I.

modell

Aus dem Konflikt eines Seinsmomentes und eines Willensmomentes aber erwächst das Schicksal und gibt der Selbstbesinnung durch seinen konkreten Gehalt ein Rätsel auf. Die Geschichtsphilosophie hat keine andere Aufgabe als dieses Schicksal, die Hieroglyphe der Lebensbewegung.Footnote 1

Das 100jährige Bestehen der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2023 gibt u. a. Anlass, noch einmal über jene anfänglichen konzeptionellen Rahmungen der Zeitschrift nachzudenken, die mit den beiden Herausgebern verbunden waren. Im Vorwort der ersten Ausgabe werden drei Punkte besonders herausgestellt: einmal, dass die »Vertiefung in die eigene Geistesgeschichte uns heute nötiger ist als je«.Footnote 2 Zweitens heißt es: »Neben der geistesgeschichtlichen Richtung, vornehmlich Diltheyscher Schule, soll besonders die form- und stilanalytische gepflegt werden.«Footnote 3 Drittens:

Und neben der Literaturgeschichte werden die anderen Gebiete der Geistesgeschichte Pflege finden, so die Geschichten der Philosophie, Religion und Ethik, der bildenden Kunst, Musik und Sprache sowie des öffentlichen Lebens. Sie machen erst in ihrer Gesamtheit eine Geschichte deutschen Geistes möglich. Wie aber diese mit der Geistesgeschichte anderer Völker verflochten ist und gerade in enger Wechselwirkung mit ihnen ihre Eigenart entfaltet, so sollen auch Untersuchungen zur Literatur- und Geistesgeschichte der Nachbarvölker aufgenommen werden, die für die deutsche oder für die allgemein europäische Geistesgeschichte von Bedeutung sind oder grundlegende Fragen der literaturwissenschaftlichen Methode behandeln.Footnote 4

Der nachfolgende Beitrag widmet sich den Arbeiten Erich Rothackers, dessen ›Handschrift‹ neben der Paul Kluckhohns in diesen wenigen Zeilen gut zu erkennen ist. Damit gerät besonders die geistesgeschichtliche Seite des Programms in den Blick. Die Rekonstruktion des Rothacker’schen Ansatzes geht allerdings weit über die im Vorwort genannten drei Punkte hinaus und zielt auf Rothackers immer wieder grundgelegtes Konzept von Geisteswissenschaften und in ihrem Gefolge von Kulturanthropologie, die für ihn die Philosophische Anthropologie einschließt bzw. weiterentwickelt.

Herauszuarbeiten sind insbesondere vier Punkte. Erstens: Das Modell, das Rothacker entfaltet, setzt in einem maximalen Sinn auf ein Konzept der Teilhabe. Zweitens: Der Rothacker’sche Ansatz, vom Proömium der Lamprecht-DissertationFootnote 5 bis zur KulturanthropologieFootnote 6, verändert sich nicht grundlegend. Die verschiedenen Schriften akzentuieren – nicht ohne Redundanz – gleichbleibende Aspekte und Ebenen des Modells. Daher verfährt meine Darstellung weitgehend synoptisch, greift die zentralen Punkte in den untersuchten Werken auf, ohne den Argumentationsgang der einzelnen Arbeiten selbst in extenso zu verfolgen. Drittens: Rothackers Vorstellung von Teilhabe erlaubt es strukturell, Umbesetzungen oder Zuspitzungen (im Sinne diskursiver Politisierung) vorzunehmen, ohne das Modell insgesamt revidieren zu müssen. Daher sind auch die 1934er Passagen aus der GeschichtsphilosophieFootnote 7, die den Nationalsozialismus begrüßen, technisch-metaphorisch gesprochen, ein- und wieder ausschaltbar. Einschaltbar: So heißt es in der Geschichtsphilosophie euphorisch über die Gegenwart: »[…] das Gewaltige mit- und nachzudenken, das sich vor den Augen unserer Generation vollzog, die leibhaftig hat erleben dürfen, wie das Chaos einen neuen Stern gebar.«Footnote 8 Dass dieses »Gewaltige« für Rothacker der Durchbruch des Nationalsozialismus und dass dieser neue Stern Adolf Hitler ist, daran besteht kein Zweifel, wird dieser Zusammenhang doch im letzten Kapitel des Buches unter »Rasse und Volksgeist« und im Schluss: »Im dritten Reich« ausführlich behandelt und benannt. Die Verwicklungen Rothackers in den Nationalsozialismus der ersten Jahre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung sind bekannt und dokumentiert. Rothacker ist ohne Zweifel phasenweise auch ein Nationalsozialist gewesen. Allerdings war Rothacker wohl eher, wie die einlässliche und breit aus den Nachlass-Quellen gearbeitete Studie Ralph Stöwers noch einmal verdeutlicht, ein Nationalsozialist aus Opportunität, der, als ihm die intendierte Karriere im Reichspropaganda-Ministerium verwehrt wurde, sich auch wieder vom NS, wenn nicht direkt abwandte, so doch zum NS eher zurückhaltend verhielt.Footnote 9

Ausschaltbar: In den nachfolgenden Werken kommen solche Passagen wie die oben zitierte nicht mehr vor. Das Theoriemodell selbst, das Rothacker entwirft, muss durch den Fortfall der den NS bejubelnden Passagen aber auch nicht geändert werden.

Viertens: An die Idee »geprägter Form« werden kulturelle Bewertungen geknüpft (Hochkultur versus bloßes Leben), die (durchaus zeittypisch) strukturell anfällig für Bedeutungs-Skalierungen und, auf ihrer Kehrseite, für entsprechende Ressentiments sind.

Die Versuche der Forschung, Erich Rothackers Vorstellungen von ›Kultur‹, ›Entwicklung‹ und damit eng verbunden ›Anthropologie‹ genauer zu bestimmen, bewegen sich zwischen einerseits der Etikettierung, er sei eben NS-Anhänger gewesen und das völkische Element in seinen Schriften der NS-Zeit sei Ausdruck solcher Überzeugung. Ja, man könne Rothackers Geschichtsphilosophie in Gänze als eine nationalsozialistische Schrift bezeichnen. Oder aber – andererseits – die Forschung lehnt diese Zuschreibung ab bzw. spart die NS-Zeit ganz aus, ordnet Rothacker in die Tradition der ›historischen Schule‹ ein und verbindet dies mit kulturanthropologischen Positionsbestimmungen.Footnote 10 Der vorliegende Beitrag legt seinen Schwerpunkt auf die oben genannten vier Punkte, die es erlauben sollen, eine Einschätzung der Rothacker’schen Arbeiten vorzunehmen, die von der Struktur des Theoriemodells selbst ihren Ausgang nimmt.Footnote 11

Dabei kommt Rothacker in einer Vielzahl von Zitaten selbst ›zum Sprechen‹, damit Semantik, Grammatik und der Duktus der Arbeiten deutlich werden. Eine Paraphrase kann diesen Eindruck nicht ersetzen. Aus Umfangsgründen musste darauf verzichtet werden, Rothacker en Detail in die Traditionszusammenhänge einzuordnen, auf die seine Schriften immer wieder rekurrieren.

II.

lage, pulsierende handlungsfolgen, haltung

Rothackers Geschichtsphilosophie von 1934 beginnt – hier der Logik eines Handbuchs folgend – makroskopisch: »Der Inhalt der Weltgeschichte ist das Ringen menschlicher Gruppen um die Gestaltung ihres Lebens und ihrer Welt.« Und: »[…] so hat die materiale Geschichtsphilosophie die Aufgabe, das Gefüge und die Lebensgesetze der Völker […] aufzuklären.«Footnote 12 Dass es sich hier um ein Ringen im Carl Schmitt’schen Sinne handelt, macht Rothacker dann später deutlich: »Der elementare Leitfaden ist im praktischen Leben wohl die Freund-Feindbeziehung.«Footnote 13 Diese Zuspitzung verschärft ein Interaktionsmodell, das den Menschen, wie Rothacker dann in seiner Kulturanthropologie (1942/1965) formulieren wird, als handelndes Wesen sieht, das in Lagen bzw. Situationen gerät, in denen es sich für die eine oder andere Seite entscheiden muss; denn »die Lage erzwingt Stellungnahmen«, und in diesem Sinne ist das Leben eine »lückenlos pulsierende Folge von Entscheidungen«.Footnote 14 Diese Hinsicht wird in allen Rothacker’schen Schriften geltend gemacht.

Um Interaktion verständlich zu machen, d. h. hier: die Metapher des Ringens zu detaillieren und zu plausibilisieren, operiert Rothacker mit der Herausstellung von Situationen, auf die jeweiliges Verhalten sich bezieht. Um dies zu verdeutlichen, entfaltet er in der Geschichtsphilosophie, zunächst am Beispiel des Schachspiels, dann übertragen auf das menschliche Leben insgesamt, folgendes semantisches Netz: »Was sind aber […] die fundamentalen Grundzüge menschlichen Handelns? […] Sie lauten: Lage (Situation), Antwort, Einfall, Erlebnishorizont, Aktionen als pulsierende Antwortfolgen und Haltung«.Footnote 15

Menschliches Handeln, das hier ohne Anfang gedacht wird (man ist immer schon in der Geschichte), reagiert auf Situationen in Lagen, es antwortet in diesem Sinne und erhält dann wiederum von der anderen Seite (also von anderen Aktionen in der ›Welt‹) eine (Handlungs‑)Antwort. Dadurch ergeben sich für Rothacker »pulsierende Handlungsfolgen« in »erlebten Lagen«.Footnote 16 Rothacker betont, dass es sich hierbei zwar um ›objektive Lagen‹ handele, sie aber nur als erlebte Lagen wahrgenommen würden. Dafür steht der in der hermeneutischen Tradition, etwa beim von Rothacker sehr geschätzten Wilhelm Dilthey, kurrente Begriff des »Erlebnisses«.Footnote 17 So kann Rothacker zusammenfassen: »Das menschliche Leben ist eine unausgesetzt pulsierende Folge von Stellungnahmen zu dem erlebten Gegenspieler, den wir Welt nennen.«Footnote 18 Die Auseinandersetzung mit dem Gegenspieler ›Welt‹ wird dann in Rothackers psychologischer Arbeit, in den Schichten der Persönlichkeit (1938), im Rekurs auf Fichtes Wissenschaftslehre wie folgt gefasst: »Die Urformel des menschlichen Lebens lautet: der Mensch steht in der Auseinandersetzung mit der Welt, genauer mit dem Druck der Welt, in Fichtes Terminologie mit einem ›Nicht-Ich‹. Der Mensch ist primär ein Subjekt dank dieser Spannung mit einem Nicht-Ich.«Footnote 19

Solches Erleben mache eine Entscheidung möglich (und nötig), die zu sehr unterschiedlicher ›Beantwortung‹ der Lage führen kann – etwa zu einem ›glücklichen Einfall‹, den zu haben oder nicht zu haben die Menschen differenziere. Häufig werde die Situation durch die »geniale Erfassung«Footnote 20 der Lage beeinflusst. Solche geniale Erfassung sei das Ergebnis nicht alltäglicher, sondern herausgehobener Wirkkraft Einzelner, deren Affektstruktur »in geheimnisvoller Weise fruchtbar«Footnote 21 für das Bestehen von Herausforderungen sei. Dass diese Wirkkraft auch pathogene Züge haben kann, sei hinzunehmen, und überhaupt verkenne die moderne Tiefenpsychologie »sehr häufig den Unterschied zwischen Jupiter und dem Rinde. Im Leben eines Menschen, dem einige auf Jahrhunderte unsterbliche Takte gelangen, spielt die pathologische Zone seiner Persönlichkeit eine absolut andere (weil fruktifizierte) Rolle als bei Rentnerinnen, die bloß pathologisch sind und sonst gar nichts [sic!].«Footnote 22

Der an dieser Stelle ganz unmotivierte Vergleich zwischen genialer, aber pathogener Persönlichkeit und nur ›pathologischen Rentnerinnen‹ ist eines der vielen Ressentiments, die man bei Rothacker beobachten kann und deren strukturelle Ursachen an späterer Stelle zu erörtern sein werden.

Das Interaktionsmodell aus Impuls und Antwort gelte auch für Gruppen:

Sucht man die Prozesse, in denen die Auseinandersetzung solcher lebendiger, jeweils ihre Lebens- und Geistesformen wahrender Gruppen mit Mitwelt und Umwelt vollzieht, auf einen Generalnenner zu bringen, so bieten sich für diesen Vorgang Ausdrücke an, wie »Formen des Handelns«, »Weisen und Formen des menschlichen Verhaltens«.Footnote 23

Verhalten ist für Rothacker entschieden gerahmt; es gilt ihm als Ergebnis von grundsätzlicher Haltung, die einen befähige, in und für ›Lagen‹ die richtige Entscheidung zu treffenFootnote 24 und im Kern von einer ›Weltanschauung‹ geleitet sei: »In der menschlichen Geschichte, d. h. in der Geschichte geistiger Haltungen, haben aber Richtungen stets einen weltanschaulichen Charakter. Und zwar darum, weil Weltanschauungen nichts anderes sind, als Dimensionen des ›Sich-haltens‹«.Footnote 25

Diese weltanschaulich bestimmte Rahmung von Interaktion gelte nicht nur für die individuelle bzw. kollektive Beantwortung von Lagen, sondern auch für den Einsatz von Theorien. So hat Rothacker in seiner Rekonstruktion der Philosophieentwicklung (insbesondere mit Blick auf die Geisteswissenschaften) geltend zu machen versucht: »Es gibt kein anderes Mittel die geisteswissenschaftlichen Begriffe und Methoden voll zu verstehen als dies: sie in ihre weltanschaulichen Ursprünge zurückzuverfolgenFootnote 26

In Summe: Vor dem Verhalten steht die Wahrnehmung der Lage. Erst die richtige Wahrnehmung der Lage motiviert zur Entscheidung. Diese Entscheidung entsteht wiederum aus einer Haltung und diese wieder aus einer weltanschaulichen Überzeugung (die sich insgesamt als fruchtbar erweist). Aber wie gelangt man nach Rothacker zur richtigen Einschätzung der Situation?

III.

beseelte tiefenperson, ausdrucksformen und stilistische identität

Um diese nicht zuletzt wahrnehmungstheoretische Frage zu klären, operiert Rothacker in seiner Geschichtsphilosophie zunächst mit der Unterscheidung mikroskopisch und makroskopisch. Es gibt für ihn eine mikroskopische Wahrnehmung von Gegenständen, Menschen, kurz: Physiognomien (ebenfalls im erweiterten Sinn des Wortes), oder Phänotypen (oft äquivalent gebraucht zu Physiognomien), die feinste Unterschiede zu sehen ermöglicht und deswegen nicht zu Übereinstimmungen auch bei den verwandtesten Erscheinungen kommt. Dies führe letztlich zur Entscheidungsunfähigkeit, weil der Variantenreichtum zu groß werde. Die makroskopische Perspektive hingegen sei sehr grob, subsumiere Dinge auf einer hohen Abstraktionsebene und laufe damit Gefahr, physiognomische Spezifika nicht in den Blick zu bekommen und damit ebenfalls die Situation zu verkennen. Die Lösung dieses Problems liegt für Rothacker im Finden der ›richtigen Mitte‹. Diese Mitte werde zwar vom Forscher (etwa dem genau sezierenden Philologen) als nicht entscheidend erachtet, für das ›allgemeine‹ Weltverstehen sei sie dies aber sehr wohl. Das meiste Weltverstehen beruhe auf Erfahrungswerten und ermögliche, intuitiv richtig zu urteilen. Es sei u. a. diese Mitte, die alle Mitglieder eines ›Volkskörpers‹ gemeinsam haben und die sie auszeichnen würde – und zwar sowohl in ihrer Eigenart als auch im Erkennen von Unterschieden zu anderen Volksgemeinschaften (also im Vergleich). Rothacker erläutert dies in seiner Geschichtsphilosophie an verschiedenen Beispielen, etwa am übereinstimmenden Erkennen von Eigenschaften unterschiedlicher VölkerFootnote 27:

[…] wenn man gute Englandkenner auffordert, aus hundert Personen zehn Engländer herauszulesen, wird dies im allgemeinen auch gelingen. […] Der Kern des Phänomens ist die übbare Fähigkeit der täuschungslosen Erfassung typischer Gestalten. Diese Erfassung beruht auf derselben rätselhaften Funktion, mittels der wir die sog. ›Ähnlichkeit‹ von Porträts erfassen. […] Daß es bis vor kurzem noch bekannte Autoren gab, welche sich bemühten, in Lichtbildvorträgen die evidente physiognomische Prägung des wie immer gegabelten und geschichteten Judentums dadurch zu verschleiern, daß sie an Lichtbildern Friedrichs des Großen oder eines Indianerhäuptlings demonstrieren, auch diese hätten gebogene Nasen, beweist, daß die Klärung dieses Problems nicht nur ihre Grenze an unserer Unfähigkeit findet, sondern auch am bösen Willen von Interessenten.Footnote 28

Die durch Einübung gelingende Erfassung typischer Eigenschaften (bei – wie in der Textstelle unterstellt – nicht ›bösem Willen‹) beruhe auf einer »stilistischen Identität«Footnote 29 der Gegenstände, die die Welt insgesamt präge (Objekte, Lebewesen, Körperschaften) und daher als solche wahrgenommen werde. Sie werde dann am besten erkennbar, wenn sich in einem schon vorhandenen Medium (Medium im weitesten Sinne, also etwa in der Tradition bestimmter Bilder) eine neue Tendenz durchsetze. Das Beharrende (von Medium und ›älterer Tendenz‹) und das Neue (neue Tendenz) seien die beiden mit- und gegeneinander agierenden Kraftfelder. Sie prägten nicht nur die Kunst, sondern die Wahrnehmung insgesamt und ermöglichten daher auch die Synthesis aller kulturellen Phänomene.

Die zwar Einübung voraussetzende, aber dann intuitiv sich vollziehende ›richtige‹ Erfassung von Phänotypen und Situationen wird von Rothacker sehr ausführlich in seiner 1938 zum ersten Mal erscheinenden, dann bis in die 1960er Jahre (6., erweiterte Auflage 1965) immer wieder neu aufgelegten Schrift Die Schichten der Persönlichkeit erläutert, aus der hier insbesondere die Kategorie der »beseelten Tiefenperson« herausgehoben werden soll.

Rothacker geht in dieser Arbeit von fünf Schichten der Person (oder Persönlichkeit) aus: der Schicht (1) des Lebens überhaupt; (2) des vegetativen Lebens; (3) des animalischen Es; (4) der beseelten Tiefenperson; (5) der aufliegenden Person (=Ich-Funktion).Footnote 30 Rothacker, der seine ›beseelte Tiefenperson‹ also zwischen Es und Bewusstsein anordnet,Footnote 31 nimmt mithin vier Ebenen an, die sich unserem Bewusstsein (unserer Ich-Funktion) prinzipiell entzögen: »Es gibt eine von der Wachheit des apperzipierenden, kontrollierenden, steuernden Ich grundsätzlich verschiedene Art völlig unmittelbarer gefühlsnaher Bewußtheit, welche mehr oder weniger deutlich oder dämmerig bei unsern seelischen Akten mitschwingt.«Footnote 32

Es ist insbesondere diese »gefühlsnahe Bewußtheit« der »beseelten Tiefenperson«, der eine besondere Bedeutung zukommt; denn sie steuert die emotionale Wahrnehmung, ist intuitiv, ist präreflexiv und daher für Rothacker verantwortlich für Mythus, Dichtung und Bild. Sie hat sogar eine Sozialität konstituierende Funktion, weil sich für Rothacker die Bindung zwischen den Menschen gerade auf dieser Ebene vollzieht:

Und jetzt sind wir endlich in der Lage, von dem ›Leben im Menschen‹, sodann dem ›Tier im Menschen‹, d. h. der Schicht der Triebe und Triebemotionen, eine ausschließlich menschliche emotionale Schicht abzuheben, welche doch innerhalb der Tiefenperson und unterhalb der Ichfunktion, aber oberhalb der rein biologischen Sphäre unser edelstes Besitztum darstellt. Dies ist die Schicht der Klageschen ›Seele‹, die Schicht des Mythus und der Dichtung, des durchseelten Bildes, der befreiten rein schauenden Einbildungskraft und der geistesträchtigen Stimmung, und nicht zuletzt der elementaren Sympathie der Liebe, der Saelde.Footnote 33

In der menschlichen Entwicklung habe eine Herausbildung und Überlagerung von Schichten stattgefunden, die zu unterschiedlich motivierten Ausdrucksformen führten.Footnote 34

Solche Ausdrucksformen, die allesamt ererbt und zugleich immer wieder neu erlernt und weiterentwickelt werden, sind kulturkreisspezifisch, also variant. Der Ansatz wird bei Rothacker allerdings auch nach männlich-weiblich differenziert oder nach der Unterscheidung ›primitiv-entwickelt‹ modelliert.Footnote 35 Damit ist eine der zentralen Verschiebungen, die Rothacker im Unterschied zur Philosophischen Anthropologie vornimmt, benannt:Footnote 36 Es geht um die ›Unterlegung‹ der in der Philosophischen Anthropologie diskutierten Kategorien durch eine entwicklungsgeschichtliche, d. h. hier: kulturhistorische Perspektive. Sie allein lasse es zu, den in einer konkreten, und das heißt immer: historischen, Situation handelnden Menschen in seinen Formen zu perspektivieren:

Denn diese Formen streben seltsamer Weise nicht nur der Erfüllung zeitloser evidenter Formen zu, sondern sind zudem auch noch durchweg historisch: ›historisch geworden‹. Und zwar in historischen Verläufen, die von der Norm her gesehen nur als ›zufällig‹ (kontingent) bezeichnet werden können und die darum nur empirisch festzustellen sind.Footnote 37

Diese Perspektive auf geschichtliche Zeit ist bei Rothacker durch und durch vom Historismus bestimmt.

IV.

historische schule, teilhabe

Insofern ist es richtig, wie es die oben skizzierte ältere Forschung zu Rothacker geltend macht, Rothacker selbst noch einmal auf die Tradition der sog. ›Historischen Schule‹ (zwischen Friedrich Carl von Savigny, Leopold von Ranke und Wilhelm Dilthey) zu beziehen.

Neben seiner kenntnisreichen Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1920 und seiner Logik und Systematik der Geisteswissenschaften von 1926 sind es die ebenfalls aus den 1920er Jahren stammenden Aufsätze »Die deutsche historische Schule« und »Savigny, Grimm, Ranke«, die in sehr prägnanter Weise Rothackers Credo zur Geistesgeschichte als Historischer Schule entwickeln.

Für die Entstehung der ›Historischen Schule‹, die Wilhelm Dilthey zu Recht als Teil der »Deutschen Bewegung« verstanden habe,Footnote 38 macht Rothacker vier Tendenzen als besonders wirkmächtig aus: Erstens »die Entwicklung der historisch-philologischen Kritik«Footnote 39; zweitens die »Einfühlungsgabe«Footnote 40 als die zentrale Voraussetzung einer Kunst des Verstehens, die er u. a. am Beispiel Barthold Georg Niebuhrs erläutert. Dabei wird die Verbindung zu Kategorien aus den Schichten der Persönlichkeit deutlich. Über Niebuhr heißt es in fast paradigmatischer Beschreibung von ›Teilhabe‹:

Sein Sinn ›unmittelbarer Wahrnehmung‹, seine Gabe und sein Ziel, in den vergangenen Tagen zu leben ›wie ein Mitlebender‹, beruht auf einer zumal seit Herder sich entwickelnden Einfühlungsgabe in fremdes geistiges Sein, einer Kunst des Verstehens, einer Fähigkeit zu kongenialer Hingabe, einer Begabung zu ›zarter Empirie‹, wie Goethe sagt, einer Selbstentäußerung an die eigene Natur des Gegenstandes, einer schöpferischen Passivität des dem Objekt selbst sich ausliefernden Kontemplierens, der Ehrfurcht, Andacht, Treue.Footnote 41

Es ist diese Vorstellung von Teilhabe, die auch für Rothackers Modell von ›Mensch und geschichtlicher Welt‹ von zentraler, da kohäsiver Bedeutung ist. Sie denkt Teilhabe als ein Sich-selbst-Auflösen in der Hingabe an den zu verstehenden Gegenstand. Angestrebt ist ein temporärer Akt der Selbst-Annihilation, als dessen Belohnung sich der Gegenstand dann offenbart. Es geht bei solcher Teilhabe daher strukturell um ein aus der Mystik bekanntes Leere-Fülle- Schema (sich von der Welt ganz entleeren, um dann aus der Fülle Gottes zu empfangen).

Dritter Grund für das Entstehen einer ›Historischen Schule‹ sei die immense Sachkenntnis der historistischen Gründergeneration gewesen (die Rothacker für die Literatur etwa bei August Wilhelm Schlegel feststellt).

Der vierte und für Rothacker ganz entscheidende Grund für die Entfaltung der Historischen Schule sei schließlich die von allen getragene »Idee nationaler Volksgeister«.Footnote 42 Die Annahme eines ›lebendigen‹ und alles aus einer ›Quelle‹ konstituierenden Volksgeistes hätte seit Herder zur Umwandlung des leeren, da abstrakten Schematismus der (nicht zuletzt französisch inspirierten) Aufklärung geführt.Footnote 43 Er sei ersetzt worden durch die ›Fülle‹ des Volkes, der Nation.Footnote 44 Am Beispiel von Savigny heißt es: »In Sitte und Volksglaube vorgeformt, entsteht auch das gelehrte Recht als Gewohnheitsrecht nicht durch Willkür eines Gesetzgebers, sondern durch ›innere stillwirkende Kräfte‹.«Footnote 45 Die organische Entwicklung aus dem Volk heraus begründe das Recht, aber kein formaler, nicht national referentialisierbarer Rechtsschematismus (etwa des inzwischen ganz abstrakten römischen Rechts, das ja seinerseits ursprünglich aus dem Volkscharakter entstanden sei). Von außen aufgezwungenes Recht sei für Savigny (anti-napoleonisch eingestellt) Unrecht. Auch das Naturrecht und der Rechtspositivismus werden abgelehnt.Footnote 46 Analog dazu sehe Jacob Grimm die Tiefe des Gefühls, Glauben, Recht und Sprache aus dem vaterländischen Boden erwachsen. Und bei Ranke sei die feste Verwurzelung im Körper der Nation noch einmal kondensiert und überbaut in den ›großen Mächten‹ und den ihnen zugrundeliegenden, sich gegen den aufklärerischen Rationalismus wendenden Ideen. An dieses Konzept schließen sich bei Ranke wie Rothacker Akteure (die »großen Handelnden«Footnote 47) an. In dieser Linie hat Rothacker dann auch in seiner Geschichtsphilosophie Adolf Hitler im Kontext eines Führer- und Gefolgschaftsbegriffs eingeführt. Die Systemstelle der ›großen Handelnden‹ im Modell bleibt bestehen, kann aber unterschiedlich besetzt werden. In späteren Texten ist von Hitler nicht mehr die Rede.

Immer wieder bezieht sich Rothacker dabei auf Rankes »Politisches Gespräch«Footnote 48, das wie bei Niebuhr die Vorstellung von der »›verborgene[n] Harmonie des gemeinen Wesens über die juristisch offenbare‹, das ›innerliche Zusammenhalten‹ über das durch den Vertrag gesicherte stellt.«Footnote 49 Zentral am »Politischen Gespräch« erscheint Rothacker aber, dass Ranke hier mit der Idee der Unableitbarkeit des sog. ›Realgeistigen‹ eine Kerneinsicht des Historismus formuliert habe:

›Ohne Sprung, ohne neuen Anfang kann man aus dem Allgemeinen gar nicht in das Besondere gelangen. Das Realgeistige, welches in ungeahnter Originalität dir plötzlich vor den Augen steht, läßt sich aus keinem höheren Prinzip ableiten‹. – Dies ist die radikalste Formulierung des Historismus, die ich kenne. ›Aus der allgemeinen Theorie gibt es keinen Weg zur Anschauung des Besonderen‹. Und das Besondere? Das Vaterland mit uns, in uns. Von dieser Position aus können alle Einzelheiten der ›historischen‹ Lehren von Herder bis in die jüngste Gegenwart begriffen werden, die Savignys und Grimms selbstverständlich eingeschlossen.Footnote 50

Wie beim Verstehen geht es auch in diesem Sinne um ›Teilhabe‹: Das Vaterland mit uns, in uns. Hier findet sich zugleich eine Wiederaufnahme (eine Zweitfassung) der Rothacker’schen Wahrnehmungsvorstellung und der ›beseelten Tiefenperson‹; die Teilhabe im gemeinschaftlichen Erkennen der Ausdrucksformen und die Teilhabe am Band der Gemeinschaft setzen beide das intuitive Erfassen von Gegenständen oder Zusammenhängen voraus: Ranke habe »die Möglichkeit einer Intuition behauptet, der der Gegenstand in ungeahnter Originalität plötzlich vor Augen steht.«Footnote 51

V.

intuition, anschaulichkeit, bild

Das Modell lässt sich so erweitern: Die Intuition führt zu einer Hypotypose, die Hypotypose zu einem Bild. Intuition und Bild schließen sich zusammen. In Intuition und Begriff heißt es dazu prägnant: »Nihil est in intellectu, quod non fuerit in intuitione. Das heißt aber zugleich: in lingua. Denn ohne die vorbegriffliche Sprache der ›intuitiven‹ ›Wortbedeutungen‹ vermögen begriffliche Sätze überhaupt nicht zustande zu kommen.«Footnote 52 Denn daraus folge: »Was aber absolut unableitbar ist, […] das kann nur angeschaut werden«.Footnote 53 Das begrifflich Unableitbare öffne sich erst im Vor-Augen-Stehen und führe dann zu einem Vor-Augen-Stellen, zu einem Bild. Anschaulichkeit ist Bildhaftigkeit; in diesem Sinne zitiert Rothacker in »Vier Dichterworte zum Wesen des Menschen« den Eingang von Goethes Faust IIFootnote 54:

›Am farbigen Abglanz haben wir das Leben‹. – Hier ist ganz deutlich unser anthropologisches Thema angeschlagen. Aber in einer anderen als der Platonischen Perspektive: Der Mensch, zeigt uns der Dichter, ist ein endliches Wesen. Nicht unmittelbar, sondern mittelbar, gebrochen im sinnlichen Mittel, im irdischen Medium, im Abglanz, Symbol, Gleichnis, in sinnlichen Entsprechungen, Analogien zeigt sich ihm als Menschen das ewige Licht.Footnote 55

Und mit Pathos formuliert Rothacker am Ende des Aufsatzes:

Alles, was wir vom offenbaren Geheimnis des Lichtes wissen und wissen können, trägt die Farbe des Abglanzes im menschlichen Antlitz, um unser sein zu können. In seltenen, großen, begnadeten, in pathetischen wie stillen Momenten kam es im Medium unserer erdgebundenen, aber der Reifung fähigen Seele zum Aufglühen.Footnote 56

Bild und ›Antlitz-Bild‹ erhalten auf diese Weise eine ontologische und auch religiöse Dimension. Denn der Mensch nehme die Welt nicht ›als solche‹ wahr, sondern nur als bildhaft geoffenbarte Erscheinung. Das Besondere könne nur angeschaut werden; die Mannigfaltigkeit des Lebens verschließe sich außerhalb der Anschauung dem Betrachter. Die Rolle der Anschaulichkeit nimmt ihren Ausgang dabei von einer entwicklungsgeschichtlichen, Mythos und Religion einschließenden These; so formuliert Rothacker in der Kulturanthropologie im Rückgriff auf die Mythenforschung und insbesondere auf das »Numinose« bei Rudolf OttoFootnote 57:

In der Übersetzung solcher Urgefühle in Sprache, Bild, Klang, Begriff haben wir einen gemeinsamen Quell von Mythus, Religion, Kunst, Weisheit, Philosophie. In der Übersetzung des Gefühls in das Bild oder den Klang oder den Begriff steckt die eigentliche Geburt des ›Geistes‹.Footnote 58

Es geht um Aisthesis, um eine Mannigfaltigkeit anschauende Wahrnehmung, geleitet von der ›beseelten Tiefenperson‹, die dann in eine Übersetzung, zu einer medialen Formung führt (zu Klang, vorzugsweise zum Bild), die wiederum in eine anschauende Perzeption des Geformt-Seins mündet.Footnote 59 Insbesondere die Kunst erhielte damit die Aufgabe, »bildhaft anschauliche Erlebnisse zu vermitteln«Footnote 60. Doch träfe dies nicht nur für die Kunst zu, denn die »Spannung von Innerlichkeit und Bild« finde sich »auf allen Gebieten des kulturellen Lebens«.Footnote 61 Dies ist auch die Scharnierstelle, die zum Projekt des Archivs für Begriffsgeschichte führt, das Rothacker gern eher als ein ›Archiv der Metaphern‹ verstanden hätte.Footnote 62

VI.

geisteswissenschaften, weltanschauung, geprägte form

Anschaulichkeit und Bild geraten für Rothacker zu zentralen Modi des Weltverstehens und der Weltdarstellung. Sie erhalten ihren systematischen Ort daher auch in Rothackers Logik und Systematik der Geisteswissenschaften von 1926.Footnote 63 Sinnliche Wahrnehmung und Anschaulichkeit lassen sich verbinden mit Mannigfaltigkeit, Bild mit Formgebung und in dieser Weise auch mit ›Einheit‹. ›Einheit und Mannigfaltigkeit‹ ist neben ›makroskopisch und mikroskopisch‹ eine weitere zentrale Unterscheidung, mit der Rothacker strukturell operiert. Und mittels dieser zweiten Unterscheidung differenziert Rothacker die Philosophie als Formen der Geistesgeschichte:

Einheit und Mannigfaltigkeit, Form und Stoff, Ordnung und Fülle […]. Dabei aber handelt es sich stets um den Vorrang der einen und der anderen Seite, und will man unter diesen Gesichtspunkten die weltanschaulichen Positionen in knappsten Zügen charakterisieren, wo nicht schließlich karikieren, so kann man sagen: indem der Naturalismus zur Anerkennung der Mannigfaltigkeit drängt, vergißt er vor lauter Mannigfaltigkeit die Einheit. Der Idealismus der Freiheit ignoriert über der Einheit das Mannigfaltige. Der objektive Idealismus, der die Einheit im Mannigfaltigen, die Mannigfaltigkeit in der Einheit erstrebt, vergißt vor lauter Harmonie die Spannung dieser Momente.Footnote 64

Diesen zusammenfassenden Thesen geht in Rothackers Logik eine lange Abhandlung voraus, die die Philosophiegeschichte kategorisiert – hier die Ergebnisse der Einleitung in die Geisteswissenschaften aufgreifend –, sie zu Ansätzen gruppiert und diese Ansätze mittels einer Theorie der polaren Spannung zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit zu charakterisieren versucht. Die Ansätze ergäben sich jeweils aus der Option für als solche nicht hintergehbare Weltanschauungen. Aus diesen Weltanschauungen resultieren nun auch »ethische Forderungen« mit eindeutiger Tendenz:

Aller Inhalt einer Weltanschauung beruht auf einem Lebensbezuge, und dieser Lebensbezug muß Inhalte, d. h. Deutungen des Weltinhalts und Lebens erst schaffen; denn das formal Richtige gilt weltanschauungsfrei; die möglichen Inhalte selbst aber liegen nicht in einer Ebene, sondern an den entgegengesetzten Polen einer Kugel. Es ist uns nicht leicht gemacht, unsere Pflichten aus Handbüchern der Vernunftlehre abzulesen; inhaltliche Entscheidungen wollen erkämpft sein. Erst aus der Berührung und Spannung sachlichen und persönlich ethischen Sollens, erst aus der Verflechtung des formalen Sollens mit unserem Schicksal gehen mit einer höheren Notwendigkeit als der logischen die großen, eben um ihres Inhaltes willen fruchtbaren Schöpfungen hervor. Erst auf diese Notwendigkeit und diese aus ethischer Spannung geborenen inhaltlichen Entscheidungen sind Prädikate, wie groß, tief, substantiell, wahrhaftig, echt, erlebt, beseelt, anwendbar.Footnote 65

Die Unterscheidung zwischen dem ›formal Richtigem‹ und einer weltanschaulich geprägten und begründeten Wahrheit ist für Rothacker der zentrale Ansatz, um das sog. ›Relativismus-Problem‹ des Historismus zu überwinden. ›Richtigkeit‹ ist Rothacker das objektiv Nachprüfbare; die Wahrheit hingegen bekommt einen relativen Status, relativ bezogen auf die Grundentscheidungen, die mit der jeweiligen Weltanschauung verbunden sind. Aus dieser Weltanschauung leite sich jedoch eine Ethik ab, aus der sich ihrerseits der Wahrheitsanspruch jeweils begründe: »Ethische Forderungen und nur sie sind es, die in Weltanschauung gipfeln und welche den spezifischen Wahrheitsbegriff der Philosophie als Weltanschauung erst verständlich machen. Eine weltanschauliche Wahrheit will noch etwas anderes sein als objektiv richtigFootnote 66

Dies ist eine folgenreiche These, denn sie entkoppelt Wahrheit und Ethik vom ›formal Richtigen‹ und begründet nun den Geltungsanspruch von Wahrheit aus der Grundentscheidung für eine Weltanschauung, die ihrerseits aber auf einer Entscheidung für eine Haltung beruht. Weltanschauung in diesem Sinne ist jedoch prinzipiell auch pluralisierbar, ist dann eine unter mehreren, gibt es doch nicht nur eine Entscheidung. Zugrunde liegt dieser Vorstellung bei Rothacker, im Rekurs auf Schopenhauer und Nietzsche, ein vom Willen bestimmter Imperativ des Sollens: die »Begründbarkeit [der Weltanschauungen – J. F.] folgt keiner erkenntnistheoretischen Logik mehr, sondern einer Logik des WillensFootnote 67 Dieser in Bezug auf die jeweilige Weltanschauung relative Wahrheitsanspruch sei aber kein falscher Relativismus, sondern im Sinne Rothackers gerade die Lösung des Relativismus-Problems, mit dem die Historische Schule sich konfrontiert sah: »Der Relativismus läßt also Richtigkeit und Werthaftigkeit bestehen. Er hat keinesfalls notwendig eine zersetzende Tendenz.«Footnote 68 Damit werden durchaus unterschiedliche wertbasierte Weltanschauungen (konkurrierend) möglich, und es ist nur die »zersetzende Tendenz«, die als der Feind des Modells ablehnt wird. Einer solch zersetzenden Tendenz habe aber die Historische Schule niemals das Wort geredet.

Bei Weltanschauungen gehe es dabei immer um eine geglückte Verbindung aus Mannigfaltigkeit und Einheit, man könnte auch sagen, um eine im Sinne Rothackers fruchtbare Synthese, die ähnlich gedacht wird wie die ›richtige Mitte‹ zwischen mikroskopischem und makroskopischem Blick:Footnote 69 »Die Sache stellt das konkrete schöpferische Subjekt immer wieder vor die Aufgabe eines produktiven Ausgleichs zwischen Einheit und MannigfaltigkeitFootnote 70 Dieser Ausgleich, deren »Schlüssel im Begriff der konkreten Vernunft liegt«,Footnote 71 werde also getrieben von der Fruchtbarkeit der Verbindung in einer je angenommenen Situation, die weit über das individuelle Wollen hinausgehe, ja als Situation maximal ›gedehnt‹ gedacht werden kann:

›Situationen‹ können Jahrhunderte brauchen, bis sie sich voll entwickelt haben. Und dies gerade darum, weil Substanzen ihre jahrhundertelange Vorgeschichte haben. Die großen weltgeschichtlichen Entscheidungen fallen keineswegs nur aus der Substanz der handelnden Individuen als solcher heraus, in diese Substanz sind die großen historischen Mächte eingegangen.Footnote 72

Mit der substantiellen Kraft der ›großen historischen Mächte‹ begründet Rothacker auch den Historismus als diejenige (weltformende) Ausrichtung, die diese konkrete Situationsvernunft systematisch walten lasse. Ihr eigentlicher Gegenspieler (und zugleich Vorgänger des Historismus) ist der Universalismus, dessen Geltungsanspruch allerdings auf einem großen Opfer beruhe:

Diesem Werterlebnis [des Historismus] stellt der Universalismus nichts weniger als eine Selbstverständlichkeit dar, deren Durchführung bloß am stumpfen Widerstande der ideenlose Materie scheiterte, sondern er verlangt eine Willensentscheidung von äußerster Einseitigkeit und äußerster Tragweite: er verlangt zum Opfer die ganze Mannigfaltigkeit der Kultur. Und zwar diese Mannigfaltigkeit nicht im Bilde ihres kontemplativ zu genießenden Reichtums. Er verlangt von jedem Einzelnen seine substantiale Positivität.Footnote 73

Den Universalismus könne man nur haben auf der Basis eines tiefgreifenden, identitätslöschenden Opfers: mit der Vernichtung jener kulturellen Mannigfaltigkeit, die sich im historisch gesättigten Leben als zugrunde liegender Reichtum in den (Form‑) Einheiten von Person, Gruppe und Volk unverwechselbar auspräge. Die Differenz von Mannigfaltigkeit und Einheit wird so in die Unterscheidung zwischen substantieller Positivität (Partikularität) und leerer Universalität verschoben. Das Universale laufe immer Gefahr, eine »farblose, abstrakte, ›Uni-formierung‹« zu erzeugen (politisch gefärbt, dann im Sinne einer ›grauen Internationale‹); hingegen zeige sich in der »Landschaftsgebundenheit des Partikularen ein ›organisches‹ Prinzip«: »wenn Wurzeln und Wachsen aus Blut und Boden, sich Entfalten, sich Entwickeln etwas Organisches ist«Footnote 74. Rothacker universalisiert diesen Gegensatz und postuliert ein »Gesetz der polaren Spannung universaler und partikularer Ideen«.Footnote 75 Dabei sei eine vollständige Entscheidung für die eine oder die andere Seite nicht möglich, denn die Spannung zwischen Mannigfaltigkeit und EinheitFootnote 76 bleibe ja bestehen. Universalität und Partikularität sind daher nur die Pole, an die man sich annähere: »alle Polaritäten der geistigen Welt [sind] als Willensrichtungen, Strebensrichtungen, Entscheidungsrichtungen, Tendenzen, Bewegungen auf einen imaginären Pol zu«Footnote 77. Um diese vielen Unterscheidungen volatil und kombinierbar zu machen, wird die Einheitsforderung so zu einer Tendenz zur EinheitFootnote 78 abgeschwächt:

Wir wollen demnach vor näheren Bestimmungen die stilistische Einheit nur als eine mit anderen Tendenzen um die Macht ringende Tendenz bezeichnen und ihre stilistische Form, soweit sie sich in den zahlreichen und ständig sich summierenden Objektivationen erkennbar niederschlug, als einen stilistischen ›Rahmen‹ bezeichnen, innerhalb dessen Spielraum genug bleibt für sehr mannigfaltige Gehalte.Footnote 79

Diese Tendenz zur Einheit sei prägend; sie schaffe und sei dann Stil: geprägte Form.

Insgesamt betrachtet wird deutlich, dass die Unterscheidungen zwischen mikroskopisch und makroskopisch nicht auf der derselben Ebene liegen wie ›Mannigfaltigkeit und Einheit‹, ›Partikulares und Universales‹ oder auch ›Universalistisches‹: mikroskopisch und makroskopisch bestimmt die Differenziertheit oder auch den Abstraktionsgrad des Blicks. Und das Mikroskopische wird von Rothacker ja als zu kleinteilig oder auch philologisch-kleinteilig abgelehnt. Mannigfaltigkeit ist hingegen eine positiv bewertete Reichhaltigkeit, die allerdings auch die richtige Synthese finden muss. Ebenfalls positiv bewertet ist das Partikulare; mit dem Begriff des Partikularen variiert Rothacker die Idee des Mannigfaltigen semantisch, um eine neue Unterscheidung (vs. Universalismus) zu gewinnen. Das Universale ist die falsche, da Mannigfaltigkeit auslöschende Einheitsgebung. Alle drei Unterscheidungen haben allerdings als Gemeinsames, dass sie als Mischungen verbunden werden, und diese Mischung konturiert sich immer nur als Form. Weil diese Form anschaubar sein muss, muss sie anschaulich werden, und das heißt für Rothacker (literal oder metaphorisch): Sie wird ein Bild. Doch handelt es sich nicht um ein flüchtiges Bild, sondern um geprägte Form. Als solche wird das Bild tradierbar und seinerseits prägend für Wahrnehmungsprozesse. Die Form und die richtige Anschauung prägten den Körper in all seinen Facetten, und dies präge wiederum die Körperschaft(en) in ihren Lebenswelten als Lebensstile.

VII.

prägung, stil, kultur

Die in der jeweiligen Tendenz sich abzeichnende Kohärenz, die nicht nur für die Wissenschaft, sondern für das Leben insgesamt gilt, mündet daher für Rothacker im Stilbegriff. Der Stilbegriff ist sehr viel weiter gefasst, als es das programmatische Vorwort zur DVjs zunächst vermuten lässt. ›Stil‹ bedeutet »menschliche Lebensstile«, die sich »in körperlicher Haltung, im Technischen und Wirtschaftlichen nicht anders als im Geistigen«Footnote 80 äußern. Kulturen, so heißt es in Rothackers Kulturanthropologie sind »Lebensstile«Footnote 81, »Stil der gesamten Lebensgestaltung«Footnote 82. Stil, Lebensstil ist für Rothacker, Goethes Formulierung aus den »Urworten. Orphisch« aufnehmend, geprägte Form, die im Leben einem substanzgeleiteten (also geprägtem) Handeln entspringe. Dies betrifft neben dem einzelnen oder kleineren Gruppen auch das ganze Volk in seiner Geschichte. Der Einzelne ist eingebettet »in ein altererbtes Gefüge«Footnote 83, das sein Leben als Rahmen substantiell bestimmt. Er ist Teil einer wirkmächtigen Körperschaft, die selbst als Akteur agiert. In der Kulturanthropologie benutzt Rothacker für diese Prägung des Einzelnen im Verbund seines Volkes die Kategorie des Brauchtums: »Geboren in einem bestimmten Zustand des Brauchtums, entscheiden alle Glieder eines Kulturganzen gewollt oder ungewollt in jeder beliebigen vollzogenen Handlung, wenn auch in verschiedenen Graden, mit über deren Schicksal.«Footnote 84 Es geht um eine starke Bindungskraft: »Die geprägten Formen haben eine ganz eigenartige Festigkeit, Starre. Die Prägung verwischt sich nicht so leicht.«Footnote 85

Prägung führe zu Substanz, und dies erkannt zu haben, sei das Verdienst der Historischen Schule: »Die große und bleibende Entdeckung der Historischen Schule ist der Wert der konkreten SubstantialitätFootnote 86 ›Substantielle‹ Prägung zeigt sich für Rothacker in den Modi des Bewahrens von Generation zu Generation als (eine paradox anmutende) ›Identitätsdifferenz‹, in der sich das Selbe wandelt, ohne seine Identität zu verlieren. Insofern gibt es für Rothacker einen »Zusammenhang von Lebensstil und der Art des Gewahrens und Begreifens«. Untersucht werden muss »die historische Genese des Lebensstils, der ausstilisiert und ausgeprägt worden ist.«Footnote 87 Dies mündet in allen Rothacker’schen Schriften in den umfassenden Kulturbegriff: »Lebensstil und Welt-Bild sind nur zwei Aspekte und Anwendungen desselben Etwas: des Kulturstils.«Footnote 88 In dieser Argumentationslinie besitzt Kultur dann einen »Prägungscharakter«Footnote 89, bei dem vier Aspekte hervorzuheben seien: »a) das Prägen als schöpferische Synthese, b) die Beharrungs- und die Suggestionskraft des Geprägten, c) das Phänomen des Durchprägens und Durchstilisierens, d) die gemeinschaftsbildende Funktion der Prägungen«.Footnote 90

›Prägung‹ in diesem Verständnis zieht eine Linie von der starken Persönlichkeit zur geprägten, d. h. als Stil geformten Welt und von hier aus zur Gemeinschaftsbildung, die nur als Ergebnis solch ›geprägter Form‹ zustande kommt und dann selbst wieder in neuen Formen substantiiert.

Auch wenn so in Rothackers Arbeiten Anthropologie, Wahrnehmungs- bzw. Erkenntnistheorie und Völkerpsychologie strikt aufeinander bezogen werden, sei damit kein strikter Kausalitätsbegriff verbunden (den Rothacker als zu starr ablehnt), sondern auszugehen sei eher von einer miteinander verwobenen »Schichtung der Kulturkörper« (»Urbildern, Urmythen, Urworten« entsprungen). Die Substanz eröffnet sich nur sekundär, eben über die Beobachtung geprägter Form. Diese ergibt sich ihrerseits wiederum nicht aus der Analyse des Mannigfaltigen, sondern wird nur teilnehmend erlebt und intuitiv angewandt. Der geprägte Stil bildet so nun die Mitte zwischen makroskopischer Abstraktion und mikroskopischer ›Über-Differenzierung‹, zwischen Mannigfaltigkeit und Einheit:

Weil die menschliche Triebwelt (wenn immer durch ineinandergeschachtelte [sic!] Rahmungen rassischer, stammlicher und familiärer Erbeignungen locker eingefasst) schon allein unter dem Druck der unendlichen Mannigfaltigkeit mehr oder weniger schwieriger persönlicher Lebensumstände ins unabsehbar Mannigfaltige und Formlose zerflattern müßte, darum hat die Prägung […] ihren Umkreis weltgeschichtlicher Aufgaben. Sie erst, lebend in immer neuen Schöpfungen und gestaltenden Taten der Genien und Führer, zwingt die Individuen in die Arbeit an inhaltlichen Aufgaben gemeinsamen Lebens; schafft in die Breite Gefolgschaft, Gemeinschaft und Ordnung, in die Dauer Kontinuität und Selbigkeit der Gemeinschaftsaufgaben […].Footnote 91

›Prägung‹ ist so das Movens und das Band zwischen Einzelnen, Gruppen und Gemeinschaften. In der ›geprägten Form‹ werden für Rothacker die sich überlagernden Differenzen unterschiedlicher Herkunft als Bilder des Zusammenhangs anschaubar und anschaulich.

VIII.

gemeinschaft, volk

Schon in Rothackers Lamprecht-Dissertation von 1912 wird die Möglichkeit, vom einzelnen Menschen zur Völkerpsychologie zu gelangen, betont: »Die Struktur der Reihen, welche einem individualpsychischen und der, welche einem völkerpsychischen Vorgang ihre Existenz verdanken, ist identisch.«Footnote 92 Bereits hier ist ein stark generalisierender Zug bemerkbar. So beginnt das Kapitel »Versuch einer Theorie der völkerpsychologischen Entwicklung« mit dem Satz: »Völkerpsychologische Entwicklungen sind historische Gesetzmäßigkeiten.«Footnote 93 Und weiter:

Als völkerpsychologisch wollen wir aber eine echte, noch auszubildende historische Methode bezeichnen, welche ausschließlich die formalen Wandlungen der den verschiedensten Kulturgebieten gemeinsamen geistigen Zustände innerhalb geschlossener kultureller Entwicklungen, die wir der Einfachheit halber immer als nationale bezeichnen wollen, zum Gegenstand ihrer Darstellung macht.Footnote 94

Ausgangspunkt und Träger dieser Entwicklung ist für Rothacker in der Geschichtsphilosophie zunächst die Gruppe oder (variativ) auch die Gemeinschaft, denn die geschichtliche Entwicklung existiere 1. nicht

ausschließlich als partikuläres Leben. 2. Diese Gemeinschaften nennen wir, trotz der reichen Stufenfolge von Sippe, Clan, Stamm bis zu Nationalstaat und Weltreich, ›Völker‹ und ›Völkerschaften‹. 3. Diese Völker sind die lebendigen Träger, Schöpfer und Verwirklicher alles politischen, sittlichen, kulturellen und geistigen Lebens im weitesten Sinne. 4. Die Frage, wie weit es zu deren Wesen gehört, daß in ihnen Rassegemeinschaften oder losere Abstammungsgemeinschaften, territoriale Gemeinschaft, staatliche, Rechts- und Sittengemeinschaft, Sprach‑, Kultur‑, Religionsgemeinschaft und Gemeinschaftsbewußtsein jeweils restlos zur Deckung gelangen, ist zurückzustellen. Wesensnotwendig sind stets nur zwei Momente: a) eine menschliche Gruppe als solche, welche in Familie, Sippe, Stamm zugleich die biologischen Quellen dieses Gemeinschaftslebens und damit die Zukunft der kommenden Geschlechter umfaßt, b) gemeinsame Formen dieses Zusammenlebens, einschließlich der Formen eines gemeinsamen Besitzes an geistigen Gütern. Sprechen wir von Völkern, Gesellschaftskörpern und Lebenstotalitäten, so meinen wir stets dies zwiefältige Ganze einer in bestimmten Formen lebenden Gruppe.Footnote 95

So gelangt Rothacker von der ›Biologie der Völker‹ zu einem als Form anschaubaren ›Lebenskörper‹ der Gemeinschaft. Es ist damit eine Linie, die Rothacker vom Gruppen- zum Völkerbegriff zieht, jene Linie, die von der menschlichen Phänotypik ihren Ausgang nahm: »Die Substantialität geschichtlicher Menschen ist ihre, zu ihrer zweiten Natur gewordene, Teilhabe an den Haltungen und Richtungskernen ihrer Völker und Kulturen.«Footnote 96 Auf diese Weise versucht Rothacker in Analogie und zugleich Subsumtion die Brücke zu schlagen zwischen der Objektwelt, insbesondere den bildlichen Artefakten, menschlicher Phänotypik und Volkstum. Es geht hier genauso um Sichtbarmachung und Substantialität, nun allerdings bezogen auf ›anwachsende‹ Körperschaftsbildung:

Ein Volkstum ist ein einziger mächtiger Körper, am ehesten noch mit einem Organismus zu vergleichen, der, während an seiner Oberfläche sich jeweils neue Phänomene zeigen, in denen er auf neue Situationen reagiert, unterhalb dieser neuen Gewandungen als etwas Bleibendes und Dauerndes in die Zeit hineinragt.Footnote 97

Das Modell des Einheitsgewinns durch Formprägung greift für Rothacker auch in dieser Übertragung: Das Volk als Körperschaft ist als eine vertikale, alle Bereiche umgreifende Kohärenz einheitlicher Lebensstile gedacht. Komplementär wird eine zeitlich-horizontale Kohäsionslinie ausgezogen (Generationen als Ab- und partielle Umarbeitung dieser Lebensstile, die nicht verloren werden dürfen, weil dann die Identität solcher Gruppe, solchen Volkes gelöscht würde).

Weil das ›substantielle Wesen‹ je nach Akzentuierung unterschiedlich konfiguriert werden kann, eröffnet sich hier für Rothacker die theorieinterne Tür zur Adaption von NS-Ideologemen. Trotz eines vorher kritisch diskutierten Reduktionsverfahrens führt Rothacker eine stark prädisponierende Beziehung ein, die er am Ende seiner Geschichtsphilosophie mit »Die existentielle Reduktion. Rasse und Volksgeist«Footnote 98 betitelt. Damit kann er sich rassebezogen ein stückweit zu salvieren versuchen (wobei Rothacker den eugenischen Gedanken nicht ablehnt) und gleichzeitig die NSDAP und deren erziehungspolitische Agenda in den Mittelpunkt stellen:

Die entscheidenden Schritte zur deutschen Einheit sind offensichtlich nicht der nordischen Rasse, die in Skandinavien reiner ist, sondern dem ›Preußischen Geiste‹ und dem Geiste der NSDAP zu verdanken, d. h. beide Male erkämpften Lebensstilen, Erziehungsprodukten, die freilich aus dem Geiste nordischer Überlieferungen gezeugt, dennoch aus einem, mit Güntherschen Maßstäben gemessen, rassisch sehr fragwürdigen Rohstoff geformt waren. Das soll selbstverständlich kein Abweichen von dem Leitziel und Wunschbild einer rassisch eben so glänzend gezüchteten als seelisch im Lebensstile nordischer Völker fortgestalteten deutschen Kultur sein, sondern nur die Verschärfung der Forderung eugenisch guter Zucht durch die Forderung ebenso scharfer geistig-politischer-moralischer und kultureller Zucht, im Sinne des überschwenglichen Erziehungsideals, auf das Nietzsche seinen neuen Adel aufbauen wollte.Footnote 99

Im letzten Unterkapitel »Im dritten Reich« biedert sich Rothacker den neuen Machthabern in ganzer Breite an: Einmal in der Ersetzung des Staats- durch den Volksgedanken: »Woraus mit der Instinktsicherheit des großen Staatsmanns Adolf Hitler die Folgerungen gezogen hat, indem sein Lebensbuch der Idee der Volksgemeinschaft die erste Stelle in der Reihenfolge der politischen Werte anweist.«Footnote 100 Und dann sei es doch auch die ›richtige‹ Rasse, die die Möglichkeit einer aristokratischen Prägung eröffne:

Neben Staatsgedanke, Deutschtumsgedanke, Volksgedanke steht als wesentlicher Bestandteil aller zugleich der Rassegedanke. Freilich ist gerade er, rein für sich betrachtet, nicht ohne innere Spannungen zu den übrigen Leitideen. […] Das eigentliche Gewicht der übrigen politischen Konsequenzen des Rassegedankens liegt aber vor allem in seinem unzerstörbar aristokratischen Charakter. Daß dieser Zug zunächst mit dem Führergedanken im besonders glücklichem Einklang steht, bedarf kaum näherer Begründung.Footnote 101

Diese Rassemerkmale bestünden insbesondere in der »heroischen Gesinnung«Footnote 102, wobei an der Rasseentwicklung weiter gearbeitet werden müsse:

Ein rassisch befriedigender Bevölkerungsdurchschnitt ist in dem Rassegemisch einzelner deutscher Stämme erreichbar nur durch die energische Unterstützung aller eugenischen Maßnahmen durch Formung und Zucht des im äußeren und inneren noch knetbaren jugendlichen Menschenmaterials im Geiste der rassisch besten Bestandteile seiner Erbmassen.Footnote 103

Mit solchem ›Menschenmaterial‹ eröffne sich dann eine geopolitische Perspektive:

Nachdem wir heute in der Gesinnung, die stärker ist als alle Verfassungskrücken, einig zu werden begannen, bleibt uns noch der zweite Schritt, eben dieser Gesinnung und der aus ihr gespeisten neuen Haltung zur Welt auch alle die mächtigen Energien des deutschen Geistes und Gemütes zuzuführen, deren restlose Einverleibung in das neue Reich allein die Idee des ganzen Deutschland vollendete.

›Jetzt naht nach Tausenden von Jahren

ein einziger freier Augenblick:

da brechen endlich alle Ketten

und aus der weitgeborstnen Erde

steigt jung und schön ein neuer Halbgott auf.‹Footnote 104

Solche den Nationalsozialismus glorifizierende Passagen finden sich in den späteren Werken Rothackers nicht mehr.

IX.

skalierungen von bedeutung und ressentiments

Bereits in Rothackers Lamprecht-Dissertation wird Entwicklung mit Skalierungen und in ihrem Gefolge mit Bewertungen verbunden:

Entwicklung ist also der aktive Vorgang der Zustandsänderung lebendiger Subjekte, welche in beständiger Wechselwirkung mit ihrer Umwelt nach dem Maße ihrer jeweiligen Kräfte ihre jeweiligen Anlagen zur Entfaltung bringen, d. h. die Veränderungen durchlaufen, welche aus dem Widerspiel angeborener qualitativer Anlagen, quantitativer Energie der Wachstumstendenz und der Erlebnisse gesetzmäßig hervorgehen.Footnote 105

Ganz entscheidend ist dabei die These, dass der mit Entwicklung verbundene »Bedeutungswandel überhaupt von einem Begabungswandel getragen wird«Footnote 106, wobei eine »nationale Begabungsentwicklung«Footnote 107 im Mittelpunkt steht. Diese Fokussierung auf einen nationalen Begabungswandel lässt Rothacker aber zugleich komparative Untersuchungen lohnend erscheinen, etwa die Vergleichbarkeit einer früheren europäische Entwicklung mit einer noch zeitgenössischen ›primitiven‹ Stufe (»niedere Kulturstufen«Footnote 108). Denn es käme auf die nationale Begabungsmasse an, die im Laufe der Generationen erzeugt wurde und die sich im Einzelnen fortsetze. Wem diese Begabung nicht per Abstammung weitergegeben werde, der könne nicht reüssieren: »Tatsächlich sind auch keine Fälle bekannt, daß Kinder von Primitiven, die unter uns erzogen wurden, tatsächlich je unserer obersten intellektuellen Schicht angehörten […].«Footnote 109 Denn es gelte: »Niemand kommt über seinen angeborenen Verstand hinaus.«Footnote 110

Hier schon ist der ›Rasse‹- als ein Substanzbegriff angelegt. Auch wenn die Rassekategorie bei Rothacker eher eine abwägende Einschätzung findet, er gern von »angeborene[n] und aktuelle[n] Nationalanlagen«Footnote 111 spricht, wird dem Rassegedanken dann aber doch stattgegeben. Der Historiker habe Rassen »als gegeben hinzunehmen«Footnote 112, denn es sei davon auszugehen, »daß aus einer biologischen Quelle ein Geist stammt, der sich in den verschiedenen Zweigen der Kultur als derselbe formale Grad allgemeiner geistiger Anlagen ausdrückt.«Footnote 113 Dass das ererbte ›Blut‹ eine große Rolle spielt, sieht man in Rothackers Mutmaßung, dass »es […] überaus wahrscheinlich [ist], daß die Renaissance in Italien mit dem Erblühen germanischen Blutes zusammenhängt […].«Footnote 114

Das schon in der Lamprecht-Dissertation angelegte Schema für Entwicklung lässt sich dann in späteren Schriften (etwa den Schichten) auch ›ethnographisch‹ weiter differenzieren und bewerten. Es gehe um kulturell und im historischen Verlauf erlernte bindende Ausdrucksbewegungen, die unterschiedliche (nationale, volksmäßige, nach Entwicklungsstufen zu differenzierende) Stile hervorbringe: »Diese Stile haben wieder alle ihr immanentes Gesetz und Ideal. Sie haben unverkennbar je ihre ›innere Logik‹ von stilistischer Evidenz. Und selbstverständlich gilt dies auch schon vom Gebaren der Primitiven.«Footnote 115 Dabei gelte: »Den Unterschied des ›Willens‹ bei antiken und modernen Menschen, bei einem kühlen modernen Rechner wie Moltke einerseits, bei einem verspielten Neger andererseits, kann man sich gar nicht groß genug vorstellen.«Footnote 116 Die ›historische Perspektive‹ lässt sich für Rothacker aber auch völkerpsychologisch anreichern: etwa in die »Passivität der Slawen« oder die »Orientalen«, deren »Selbstidentifikation sich hier an viel Es-nähere Schichten des ›Lebens‹«Footnote 117 halte, usw. Und das Schema asymmetrisch geprägter Wertungen kann auch in vermeintlich Geschlechtscharakter spezifische Unterscheidungen münden: »die typisch weibliche Passivität«Footnote 118 im Unterschied zur Aktivität der Männer.

Leben, das etwas gelten kann, das herausgehoben ist, sei allein Ergebnis von ›geprägter Form‹, von Stil, und ist in diesem Sinne für Rothacker höherwertige Kultur. So kommt Rothacker zu seinem Begriff von Hochkulturen. Denn das Leben in Hochkulturen ist insgesamt ›durchformt‹: »Eine Kultur ist vollendet erst, wenn sie nicht nur Gipfelleistungen ersten Ranges hat – die freilich selten sind –, sondern wenn diese höchsten Leistungen wieder zurückwirken auf das Leben und somit dieses veredeln.«Footnote 119

Und dies detaillierend: »Man versteht jetzt, weshalb man landläufigerweise nur den Völkern Hochkultur zuspricht, die eine reiche und durchgeformte Literatur haben. Denn diese repräsentiert eines der Momente der für das Wesen der Hochkultur notwendigen Reflexivität, eine Reflexivität, die freilich erst spät theoretische Selbsterkenntnis wird, vielmehr primär bildhafte Selbstbespiegelung bleibt«Footnote 120, und zwar, »weil es mit dem bloßen Leben in Hochkulturen offenbar nicht getan ist.«Footnote 121

So eröffnet das Rothacker’sche Formkonzept immer wieder und zunehmend redundant gerade in der Insistenz auf Prägung die Möglichkeit einer quantitativen Form-Skalierung, die am Grad an Stilausformung den Entwicklungsstand von Völkern ablesen will und auch vor der infamen Annahme, dass es ein kulturloses, ›bloßes Leben‹, gebe, nicht zurückschreckt. Diese skalierte Komparation findet ihre konzeptionelle Einheit in einer Vorstellung von wertbestimmter Kultur, die Rothacker durch die »Strukturgesetze des Lebensstils und die polaren Abwandlungsgesetze«, durch die »Lebensgesetze des Menschen«Footnote 122, bestimmt sieht.

X.

coda

Alle vorgeführten Dimensionen des Rothacker’schen Ansatzes verbindet die Idee, dass Welt sich allein durch aisthetisch erworbene und durch Prägung gelebte Teilhabe eröffnet. Alles ist konkretes Leben auf der Basis überkommenen geformten Lebens. Das Ererbte (der Familie, der Generationen, des Volkes) ist in uns. Jede Apperzeption vollziehe sich auf dieser substantiellen Basis intuitiv, die Schicht der beseelten Tiefenperson sei der individuelle und der zugleich schon vorformende modus agens, der Wahrnehmung und Sozialität als Teilhabe am Stil steuere, der ›Sinn‹, ›Verstehen‹ und ›Entscheidung‹, ausgehend und eingebunden in Haltungen, leite.

Teilhabe-Modelle sind, schon bei Herder, in der Regel analogisch ausgerichtet. Auch bei Rothacker wird ein ›So-Wie-Verhältnis‹ zwischen menschlicher Phänotypik, Kunst (Stil) und Volkstum behauptet. Dem entspreche das Vermögen auch, aber nicht nur des Historikers, diese Einheiten als jeweilige Form, als Bild wahrzunehmen, qua ›mittiger‹ Abstraktion, ›ohne intellektualistische Zergliederung‹ zu verstehen: Man ist in der Nation und die Nation ist in einem. Jede der Rothacker’schen Denkfiguren ist auch noch in ihrer Perspektivierung auf den Einzelnen generalisierend und subsumtiv, weil sie die gesamte Geschichte einer Nation mit all ihren Äußerungen und Handlungen in der unauflöslichen Bindekraft des Volkstums und seines ›substantiellen Wesens‹ aufgehen lässt und von ihr bewegt sieht. Das substantielle Wesen ist Effekt geprägter Form, eines zugleich prägenden Lebensstils, der alles umgreift und bestimmt. Und so lassen sich dann mit den Dimensionen von ›Prägung‹ und Formgebung ebenso ein Führer- und Gefolgschaftsbegriff platzieren wie ein unaufhebbarer Verbund des Volkstums in geschichtlicher wie gegenwartsbezogener Perspektive behaupten.

›Geprägte Form‹ ist für Rothacker zugleich empirisch wie auch normativ. Man hat durch Zugehörigkeit an ihr Teil, und ohne solch bindende Teilhabe erschließe sich Welt nicht. Mit der Teilhabe sei ein intuitiv wahrnehmendes Innen verbunden, dem allein sich die Phänomene als (bildhafte) Erscheinungen eröffneten. Auf diese Weise wird eine Verbindung zwischen vermeintlichen empirischen Befunden und normativen AnsprüchenFootnote 123 hergestellt, die in mehrfacher Hinsicht problematisch ist.

Erstens beruhen die meisten Rothacker’schen Urteile über die Welt, die Geschichte, das Individuum oft auf ›mittleren‹ (im Sinne der Vermittlung von ›mikroskopisch‹ und ›makroskopisch‹), der unterstellten ›Alltagswahrnehmung‹ jedermanns entstammenden Einsichten. Sie erweisen sich allerdings bei genauerer Betrachtung als übergeneralisierte Setzungen des sog. ›gesunden Menschenverstandes‹, und dies dort besonders, wo sie durch Beispiele zu plausibilisieren versucht werden. Das, was auf diese Weise als unmittelbar einleuchtend dargestellt wird, orientiert sich aber kaum an empirisch validierbaren Ergebnissen, sondern an einer ideengeschichtlich aufgeladenen Enthymem-Struktur. In ihr wird jeweils darzulegen versucht, was aus dem vermeintlich allgemeinen Teilhabe-Wissen heraus ›an der Sache‹ – gewissermaßen selbstevident – glaubhaft gemacht werden könne. Dabei werden aber vor allem Vorurteile und daraus ableitbare Ressentiments gegenüber anderen Ethnien, anderen Lebensformen, auch anderer politscher Meinung reproduziert. Stabilisiert wird dieses Konzept von Teilhabe dadurch, dass es eine Beobachtung zweiter Ordnung (insbesondere Formen der Selbstbeobachtung) nicht systematisch vorsieht.

Zweitens ist mit dieser problematischen In-Eins-Setzung von ›empirisch‹ und ›normativ‹ ein Ausschlussmechanismus verbunden, der den eigentlichen Feind der eigenen Theorie markiert. Dieser Feind ist nicht ein anderer, konkurrierender Prägungs- oder Wirkzusammenhang (er bestätigte nur die These von der Kraft der Prägung), sondern allein die Haltung der Indifferenz, die sich einer normativ grundierten Teilhabe bewusst entzieht. Im Sinne Carl Schmitts lässt Rothacker »die Indifferenz« als den »schwerste[n] Feind alles Ausgeprägten« daher nicht zu.Footnote 124 Das Aussetzen der Entscheidung für oder gegen eine Form erscheint hier nur als Charakterlosigkeit.

Rothacker selbst schreibt aus einer für ihn gesicherten Teilhabe heraus. Sein eigener Stil ist daher im höchsten Maße ›indikativisch‹ und in vielen Fällen ›konstativ‹. Die In-Eins-Setzung und stilistische Performanz von ›normativ‹ und ›empirisch‹ sorgt dabei über alle Beispiele hinaus, jenseits aller Beteuerung des Konkreten, für einen Allgemeinheitsgrad, der zweierlei bewirkt: Einmal Redundanz, weil dieselben Phänomene immer wieder aufgefunden und mit ähnlichen Worten beschrieben werden; und zum anderen ist zu sehen, dass in diesem generalisierten Schema aus ›Prägung‹ und zugleich durch die Möglichkeit von Variation mit jeweils neu betonten Elementen für die Systematik und den Aufbau des Teilhabe-Modells folgenfrei umbesetzt werden kann, etwa indem Rothacker die nationalsozialistisch inspirierten Passagen ›ein- oder ausschaltet‹.

Die für die DVjs formulierten programmatischen Sätze haben in diesem Sinne für Erich Rothacker eine viel weitergehende Dimension, als es das knappe Vorwort vermuten lässt. Dass die DVjs allerdings vielgestaltiger wurde, als nur der thetischen Vermittlung ›geprägter Form‹ im Sinne Rothackers zu dienen, machen differenzierte Untersuchungen der Zeitschrift für die Jahre 1933 bis 1944 bzw. 1923 bis 1956 deutlich.Footnote 125