I.

Ein zweiseitiges Programm stellen, zusammen mit dem Verleger Hermann Niemeyer, die Herausgeber Paul Kluckhohn und Erich Rothacker, Privatdozenten beide, knapp 37 bzw. 35 Jahre alt, Anfang 1923 ohne Überschrift den Beiträgen des ersten Hefts der neugegründeten Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte voran. Es umreißt ebenso den eigenen Anspruch wie die methodische Ausrichtung und das disziplinäre Spektrum. Der Anspruch: »philologische Strenge und Gewissenhaftigkeit«. Die Ausrichtung: Geistesgeschichtliches neben Form- und Stilanalytischem, Literatursoziologischem, Poetologischem und Methodisch-Selbstreflexivem. Das Spektrum: »neben der Literaturgeschichte […] die anderen Gebiete der Geistesgeschichte […], so die Geschichten der Philosophie, Religion und Ethik, der bildenden Kunst, Musik und Sprache sowie des öffentlichen Lebens«. Hinzu kommt ein prononciertes epochales Interesse: »Mit besonderem Nachdruck soll die Literatur des Mittelalters in die geistesgeschichtliche und stilanalytische Literaturbetrachtung einbezogen werden« (alle Zitate: S. V.).

Warum dieser Akzent? Er dürfte einerseits mit einer bestimmten Vorstellung vom Mittelalter zu tun haben. Dieses galt im frühen 20. Jahrhundert als Paradigma einer mehr oder weniger einheitlichen, auf Gemeinschaft basierenden und auf das Absolute und Ewige gerichteten Kultur, die eine geistige Deutung und Durchdringung aller Phänomene und Lebensvorgänge vorgenommen habe.Footnote 1 Dieses Bild war auch bei den Germanisten verbreitet. Bei Rudolf Unger liest man: »Das Gedanken- und Gefühlsleben unserer mittelalterlichen Dichter ist im großen und ganzen, mit sehr wenigen Ausnahmen, fest verankert im Boden der gemeinsamen religiös-kirchlichen Weltansicht und des entsprechenden Lebenssystems.«Footnote 2 Paul Merker stellt fest: »Die innere und äußere Form der lyrischen, dramatischen, epischen und didaktischen Erzeugnisse des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit ist, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen […], in dieser ganzen Zeit im wesentlichen dieselbe.«Footnote 3 Der Sozialphilosoph Herman Schmalenbach resümiert die seit der Romantik herrschende Auffassung, dass das Mittelalter »eine Epoche noch ›organischen‹ Zusammenhanges aller kulturellen Glieder sei, worin ›kollektivistische‹ und ›korporativistische‹ Mächte die Führung des Lebens hätten und den Einzelnen durchaus in ihrem Bann umfaßt hielten«, eine Epoche, in der ein »unbewußter und innewohnender Gesamtheitsgeist« geherrscht habe und alles zusammengehalten worden sei »durch die alles überragende und alles durchdringende Macht der Religion«.Footnote 4 Das Mittelalter bot sich so als Modell der Verbindung von Literatur- und Geistesgeschichte an.

In dieser Verbindung steckt andererseits, methodisch-disziplinär gedacht, auch eine genuine Herausforderung oder Verheißung für die sich im frühen 20. Jahrhundert ausdifferenzierende ›Altgermanistik‹.Footnote 5 Lange hatte der Schwerpunkt der Beschäftigung mit älteren Texten auf editorischen, stemmatologischen, quellen- und einfluss-, dann stoff-, stil- und motivgeschichtlichen Dimensionen gelegen. Unger konstatiert, die »literarhistorische Arbeit« habe sich »auf diesem Gebiet großenteils in Textrezension und Interpretation, Quellenuntersuchungen, formalen und Kompositionsfragen, stoffgeschichtlichen und chronologischen Forschungen« erschöpft, »zu denen gelegentlich biographische, kulturhistorische und dergl.« traten.Footnote 6 Von dort her vermittelte die ineinander verschränkte Profilierung einer über die Literatur g e s c h i c h t e hinausgehenden Literatur w i s s e n s c h a f t und einer sich mit gleichem Recht, psychologischer Tiefe und philosophischem Horizont n e u e r e n Texten widmenden Philologie auch der herkömmlichen, die nun mehr und mehr zur ›Altgermanistik‹ wurde, neue Impulse.Footnote 7

Merker nennt in seinem Forschungsprogramm von 1921 neben der eigentlich philologischen Methode (aufgegliedert in Textkritik, Entstehungsgeschichte, Exegese, Quellenforschung, Stoffgeschichte, biographische Forschung) als neue, mehr oder weniger aussichtsreiche Zugangsweisen die historische, die ethnologische, die psychologische, die philosophische, die ästhetische und die, mit Bedacht ans Ende gesetzte, sozialliterarische, später wird man sagen: sozialgeschichtliche Methode.Footnote 8 Unger spricht wenig später von der ›religiös- oder philosophisch-weltanschaulichen‹, der ›ästhetischen‹ und der ›sozialpsychologischen‹ Richtung.Footnote 9 Die philosophische, mit Namen wie Dilthey, Walzel oder Unger selbst verbunden, wäre diejenige, die dem Begriff der Geistesgeschichte entspräche. Sie wird von Merker positiv beurteilt. Sie habe »manches Werk und seinen Schöpfer in eine überraschende Beleuchtung gerückt«, dürfe sich aber nicht »auf die führenden Persönlichkeiten und deren Werke« und nicht auf den Gehalt beschränken, sondern habe die ganze Vielfalt der Überlieferung sowie Form und Gestalt der Texte zu berücksichtigen.Footnote 10

Die ›Geistesgeschichte‹, unter deren Zeichen die Germanistik spätestens seit den 1910er Jahren ihre »größte und eindrucksvollste Revolution« vollzog,Footnote 11 erfährt so bereits um 1920 eine merkliche Differenzierung und Präzisierung.Footnote 12 Sie zielt nicht mehr in erster Linie auf einen Weltgeist oder ein kollektives oder individuelles Bewusstsein. Sie will nicht mehr vage das ›Leben‹, das ›Erlebnis‹ oder bestimmte ›Kräftespiele‹ erfassen. Es geht ihr um »die Verbindung der Idee mit dem real Gestalteten im Ausdruck«, um die Frage, »wie sich eine Auffassung von dem Wesentlichen der Welt und des Menschen […] in dem unmittelbar Gegebenen der Kulturphänomene offenbart«.Footnote 13

Dementsprechend hat auch die in der DVjs projektierte Verbindung von Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte nicht das Ziel, Literatur zum Gegenstand der Philosophie zu machen oder einer neueren, philosophisch basierten Literaturwissenschaft ein Forum zu verschaffen. Gerichtet gegen das (zum Popanz aufgeblasene) Feindbild des Positivismus, nicht mehr vertrauend auf die Orientierungsfunktion einer naturwissenschaftlich verstandenen Psychologie und reagierend auf die ›Krise des Historismus‹, versucht man neue, theoretisch grundierte philologische Perspektiven zu eröffnen u n d neue disziplinäre Verknüpfungen zu generieren.Footnote 14 Man unterscheidet zwischen hier Philologie als Technik der Texterschließung und der Textkritik, die als überschätzt und ergänzungsbedürftig gilt, und dort Philologie als wissenschaftlicher Tugend (Genauigkeit, Sorgfalt, Verantwortung, Unbestechlichkeit), unabdingbar, um wissenschaftliche Qualität zu sichern.Footnote 15

Wie schwierig es ist, dieses komplexe Programm auf den Punkt zu bringen, zeigen zum einen die zahlreichen Entwürfe von Kluckhohn und Rothacker, Titel wie Vorwort betreffend.Footnote 16 Zeigt zum andern aber auch schon der Prozess der Konstituierung der Herausgeber. In einer frühen Phase war neben dem Neugermanisten Oskar Walzel der Mediävist Franz Saran, seit 1913 Ordinarius in Erlangen, als Mitherausgeber im Gespräch.Footnote 17 In der endgültigen Konstellation, fast ein Jahrzehnt später, erhielt die geistesgeschichtliche Dimension durch Rothacker dezidiertes Profil. Er war 1911 in Tübingen mit einer Arbeit Über die Möglichkeit und den Ertrag einer genetischen Geschichtsschreibung im Sinne Karl Lamprechts promoviert und 1920 in Heidelberg mit dem Buch Einleitung in die Geisteswissenschaften habilitiert worden. Er verstand sich als Fortsetzer und Vollender von Wilhelm Diltheys Entwürfen einer neuen Geisteswissenschaft.Footnote 18 Die literaturwissenschaftliche Dimension wurde in ihrer ganzen Breite durch Paul Kluckhohn vertreten: Promoviert mit einer mediävistisch-historischen Arbeit,Footnote 19 hatte er sodann nicht nur wegweisende Studien zur Sozialgeschichte der hochmittelalterlichen höfischen Literatur,Footnote 20 sondern auch eine bahnbrechende Untersuchung zur Auffassung der Liebe in Aufklärung und Frühromantik vorgelegt,Footnote 21 ein, im Urteil Ungers, Stück »litterarhistorische[] problemgeschichte« als wichtiges »teil der zukunft der geistesgeschichtlichen richtung innerhalb unserer wissenschaft«.Footnote 22 Zusätzliche mediävistische Kompetenz holte man durch entsprechende Kollegen ins Boot, die auf dem Titelblatt »in Verbindung« mit den beiden Hauptherausgebern genannt werden: neben dem erwähnten Franz Saran unter anderem die bekannten (Alt‑)Germanisten Konrad Burdach, Andreas Heusler und Hans Naumann sowie der Philosophiehistoriker Clemens Bäumker (schon 1924 verstorben).Footnote 23

Wie ernst man die Berücksichtigung des Mittelalters nahm, ist den Briefen Rothackers zu entnehmen, mit denen er in der Anfangszeit der Zeitschrift Kollegen zur Mitwirkung zu gewinnen sucht. Dem bereits weithin bekannten, obschon seit Jahren nicht durch Veröffentlichungen hervorgetretenen Martin Heidegger schreibt er von der »ausdrückliche[n] Einbeziehung des Mittelalters« und erhält als Antwort die Aussicht: »Aus meinen Untersuchungen über das Mittelalter könnte ich übers Jahr Einiges beisteuern. Vorläufig bin ich noch mit anderen Arbeiten beschäftigt. | Relativ abgeschlossen u[nd] für sich verständlich wäre folgende Untersuchung<en>, die allerdings in einen größeren Rahmen gehört: die ontologischen Grundlagen der spätmittelalterlichen Anthropologie u[nd] die theologische Frühzeit Luthers.«Footnote 24 Zwar macht Heidegger bald wieder einen Rückzug, als er den Eindruck gewinnt, die Zeitschrift solle »wesentlich der Literaturgeschichte dienen u[nd] dieser aufhelfen«.Footnote 25 Doch lässt er sich von Rothacker eines Besseren belehren und kündigt auf Ende Oktober 1924 einen längeren Beitrag an: »Titel: Der Begriff der Zeit. (Anmerkung z[um] Di[lthey]-Y[orck] Briefwechsel). Ich habe die zentrale Frage der ›Geschichtlichkeit‹ aus d[em] Briefwechsel herausgegriffen u[nd] suche diesen durch sachliche Untersuchung verständlich zu machen. Diese kann nur systematisch-historischen Charakter haben. Der Aufsatz ist ca. 4 Bogen stark. Ich will mir damit zugleich den Boden schaffen für die Abhandlung über die mittelalterl[iche] Ontol[ogie] u[nd] Anthrop[ologie], die Sie bestimmt bekommen.«Footnote 26 Weder der eine noch der andere Text wird in der DVjs erscheinen.

Im Folgenden versuchen wir, die Rolle des Mittelalters und der Mediävistik für die DVjs genauer zu beleuchten. Wir geben zunächst einen Überblick über den Anteil mittelalter- und frühneuzeitbezogener Beiträge (II.), rekonstruieren dann von den Anfängen her die Art der Verbindung von Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (III.) und präzisieren die geistesgeschichtliche Dimension am Beispiel des ersten Schwerpunkthefts (IV.), einiger kritischer Stimmen (V.) sowie der Buchreihe (VI.); am Ende steht ein Blick auf die Weiterführung des Ansatzes Mitte der 1930er Jahre (VII.), die Neubestimmungen um 1950 (VIII.) und die Geschichte der germanistischen Mediävistik in der longue durée (IX.).

II.

Lässt sich, wie am Beispiel Heideggers gesehen, nicht jeder ins Auge gefasste Aufsatz auch tatsächlich realisieren, ist insgesamt der Anteil mediävistischer (und frühneuzeitlicher) Beiträge in den ersten Jahrgängen der Zeitschrift beträchtlich. Im ersten und im zweiten Heft des ersten Jahrgangs sind es zwei, im vierten sogar vier. In den Folgejahren gibt es zwar (thematische) Hefte ohne Mittelalter- oder Frühneuzeitbezug, dafür aber auch solche mit Beiträgen ausschließlich zur älteren Zeit (zuerst: 2, H. 4, 1924). Nimmt man insgesamt den Zeitraum von 1923 bis 1944 (danach erscheint die DVjs erst wieder 1949, in neuer Verlagskonstellation), so ergibt sich das Bild: Von ca. 550 Artikeln im Ganzen (mit Forschungsreferaten, aber ohne Nachrufe und Erwiderungen), das sind zwischen 18 (1942 und 1944) und 31 (1926 und 1937) pro Jahrgang, lassen sich ca. 160 der Zeit bis 1600 zuordnen, was einem Anteil von knapp 30 % entspricht – genauere Zahlen wären aufgrund zahlreicher allgemeiner oder übergreifender Aufsätze wenig sinnvoll.Footnote 27 Dieses Verhältnis bleibt über die Jahre hin durchschnittlich, bei normalen Schwankungen, konstant. Es gibt Ausschläge nach oben (1927: 18/27 = 67 %) wie nach unten (1936: 4/23 = 17 %). Aber grundsätzlich ist, abgesehen vom abnehmenden Seitenumfang im Ganzen, die Situation Ende der zwanziger Jahre (1928: 7/26, 1929: 9/28, 1930: 5/28) kaum anders als in den letzten Kriegsjahren (1942: 6/18, 1943: 7/22, 1944: 5/18). Das gilt im Übrigen ähnlich für die zwischen 1925 und 1945 begleitend zur Zeitschrift erscheinende DVjs-Buchreihe, bei der, angefangen mit Burdachs Vorspiel bis hin zu Martinis Bauerntum, ungefähr 10 der insgesamt 29 Bände allein, hauptsächlich oder anteilmäßig die ältere Zeit behandeln.

Was die Autoren betrifft, von denen nur wenige nicht aus dem deutschsprachigen Raum stammen,Footnote 28 sind häufiger vertreten: Günther Müller, Hans Naumann und der Kirchenhistoriker Ernst Benz mit fünf Beiträgen, die Kunsthistoriker Hubert Schrade und Georg Weise mit vieren, die Germanisten Hennig Brinkmann, Friedrich Neumann, Hermann Schneider, Wolfgang Stammler und Ludwig Wolff ebenso wie die Romanisten Erich Auerbach und Ernst Robert Curtius mit dreien. Signifikant ist umgekehrt auch die Liste der prominenteren zeitgenössischen Altgermanisten, die fehlen: Arthur Hübner, Richard Kienast, Carl von Kraus, Albert Leitzmann, Friedrich Maurer, Friedrich Panzer, Hans-Friedrich Rosenfeld oder auch Gustav Roethe (1926 gestorben). Im Einzelfall mag dieses Fehlen verschiedene Ursachen haben; auch die auf dem Titelblatt genannten Mitwirkenden Andreas Heusler und Franz Saran haben kaum in der DVjs publiziert: der eine nur einen Vortrag zu Goethes Verskunst (3, H. 1, 1925), der andere gar nichts. Die Grenze zwischen einer traditionellen Philologie und einer neuen geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft ist gleichwohl zu erahnen.

Sie ist notwendigerweise unscharf: Georg Baesecke, kein Geistesgeschichtler, hat in den ersten beiden Jahrzehnten immerhin zweimal in der DVjs veröffentlicht, darunter eine vehemente Verunglimpfung Stammlers und seines Entwurfs des epochalen Wandels (s. unten). Julius Schwietering hingegen, dem die Geistesgeschichte nicht fremd lag, ist nur mit einem Beitrag zur Volkskunde vertreten (5, H. 4, 1927).Footnote 29 Nicht zwingend ist die Grenze, denkt man an den schon 1859 geborenen Konrad Burdach, eine Generationengrenze. Und doch ist, sieht man sich die Geburtsjahre an (H. Brinkmann: 1901, G. Müller: 1890, H. Naumann: 1886, C. Neumann: 1889, H. Schneider: 1886, W. Stammler: 1886, L. Wolff: 1892) der Eindruck nicht abzuwehren, die DVjs sei das Organ der Jüngeren gewesen. Eine massivere Mauer trennte sie aber nicht von den traditionsreichen (alt‑)germanistischen Organen: In der DVjs zu publizieren, bedeutete nicht, der Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur (ZfdA) oder den Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) den Rücken zuzukehren.

Dem Charakter der Zeitschrift entsprechend liegt disziplinär gesehen ein Gros der auf die Zeit vor 1600 bezogenen Beiträge im Bereich der germanistischen Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft.Footnote 30 Daneben gibt es größere Schwerpunkte in der Renaissanceforschung (ca. 20) und in der allgemeinen Geistes- und Ideengeschichte (ca. 20). Auch die Geschichte (8), die Kunstgeschichte (8) und die Musikwissenschaft (9) sind regelmäßig vertreten, Kirchen‑, Rechts- und politische Geschichte hingegen nur am Rande. Weiter aufgefächert, treten einige Autoren, Werke oder Komplexe stärker hervor als andere: der altgermanische und altnordische Bereich (ca. 12), der Minnesang (6 mit Walther), die Mystik (6), Wolfram von Eschenbach (4), die ›Spielmannsdichtung‹ (3) und die Autobiographie (3). Dieser Konzentration auf das frühe und hohe Mittelalter wirken mehr als ein Dutzend übergreifende und zahlreiche auf Spätmittelalter und frühe Neuzeit bezogene Beiträge entgegen: zu Johannes von Tepl und Heinrich Wittenwiler, zum Meistersang (3), zum Drama, zur Reisebeschreibung, zum Humanismus, zu Hans Sachs, Paracelsus und Böhme.

Entscheidend für die Aufnahme eines Artikels in die DVjs war generell die im Austausch zwischen den beiden Herausgebern festgestellte Einhaltung »philologische[r] Strenge und Gewissenhaftigkeit«,Footnote 31 die Verbindung wissenschaftlicher Qualität, gemessen an den fachlichen Standards, mit einer gewissen Innovativität.Footnote 32 Dass sich dieses Vorgehen auch bei den mittelalter- und frühneuzeitbezogenen Beiträgen bewährte, zeigt deren häufige spätere Aufnahme in forschungsgeschichtliche Sammelbände.Footnote 33 Sichtbar wird zugleich am Zeit‑, Themen- und Methodenspektrum ein relativ klares Profil: (1) die verstärkte Berücksichtigung von Spätmittelalter und früher Neuzeit, die für die Frage nach Wandel und Umbruch besonders relevant sind; (2) ein Interesse für Autoren und Texte, bei denen sich literarische und ideengeschichtliche Dimensionen verknüpfen (lassen); (3) eine Fokussierung auf Form- und Stilaspekte, verbunden mit dem tatsächlichen Absehen von Miszellen, bloßen Materialsammlungen oder »rein stoffliche[n] Quellenuntersuchungen«, wie im Vorwort (S. VI) projektiert.

Zwar gibt es im ersten Jahrgang einen eindeutig philologisch-überlieferungsgeschichtlichen Beitrag wie den von Günther Müller über »Scholastikerzitate bei Tauler«. Doch besitzt auch er eine innovative methodische Pointierung: Die schwierige Frage quellenmäßiger Abhängigkeiten soll an einem spezifischen, klar fassbaren Bereich aufgegriffen werden. Und eine vielversprechende Perspektive: Der Beitrag soll »eine Etappe auf dem Weg von der Scholastik zur Mystik« markierenFootnote 34 – die spätere Forschung hat darauf immer wieder zurückgegriffen. Auch sonst impliziert die geistesgeschichtliche Ausrichtung der Zeitschrift keine Vernachlässigung des Philologischen. Bleiben wir beim ersten Jahrgang: Auf Friedrich Neumanns psychologisierende Betrachtung der politischen Lyrik Walthers von der Vogelweide (»Die Ereignisse dieser Jahre brachten die Seele des Dichters in schmerzhafte Schwingungen«)Footnote 35 folgt Wolfgang Stammlers materialreicher Aufsatz, der die Wurzeln des Meistersangs in der Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts und ihre Verflechtung mit höfischen Traditionen einerseits, geistlich-theoretischen andererseits freilegtFootnote 36 und damit zu einer »neue[n] Bewertung des Spätmittelalters« kommtFootnote 37. Ähnliches gilt für Ludwig Wolffs Aufsatz zum frühmittelalterlichen Heldenlied, der mit präzisen sprachlichen Beobachtungen aufwartet.Footnote 38 Oder für Albert Kösters Wiederaufnahme der Diskussion mit Max Herrmann über die Nürnberger Hans-Sachs-Bühne.Footnote 39

III.

Blicken wir genauer. Das erste Heft der neu gegründeten Zeitschrift wird, so Rothacker im Rückblick 1956, »nicht mit einer Arbeit spezifisch Diltheyschen Geistes, sondern mit einem Meister der Scherer-Schule eröffnet«.Footnote 40 Es handelt sich um Konrad Burdachs »Faust und die Sorge«. Darauf folgt die Habilitationsschrift des sehr viel jüngeren und noch keineswegs etablierten Günther Müller »Zum Formproblem des Minnesangs«.Footnote 41 Erst an dritter Stelle findet sich eine Abhandlung, die dezidiert in der Dilthey-Tradition steht (Rudolf Unger, »Zum Problem der historischen Objektivität bis Hegel«), und an vierter eine literaturwissenschaftlich-geistesgeschichtliche (Hans Naumann, »Versuch einer Geschichte der deutschen Sprache als Geschichte des deutschen Geistes«).

Auch wenn der Beitrag des ältesten und renommiertesten Philologen (Burdach) die Reihe eröffnet, ist die Anordnung der Beiträge weder dem Renommee der Verfasser noch der Chronologie der Gegenstände geschuldet. Sie ist methodisch ausgerichtet: Auf Burdachs intertextuell angereichertes Close reading einer Faust Szene folgt Müllers Versuch zur Verbindung von Philologie und Geistesgeschichte. Ein philosophiehistorischer Beitrag eines Begründers der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft schließt sich an, bevor der junge Hans Naumann eine geistesgeschichtlich orientierte Sprachgeschichte des Mittelalters entwirft. Das Heft zielt somit nicht auf Vergewisserung und Konsolidierung des bereits etablierten Paradigmas der Geistesgeschichte.Footnote 42 Es präsentiert verschiedene Zugänge im Interferenzfeld von Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Innovativ sind besonders die Beiträge der ›Jungen‹: Naumann überträgt gegen die vorherrschende Tendenz der Junggrammatiker geistesgeschichtliche Methoden auf die Sprachgeschichte. Müller verspricht die methodische »Synthese«, nach der »die Gegenwart verlangt«: »Indem ich die Klärung der Wesenszusammenhänge und die Untersuchung einzelner Formprobleme einander wechselseitig dienstbar zu machen bestrebt war, habe ich die philologische und die geistesgeschichtliche Methode zu verbinden gesucht.«Footnote 43

Wie das geschieht, ist instruktiv zu beobachten am Vergleich von Müllers DVjs-Aufsatz mit einem anderen desselben Jahres und desselben Verfassers zur »Strophenbindung bei Ulrich von Lichtenstein« – in der ZfdA, von Müllers Göttinger Lehrer Edward Schröder herausgegeben.Footnote 44 Beide Aufsätze vertreten eine ähnliche These – Minnesang sei Formkunst. Im ZfdA-Aufsatz analysiert Müller metrisch und klanglich alle 57 Lieder Ulrichs von Lichtenstein sowie eine Reihe von Vergleichsfällen; rahmende oder zusammenfassende Passagen gibt es am Beginn und in der Mitte; nach der Analyse des letzten Liedes bricht der Beitrag ab. Im DVjs-Aufsatz hingegen geht Müller erst gegen Ende auf einzelne Lieder des Minnesängers Wizlav und ihre Form ein, davor und danach wird die Analyse dieses einzigartigen Liedœuvres geistesgeschichtlich kontextualisiert und methodisch reflektiert.Footnote 45

Das »Formproblem des Minnesangs«, von dem im Titel die Rede ist, versteht Müller nicht material-, sondern forschungsbezogen. Gegen die bestehende ForschungFootnote 46 wirbt er dafür, die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit verstärkt auf formale Aspekte (Klang, Reim, Metrik, Musik) zu richten, um so die ›Eigenart‹ des Minnesangs besser zu verstehen. Dessen formale Strukturen werden zugleich als ›Spiegelung geistiger Strukturen‹ des Mittelalters gelesen – die mit Blick auf andere (lateinische und deutsche) lyrische Traditionen des Mittelalters (Mariendichtung, Hymnik, Vagantenlieder usf.), mittelalterliche Musik sowie die Lyrik Goethes und das moderne ›Kabarettlied‹ Profil gewinnen.Footnote 47 Auch die spezifische narrative Motivierung in der mittelalterlichen Epik analysiert Müller, um gemeinsame formale Strukturen und dadurch eine »gemeinsame seelische Haltung«Footnote 48 herauszuarbeiten. In der Fülle der Beobachtungen entsteht insgesamt ein detailliertes Panorama der Andersartigkeit mittelalterlicher literarischer Verfahren, wie es ansonsten erst einige Jahre später Clemens Lugowski wieder entwerfen wird.Footnote 49

Darüber hinaus versucht Müller den Formbegriff bzw. das epochenspezifische Verhältnis von Form und Inhalt zu klären. Die Form sei (anders als in der Goethezeit) keine »seelische Ausdrucksform«, die dasselbe wie der Text sage oder dessen Aussagen untermale, sondern eine »mathematische Form« – im Sinne des Prinzips der Variation und Kombination kleiner Elemente in einem relationalen Gefüge.Footnote 50 Die Form hat so eine Zeitkomponente, sie ist Kombinatorik, aber ohne lineare Entwicklung, ist Spiel, aber nicht zum Selbstzweck. Aufgrund eines »inneren Zusammenhangs« zwischen Form und Inhalt entstehe eine in sich strukturierte und differenzierte Einheit (»Gehalt«), in der die beiden Elemente sich gegenseitig Geltung verschaffen. Im Minnesang sei die »Eintönigkeit des Inhalts« gezielt »mit dem unvergleichlichen Reichtum der textlich-musikalischen Formkunst« verbunden und dies wiederum verweise auf ihre Verwurzelung »in der mittelalterlichen Welthaltung«.Footnote 51

Auch wenn Müller die mit dem Formbegriff einhergehenden methodischen Probleme eher umkreist als systematisch klärt, wird doch deutlich, was der Begriff leistet: Er dient als Scharnier zwischen der philologischen und der geistesgeschichtlichen Methode. Er leitet die konkrete, metrisch-musikalische Analyse und öffnet sie zugleich auf geistesgeschichtliche Fragen hin: »Wir sehen jetzt das mittelalterliche Geistesleben als einen wohlgegliederten Organismus, und der Wissenschaft ist damit die Forderung erwachsen, das Einheitsgebende dieses Organismus einerseits, die Eigenart seiner Glieder, das Maß ihrer bezüglichen Selbstgesetzlichkeiten und Bedingtheiten andererseits zu erforschen.«Footnote 52

Die ›Form‹ verbindet so auch das Spezifische der Gattung mit dem, was das mittelalterliche Geistesleben insgesamt ausmacht. Die ›Formkunst‹ des Minnesangs wird einerseits als das ausgewiesen, was den Minnesang kennzeichnet und sich in gattungsspezifischen Eigengesetzlichkeiten manifestiert. Sie bietet andererseits die Möglichkeit, Analogien und Ähnlichkeiten zur »Eigenart«Footnote 53 anderer literarischer Gattungen, anderer mittelalterlicher Künste und des »mittelalterliche[n] Geistesleben[s]«Footnote 54 im Ganzen zu erkennen. Die »mosaikartige«Footnote 55 Variation ähnlicher Elemente sei ebenso typisch für den Minnesang wie für lateinische Hymnen, Heldenepen, höfische Romane, geistliche Dramen und andere Künste (Musik). Sie alle würden die »geistige Struktur« der Epoche spiegeln. Die Erforschung der »innere[n] Gesetzmäßigkeit des Minnesangs in textlicher und musikalischer Hinsicht«Footnote 56 wird so zum Kennzeichen einer geistesgeschichtlich gewendeten Philologie, die formale ›Gesetzmäßigkeiten‹ herausarbeitet u n d diese auf unsichtbare, ›geistige Strukturen‹ hin transparent macht.Footnote 57

Müllers häufig benutzte Metapher der ›Spiegelung‹ verdeckt zwar eher, wie das Verhältnis zwischen verschiedenen Strukturen und Formgesetzen genau zu denken ist, als dass sie eine methodische Lösung darstellen würde. Im Ganzen aber kann der Beitrag, von Rothacker deutlich begrüßt,Footnote 58 als Reaktion auf ein Problem der zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Literaturbetrachtung verstanden werden – dieser werde, in den Worten Rudolf Ungers aus der DVjs, häufig der Vorwurf gemacht, dass sie »Gestaltungsprobleme in der Poesie vernachlässige und damit das Wesen der Dichtung verkenne«.Footnote 59 Er gesteht zu: »In der Praxis mag dieser Einwand nicht immer unberechtigt sein; das Prinzip jener Richtung indessen trifft er nicht.«Footnote 60 Die formalen Gestaltungsaspekte seien – zumindest theoretisch – immer Teil der Geistesgeschichte. Das Ziel sei (in der Weiterentwicklung Hegels), die »großen Entwicklungsphasen des Stiles als typische Ausdrucksstufen der allgemeinen Bewusstseinsentwicklung der Menschheit oder des jeweiligen Kulturkreises von innen her zu begreifen«.Footnote 61 Welchen spezifischen Status allerdings literarische Texte innerhalb der großen Gruppe geistesgeschichtlicher Quellen haben und ob sie mit anderen Methoden analysiert werden müssen als andere Textquellen oder Artefakte – diese Fragen bleiben offen.

Rothacker greift sie am Ende des gleichen Heftes der DVjs (2/1926) in seinem Literaturbericht »Zur Philosophie des Geistes« auf. Die Aufgabe der Philosophie sieht er grundsätzlich darin, die Methodenfragen der Einzelwissenschaften zu klären, indem sie sichtbar macht, dass Methodenstreitigkeiten eigentlich auf Begriffsproblemen oder »Prinzipienfragen« gründen.Footnote 62 Als Beispiel dient die Kunstgeschichte mit den divergierenden Ansätzen von Wölfflin und Dehio. Gehe der eine »problemgeschichtlich« oder »formalistisch« von einer »rein immanente[n]« Entwicklung von »spezifisch künstlerischen Problemen und ihren Lösungen« aus, argumentiere die »kulturgeschichtliche« Seite (Dehio), die »Entwicklung der Kunst« sei »in das geistige Leben des Volkes (oder der Kultur oder der Gesellschaft)« verflochten.Footnote 63 Die Streitfrage sei dann, »welche Momente am Gesamtphänomen der Kunst die eigentlich wesentlichen seien« und wie »die alte Auseinandersetzung zwischen Form- und Gehaltsästhetik« im gegebenen Fall zu entscheiden sei – im gegebenen Fall sei doch letztlich, so Rothacker, jede »methodische Maßnahme« weltanschaulich bestimmt und jedes geisteswissenschaftliche Vorgehen »voraussetzungsvoll«.Footnote 64

Es wäre interessant zu sehen, wie Rothacker Max Dvořáks 1924 postum erschienene Aufsatzsammlung Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, die sich als »Gegenstück zu den ähnlich angelegten Vorwürfen eines Dilthey, Windelband, Max Weber oder Troeltsch« verstand,Footnote 65 in diesem Zusammenhang beurteilt hätte. Am Argument hätte sie wohl nichts geändert: Die beschriebene Situation zu klären sei die Philosophie, so die Einschätzung am Ende des Beitrags, in der Gegenwart nicht mehr in der Lage: »[W]o die Geisteswissenschaften von ihrer Geistesphilosophie sich nicht gefördert fühlen«, werden die methodologischen Probleme so drängend, dass die »Erneuerer der Einzelwissenschaften« die der Philosophie zugeschriebenen Aufgaben übernähmen – und sie schneller lösten als die zuwartenden und beobachtenden Philosophen.Footnote 66 Die Philosophie eignet sich aus mehreren Gründen nicht mehr als Leitwissenschaft: (1) Die methodologischen Probleme betreffen gegensätzliche »Weltanschauung[en]«, ja »Lebenskämpfe«;Footnote 67 (2) die Rede von einheitlichen Epochenmerkmalen (›der gotische Mensch‹, ›der gotische Stil‹) erweist sich in der eigenen Gegenwart angesichts der Pluralität der Weltanschauungen und der (wissenschaftlichen) Stile als unangemessen; (3) die Entscheidung zwischen den Methoden wird den Philosophen von Vertretern der geisteswissenschaftlichen Teildisziplinen abgenommen, die ihrerseits nicht neutrale Beobachter, sondern in den Methodenstreit involviert sind – in wissenschaftlich produktiver Weise: »Die Geschichte der Geisteswissenschaften besteht […] aus einem ständigen Erproben neuer Prinzipien an den Tatsachen.«Footnote 68 Und aus ständig neuen Grenzziehungen: »In dem Augenblick, in dem die Archäologie als griechische Kunstgeschichte sich proklamiert, ändert sich mit einem Schlage das ganze Bild wissenschaftlicher Zusammenhänge. […] Und genauso löst sich eine autonome über Sprache und nationale Grenzen hinausgreifende Literaturwissenschaft, deren Kern Verständnis für das Wesen der Dichtung heißt, aus den nationalen Philologien.«Footnote 69

Die Geisteswissenschaften erscheinen bei Rothacker als sich historisch entwickelnde Wissenschaften, deren Prinzipien- und Rangstreitigkeiten nicht apriorisch gelöst werden können – schon weil sich ihre Gegenstände ebenso verändern wie sie selbst: »Gehalt oder Form sind die Schlagworte nicht nur zweier Kunsttheorien sondern zweier Kunstideale. Letztlich aber – und das ist das Entscheidende – kämpfen diesen Rangstreit die produktiven Künstler unter sich aus.«Footnote 70 Damit zeichnet sich eine neue Position bezüglich des ›alten‹ Rangstreits ab: Das Kunstwerk selbst kann den Primat der einen oder anderen Seite zum Ausdruck bringen. Die Wissenschaft wiederum kann mal einzelwissenschaftlich, mal übergreifend, kombinatorisch, aus einer Metaposition heraus agieren. Auffällig ist, wie Rothacker hier fachspezifisch, dort philosophisch argumentiert und damit vielleicht auch das Erfolgsprinzip der DVjs begründet: Kommt der ›Philosophie des Geistes‹ die Aufgabe zu, die Methoden- und Prinzipienstreitigkeiten der geistesgeschichtlichen Teildisziplinen zu analysieren, so ist es philosophisch geradezu notwendig, in einer Zeitschrift möglichst unterschiedliche (und auch mit den Positionen der Herausgeber nicht übereinstimmende) Ansätze zu präsentieren.Footnote 71 Das zeigt sich ebenso an seinem eigenen Beitrag im Verhältnis zu demjenigen Ungers wie an Müllers Aufsatz zum Formproblem im Verhältnis etwa zu demjenigen Hennig Brinkmanns aus dem zweiten Jahrgang, der den Minnesang, die Liebeslyrik, nicht in ihrer epochenspezifischen formal-klanglichen Dimension betrachtet, sondern historische Differenzen eher einebnet: Zurschaustellung des Menschen, »Zergliederung des eigenen Seelenzustandes«, »Richtung zum Subjektiven« – »wie später in der Romantik«.Footnote 72

IV.

Brinkmanns Aufsatz findet sich im ersten Schwerpunktheft der DVjs zum Mittelalter (2, H. 4, 1924), das auf ein Schwerpunktheft zur Romantik folgt (2, H. 3, 1924). Das Mittelalterheft besteht aus sieben Aufsätzen sowie einem Literaturbericht zur jüngsten Danteforschung (Alfred Bassermann). Von den sieben Beiträgen haben vier programmatischen Charakter. Drei fragen nach der »Wesensart«Footnote 73 des Mittelalters bzw. möchten zeigen, »wie einheitliche geistige Kräfte neue Bewegungen auf allen Gebieten geistigen Lebens in einem Zeitalter hervorrufen«.Footnote 74 Auch die weniger allgemeinen Beiträge sind perspektivenreich: Hans Naumann skizziert souverän die Semantik und Rolle des Spielmännischen im Mittelalter sowie die damit verbundenen Texte und kommt zu einer Einschränkung des romantisch geprägten Begriffs der Spielmannsdichtung.Footnote 75 Martin Sommerfeld gibt einen grundlegenden Überblick zu spätmittelalterlichen deutschen Palästinareiseberichten, der eine ganze Gattung neu in den Blick rückt.Footnote 76 Selbst Georg Rosenhagens Aufsatz zum Moriz von Craon ist mehr als eine bloße Einzeltextinterpretation: Er behandelt das Feld französisch-deutscher Literaturbeziehungen im frühen 13. Jahrhundert, gibt einen Einblick in die Konstitutionsphase einer Gattung (Märe/Novelle) und entdeckt ein Musterbeispiel höfisch-formbestimmten Minnedienstes – »In ›Kerlingen‹ ist der Sitz der ritterschaft, dort hat die Welt durch das vorbildliche Verhalten des Ritterstandes sich ein eigenes Recht gegenüber der Kirche gewonnen, indem er Form schuf, Form der Lebenskunst und Form des in Kunst festgehaltenen Lebens.«Footnote 77

Die vier programmatischen Beiträge sind durch implizite und explizite Bezugnahmen eng verzahnt.Footnote 78 Die Heftanordnung vermag die komplexe dialogische Struktur nicht abzubilden: Brinkmanns Aufsatz, an zweiter Stelle platziert, kritisiert, wie angedeutet, Müllers Thesen zum Minnesang aus dem ersten Jahrgang und präsentiert eine andere geistesgeschichtliche Einordnung der mittelalterlichen Liebeslyrik, ausgehend von der lateinischen Literatur. Der darauf folgende Beitrag von Wolfgang Stammler (»Ideenwandel in Sprache und Literatur des deutschen Mittelalters«) argumentiert methodisch und inhaltlich ähnlich wie Brinkmann, konzentriert sich aber auf das Spätmittelalter und bezieht die Sprachgeschichte stärker mit ein. Dabei schließt er an Hans Naumanns »Versuch einer Geschichte der deutschen Sprache als Geschichte des deutschen Geistes« (1, H. 1 [1923]) an, entwirft aber ein ziemlich anderes Bild des Spätmittelalters.Footnote 79 Die das Heft eröffnende Abhandlung von Günther Müller zum »Gradualismus« ist wiederum ein Gegenentwurf zu den Thesen und der Methodik von Brinkmann und Stammler. Der vierte Beitrag, von Georg Baesecke, bietet eine Fundamentalkritik der ganzen geistesgeschichtlichen Richtung aus der Perspektive eines Außenstehenden, dem der »kritische Rationalismus der Philologie das Natürliche ist«.Footnote 80

Schaut man sich die Beiträge genauer an und nimmt noch den Aufsatz von Naumann aus dem ersten Heft von 1923 hinzu, so sind exemplarische Gemeinsamkeiten zu erkennen. Sie stellen sich durch positive Zitationen von Dilthey, Strich und Dvořák in einen geistesgeschichtlichen Kontext. Sie gehen jeweils nicht von einem Textkorpus oder einer Gattung aus, sondern präsentieren ein epochenspezifisches Merkmal, mit dessen Hilfe mehrere Jahrhunderte mittelalterlicher Literatur- oder Sprachgeschichte gefasst und strukturiert werden. Sie isolieren einzelne Textstellen, die, ohne Kontextualisierung zitiert, bloß als Belege für die übergreifende These dienen. Die Tendenz zur Entdifferenzierung und Einebnung des Besonderen ist unverkennbar. Allerdings verstehen sich die Beiträge nicht als Substitution, sondern als Ergänzung zur sich verselbständigenden, literaturwissenschaftlich-mediävistischen Spezialisierung. Sie insistieren darauf, dass aus immer differenzierteren Analysen nicht automatisch eine Synthese oder ein »Gesamtbild« hervorgeht.Footnote 81 Dementsprechend entwerfen sie durchaus unterschiedliche Mittelalterbilder.

Hans Naumann, vier Jahre älter als Günther Müller, 1921 als Ordinarius nach Frankfurt (auf die Nachfolge Friedrich Panzers) berufen, betont bereits im Titel seines »Versuch[s] einer Geschichte der deutschen Sprache als Geschichte des deutschen Geistes« die geistesgeschichtliche Dimension. Er bezieht sich auf die Ausdifferenzierung der Fachteile (Sprachgeschichte/Literaturwissenschaft), die er zugleich in Frage gestellt sieht: »Sprachgeschichte und Geistes- und Kulturgeschichte sind darauf und daran, für die Forschung wieder untrennbar zu werden, wie sie im Grunde untrennbar sind«.Footnote 82 Dementsprechend geht es ihm darum, die Sprachgeschichte des Mittelalters (Lautverschiebungen u. ä.) als Geschichte des »lebendigen Geistes« zu deuten.Footnote 83 Geschichtsphilosophisch rekurriert er dabei auf Oswald Spengler, den er sprachgeschichtlich ergänzen, aber nicht ausbuchstabieren möchte.Footnote 84

Zwar nimmt Naumann einen »Wechsel und anscheinend ewige[n] Rhythmus von Form und Auflösung der Form« im »Geistesleben« an,Footnote 85 die eine der Antike und der Klassik, die andere dem »Primitivwerden der Kultur« zugeordnet.Footnote 86 Doch dieser geschichtsphilosophische Zyklus bildet nur den Hintergrund der Ausführungen. Im Vordergrund steht die Beobachtung, der Prozess der Kultivierung von Sprache, Geist und Kultur beziehungsweise das »Erwachen zur Form«Footnote 87 werde nicht durch das Eigene, sondern durch das »Fremde« ausgelöst: »Hauptsächlich in der Berührung und Mischung mit fremden, andersgebildeten, anderskultivierten, anderssprechenden Gemeinschaften wird die Erweiterung und Änderung des kulturellen, geistigen und sprachlichen Besitzes einer Gemeinschaft beruhen.«Footnote 88 In diesem Sinne akzentuiert Naumann sprachhistorisch zum einen die Neuerungen, die sich von der »Peripherie« her durchsetzen, z. B. der »Einfluss der uralten südlichen Kultur« (südlich der Enns) auf die neuhochdeutsche Diphthongierung,Footnote 89 zum anderen die Beeinflussung durch das sozial ›Höhere‹: Das Neue werde durch die »gesellschaftliche Oberschicht« geprägt und dann von den unteren Schichten adaptiert und nachgeahmt.

Aus Sicht einer völkisch-nationalen Literaturwissenschaft sind diese Thesen provokativ. Naumann betont deshalb mehrfach, es gehe ihm nicht um »Entnationalisierung«, vielmehr bilde das »Nationale« den zentralen »Rückhalt«.Footnote 90 Dennoch postuliert er vehement und unzweideutig, dass ›fremde‹ Einflüsse die Ausformung einer Hochkultur auslösen.Footnote 91 Diejenigen, die »in einer Überspannung des nationalen Prinzips Renaissance und Humanismus […] für das Verhängnis der deutschen Kultur« ansehen,Footnote 92 würden das ebenso verkennen wie die, die das Autochthone verherrlichen: »Es ist eine romantische Illusion zu glauben, unsere Sprache sei in früheren Epochen vollkommener gewesen als heute.«Footnote 93 Der Gegensatz wird bei Naumann vielmehr zwischen »gebildet« und »ungebildet« bzw. primitiv/barbarisch und kultiviert angesetzt.Footnote 94 Die ›niederen‹ Schichten würden die »Zersprengung« der Form mitauslösen, der »Aufstieg der Handwerker« sei für den Niedergang der spätmittelalterlichen Literatur mitverantwortlich,Footnote 95 wohingegen die Literatur des Hochmittelalters (Hartmann, Gottfried, Walther und Wolfram) den um 1100 noch herrschenden »Antagonismus zwischen Welt und Gott, Leib und Seele zu einem Ausgleich« gebracht habe – dem idealen »christliche[n] Ritter« sei jede »Maßlosigkeit« fremd, er verkörpere einen »europäisch-aristokratischen Geist«.Footnote 96

Die Darstellung der mittelalterlichen Kultur verschmilzt bei Naumann immer wieder mit einer Gegenwartsdiagnose, zum Beispiel, wenn er die spätmittelalterliche Welt plastisch beschreibt: »Volksbildung unter dem Kennwort Meistersingerschulen, Vordringen der primitiven assoziationsmäßigen Dichtungsarten, das Fastnachtsspiel vielleicht alsbald von einer Verbreitung wie heute das Kino, Judenverfolgungen, die die Entfernung von der religiösen und nationalen Weltherzigkeit des Rittertums besonders dokumentieren, Geißlerumzüge, Erwachen des Wandertriebs, eine maßlose Tanzwut, Grippeepidemien, kommunistische Bestrebungen, Aberglauben in neuer Blüte […]«.Footnote 97 Kino, Grippeepidemie, Kommunismus – die Gegenwartsbezüge sind unübersehbar. Der Aufsatz endet mit einer hellsichtigen Zeitdiagnose: Man befinde sich an einem neuerlichen »Wendepunkt« von der »Formkultur der gebildeten Oberschicht« zur »Wiederherstellung einer primitiven Gemeinschaft«. Der »Historiker«, wissend, dass nach der »Zerstörung alter Normen« dank der »Rezeption eines fremden Gutes« eine »neue Kultursprache« kommen werde, könne das »mit humanistischer Kühle« beobachten, er werde das »Schicksal nicht herbeiführen helfen und die Verantwortung denen überlassen, die sie tragen zu können glauben.«Footnote 98

In diesem Kontext ist der Formbegriff anders als bei Müller ein idealer und polarer. Er steht für ein Ideal, das nur mithilfe seines Gegensatzes, »Auflösung« oder »Zersetzung« der »Formkultur«, verstanden werden kann. Dieses Ideal ist bei Naumann ein (bildungs‑)aristokratisches, also ein sozial-ethisches, kein ästhetisches.Footnote 99 Der Begriff wird dementsprechend auch nicht wie bei Strich oder Müller bzw. in der formanalytischen Geistesgeschichte auf formale oder stilistische Merkmale literarischer Texte bezogen. Vielmehr bleibt der Begriff der Form sprach- und literaturanalytisch blass, so heißt es zum Beispiel: »[D]ie Vollkommenheit einer Sprache kann sich nur danach bestimmen, ob […] sie den Anforderungen der jeweiligen Kultur genügt oder nicht.«Footnote 100

Wie Naumann bezieht auch Wolfgang Stammler in seinem Beitrag »Ideenwandel in Sprache und Literatur des deutschen Mittelalters«, seiner Greifswalder Antrittsvorlesung, die Sprachgeschichte in die geistesgeschichtliche Untersuchung ein. Allerdings wendet er sich entschieden dagegen, das Mittelalter als Einheit zu fassen. Verallgemeinerungen wie der »gotische Mensch« oder der »mittelalterliche Mensch« blieben »taube Hülsen« und würden das »echte Wesen« eher verdecken.Footnote 101 Der Blick müsse kleinere Zeiträume erfassen: hier die Zeit ab dem 13. Jahrhundert, für die Stammler in Anlehnung an Max DvořákFootnote 102 von gegensätzlichen Tendenzen bzw. einem »Dualismus« ausgeht: einerseits die Tendenz zu Apriorismus, Abstraktion, Typisierung und Stilisierung, mit dem Namen von Augustinus verknüpft, andererseits, auf Aristoteles bezogen, ein Interesse an der Empirie, der Wirklichkeit, der Natur und dem Individuellen.

Stammler zeigt allerdings nicht diese beiden gegensätzlichen Tendenzen im einzelnen Werk auf. Er konzentriert sich auf das erwachende Interesse für die Wirklichkeit und entwirft dabei ein ganz anderes Bild des Spätmittelalters als etwa Hans Naumann: keines des Verfalls, sondern eines der Veränderung. Nicht Handwerker, sondern Adlige hätten einen Großteil der späthöfischen Literatur verfasst; das Rittertum wirke weiterhin als literarisches Vorbild; die aufkommende Prosaliteratur mit ihrem »Drang zur Konkretion« und »Anschauung« sei ein »Widerspiel gegen Abstraktion und Vergeistigung«; die vordergründig »unorganischen« Dichtungen seien nicht mit unangemessenen ästhetischen Kriterien zu verurteilen, sondern als »Kinder einer Übergangszeit« zu verstehen.Footnote 103 Ist die Aufwertung der spätmittelalterlichen Prosa bei Autoren wie Richard BenzFootnote 104 völkisch-national ausgerichtet, geht es Stammler um den historisch-ästhetischen Eigenwert der Texte, der durch die Orientierung an älteren ästhetischen Idealen nicht erfasst werde: »Aber es ist eine schwere Ungerechtigkeit, wenn man immer nur vom Standpunkt eines Heinrich von Morungen oder Hartmann von Aue aus die neu aufkeimenden literarischen Bestrebungen anschaut […].«Footnote 105

Stammlers Beitrag arbeitet sich so an dem für die Geistesgeschichte exemplarischen Problem ab, wie literaturgeschichtlichen Diskontinuitäten und Transformationen innerhalb einer Epoche Rechnung getragen werden kann, ohne dass man zu den – auch bei Naumann beobachteten – zyklischen Mustern von Blüte und Verfall Zuflucht nähme.Footnote 106 Sein Ansatz ist, von gegenläufigen, sich allenfalls in bestimmten Teilbereichen verstärkenden Tendenzen auszugehen und zum Beispiel auch semantische Verschiebungen als Indizien des Wandels zu lesen. Allerdings leidet die Umsetzung des Programms daran, dass allzu kursorische Belege angeführt, die zentralen Analysekategorien ›Wirklichkeit‹, ›Empirie‹ oder ›Dualismus‹ nicht historisiert werden und am Ende alles nahezu teleologisch auf ein neu erwachendes Interesse an der Wirklichkeit zuläuft.

Die Abhandlung des ebenfalls noch jungen Hennig Brinkmann (* 1901), 1923 in Bonn mit einer Arbeit zur lateinischen Liebesdichtung promoviert, beginnt wie schon der Beitrag Hans Naumanns mit einem Verweis auf Spenglers Der Untergang des Abendlands. Kritischer als Naumann liest Brinkmann dessen Erfolg als Beleg für eine »Zeitströmung«, die sich nach einem »Gesamtbild« sehnt, das die »zünftige Wissenschaft« ihr vorenthält.Footnote 107 Sein eigener Beitrag versucht ein solches Gesamtbild aus der ›zünftigen Wissenschaft‹ heraus zu entwickeln. Der Vielfalt des Gleichzeitigen ist dabei aber Rechnung zu tragen: Zu »einer Zeit [können] mehrere geistige Richtungen nebeneinander bestehen«. Ebenso müsse man mit dem »Fortleben älterer […] Mächte rechnen.«Footnote 108 An Spengler kritisiert Brinkmann den Primat der Kultur bzw. der »pflanzenhaft« wachsenden »Kulturorganismen«. Diese machten den Menschen zum Produkt der Kultur statt die Kultur als »Produkt der Menschen« zu verstehen. Die Dependenz wird deshalb umgekehrt und auf die Unterscheidung von Kulturwissenschaft und Geistesgeschichte bezogen: Die Kulturwissenschaft erforsche die »objektiven Formen« bzw. die »individuelle Formensprache« von Kunst und Literatur,Footnote 109 die Geistesgeschichte sei die »Wissenschaft vom Subjektiven (vom Menschen)«. Die Kulturwissenschaft eines Wölfflin oder Walzel könne zwar verschiedene Stile oder Typen unterscheiden, es brauche aber die Geistesgeschichte, um die »Aufeinanderfolge« und den »Wandel« dieser Formen zu erklären.Footnote 110

Das ist gegen eine formanalytische Geistesgeschichte gerichtet und fällt teilweise hinter Einsichten Diltheys oder Simmels, im Aufsatz zitiert, zurück. Doch steht Brinkmann damit nicht allein. Er tut das, was Stammler und Rothacker als Trend der Zeit beschreiben.Footnote 111 Er unterscheidet zwei »Menschentypen«, die sich ab 1000 voneinander lösen und im 11. und 12. Jahrhundert miteinander »ringen« würden:Footnote 112 hier ein »asketischer Idealist«, der Tradition und dem »Religiöse[n]« verpflichtet,Footnote 113 dort die »Diesseitsnatur«, die sich aus der »transzendenten Bezogenheit« und den Bindungen der Tradition löst, Genuss kultiviert und Individualisierungen erprobt.Footnote 114 Diese Vorstellung, auf ein »Gesamtbild« zielend, das das Nebeneinander divergierender Zeugnisse nicht negiert, hat ähnliche Züge wie bei Stammler und lehnt sich wieder an Dvořák an. Sie setzt aber die gegenläufigen Typen in ein etwas anderes Verhältnis. Gewann bei Stammler der eine Typus im Verlauf der Geschichte (und der Darstellung) immer mehr die Überhand, entwirft Brinkmann einen mythischen Kampfverlauf, an dessen Ende der »Diesseitstypus« nur ›besiegt‹ werden kann, indem der Immanenz eine »bedingte Anerkennung« zugestanden wird.Footnote 115 Die Elemente des Diesseitigen würden in die religiösen Bauwerke (Kathedralen) oder Gedankengebäude (z. B. des Thomas von Aquin) integriert. Das ermögliche »die Weltherrschaft der Kirche«, in die nun aber »Elemente aufgenommen« seien, »die ihr gefährlich« werden können.Footnote 116

Diese Dialektik ist zwar methodisch avancierter als die wenig reflektierte Teleologie Stammlers. Sie folgt aber einem mythischen Narrativ und, nun anhand der lateinischen Literatur des 11./12. Jahrhunderts, einem ähnlichen Muster: Individualisierung, Loslösung von transzendenten Vorgaben, Steigerung der »Erlebnisnähe«. Zwar betont Brinkmann, der Begriff der Renaissance werde allzu häufig verwendet.Footnote 117 Doch ist nicht zu übersehen: Auch er selbst überträgt Renaissancemomente auf die mittelalterliche Literatur – allerdings vor dem konkreteren Hintergrund einer differenzierten Beschreibung lateinischer Antikerezeption.Footnote 118

Eben das von Brinkmann fokussierte »Ringen zwischen Immanenz und Transzendenz«Footnote 119 ist für Günther Müller das scheinbar »nicht mehr begründungsbedürftige« Forschungsdogma, das er einer »historischen Klärung« unterziehen will.Footnote 120 Seine Abhandlung zum »Gradualismus«, die das DVjs-Schwerpunktheft einleitet, ist wohl unabhängig von den anderen beiden Programmbeiträgen entstanden, auch wenn er vor der Drucklegung von diesen Kenntnis erhielt.Footnote 121 Sie richtet sich allgemein gegen die Annahme eines strikten mittelalterlichen »Dualismus« von Immanenz und Transzendenz und liest sich zugleich als prägnanter Gegenentwurf zum geistesgeschichtlichen Vorgehen von Brinkmann und Stammler.Footnote 122

Am Anfang steht die Beobachtung, »Dualismus«, obschon fruchtbar als Beschreibungskategorie, werde als Begriff »des neuzeitlichen Denkens […] der mittelalterlichen Geisteshaltung nicht gerecht«. Diese kenne nicht zwei »entgegengesetzte, aber einander ebenbürtige Prinzipien«, sondern einen »aufzuhebende[n] Gegensatz«.Footnote 123 Das Weltliche oder Immanente ist im mittelalterlichen Weltbild als falsches oder minderes Ziel zu erkennen. Alles, selbst das Übel, ist auf Gott hin geordnet. Aber es gibt verschiedene Stufen (gradus) des Seins (Thomas von Aquin), die weiter oder näher von Gott entfernt sind.Footnote 124 Diese Stufenordnung erkläre, weshalb Walthers Leich neben Walthers Lindenlied möglich sei, Hartmanns Iwein neben dem Gregorius, die Schneekind-Sequenz neben Notkers Sequenzen.Footnote 125 Eine Vorstellung mit, wie sich am Ende der Abhandlung erweist, konfessioneller Schlagseite: Der zum Katholizismus konvertierte Müller wirft Luther und der Reformation vor, eine »flächige Welthaltung« durchgesetzt zu haben, welche die »vorher klerikalisierte Welt säkularisiert[]«.Footnote 126

Ungeachtet dieses Schlussakzents reagiert Müller wie Stammler und Brinkmann auf die Frage, wie das Nebeneinander von Divergentem geistesgeschichtlich zu fassen ist. Er betont, die »ganze Buntheit« sei für »das geschichtliche Erkennen von größter Wichtigkeit«.Footnote 127 Doch wie lässt sie sich zur Geltung bringen, wenn zugleich die »geistige Haltung« einer Zeit herausgearbeitet werden soll? Das thomistische Stufenmodell bietet eine Lösung. Es dient dazu, das Konzept der Epoche zu modellieren: Das Mittelalter selbst sei als eine »geistige[] Form« im »aristotelisch-thomistischen Sinn« zu begreifen.Footnote 128 »Form« stehe nämlich nicht für eine »unterschieds- und werdelose Eintönigkeit«, sie werde beispielsweise auch für die Unterscheidung des Menschen vom Tier oder Engel benutzt, und sie sei zentral, wenn es darum ginge, eine Potenzialität zu erkennen. Dieses Modell soll dem »Wahn, dass die Geistesgeschichte ein sprunghafter Wechsel in sich fertiger abgeschlossener Ideen« ist,Footnote 129 entgegenwirken.

V.

Die im ersten Mittelalterheft der DVjs von 1924 versammelten Wissenschaftler, eine Generation jünger als Unger, Strich, Cysarz oder Gundolf, eint die Suche nach einem Gesamtbild, der Mut zur Synthese und die Reflexion wissenschaftlicher Methodik. Sie arbeiten an einem ähnlichen Problem: Wie lässt sich über die historische Beobachtung von Pluralem, Diskontinuierlichem, Divergentem, Singulärem hinauskommen? Auf welcher Ebene kann man Verbindendes ansetzen? Ist es möglich, eine »geistige Haltung« oder »Weltanschauung« u n d deren Veränderung im Verlauf der Zeit herauszuarbeiten? Die Antworten setzen nicht darauf, e i n e n Geist auszumachen, sondern verschiedene geistige Tendenzen erst zu relationieren und dann zu synthetisieren. Dabei verfährt der eine, Stammler, tendenziell teleologisch, der andere, Brinkmann, dialektisch, der dritte, Müller, gradualistisch und der vierte, nimmt man Naumanns Beitrag von 1923 dazu, integrationistisch. Alle vier Modelle sind unverkennbar gegenwartsinduziert. Im Sinne einer pluralistisch gewordenen Geisteswissenschaft: »[W]ährend man bis vor anderthalb Jahrzehnten dazu neigte, Objektivität und Voraussetzungslosigkeit einander gleichzusetzen, ist es für die gegenwärtige Lage bezeichnend, dass man Objektivität für möglich hält und zugleich alle Geisteswissenschaft als ›voraussetzungsvoll‹ sieht.«Footnote 130 Und im Sinne bestimmter Weltanschauungen: Wo Müller aus einer katholischen und Naumann aus einer aristokratischen Perspektive argumentiert, sind Stammler und Brinkmann einer positiv konnotierten Säkularisierung verpflichtet. Das verhindert nicht, dass wissenschaftlich valide Ergebnisse entstehen, zeigt aber die immanente Spannungshaftigkeit des geistesgeschichtlichen Vorgehens.

Die Aufsätze haben experimentelle Züge. Sie suchen die Zuspitzung, begeben sich in die Vogelperspektive, erproben große Thesen. Sie provozieren Widerspruch – dem die DVjs selbst ein Forum bietet. Schon erwähnt wurde der kritische Beitrag von Georg Baesecke, der vierte des Mittelalterheftes, »Zur Periodisierung der deutschen Literatur«.Footnote 131 Baesecke, der rückblickend die DVjs als »Zitadelle der Feinde« bezeichnen wird,Footnote 132 bezieht sich zunächst kritisch auf Arthur Hübschers Abhandlung zum Barock als Lebensgefühl.Footnote 133 Er stellt fest, für das Gebiet der altdeutschen Literatur fehle eine »Zusammenschau«, wie sie Gundolf, Cysarz und Strich für andere Epochen bieten (»Was könnte damit für die Einheitlichkeit der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte zurückgewonnen werden«).Footnote 134 Er ignoriert damit die drei Abhandlungen im selben Heft, die genau das versuchen. Darüber hinaus greift er Formulierungen Stammlers auf und macht sie lächerlich. Stammler schrieb, ebenfalls nicht ohne Polemik: »Der ist kein Botaniker, der beim Herbarium stehen bleibt, und der ist kein Philologe, der über Laut und die Silbe nicht hinauskommt. Auch hier gilt es, von der Geistesgeschichte her die bisher in der Hauptsache sammelnde und registrierende Grammatikverfertigung zu ergänzen und zu überhöhen.«Footnote 135 Bei Baesecke heißt es: »Ich kann mir gut vorstellen, welche Schwierigkeiten es hat, wenn man nicht von der Philologie ausgegangen ist, dort das Gebirge philologischer Vorarbeiten zu überhöhen.«Footnote 136 Er schließt mit der eindringlichen Warnung vor einer »Spekulation« ohne »Quellenforschung« und beschwört die »Gefahr schneller Verflachung« und Trivialisierung herauf.Footnote 137

Ebenfalls kritisch reagiert Otto Behaghel auf Stammlers Beitrag. Auf sechs Seiten greift er polemisch und beckmesserisch einzelne Belege heraus und stellt ihre zeitliche Zuordnung oder historische Relevanz in Frage. Im Ganzen gilt ihm der Versuch, »eine Beziehung zwischen Ideenwandel und Sprachwandel herzustellen«, als »restlos zusammengebrochen«.Footnote 138 Stammler hält dem in einer kurzen Erwiderung souverän entgegen, sein Beitrag sei deutlich als ein »erster, tastender und vorfühlender Versuch« markiert. Seine Prämisse sei es, nicht schon aus frühen Einzelbelegen weitreichende Schlüsse zu ziehen, könne »doch für eine geistesgeschichtliche Betrachtung erst d i e Zeit maßgebend sein, in der die sprachlichen Veränderungserscheinungen in solcher Fülle sich zeigen, daß eine bestimmte geistige Wandlung dahinterstehen muß«. Diese Art der Betrachtung verknüpft er mit der gegenwärtigen Wissenschaftssituation: »Wir stehen eben auch vor einem ›Ideenwandel‹ in der wissenschaftlichen Auffassung der Gegenwart; er hängt eng zusammen mit der erkenntnistheoretischen Frage nach Wesen und Sinn von Wissenschaft überhaupt, also mit der Weltanschauung eines jeden.«Footnote 139

Wie sehr es hier in der Tat um Weltanschauungsfragen ging, zeigt ein weiterer Beitrag von Hennig Brinkmann zum Minnesang. Er macht sich Müllers Gradualismusmodell zu eigen und verknüpft es mit Dvořáks These vom »Nebeneinander einer idealistischen und naturalistischen Strömung innerhalb der Gotik«.Footnote 140 Das gibt ein Raster, um die einzelnen Dichter des Minnesangs, mit dem Kürnberger angefangen, in kurzen Auftritten Revue passieren zu lassen. Sie werden charakterisiert in Hinsicht auf einerseits ihren Minnebegriff, andererseits ihr Verhältnis zu Gott. Minnesang erscheint wieder als Erlebnislyrik, als Ausdruck innerer Haltungen – von Einsichten in seine Alterität und seine spezifischen Formdimensionen ist nichts mehr zu spüren. Eine plakativ vereinfachte Sozialgeschichte, dergemäß »das friedliche, ständisch geordnete Leben in der Stadt viele günstigere Voraussetzungen bot zur Anpassung an die kirchlichen Forderungen als das fehdeerfüllte, aristokratisch abgeschlossene Dasein auf der Ritterburg«,Footnote 141 dient letztlich zur Bestätigung der von der Kunstgeschichte gemachten Beobachtungen.

VI.

Nimmt man das Experimentelle und ›Vorfühlende‹ der Beiträge der frühen 1920er Jahre ernst, bietet es sich an, einen Blick auf jene umfangreicheren Arbeiten zu werfen, die seit 1925 in der DVjs-Buchreihe erscheinen und teilweise das im Kleineren Vorbereitete entfalten. Manche gehen zwar eher andere Wege: Brinkmanns Entstehungsgeschichte des Minnesangs (1926, Bd. 8) verfährt im Wesentlichen motiv- und einflussgeschichtlich. Sie ist innovativ im Bereich der »Fächerverbindung und Grenzüberschreitung«,Footnote 142 hier vor allem in der Konsequenz, mit der der Minnesang von den mittellateinischen Traditionen hergeleitet wird; die geistesgeschichtliche Dimension betrifft allenfalls den Geist der dichterischen Persönlichkeit: »Abweichung und Annäherung hängt von der Geistesart des Dichters ab, die wir als entscheidende Triebkraft der Minnesanggeschichte erkennen.«Footnote 143 Andere Werke sind hingegen durchaus signifikant für die Durchführung geistesgeschichtlicher Untersuchungen. Drei der ausgehenden 1920er Jahre seien herausgegriffen: Hans Naumann und Günther Müller, Höfische Kultur (1929, Bd. 17); Walther Rehm, Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik (1928, Bd. 14); und Rudolf Stadelmann, Vom Geist des ausgehenden Mittelalters (1929, Bd. 15).

Naumann und Müller wählen in ihrem Buch, erschienen im gleichen Jahr, in dem die geistesgeschichtliche Betrachtung mittelalterlicher Literatur auf der Ebene der Schuleinführungen angekommen ist,Footnote 144 eine Doppelperspektive auf den Gegenstand: Der eine schreibt über »Ritterliche Standeskultur um 1200« (1–77), der andere über »Höfische Kultur der Barockzeit« (79–154). Formal und stilistisch könnten die beiden fast gleich langen Teile, beide durch Vorträge im Davoser Hochschulkurs vom März 1928 vorbereitet, kaum unterschiedlicher sein: ohne Anmerkungen und fast ohne Forschungsbezüge der eine, mit zahlreichen Belegen und Anmerkungen versehen der andere; essayistisch, schwungvoll, mit keiner Scheu vor Generalisierungen der mediävistische, der sich auf einen etablierten Forschungsdiskurs stützen kann, skrupulöser, kleinteiliger, umständlicher der frühneuzeitliche, der stärker Neuland beschreiten muss. Thematisch und methodisch aber sind die Teile aufeinander bezogen: jeweils fünf Kapitel; dem »Tugendsystem« entspricht das »Auswahlsystem«, Aspekten wie Liebe, Form und Gott die »Leitideen« Gott, Tugend, Eros und Zeit. Müller rekurriert in seinem Teil immer wieder auf denjenigen Naumanns. Verbindend wirkt der Ansatz, Literatur auf die in ihr enthaltenen Ideen zu befragen und in philosophischen oder theologischen, historischen oder politischen Zusammenhängen zu verorten.

Daran zeigen sich dann allerdings auch gleich die Differenzen. Naumann geht von dem von Gustav Ehrismann herauspräparierten sog. ritterlichen Tugendsystem aus, das er in der antiken Ethik verwurzelt sieht. Die höfische Kultur um 1200 sei insgesamt eine Sonderkultur, geprägt einerseits durch eine Verschmelzung antiker, germanischer und christlicher Elemente,Footnote 145 andererseits durch die Eigentümlichkeiten, mit denen Liebe, Form und Gott konturiert werden. Die Liebe mit ihren Aspekten und Nuancen – Naumann skizziert sie anschaulich aus den Texten der Zeit um 1200. Die Bedeutung der Form – damit setzt er einen spezifischen Akzent, der nicht zuletzt auf die in der DVjs erschienenen Studien rekurriert: Er betont die universale Bedeutung der Form und der Erfüllung der Form – für die Texte wie die (in ihnen entworfenen) Lebensgestaltungen – und zugleich das charakteristische »Verwachsensein von Form und Inhalt«, das »einem Zustand fast magischen Denkens« entspräche.Footnote 146

Doch geht es nicht um eine ahistorische Kulturtypologie. Der lange fünfte und letzte Abschnitt sortiert unter der Überschrift »Der Aufstieg im staufischen Raum« die Literatur des 12. Jahrhunderts nach ihrer Zuordenbarkeit zur welfischen oder staufischen Herrscherdynastie, von denen die eine als vorläufig und unvollkommen, dabei durchaus in ihrer Rauheit reizvoll gilt: die welfische Dichtung – »nationaler, stilistisch germanischer, […] ihr Tenor seltsam unmodern«;Footnote 147 »schön, offenbar bewußt archaisch, daher vielleicht volkstümlicher und nationaler als die staufische; abenteuerlich, bunt, aber nicht sehr reich, fromm, heroisch, vornehm und ungemein politisch in der Haltung, wie man das von einer Partei verstehen kann, die sich in Notwehr befindet und der deshalb auch die Kunst kein Luxus und Selbstzweck, sondern eine Waffe ist.«Footnote 148 Die Literatur- und Geistesgeschichte der höfischen Kultur erhält hier einen zugleich soziologischen, politischen und gegenwärtigen ZugFootnote 149 – eine Perspektive, die in dieser Zeit an Bedeutung gewinnt, denkt man etwa an die Soziologie der Renaissance von Alfred von Martin.Footnote 150

Günther Müllers Ausgangspunkt ist ein anderer. Er bestimmt von Opitz her die Idee des Tragischen und hebt die Bedeutung der Rhetorik sowie die enge Verbindung des Höfischen und des Ästhetischen heraus. Das Höfische leitet er nicht einfach von den absolutistischen Höfen, allen voran Versailles, ab, sondern aus der Kombination einer schon frühneuzeitlich begegnenden humanistisch-rhetorischen Idee mit einer bestimmten fürstlichen oder staatlichen Handlungssphäre: »Aus der abendländischen Renaissance hat sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts ein Geschehen geformt, über dem als einer der Leitsterne die Idee des Höfischen steht, in dem das geistige Leben nach Sehweise und Wirklichkeitsauswahl einen höfischen Brennpunkt hat.«Footnote 151 – »Die ganze, vielfältig bedingte Größe und Härte dieser Idee kommt in der wirklichkeitsgebenden Bedeutung des absoluten Gebietens zu Dienst und Gehorsam zum Vorschein.«Footnote 152 Historisch zentral ist für Müller die Kategorie der Repräsentation als Grundcharakter des Höfischen, methodisch die Vorstellung, das Höfische sei nicht einfach eine gegebene und ein ganzes Zeitalter aufschließende Größe, sondern ein »Aspekt«, den auszuwählen die spezifische Beobachtungsperspektive des literaturwissenschaftlichen Geistesgeschichtlers kennzeichnet.Footnote 153 Ein Aspekt, der nicht nur historisch Züge eines Zeitalters rekonstruieren hilft, sondern auch systematisch auf Kategorien führt, die über das einzelne Zeitalter hinausweisen – etwa die Unterscheidung in Gebrauchsliteratur, Repräsentationsliteratur und Expressionsliteratur.Footnote 154

Damit deutet sich ein eigentümliches Verhältnis zwischen den beiden Teilen des Buches an. Obschon Müller auf Naumanns Idee des abgesunkenen Kulturguts rekurriert, die Formdimension anklingen lässt, das Politische hervorhebt, den in der älteren wie der neueren Zeit wichtigen Gedanken des Maßes einbringt – die Berührungen bleiben punktuell, werden nicht ausgeführt, stärkere Verknüpfungen zwischen den hochmittelalterlichen und den barocken Gegebenheiten nicht gesucht. Diese erscheinen als historisch weitgehend unverbundene Konstellationen. Das hat den Vorteil, die Suggestion zu vermeiden, man hätte es mit Wandlungen ein und desselben ›Geistes‹ zu tun. Gleichzeitig ist es den Lesenden überlassen, herauszufinden, auf welcher Ebene Verbindungen herzustellen wären. Gewiss nicht einfach auf derjenigen der Einflüsse und auch nicht auf der der Stile, der Gattungen oder der Institutionen, ja nicht einmal der Typen. Wenn »typische Zeiterscheinungen […] nicht Typen im eigentlichen Sinne« sein sollen, sondern nur »Bezeichnendes von dem Kraftgefüge ihrer Zeit« verkörpern,Footnote 155 wie sind sie dann, so man sie nicht zum Beispiel formanalytisch präzisiert, zu bestimmen?

Ein anderes Modell, nicht auf die Gegenüberstellung zweier Konstellationen, sondern auf die Entwicklung in der ›longue durée‹, nicht auf eine kulturelle, sondern auf eine mentale Dimension zielend, präsentiert der junge Walther Rehm (* 1901) in seinem Buch über den Todesgedanken in der deutschen Dichtung. Rehm hatte 1923 in München bei Hans Heinrich Borcherdt über das literarische Renaissancebild des 18. und 19. Jahrhunderts promoviert, betrachtete selbst aber den Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin als seinen ›spiritus rector‹.Footnote 156 Dem Buch von 1929 vorangegangen war zwei Jahre zuvor ein Artikel in der DVjs über das Verhältnis von Petrarca und Johannes von Saaz (Tepl). Rehm bezieht sich dabei zwar auf Konrad Burdach, will aber keine direkte Verbindung zwischen italienischem und böhmischem Frühhumanismus herstellen.Footnote 157 Eben in der möglicherweise »zufälligen Gleichheit« erkennt er »ein Anzeichen der neuen Gesamtbewegung, […] Stimmung und Lebensauffassung«, die den Tod nicht mehr als Sold der Sünde (Paulus) betrachtet, sondern allein als »naturnotwendiges Ereignis, unabänderliche Naturgewalt, Naturordnung, nicht Strafordnung«.Footnote 158 Kenntnisreich und textsensibel stellt Rehm verschiedene Werke Petrarcas, besonders das dialogische Secretum, und den kleinen deutschen Prosadialog einander gegenüber.Footnote 159 Er betont die Gemeinsamkeiten: das Nachdenken über den Tod, das Ringen mit ihm, das sich nicht in christlichen Kategorien fassen lässt, die Bedeutung des Diesseits. Aber auch die Unterschiede, die er völkerpsychologisch und persönlichkeitsspezifisch fixiert: hier der Italiener, dort der Deutsche, hier das Laue, Gemäßigte, dort das Heftige, Aufbäumende, hier das Ethische, dort das Ästhetische – Petrarca »fehlt das Sieghafte und der gewaltige seelische Aufschwung des Deutschen; er kann diesen nicht haben, weil er die religiös-ethischen Ansprüche entbehrt, und er will ihn nicht haben, weil er die plastische Ruhe der Seele erstrebt«.Footnote 160 Letztlich: der eine Vorläufer der Renaissance, der andere der Reformation; der eine wirkungsreich, der andere ein Einsamer, der erst in Luther, Lessing oder Schiller ein Pendant findet.

Textbeobachtungen sind so – auf der Linie Wilhelm Diltheys – mit psychohistorischen Überlegungen und der Orientierung an kulturell-literarischen Höhenkämmen verbunden. Auch im Buch von 1928, einer Münchener Habilitationsschrift, ist Dilthey der meistzitierte moderne Referenzautor. Von ihm wird nicht nur die zentrale Bedeutung des Todesverständnisses für das Lebensverständnis, sondern auch die Auffassung von Dichtung als Lebensdeutung aufgegriffen. Die Studie, die das im Aufsatz Angedachte über ein Jahrtausend hinweg von der altgermanischen Zeit bis zur Romantik weiterführt, verspricht damit, nicht einfach ein Motiv der Literatur zu verfolgen. Sie will die wechselnden Konfigurationen zweier anthropologischer Grundtypen, unterschieden nach dem Vorrang des Lebens- bzw. des Todesgefühls, herausstellen. Und sie will im Verschiedenen das Gemeinsame, im Einzelnen das Allgemeine finden: die »Problemeinheit«, die »Gesamtheit«,Footnote 161 die sich dann im historischen Wandel verschieden manifestiert. Dieser Wandel wird strukturiert durch eine Einteilung gemäß traditionellen Epochenbegriffen: altgermanische Zeit, christliche Grundlagen, Hochmittelalter, Spätmittelalter, 16. Jahrhundert, Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm und Drang, Klassik, Romantik. Dazwischen eigentümlich herausstechend ein Kapitel, 20 Seiten, auf ein Werk bezogen, den erwähnten Ackermann des Johannes von Tepl, der, so Rehm, als einziger Text der gesamten deutschen Dichtung »dem Problem des Todes sich völlig widmet« und damit zugleich geistesgeschichtlich »an der Schwelle zweier Zeiten steht«.Footnote 162

Das kennzeichnet das Problem, dass die Literatur einerseits als Hauptquelle geistesgeschichtlicher Entwicklungen dienen soll, andererseits, verglichen etwa mit der Bildkunst, keine ästhetisch besonders aufregenden Beispiele zu bieten hat. Dementsprechend schwankend sind die Einschätzungen: Mal kommt es »auf die großen und ausdrucksvollen Persönlichkeiten an, […] nicht auf die Nachtreter«,Footnote 163 mal gilt, dass »im Durchschnitt das Wesentliche und Bezeichnende« läge.Footnote 164 Das Material, das im Ganzen ausgebreitet wird, ist enorm und vielfältig, auch weniger Bekanntes kommt vor, die Beschreibung beeindruckt durch die Sicherheit der Einordnung und des Urteils. Zwar führt das Raster der literaturgeschichtlichen Epochen zu einer gewissen Erwartbarkeit der Ergebnisse: Überwindung des Todes, südlich der Alpen durch den Gedanken des (Nach‑)Ruhms, nördlich durch neue Innerlichkeit und Religiosität, im 16. Jahrhundert; Verknüpfung mit mystischen, rauschhaften Zügen im Barock; Säkularisierung der Todeserwägung und Todesüberwindung in der Aufklärung; Zurücknahme des Todes im Sinne der Lebens- und Diesseitsgestaltung in der Klassik; Rückkehr zu älteren Vorstellungen in der Romantik, nun aber im Rahmen eines neuen Denkens des Unendlichen und Absoluten (das längste Kapitel des Buches). Doch eine Teleologie verbindet sich mit dieser Abfolge nicht. Rehm favorisiert das Modell der Schwingung: Schwingungen zwischen den erwähnten Polen des Lebens- und des Todesgefühls, die das Pendel mal nach der einen, mal nach der anderen Seite ausschlagen, aber auch erkennen lassen, dass es keine einfache Wiederkehr gibt und dass die Geschwindigkeiten des Wandels nicht gleich bleiben; zur Gegenwart hin scheinen die »Schwingungen immer schneller aufeinanderzufolgen, als ob die Menschen schnell-lebiger geworden seien«.Footnote 165

Das ist Geistesgeschichte in dem Sinne, dass sowohl Einzeltextinterpretationen, mit Ausnahme des Ackermann, unterlassen werden als auch sozial-, institutionen- und zeitgeschichtliche Kontexte weitgehend aus dem Blick bleiben, stattdessen allgemeine anthropologische und psychologische Annahmen dominieren.Footnote 166 Doch wird eine gewisse Schematik des Gesamtaufbaus durch den Reichtum an Stimmen und Details aufgewogen. »In diesem Sinn ist hier der Psychologismus von Dilthey und Wölfflin her überschritten nicht durch Über-, sondern durch Unterbietung. Da der Gedanke, das ›Problem‹, nur durch streng belegte Fakten ausgedrückt und im Fortgang von Faktum zu Faktum als Netz von Beziehungen und Variationen belegt wird, bleibt er immer kurz vor der Abstraktion, psychologisch oder logisch, stehen, bleibt im Stoff lebendig, indem er den Stoff belebt.«Footnote 167

Das dritte Beispiel aus der Buchreihe, ebenfalls das eines Jungen (* 1902), ebenfalls eine, nun geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift (Freiburg/Br.): Rudolf Stadelmanns Vom Geist des ausgehenden Mittelalters (1929). Das Buch berührt sich in manchem mit demjenigen Rehms: Es schließt an Dilthey an, neben dem hier Hegel eine wichtige Referenzgröße darstellt. Es konturiert, einleitend am Umgang mit dem Tod und dabei sogar am Ackermann, ein düsteres Spätmittelalter. Doch gibt es im Ganzen keinen thematischen Fokus. Es geht um die Zeitstimmung im allgemeineren Sinne, nämlich um den abendländischen Gedanken- und Gefühlshaushalt am Vorabend der großen Umbrüche des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Einleitung hat programmatischen Charakter. Sie begründet einerseits die Wahl des Ausschnitts: Die Zeit um 1500 wird unter Rückgriff auf Burckhardt, Meinecke und Cassirer als »entscheidende Grenze zwischen Mittelalter und Moderne« betrachtet;Footnote 168 gekennzeichnet durch Stichworte wie Verfall, Morschwerden, Alterung, Kraftlosigkeit, Pessimismus, Schwermut, aber auch Überspanntheit, Eifer, Sensationslust, Traumhaftigkeit und Wirklichkeitsfanatismus – das »unstete Flackern einer unsicher gewordenen Zeit […] und das halb wollüstige halb furchtsame Grauen des Wanderers, der bei einbrechender Dämmerung noch kein Quartier gefunden hat«.Footnote 169 Andererseits die Wahl der Perspektive: nicht eine, sondern mehrere Blickrichtungen, um so »gleichsam mit mehreren Teleskopen das Objekt einzuschließen«, es umkreisend einen »Totaleindruck« zu vermitteln, auch wenn dieser nicht gleichzeitig einen »Anblick des vollplastischen Körpers« bieten kann.Footnote 170

Bildkräftig und sprachmächtig entwirft Stadelmann an Zeugnissen von Kunst und Literatur die Tendenzen der Zeit im Sinne geistiger Stimmungen: die Atmosphäre dieses speziellen ›fin de siècle‹, sein Bewusstsein, seine Antriebe und Kräfteverhältnisse, seine epochale Signatur. Er agiert als »historische[r] Psychologe«, der versucht, einen Begriff zu haben »für einen seelischen Komplex von besonderer Struktur«,Footnote 171 genauer: mehrere Begriffe. Die »strukturpsychologischen Schlagworte[]« ›Skepsis‹, ›Resignation‹, ›Emanzipation‹ und ›Pessimismus‹ sind nicht dazu gedacht, »den Gesamtinhalt von Weltanschauungen oder theologischen Lehrmeinungen« zu bezeichnen. Sie sollen »nur die Richtung anzeigen, aus der die Bewegungen kommen, sie wollen weltanschauungstypisch die Triebkräfte kennzeichnen, die hinter gewissen bevorzugten religiös-philosophischen Denkweisen stehen«.Footnote 172

Das geschieht, anders als in Huizingas auf die burgundische und französische Hofkultur konzentriertem Buch Herbst des Mittelalters, 1924 zuerst auf Deutsch erschienen,Footnote 173 in einer pointierten Behandlung nordalpiner philosophischer und theologischer Autoren des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Neben dem zentralen Nicolaus Cusanus gehören dazu Wessel Gansfort, Agrippa von Nettesheim, Hans Denck und Sebastian Franck. Charakteristisch ist die Art und Weise, wie Stadelmann ihre Positionen im Sinne eines Geistesdramas konturiert. So heißt es von Johannes Wenck, dem Cusanuskritiker: »Der unerschütterte Theist sieht hier in das Innere der Tendenzen mit dem Scharfblick, wie ihn nur der Kampf auf Leben und Tod auch dem mittelmäßigen Kopf verleiht.«Footnote 174 Oder über Cusanus selbst und seine radikalen Ansätze: »Wie ein unterdrückter Angstschrei klingen diese Stellen, so wie wenn einer am Abgrund steht und sich kaum zu rühren wagt aus Furcht, ein Schwindel oder eine Tollheit könnte ihn in die Tiefe reißen.«Footnote 175 »Es ist, als hätte den Reiter in der einsamen Steppe das Gefühl seiner grenzenlosen Verlassenheit so jäh und furchtbar befallen, daß er auf schäumendem Pferd zurückjagt in die Dörfer und Städte der Menschen.«Footnote 176

Wessel Gansfort wird eine »Erschlaffung der theoretischen Impulse« zugeschrieben: »Mit dieser Gesinnung mußte man achselzuckend dem Zerfall des mittelalterlichen Weltbildes zusehen.«Footnote 177 Agrippa von Nettesheim erscheint als »irrlichternder Geist, wie er in Übergangszeiten aufzutreten pflegt, ein Nimmerrast und Parteiloser mitten zwischen Gruppen und Richtungen«.Footnote 178 Sebastian Franck als »geborener Subjektivist« und »leidenschaftliche[r] Paradoxist«, »in einen Gegensatz zu seiner Welt hineingetrieben« und schließlich »in einem einfarbigen mystischen Quietismus Ruhe« findend: »das typische frühe geistige Ende des Romantikers«. Alle zusammen seien »problematische Naturen. […] Ob sie sich mehr lächelnd zerreiben oder glühend verzehren, ob sie sich männlich zusammennehmen oder verächtlich glossierend beiseite stehen, sie tragen den Stempel eines verborgenen Leidens, als hätten sie die geheime Sehnsucht, daß sich eine kühle Hand auf ihre Stirne lege. Abzunehmen war ihnen nichts von ihrer Last. Sie sind die denkwürdigen Marksteine einer zu Ende gehenden Zeit.«Footnote 179 Keine Frage: Stadelmann überzeichnet, er vereinseitigt, er folgt einem apriorischen Verständnis der Epoche. Es gibt andere, vielleicht wirkungsreichere Autoren und andere Tendenzen in der gleichen Zeit, Stadelmann weiß darum und lässt sie gelegentlich anklingen, in den genaueren Fokus rücken sie nicht, die Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen werden nicht zum Thema. Doch ist es zweifelsohne die produktive Vereinseitigung, verbunden mit einer plastischen Darstellungsweise, welche die abstrakten Fragen, die mit den behandelten Autoren zusammenhängen, in faszinierender Beleuchtung erscheinen lässt.Footnote 180

Alle drei herausgegriffenen Bände der Buchreihe argumentieren mit weitgespannter Materialkenntnis, auf hohem Niveau und in starker Zuspitzung. Alle drei haben über Jahrzehnte, ja mehr als ein halbes Jahrhundert hin Resonanz gefunden.Footnote 181 Sie lassen Modelle erkennen, wie man historischen Wandel beschreiben kann: als Konstellation, in der ›longue durée‹, konzentriert auf eine Umbruchsphase. Sie zeigen aber auch die Probleme, die mit dem jeweiligen Vorgehen verbunden sind: ein Absehen von historischen und kontextuellen, medialen und materiellen Gegebenheiten, eine Zurechnung von Phänomenen zu präsupponierten Ausprägungen eines individuellen oder kollektiven ›Geistes‹, eine Vereinseitigung und Vereindeutigung bei der Bildung von Zusammenhängen. Schnell kann das faszinierend Zupackende zur großen Geste werden, die Individual- und Völkerpsychologisches, historische Person und literarische Tradition durcheinanderwirbelt. Man nehme den Schluss von Auerbachs berühmtem Aufsatz über Franz von Assisi: »Als ein unzerstörbares Erbe ist sein Persönlichstes der italienischen Nation erhalten geblieben: die heiße drastische Kraft seines Ausdrucks, die den Dingen gleichsam in den Leib dringt und sie von innen zu öffnen scheint, und die zarte und formvolle und nicht minder innerliche Eleganz seines Herzens, eben jene Eigenschaften, durch die sich die göttliche Komödie von dem deutschen Minnesang oder der provenzalischen Kunstdichtung unterscheidet.«Footnote 182 Entscheidende Fragen bleiben hier und anderswo offen: Wie ist die Relation von Literatur und Geschichte gedacht? Wie lassen sich kulturelle Phänomene verschiedener Zeiten vergleichen? Welche Momente werden aus welchen Diskursen heraus gesetzt? Wie verhalten sich Selbst- und Fremdbeschreibungen einer Epoche zueinander? Was ist das kollektive Bewusstsein (Geist, Stimmung, Atmosphäre), das als entscheidende hintergründige Triebkraft für Veränderungsprozesse angenommen wird?

VII.

Wenn der Eindruck nicht täuscht, findet die Experimentierlust, die in der DVjs und der Buchreihe in den 1920er Jahren zum Austrag kommt, in der Zeit ab 1930, bezogen auf das Mittelalter und die frühe Neuzeit, nur mehr bedingt Fortsetzung. Das mag teilweise mit individuellen Entwicklungen zu tun haben. Günther Müller verschob seinen Forschungsschwerpunkt von Mittelalter zum Barock und dann zur Goethezeit, ihn interessierte das Verhältnis des ›deutschen‹ Menschen zur Welt und zum Gesetz der FortunaFootnote 183 sowie dann die Möglichkeit einer morphologischen Literaturwissenschaft.Footnote 184 Hans Naumann widmete sich der Erforschung der höfischen Symbolik und Gebärdensprache und der altgermanischen Kultur.Footnote 185 Rudolf Stadelmann arbeitete verstärkt zur neueren Geschichte.Footnote 186

Teilweise spielte wohl die politische und ideologische Veränderung eine Rolle. Die meisten der genannten Autoren, Walther Rehm und Günther Müller ausgenommen, übernahmen Funktionen in der nationalsozialistischen Wissenschaftsorganisation; der ›Geist‹, wenn von ihm die Rede ist, hat nun verstärkt deutsche oder germanisch-deutsche Züge.Footnote 187 Zwar hielt sich die DVjs stärker als vergleichbare Organe mit zeitgeschichtlichen Ehrerbietungsbezeugungen zurück – sodass sie sogar von staatlicher Stelle gerügt wurde.Footnote 188 Rassebiologische Aspekte fanden kaum Resonanz. Zu einem Wiederabdruck von Hans Naumanns Rektoratsrede von 1934 kam es, nach Widerständen vor allem von Paul Kluckhohn, schlussendlich nicht.Footnote 189

Aber das ändert nichts daran, dass der Zeitgeist doch auch hier präsent war bzw. im Lauf der Jahre immer präsenter wurde. Man akzeptierte die Rede vom ›Völkischen‹Footnote 190 und ließ zu, dass als »Hauptaufgabe« der Forschung definiert wurde, »auch die höfische Epik nach ihren germanisch-deutschen Elementen abzutasten«.Footnote 191 Man druckte Beiträge, in denen Wolframs Parzival als Text erscheint, der »aus dem fremdländischen Geistesgut ein im tiefsten Wesen deutsches Werk schuf«,Footnote 192 oder verfolgt wird, wie »der Germane ganz aus eigenem eine Dichtung hervor[brachte], die ein Jahrtausend lang der Herrschaft des Gemeinmittelalterlichen, Weltliterarischen ein Bollwerk entgegensetzte«.Footnote 193 Man begrüßte die stammeskundliche Literaturgeschichte in der Nadlertradition, die nicht mehr Literaturgeschichte im eigentlichen Sinne sei, sondern eine ›neue‹ Wissenschaft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.Footnote 194 Und man gab der Volkskunde breiteren Raum.Footnote 195 Kluckhohn selbst bezog sich auf die ›deutsche Bewegung‹, in der er wesentliche Ideen des Dritten Reichs vorweggenommen sah.Footnote 196 Zugleich versuchte man auf diese Weise den aktuellen Nationalismus zu historisieren.Footnote 197

Daneben sind Eigendynamiken der wissenschafts- und methodengeschichtlichen Entwicklung zu bedenken. Einerseits bringt die Suche nach den die historischen Prozesse steuernden Triebkräften teilweise Dilettantismen hervor, die quer stehen zu den sich ausdifferenzierenden Fachmethodologien. Wenn der Psychologe Johannes von Allesch die geistesgeschichtliche Lage Tirols im 15. Jahrhundert charakterisiert, so tut er das, ohne Textverweise, Anmerkungen und Forschungsbezüge, in einer so allgemeinen Weise, dass selbst der Fokus auf Tirol, abgesehen davon, dass Nicolaus Cusanus hier wirkte, nur gelegentlich eine Rolle spielt.Footnote 198 Andererseits wird der geistesgeschichtliche Zugang unscharf. Der Germanist Paul Böckmann nimmt in seinem Hamburger Habilitationsvortrag unter die Aufgaben einer geisteswissenschaftlichen Literaturbetrachtung neben der »Erhellung des jeweiligen Daseinsverständnisses« auch das Ziel »einer geographisch-ethnographischen oder auch einer soziologischen Literaturgeschichtsschreibung« sowie das Augenmerk für Formensprache und Texterklärung auf.Footnote 199

Überdies wird der analytische Nutzen von Epochenbegriffen zunehmend kritisch reflektiert. Der Heidelberger Kunsthistoriker Carl Neumann hält die Ablösung des Mittelalters durch die Renaissance für eine Legende.Footnote 200 Der Erlanger Germanist Benno von Wiese legt dar, dass Epochenbegriffe immer sowohl Konstruktionen sind als auch auf historischen Selbstbeschreibungen beruhen, sodass sie als »Werkzeug der Erkenntnis« dienen können, die »ein sich wandelndes, tiefer eindringendes Verstehen und Durchschauen des geschichtlichen Seins als solchen« ermöglichen, »das sich von der Dynamik des geschichtlichen Seins selber niemals ablösen läßt«.Footnote 201

Das Heft 1 des Jahres 1933, in dem von Wieses Aufsatz erscheint, ist zugleich das letzte für geraume Zeit, das die methodologische Grundlagenreflexion ins Zentrum stellt. Die Besonderheit des ersten Jahrzehnts ist den Herausgebern bewusst: Dem 13. Jahrgang geben sie ein Ergänzungsheft bei, von Otto Görner bearbeitet, das ein Inhaltsverzeichnis, Namen- und Sachregister für die Jahrgänge 1–10 bietet. In den Folgejahren finden sich zwar durchaus mittelalter- und frühneuzeitbezogen weitausgreifende, geistesgeschichtliche Aufsätze. Unverkennbar sind aber auch eine wachsende Skepsis gegenüber allgemeinen psychologisierenden Deutungen von Zeitströmungen und eine Tendenz zur stärkeren historischen Genauigkeit.Footnote 202 Günther Müller spricht in der Vergangenheitsform von der geradezu zum Schlagwort verkommenen Geistesgeschichte, die »die führende Betrachtungsweise literaturwissenschaftlichen Fragens im vorigen Jahrzehnt« gewesen sei;Footnote 203 selbst publiziert er aber einige Jahre später einen theoretischen Artikel zur »Seinsweise von Dichtung«.Footnote 204 So erhält die Geistesgeschichte philosophische oder philosophie- und theologiegeschichtliche Züge.Footnote 205 Stadelmanns Deutung des Agrippa von Nettesheim wird korrigiert, die deutsche Mystik in ihren historischen Grundlagen betrachtet, Walthers Lyrik in Einzelheiten ganz auf die mittelalterliche Reichsdiskussion bezogen.Footnote 206 Das Formproblem des Minnesangs interessiert nun ganz im Hinblick auf den Strophenbau.Footnote 207 Wenn sonst die deutsche Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit in den Blick rückt, so am ehesten in (grundlegenden) Einzelwerkinterpretationen.Footnote 208

Eine Ausnahme stellt der Artikel »Die mittelalterliche Kunst und ihre Gegebenheit« von 1936 dar. Sein Verfasser, der 27-jährige Hugo Kuhn (* 1909), wurde 1935 in Tübingen mit einer Dissertation zur komplizierten Überlieferungsgeschichte zweier Walther-Lieder promoviert:Footnote 209 Ausgehend von stilistischen und kohärenzbezogenen Argumenten analysierte er jüngere und ältere Überlieferungszeugen und -schichten. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, erörtert der programmatische, von Textbeispielen freie Beitrag von 1936: Wie kann »mittelalterliche Kunst« überhaupt untersucht werden, wenn das »unvermittelte[], ursprüngliche[] Werk« durch die Überlieferung (durch Variation und Fragmentierung) verstellt ist und die »wesentliche Wirkungsform« dieser Kunst, nämlich »der mündliche Vortrag« unzugänglich ist?Footnote 210 Kuhns Lösungsansatz: die »Überlieferung« als unverzichtbarer Bestandteil der mittelalterlichen Kunst, die geistesgeschichtlich radikal von der neuzeitlichen abgesetzt wird. Sei die eine, die neuzeitliche Kunst, vom Subjekt hervorgebracht und auf die »Objektivität […] der Welt ›draußen‹« bezogen, so die andere, die mittelalterliche, dem Subjekt vorgängig.Footnote 211 Sie partizipiere an einer das Einzelwerk übergreifenden »geoffenbarten Wahrheit«, die sie ›vollziehe‹ – sie ist »Gebrauchskunst« oder »Vollzugskunst«.Footnote 212

Auf der Basis einer weitgehenden Gleichsetzung von Vollzug, Gebrauch, Überlieferung und Tradition entwirft Kuhn zunächst einmal am geistlichen Spiel (mit seiner Nähe zum liturgischen Vollzug) die »Lösbarkeit des mittelalterlichen Überlieferungsproblems«: Das »Ganze« des mittelalterlichen Kunstwerks lässt sich »aus Resten vollständig, das Ursprüngliche auch aus Änderungen zutreffend begreifen«. Denn: »Jedes Werk kann, weil es die Vermittlung, die Realität der Gebrauchsfunktion […] enthält, in seiner vermittelten Form direkt, unmittelbar begriffen […] werden«.Footnote 213 Damit verkehrt Kuhn die Prämissen der philologischen Überlieferungskritik aus der Dissertation: Ist die mittelalterliche Kunst ›Gebrauchskunst‹, ist ihr ›Ursprüngliches‹ im Vollzug und in den Überlieferungszeugen, nicht in einem spekulativ rekonstruierten Original zu finden. Das richtet sich, zumal im zweiten Teil des Aufsatzes, wenn Kuhn die These auf Lieddichtung und Minnesang überträgt, auch gegen Günther Müllers »Studien zum Formproblem des Minnesangs« (1923). Obschon Kuhn diesen bei der Epochenkonstruktion und der Akzentuierung der musikalischen Seite des Sangs folgt, sieht er das »Gemeinsame« der von Müller beschriebenen mittelalterlichen Liedgattungen nicht in den »metrische[n] oder musikalische[n] Formtypen«, sondern in ihrer »Gebrauchsfunktion«, in ihrer »Aufführung« vor einer »ritterlichen […] Gemeinde«.Footnote 214

Wie der junge Günther Müller hat auch der junge Hugo Kuhn, 13 Jahre später, den Minnesang im Blick, wenn er nach den Möglichkeiten und Grenzen geisteswissenschaftlichen Arbeitens fragt. Wie jener postuliert er eine radikale Andersheit der mittelalterlichen Kunst gegenüber der neuzeitlichen, die er am Formbegriff festmacht. Während Müller jedoch bei der konkreten metrisch-musikalischen Formenvielfalt ansetzte, um im mosaikartigen Umgang mit diesen Formen epochentypische Gemeinsamkeiten zu erkennen, partizipiert bei Kuhn das einzelne Kunstwerk durch den Vollzug bzw. die Aufführung an einer epochenspezifischen, aber ›realen‹ Form.

Dieser Ansatz ist programmatisch nicht zuletzt im Hinblick auf die Situation der ›Geisteswissenschaften‹ nach 1933. Nahmen Müller und Rothacker in den 1920er Jahren noch an, durch Methodenreflexion könnten die Geisteswissenschaften eine bestimmte Form von Objektivität erreichen, diagnostiziert Kuhn nun, sie seien, dem »Weltanschaulichen« ausgeliefert, »wehrlos gegen pseudo-wissenschaftliche […] Absolutsetzungen«.Footnote 215 Das ergebe sich aus ihrem historischen ›Begründungszusammenhang‹, den Kuhn im Rückgriff auf die Unterscheidung von mittelalterlicher und neuzeitlicher Kunst erläutert: Mit Renaissance und Reformation habe sich das Ich einerseits als »bedingende Form des Gegenständlichen«, im Sinne des Idealismus, entworfen, andererseits habe sich parallel dazu eine immer stärkere Orientierung an einem »un-bedingt[en] bloß-tatsächlichen Inhalt«, im Sinne des Naturalismus, ausgebildet.Footnote 216 In der Folge hätten sich Idealismus und Naturalismus gegenseitig so relativiert, dass die Wirklichkeit »unverbindlich-relativ« wurde.Footnote 217

Diese Analyse des ›Begründungszusammenhangs‹ der eigenen Gegenwart bezieht in geistesgeschichtlicher Manier zwei gegensätzliche Tendenzen einer Epoche dialektisch aufeinander.Footnote 218 Sie gründet aber ihrerseits auf dem von Kuhn als zeittypisch diagnostizierten Begehren nach einer »vollen Wirklichkeit«,Footnote 219 d. h. nach Ankerpunkten, die der relativistischen Auflösung der Ordnung widerstehen.Footnote 220 Damit verknüpft Kuhn zugleich ein geisteswissenschaftliches Programm: »Die Frage der einzelnen Geisteswissenschaften nach inhaltlichen ›Tatsachen‹ – der ›Stilentwicklung‹, […] der ›dichterischen Absicht‹, der Erhaltung usw. – führt nur zu gegenständlich irrelevanten […] Hypothesen […]. Nur der Begründungs-Zusammenhang der Form, nur das Unterscheiden nicht der Tatsachen, sondern ihrer ›Tatsächlichkeit‹, d. h. nur die begründungs-hafte ›Wirklichkeit‹ des Inhalts […] erschließen unmittelbare Tatsachen.«Footnote 221 Auch Kuhn fordert also, über die Addition der Beobachtungen und Tatsachen hinauszukommen, indem man den (epochal gedachten) Begründungszusammenhang der Tatsachen erhellt. Er reformuliert das Anliegen der ›Geistesgeschichte‹ gerade in dem Moment, da diese allgemein an Boden verliert und nur mehr einen sich ausdünnenden Strang der ›Geisteswissenschaften‹ bildet.

VIII.

Die Hellsicht des Essays von 1936 zeigt sich nicht erst daran, dass er mit Kategorien wie ›Vollzug‹, ›Aufführung‹, ›Repräsentationskunst‹ oder ›(Realität der) Struktur‹ Aspekte berührt, die für die germanistische Mediävistik erst viel später Bedeutung gewinnen werden. Sie zeigt sich schon daran, dass Kuhn 1946 nahtlos an das Programm anknüpfen kann. In einem schmalen Bändchen, betitelt Die verfälschte Wirklichkeit, publiziert er eine beachtliche Stellungnahme zur NS-Zeit, die das am Ende des Aufsatzes von 1936 Angedeutete expliziert: Unter der nationalsozialistischen Herrschaft sei durch einen »Zwang zur Organisation« sowie den leeren »Vollzug von Gesten und Symbolen« der Unterschied zwischen »Wahrheit und Wirklichkeit« eingeebnet worden.Footnote 222 »Nicht der Geist nur war gleichgeschaltet, sondern die Wirklichkeit selbst, auf deren Boden er nur möglich war.«Footnote 223 Die »verfälschte Wirklichkeit« erscheint strukturell analog zur ›Wirklichkeit‹ der mittelalterlichen Kunst: Beide konstituieren sich durch Gemeinschaftshandeln, beide werden durch ›Vollzug‹ gestiftet. Doch die verfälschte entbehre der ontologischen Basis: Habe die mittelalterliche Wirklichkeit an einer geschichtlich geoffenbarten Wahrheit partizipiert, sei in der NS-Zeit der Bezug zur Wahrheit kassiert worden. Die Wirklichkeit selbst, also »die faktische Existenz des Volkes«, sei zur Wahrheit erklärt worden.Footnote 224

Wie sind diese Analogien zu werten? Geht 1936 die Beobachtung der mittelalterlichen Kunst aus der Gegenwartsanalyse hervor oder analysiert Kuhn 1946 die NS-Ideologie mithilfe mediävistisch gewonnener Kategorien? Wohl beides. In Die verfälschte Wirklichkeit konstatiert er, ein »Neuanfang« sei nur möglich, wenn man sich der Frage »Wer ist schuldig?« stelle.Footnote 225 Obschon er die Frage am Ende explizit beantwortet (»Jeder, der einen Menschen nach seiner ›politischen Zuverlässigkeit‹ beurteilte oder beurteilen durfte«Footnote 226), lassen ihn »Apathie« und »Mangel an Verantwortungswillen« die Möglichkeit des Neuanfangs bezweifeln. Umgekehrt gelte aber auch: »Wer den Mut hat, heute die Hand an den Pflug zu legen, dem wird leicht die Zeit fehlen, zurückzuschauen.«Footnote 227

Mit dem kleinen Büchlein scheint Kuhn sich Mut gemacht zu haben, ›die Hand an den wissenschaftlichen Pflug zu legen‹. Gemeinsam mit Walter Müller-Seidel und Otto MannFootnote 228 plante er, eine neue literaturwissenschaftliche Zeitschrift zu gründen: das Archiv für Literaturwissenschaft als »Organ der jungen Generation«Footnote 229 – als das sich mehr als zwei Jahrzehnte zuvor ja auch die DVjs profiliert hatte. Ist diese nicht mehr in der Lage, den neuen Geist zu repräsentieren? Kluckhohn, Rothacker und Niemeyer hatten zwar trotz der Einstellung der Zeitschrift seit 1944 fast kontinuierlich weitergearbeitet und mehrere Hefte zum Druck vorbereitet. Sie kämpften aber nach dem Ende des Krieges mit der Lizenzierung in verschiedenen Besatzungszonen. Ein Neubeginn in Berlin mit Hermann Kunisch als Mitherausgeber scheiterte. Die Konkurrenz formierte sich. Kluckhohn reagierte darauf mit einem geschickten Schachzug, der dem angedachten Archiv für Literaturwissenschaft den Wind aus den Segeln nahm: Er bot seinem ehemaligen Studenten Hugo Kuhn an, Mitherausgeber der DVjs zu werden. 1949 gelingt die Verlagskooperation von Wunderlich, Metzler und Niemeyer, im Juli kann das erste Heft seit 1944 erscheinen.Footnote 230

Kuhn tritt mehr oder weniger an die Stelle Rothackers. Dieser agiert zwar nominell von 1949 bis 1955 wieder als Mitherausgeber (1947 war er wegen seines frühen NSDAP-Engagements kurzzeitig vom Universitätsdienst suspendiert gewesen); von der Redaktionstätigkeit zieht er sich aber zurück.Footnote 231 Der Verlagsprospekt von 1949 betont die Kontinuitäten: Weiterhin seien »philologische Strenge« und »wissenschaftliche Objektivität« wichtig, um »das Programm einer geistesgeschichtlich fundierten vergleichenden Literaturwissenschaft« zu bieten. Darüber hinaus sei dem »vertiefte[n] Interesse an Dichtungsinterpretationen« Rechnung zu tragen.Footnote 232 In den Heften der frühen 1950er Jahre finden sich dann auch vermehrt sogenannte werkimmanente Interpretationen.Footnote 233 Die in den 1920er und 1930er Jahren intensiv diskutierten Fragen des epochalen Wandels treten zurück, bleiben aber als Referenzpunkte erhalten.

Mit Kuhn anstelle von Rothacker wird die Zeitschrift disziplinärer. Das manifestiert sich zunächst aber weder im Programm noch in der Praxis. Programmatisch hält Kuhn fest, dass »die wissenschaftliche Forschung im Bereich des Mittelalters ständig über die Fach- und Ländergrenzen hinweggreifen müsse«.Footnote 234 Praktisch spannen die mediävistischen Beiträge der frühen 1950er Jahre ein beträchtliches Spektrum auf, kaum weniger breit als 30 Jahre zuvor. Friedrich Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, im letzten Band vor Kriegsende mit einem Beitrag zur ›unio mystica‹ vertreten, ist auch im ersten der Nachkriegszeit dabei – nun mit einer Stellungnahme zum vieldiskutierten ritterlichen Tugendsystem.Footnote 235 Bekannte Autoren wie Georg Baesecke, Hans Naumann und Clemens Heselhaus publizieren historiographische, ideengeschichtliche und semantikhistorische Beiträge.Footnote 236 Neue Autoren wie Friedrich Sengle (* 1909) oder Georg Reichert (* 1910) bringen soziologische und musikgeschichtliche Dimensionen ins Spiel.Footnote 237 Junge Philologinnen und Philologen wie Hans Fromm (* 1919), Maria Bindschedler (* 1920), Johannes Kleinstück (* 1920), und Albrecht Schöne (* 1925) tragen interpretatorische, bildungs-, mentalitäts- und bibliographiegeschichtliche Aspekte bei.Footnote 238 In der Tendenz zeichnet sich das Bild einer Literaturwissenschaft ab, die mit einem gesteigerten Sensorium für Texte und ihre kompositionellen wie semantischen Strukturen operiert und historische wie soziologische Gegebenheiten im Blick hat.

Entspricht das noch dem »Programm einer geistesgeschichtlich fundierten vergleichenden Literaturwissenschaft«, mit dem der Verlagsprospekt wirbt?Footnote 239 Kuhn diskutiert die Frage 1950 im Rahmen einer Sammelrezension. Er skizziert zwei gegenläufige zeitgenössische Forschungspositionen: Auf der einen Seite Ernst Robert Curtius (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter), der gegen die geistesgeschichtlichen Ansätze polemisiere, aber aufgrund der postulierten Einheitlichkeit der Tradition den Wandel von Erscheinungen und Strukturen sowie die Andersheit mittelalterlicher, insbesondere volkssprachlicher Textkomposition nicht fassen könne.Footnote 240 Auf der anderen Seite die »geistesgeschichtliche[]« historische Forschung, die die »Nahsicht« auf einige wenige Konstellationen durch eine »unscharfe Randsicht erkauft« und »das Hoch- und Spätmittelalter ebenso nach vorwärts in das ›neue Europa‹ verschwimmen läßt wie das Frühmittelalter in Urzeiten ›primitiven‹ […] oder ›germanischen‹ Denkens«.Footnote 241

Die Aussagen machen klar: Für Kuhn ist die Ära der Geistesgeschichte, der Geistesgeschichte alten Stils vergangen: »Die ›geistesgeschichtliche‹ Erfassung ›mittelalterlicher Welthaltung‹ […] genügt […] nicht mehr. Die geschichtliche Strukturanalyse müßte fortschreiten zur ›kritischen‹ Analyse der Seinsstruktur.«Footnote 242 ›Kritische Analyse‹ – das zielt darauf, dass sich die Analyse der Distanz zum Gegenstand bewusst ist und methodologisch reflektiert verfährt. ›Seinsstruktur‹ – das meint, über bestimmte geschichtliche Haltungen, Mentalitäten, Ideen hinaus Strukturen der Wirklichkeit in ihren verschiedenen Bereichen und Schichten zu beobachten. Struktur – ein noch unsicher, tentativ verwendeter Begriff, dem aber ein beträchtliches Potenzial zugeschrieben wird. Kuhn bezieht ihn auf »eine neue Vereinigung der in Form und Inhalt v e r b i n d l i c h angenommenen geistigen Bedingungen […] mit einer fast neupositivistischen geschichtlichen Tatsachenforschung«.Footnote 243 Also eine Verbindung von Gegenstands- und Beobachtungsebene, die die ›alten‹ Spekulationen über Weltsichten und Weltanschauungen beiseite stellt.

Kuhn entfaltet dies in verschiedenen Aufsätzen der frühen 1950er Jahre.Footnote 244 Sie erproben vielschichtige Verbindungen zwischen Dichtung und Kunst über ›Gegenstand‹, ›Formensprache‹ und ›Bedeutungsgehalt‹.Footnote 245 Sie beobachten kreisförmig angelegte Programm-Zusammenhänge.Footnote 246 Sie rekonstruieren Bauformen, Episodenverknüpfungen, mythisch grundierte Wiederholungslogiken, die jeweils auf den tieferen Gesamtsinn eines Textes führen.Footnote 247 Die Idee der Struktur, ob begrifflich gefasst oder nicht, ersetzt hier nicht einfach jene der Form. Sie gilt Phänomenen, die sich weniger an einer Gestalt zeigen als vielmehr durch komplexe Analysen zu ermitteln sind. Struktur – das heißt oft genug Textstruktur, die erst nuanciert erfasst auf Welt, auf Wirklichkeit, auf ›Lebenskräfte‹ beziehbar wird.Footnote 248 Damit verbindet sich zugleich ein bestimmtes Erkenntnisinteresse, eine methodische Entscheidung, die sich wissenschaftsgeschichtlich einbetten lässt. Im Vorwort zu seiner ersten Aufsatzsammlung, die die anzitierten Beiträge wieder abdruckt, stellt Kuhn fest: »Angesichts des Widerstreits zwischen historischer und funktionalistisch-strukturalistischer Betrachtung, wie er, oft nicht einmal klar erkannt, auch die Literaturwissenschaft unserer Tage durchkreuzt, schien es mir von früh an schwer begreiflich, daß die in der Geistesgeschichte und historischen Erkenntniskritik der zwanziger Jahre schon aufscheinenden historischen Epochen-Strukturen nicht mithilfe der neueren Tatsachen- und der neueren Strukturen-Forschung weitergeführt werden könnten.«Footnote 249

Hatte einige Jahre vorher ein in die USA emigrierter Germanist wie Karl Viëtor die Geistesgeschichte als sowohl durch die politischen Umstände diskreditiert wie im Hinblick auf literarische Texte unzureichend angesehen,Footnote 250 folgt Kuhn eher der Position des Romanisten Leo Spitzer, seit 1936 ebenfalls in den USA, der die Geistesgeschichte für keineswegs überholt hielt. Einer Ideengeschichte, verstrickt in der »bias for naturalistic and atomistic methods applied to the history of the human mind«, sei sie allemal überlegen – wenn sie sich von bestimmtem Ballast befreie, zum Beispiel dem des alten Geistbegriffs. In der erneuerten Spielart sei der ›Geist‹ »nothing ominously mystical or mythological, but simply the totality of the features of a given period or movement which the historian tries to see as a unity – and the impact of which […] does in fact amount to more than that of the aggregate of the parts«.Footnote 251 Auch für Richard Newald gehört die Geistesgeschichte, Oberbegriff für Ansätze der Form-, der Stoff-, der Stil-, der Geschmacks- oder der Ideengeschichte, zu jenen Richtungen, die einen »Reichtum an Beziehungen […] aus dem Forschungsgegenstand« herausholen.Footnote 252 Für Auerbach kann »eine exakte Art von Geistesgeschichte« dort gedeihen, wo sie »eine synthetische Leistung« erbringt, bezogen nicht auf historische Epochen oder ungeheure Materialmengen, sondern auf wenige, aber signifikante »Äußerungen«.Footnote 253

Kuhn sieht zeitgenössische Ansätze in der Germanistik »in die Richtung einer neuen Geistesgeschichte […] weisen, die aber auf der Grundlage einer nicht mehr aufgebbaren Differenzierung der Interpretation aufbaut« und »die zugleich, statt nur in der Kausalität von den Ideen zu den Fakten zu denken wie die ursprüngliche Geistesgeschichte, ein konkret historisch gesehenes Gewebe allseitiger geistiger und faktischer Verflechtung zum neuen Geschichtsbild zu verflechten sucht«.Footnote 254 Wichtig sind die Stichpunkte ›Differenzierung‹, ›Interpretation‹ und ›Verflechtung‹. Sie signalisieren die Distanz zu einem Verfahren, bei dem Texte auf Ideenträger reduziert wurden, und zugleich das Bekenntnis zu dem Interesse, sie in größeren Zusammenhängen, jetzt aber nicht einfach ideen- oder weltanschauungsgeschichtlichen, zu verorten – man ist versucht, dies mit der in jenen Jahren in Frankreich, zum Beispiel im Umfeld der Annales, anvisierten ›histoire sociale totale‹ in Verbindung zu bringen.

IX.

Allerdings muss Kuhn sich selbst eingestehen, dass der ursprünglich gefasste Plan, die Gesichtspunkte seiner verschiedenen Beiträge »als geschlossenes System zusammenzufassen«, schließlich weniger aussichtsreich erschien als die Beibehaltung ihres essayistischen Charakters.Footnote 255 Das macht die Aufsätze ebenso reizvoll wie sperrig, wegweisend wie erratisch. Sie begründen kein neues Paradigma. Sie münden in keinen breiteren Strom ähnlicher Arbeiten. Auch in der DVjs nicht. Nach dem Boom allgemein ausgreifender (aber nicht unbedingt methodisch-reflexiver) Aufsätze in den ersten Jahren des Neuerscheinens geht ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre die Frequenz deutlich zurück. 1957 ist der markanteste mediävistische Beitrag der materialreiche Forschungsbericht von Hanns Fischer zur spätmittelalterlichen Literatur, in dem die Geistesgeschichte keinen Ort hat.Footnote 256 1958 enthält das Geburtstagsheft für Rothacker zwei mediävistische Aufsätze – sie betreffen Fragen der historischen Geographie und der literarischen Namengebung.Footnote 257 1959 gibt es ein regelrechtes Mittelalterheft – ohne geistesgeschichtliche Akzente. 1960 und 1961 sind unter den jeweils fast 30 Beiträgen nur 2–3 mittelalterbezogene – zu Einzeltexten oder Handschriften. 1963 situiert ein Aufsatz die Literaturwissenschaft zwischen Interpretation und Geistesgeschichte – im Euphorion, dem Konkurrenzorgan der DVjs.Footnote 258 Erst Walter Haug wird in größerem Stil textanalytisch an die Vorstöße seines Lehrers Hugo Kuhn anschließenFootnote 259 – allerdings seinerseits später die nun als ›kulturwissenschaftlich‹ bezeichnete Öffnung des Fachs abzuwehren versuchen.Footnote 260

Im Hinblick auf das Ringen um das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte scheinen für die DVjs fast mehr als die Jahre 1933, 1944 oder 1949 die mittleren Fünfziger einen besonderen Einschnitt darzustellen. Ab 1956 sind auf dem Titelblatt Paul Kluckhohn und Erich Rothacker nur mehr als Begründer der Zeitschrift geführt. Als Herausgeber firmieren Hugo Kuhn, der nach 1956 keinen Aufsatz mehr in der DVjs publizieren wird, und Friedrich Sengle, der wiederum keine besondere Affinität zur Geistesgeschichte hat – er wird schon nach sechs Jahren ausscheiden und 1976 zu den Begründern des Internationalen Archivs für Sozialgeschichte der deutschen Literatur gehören.Footnote 261 Für Rothacker und Kluckhohn ist bei ihrem Rückzug aus dem aktiven Kreis die Geistesgeschichte unverkennbar historisch geworden. Sie blicken auf die Anfänge zurück – und unterstreichen die Vielfalt geistesgeschichtlicher (problemgeschichtlicher, ideengeschichtlicher, stiltypologischer) Forschungsansätze im frühen 20. Jahrhundert, die in die DVjs Eingang fanden. Rothacker spricht von der »durch die Meinecke-Schüler R. Unger und P. Kluckhohn inaugurierte[n]« Variante einer geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft und von den für die Literaturwissenschaft und ihre komplexen Gegenstände lebenswichtigen »Probierbewegungen«.Footnote 262 Kluckhohn seinerseits meint: »Das rasche Gedeihen dieser Zeitschrift zeigte, wie sehr sie ein Bedürfnis der Zeit war und ihren Bestrebungen entgegenkam, auch in der Einbeziehung der mal. Lit. in die geistesgeschichtliche Forschung, wofür besonders auf Günther Müller hingewiesen sei«.Footnote 263 Die neueren Ansätze Hugo Kuhns erwähnt er nicht.

Diese sind aber wesentliche Weiterentwicklungen, die ebenso auf die verkürzte Wahrnehmung literarischer Texte in nichtliterarischen Kontexten wie auf die zu einseitig gedachte Beziehung von ›Ideen‹ und ›Fakten‹ reagieren. Sie geben sich nicht damit zufrieden, angesichts der zum Teil unzureichenden geistesgeschichtlichen Versuche die Aufmerksamkeit ganz auf die Texte, ihre Überlieferungen, Formen und Inhalte zu beschränken. Sie begreifen das geistesgeschichtliche Paradigma als theoretisch fundierte, nach wie vor relevante Herausforderung, (1) über disziplinär beengte historiographische oder nationalphilologische Fragestellungen hinauszukommen, (2) literarische Werke in ihren formalen und gedanklichen Dimensionen ernst zu nehmen, (3) verschiedene gesellschaftliche Bereiche und disziplinäre Zugänge, wissenschaftliches Qualitätsbewusstsein und Methodenvielfalt aufeinander zu beziehen und (4) weiter an dem, wie man später sagen wird, Text-Kontext-Problem zu arbeiten. In diesem Sinne halten Richard Brinkmann und Hugo Kuhn im Vorwort zum 50. Jahrgang der DVjs (1976) das Wort ›Geistesgeschichte‹ für immer noch gerechtfertigt, um »die Verbindung der Literaturen, der Kulturen überhaupt mit ihren historischen Situationen, […] die Offenheit für alle alten und neuen methodischen Positionen und Anwendungen, […] die kritische Prüfung jedes Ansatzes, jeder Behauptung an der Sache, am Ergebnis« auszudrücken.Footnote 264

Das hat wenig mit dem älteren Geistbegriff zu tun und wenig mit anachronistischen Rückprojektionen oder einseitigen Epochenbildern, aber auch wenig mit dem sich in anderen Disziplinen etablierenden Verständnis von ›Geistesgeschichte‹ im Sinne einer sich zwischen Philosophie und Theologie, Anthropologie und Politik bewegenden Ideengeschichte.Footnote 265 Das gilt erst recht in der Gegenwart: Die differenzierende Beschreibung der Eigenart und Andersheit vormoderner Überlieferungen, Semantiken und Sinnformationen, die Erfassung ihrer performativen und medialen Aspekte, die Frage nach dem Verhältnis literarischer und kultureller Muster, textueller und visueller Dimensionen, literarischer und nichtliterarischer Diskurse, ästhetischer und sozialer Praktiken, die Inbezugsetzung anthropologischer, philosophischer, sozial-, politik- und ökonomiewissenschaftlicher Diskurse zu literarischen Erscheinungen – all das, was in den letzten Jahrzehnten eine wachsende Rolle in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik gespielt hat, wird eher als ›kulturwissenschaftlich‹ denn als ›geistesgeschichtlich‹ rubriziert, womit allerdings auch die historische Dimension in den Hintergrund tritt.

Man wird sagen können: Dort, wo es um die grundsätzliche Reflexion g e s c h i c h t l i c h e r Erkenntnismöglichkeiten, bezogen auf die mittelalterliche Literatur, geht, wo ein theoretisch grundiertes, methodologisch reflektiertes, philologisch genaues und zugleich weitsichtiges Verfahren der Erhellung von Texten und anderen Kulturprodukten das Ziel ist, wo eine allgemeine mediävistische Literaturwissenschaft projektiert wirdFootnote 266 – sind auch ›geistesgeschichtliche‹ Ansätze präsent, die früh in der DVjs ein Forum fanden. Sich auf sie zu besinnen, gehört nicht einfach zum historiographischen Teil der philologischen Disziplin. Es ist elementar für deren Selbstverständnis. Das Anliegen, »grundlegende Fragen der literaturwissenschaftlichen Methode« und »philologische Strenge und Gewissenhaftigkeit« zu kombinieren,Footnote 267 ist auch nach einhundert Jahren nicht überholt.