen (statt literaturgeschichtlichen) Reihe und verfolgt Ansätze aus einer französisch geprägten Literatursoziologie,Footnote 81 deren Grundsatz Gustave Lanson bereits 1904 in seiner Rede L’histoire littéraire et la sociologie an der École des Hautes Études sociales formuliert hat: »Il est impossible en effet de méconnaître que toute œuvre littéraire est un phénomène social«.Footnote 82 Dass dem morphologischen Geistesgeschichtler hier »kein Umriß und kein Hintergrund« deutlich wird, liegt in der (methodischen) Natur der Sache. Diese Diskrepanz zeigt sich auch in der Antwort Cohns auf eine Rezension seiner Studie von Robert Riemann, die in der Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur erschienen ist. Dort nennt Cohn als Ziel seiner Untersuchung, »den nachweis zu erbringen, dass die aufklärung sich im 17. jahrhundert anbahnt und vorbereitet. […] deshalb wird auch den ausländischen einflüssen nachgegangen, deshalb werden die fremden muster für den roman untersucht«.Footnote 83

Mit einem solchen Forschungsprogramm, das der Vorgeschichte der Aufklärung in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts und namentlich den westeuropäischen Einflüssen darin nachgeht, rührt Cohn gleich an zwei Dogmen einer ›deutschen Geistesgeschichte‹. In der topographischen Ordnung des Forschungsfeldes, die die Rezension von Cysarz entwirft, muss Cohns Studie daher fast zwangsläufig am äußersten Rand stehen. In der typographischen Ordnung symbolisiert sich das durch ihren Verweis in eine Fußnote. Und als ob das nicht genügen würde, trifft die Studie noch die explizite Abwertung durch den Rezensenten. Als literatursoziologische Studie aus der Feder eines jüdischen Autors ist diese Veröffentlichung für die geistesgeschichtliche Forschung zur deutschen Barockliteratur ohne Belang; zumindest wenn man dem Rezensenten Cysarz Glauben schenken will. Und tatsächlich ist Cohn in der Folge weitgehend aus der akademischen Öffentlichkeit verschwunden; ungewiss ist, ob er die Zeit des Nationalsozialismus überlebt hat.Footnote 84

Im Jahr 1967 allerdings ist Cohns Studie, die doch schon 1925 nur eine Fußnote wert gewesen sein sollte, noch einmal als Reprint erschienen.Footnote 85 Was war geschehen? Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem (langsamen) Verblassen des geistesgeschichtlichen Paradigmas in der deutschen Literaturwissenschaft wurde das Zeitalter des Barock gleichsam zum zweiten Mal programmatisch neu entdeckt,Footnote 86 nun jedoch unter genau jenen sozial- und institutionsgeschichtlichen Vorzeichen, welche eine geistesgeschichtliche Barockforschung weitgehend ignoriert hatte.Footnote 87 Die Neuauflage des Buchs von Cohn ist Ausdruck dieses Paradigmenwechsels und der Neuordnung eines Forschungsfeldes, das noch einmal zum Paradebeispiel für eine methodische Neuorientierung wurde: jetzt indes in der dezidiert kritischen Auseinandersetzung mit einem geistesgeschichtlich konturierten ›deutschen Barock‹, wie ihn die Deutsche Vierteljahrsschrift in ihren Gründungsjahren mit vertreten hatte.

V.

fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das ›Alleinstellungsmerkmal‹ der DVjs, ihre Sammelrezensionen bzw. Forschungsreferate, tatsächlich in hohem Maße dazu genutzt wurde, das Paradigma der Geistesgeschichte im Wissenschaftsdiskurs zu etablieren. Die Nähe zu den monographischen Abhandlungen im Heft war dabei Programm: Themen und Methode, Fragestellung und aktuelle Forschung sollten dergestalt verzahnt werden, dass die Geistesgeschichte als probates und innovatives Forschungsparadigma mit einer Reihe von Anschlussmöglichkeiten in unterschiedliche Disziplinen erscheinen konnte. So entsteht der Eindruck eines neu zu ordnenden und schrittweise neu geordneten Feldes, an dem die Zeitschrift als periodisches Medium maßgeblichen Anteil hatte.

Was die polemische Funktion der Forschungsberichte betrifft, müsste zunächst eine implizite von einer expliziten Polemisierung unterschieden werden. Implizit polemisch sind die Forschungsberichte oftmals bereits durch ihr geistesgeschichtliches Apriori, das die Forschungslandschaft nach den Kriterien dieses Paradigmas ordnet, was dazu führt, dass jene Forschungen gar nicht erwähnt oder an den Rand des Feldes verwiesen werden, die einem solchen Konzept widersprechen. Die explizite Polemik trifft hingegen oft konkurrierende Texte und Autoren auf dem Feld der Geistesgeschichte, die nicht im universitären Feld agieren, sondern stärker in der zeitgenössischen Publizistik präsent sind. Hier mögen Standesdünkel eine Rolle spielen, mindestens ebenso sehr aber auch die Sorge darum, dass die Geistesgeschichte weniger als wissenschaftliches denn als kulturpublizistisches Projekt erscheinen könnte. Genau das warfen ihr ihre Gegner ja immer wieder vor.Footnote 88 Entsprechend versuchten sich ihre Vertreter vehement gegen diesen Eindruck zu wehren, indem sie akademische Außenseiter wie Hübscher oder Cohn rigoros aus diesem Projekt ausschlossen.

Insofern ist es am Ende doch mehr als Zufall, dass auch Walter Benjamin keinen Weg in die Zeitschrift fand;Footnote 89 wie ihm auch der Weg auf eine germanistische Professur verwehrt geblieben ist. Das Forschungsparadigma der Geistesgeschichte erscheint unter dieser Perspektive nicht zuletzt als ein äußerst erfolgreiches Karrierenetzwerk, dessen Konturen sich bereits in der Neuordnung des wissenschaftlichen Feldes in den Sammelrezensionen der DVjs aus ihren Gründungsjahren abzeichneten.