Beginnen wir mit einer einfachen Feststellung. In der auf verschiedene Disziplinen verteilten Forschung zur Frühen Neuzeit − Geschichte, Religion, Philosophie, Recht, Literatur − gilt es als ausgemacht, dass Samuel Pufendorf (1632–1694) zu den herausragenden Vertretern des modernen, säkularen Naturrechts gehört, dessen Werk über ein Jahrhundert eine kaum zu überschätzende Wirkung entfaltete. Die jüngere Forschung hat dieses Werk in allen Einzelheiten analysiert, in die historischen Kontexte eingeordnet und in seiner Bedeutung für die Kultur und Gesellschaft im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert beschrieben. Es handelt sich um eine international geführte Diskussion, da der führende Theoretiker des Naturrechts nicht nur von englischen, schottischen und französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts – darunter Locke, Voltaire und RousseauFootnote 1 – rezipiert wurde, sondern auch von den Autoren der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung; in einigen Ländern ist so ein regelrechter, auch skeptisch betrachteterFootnote 2 Forschungstrend entstanden.

Kein Zweifel: Vor dem Hintergrund dieser Wissenszunahme erscheint Pufendorf als der »größte[] aller Naturrechtslehrer«Footnote 3, er ist »unbestritten der klassische Repräsentant des Naturrechtes«Footnote 4, da er als Erster ein dem wissenschaftstheoretischen Standard der Zeit entsprechendes, »vollständig durchgearbeitetes System mit konkreten Ergebnissen vorgelegt hat.«Footnote 5 Inzwischen liegen seine wichtigsten Schriften in einer kommentierten Ausgabe vor, die sein Opus der Forschung zugänglich machen soll, wobei im Vorwort zu den auf neun Bänden angelegten Gesammelten Werken noch einmal deren Rang hervorgehoben und auf die zentralen Elemente Bezug genommen wird: »Es gibt in Deutschland keinen Philosophen und Juristen vor Kant, der politisch und philosophisch zentrale Begriffe wie Natur- und Menschenrechte, moralische Person und Toleranz so gründlich und so wirkungsmächtig bestimmt hätte.«Footnote 6

An ein breiteres Publikum wendet sich dagegen die von Hans Maier und Michael Stolleis konzipierte Bibliothek des deutschen Staatsdenkens im Insel Verlag, deren erster Band – kaum zufällig − Pufendorfs berühmtes Manual De officio hominis et civis (1673) in einer neuen deutschen Übersetzung enthält und damit einen Text präsentiert, der in über 150 Ausgaben und Übersetzungen bis ins 19. Jahrhundert verbreitet war und den alle Juristen und »vielleicht sogar alle Gebildeten in Europa«Footnote 7 gelesen haben. Der mit dem profanen Naturrecht bezeichnete Modernisierungsansatz muss hier nicht genauer konturiert werden. Weniger einfach zu beantworten ist die Frage, wann die mit dem Namen von Pufendorf verbundene Forschungsentwicklung begonnen hat. Wer hat die Initiative ergriffen? Welche Motive haben hier eine Rolle gespielt?

Ganz vergessen war Samuel Pufendorf nie, im 19. Jahrhundert ist der Autor jedoch vor allem als Historiker wahrgenommen worden. Zur Zeit der Reichsgründung hat man sich an seine unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano veröffentlichte Verfassungsschrift De statu imperii Germanici (1667)Footnote 8 erinnert. Heinrich von Treitschke widmete dem politischen Schriftsteller eine umfangreiche Darstellung in den Preußischen Jahrbüchern (1875), der weitere Arbeiten zur älteren Reichsreform folgten.Footnote 9 Das Interesse galt also dem deutschen Verfassungsrecht, nicht dem Hauptwerk Pufendorfs, da das Naturrecht im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert seine Stellung und Funktion im Rechtssystem zunehmend verlieren sollte: »Das Naturrecht gilt nur noch subsidiär, wenn das positive Recht lückenhaft ist, Konsequenz der Wertentleerung des positiven Rechts und des Legitimationsverlusts des Naturrechts.«Footnote 10 Das Recht drängte mit seiner spezifischen Eigenlogik – einer Logik der Trennschärfe, die Niklas Luhmann als ›moralfreie Codierung‹ bezeichnet hat – auf die Positivierung der gesetzlichen Vorschriften, womit die nur sozialethischen und nicht rechtlich erzwingbaren Verhaltensnormen ihren Platz im System verlieren.

Diese Trennung war bereits bei Pufendorf angelegt, der in seinem Handbuch De officio hominis et civis die positiven Gesetze lakonisch als »Anordnungen der höchsten Macht im Staate« erklärte, die den Bürgern ganz wertneutral vorschreiben, was sie »tun dürfen und was sie zu unterlassen haben.«Footnote 11 Diese aus dem Willen des Gesetzgebers hergeleiteten Vorschriften gelten jedoch nur für den Untertan einer bestimmten, historisch wandelbaren staatlichen Ordnung. Zu unterscheiden sind sie von den aus dem »Lichte der Vernunft« erkannten Pflichten, die nicht nur den Bürger, sondern den Menschen überhaupt dazu befähigen, mit anderen in einer Gemeinschaft zu leben. Deren Kenntnis verdanken wir der »Wissenschaft des Naturrechts, das allen Völkern gemeinsam ist«Footnote 12 – einer strengen, am cartesianischen Methodenideal orientierten Disziplin, die im Ausgang von der physischen Natur des Menschen die ethische Basis des kulturellen Lebens erforscht, also Kulturphilosophie betreibt. Ethik und Recht bleiben aufeinander bezogen, vor allem was den Begriff der Verpflichtung betrifft. Von der Tradition hat sich dieses neue, vernunftgeleitete und auf Forschung gegründete Naturrecht deutlich abgegrenzt, die aristotelische Tugendlehre ist für Pufendorf nur eine − wie er in einem Brief an Thomasius spöttisch bemerkt – »philosophiam moralem, wo man […] à politicis anfangen muß,« da diese »nur particuliere ist, u. auf gewisse formam civitatis eigentlich eingerichtet. Wir aber suchen ethicam universalem.«Footnote 13 Die behauptete Diskontinuität und die Ersetzung des aristotelischen Paradigmas durch eine selbstbewusst als Ethica universalis bezeichnete Wissenschaft des Naturrechts kann als erster Schritt hin »zu einer metaphysischen Grundlegung des Moralischen, d. h. zur Metaphysik der Sitten«Footnote 14 verstanden werden.

In der Rechtswissenschaft der 1920er-Jahre hat der Systemaufbau des älteren Naturrechts neues Interesse erweckt. Das hatte mit einem Ungenügen am Rechtspositivismus zu tun, aber auch mit der Werttheorie der Neukantianer, die vor allem im Strafrecht und der Rechtsphilosophie der Zeit rezipiert wurde. Im Rückblick hat Ernst Cassirer einen Teilnehmer dieser Diskussion, der allem Außerjuristischen ablehnend gegenüberstand, mit dem Satz zitiert: »›Die Welt wandelt sich. Das Naturrecht ist wieder Mode.‹«Footnote 15 Einen bedeutenden Anteil an dieser Entwicklung hatte der spätere Strafrechtsdogmatiker und Rechtsphilosoph Erik Wolf (1902−1977), der 1924 in Jena mit einer Arbeit über Die Entwicklung des Rechtsbegriffs im reinen NaturrechtFootnote 16 promoviert wurde, um sein Studium danach u. a. bei Heinrich Rickert in Heidelberg fortzusetzen, dem Hauptvertreter der südwestdeutschen Schule des kultur- und wertphilosophisch orientierten Neukantianismus, »der auf eine materiale Bestimmung des Sinns strafrechtlicher Begriffe ausging.«Footnote 17

Fast gleichzeitig ist Hans Welzel (1904–1977) ebenfalls in Jena mit einer Dissertation über die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs promoviert worden. Eine Anregung zu dieser im Grenzgebiet von Recht und Philosophie angesiedelten Arbeit hat vermutlich der Neukantianer Bruno Bauch gegeben, wobei der Jurist Welzel – ein in der Bundesrepublik später hochgeehrter Strafrechtswissenschaftler – für sich eine Thematik entdeckte, »die er sein ganzes Leben hindurch verfolgt hat: das Verhältnis von Sein und Sollen, die Natur der Pflicht, der Grund der Rechtsgeltung.«Footnote 18 Das dritte und vierte Kapitel dieser Arbeit ist 1930 als TeildruckFootnote 19 erschienen, die vollständige Veröffentlichung erfolgte erst nach dem Zweiten Weltkrieg.Footnote 20 Doch die beiden ersten, den Grundlagen des Systems gewidmeten Kapitel hat Welzel vorab im 9. Jahrgang der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (1931) veröffentlicht, also nicht in einem juristischen oder rechtsphilosophischen Periodikum, sondern in einer für kulturwissenschaftliche Fragen und problemorientierte Forschung offenen Zeitschrift. Der mit Bedacht gewählte Titel lautete daher: Die kulturphilosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs und ihre kulturhistorische Bedeutung.

Für das Publikum der Deutschen Vierteljahrsschrift hat Welzel eine kurze Einführung zu seiner monografischen Abhandlung verfasst, in der er auf die unverständliche Diskrepanz zwischen der historischen Bedeutung des Naturrechts von Pufendorf und der Forschung zu dem Autor hinweist, die ihm insgesamt als »dürftig und nicht selten unrichtig«Footnote 21 erscheint. Besonders die »kulturphilosophische Basis«, auf der das System aufbaut, sei »völlig verschollen«; gemeint ist die »Lehre von den entia moralia«, die eine »wirklich geniale und originale Leistung« darstellt, mit der Pufendorf Probleme anspricht, die erst wieder »in den modernen wertphilosophischen Richtungen eine eingehende Behandlung erfahren haben«Footnote 22 – also im Neukantianismus des frühen 20. Jahrhunderts. Die von Pufendorf im Anschluss an den Mathematiker und Philosophen Erhard Weigel (1625–1699) vollzogene Unterscheidung zwischen Dingen der Natur (entia physica) und den mit menschlicher Freiheit und Wertsetzung verbundenen moralischen Bestimmungen (entia moralia) wird von Welzel eingehend erläutert und die aus der Trennung der beiden Sphären hervorgehende »Entdeckung einer neuen Welt, der Welt der Kultur neben dem natürlichen Universum« als Pionierleistung gewürdigt:

Damit wird Pufendorf zum ersten Kulturphilosophen, welcher die prinzipiellen Grundlagen einer Kulturphilosophie in einer teilweise noch heute gültigen Weise gelegt hat, der insbesondere zum ersten Male die besondere Wesensart der Kulturwelt und ihrer Sinngebilde zum Gegenstande wissenschaftlicher Untersuchung gemacht und sie so aus dem Zustande naiver Hinnahme herausgerissen und ins wissenschaftliche Bewußtsein erhoben hat.Footnote 23

Diese Entdeckung hätte Welzel mit Beobachtungen zur historischen Semantik des Begriffs ›Kultur‹ verbinden können, die der Theologe Emanuel Hirsch kurz zuvor am Beispiel Pufendorfs entwickelt und ebenfalls in der Deutschen Vierteljahrsschrift veröffentlicht hat. Im Ausgang von dem bei antiken Autoren zu findenden Begriff der »cultura animi« (Cicero, Horaz), den Pufendorf in die späteren Auflagen seines Hauptwerkes De jure naturae et gentium übernommen und erläutert hat, kann Hirsch zeigen, dass hier »alle für unsern heutigen Kulturbegriff bezeichnenden Bestimmungen« bereits gegeben sind, der Begründer des Naturrechts also zugleich »der Gestalter unsers modernen Kulturbegriffs geworden ist«,Footnote 24 indem er den Begriff aus dem individuellen in das gesellschaftliche Leben übertragen und der Natur entgegengesetzt hat.Footnote 25

Sowohl Hirsch als auch Welzel dürften bei der so deutlichen Akzentuierung der Kulturphilosophie im Werk Pufendorfs an das Publikum und das Programm der Deutschen Vierteljahrsschrift gedacht haben, das von Beginn an interdisziplinär ausgerichtet war, ohne die »engen Grenzen eines Fachorgans«Footnote 26 zu beachten. Zugleich wurde – dafür stand der Herausgeber Erich Rothacker – die Philosophie als neue »Leitdisziplin«Footnote 27 eingeführt und an die Stelle der Philologie gesetzt. Der Verleger Hermann Niemeyer bestärkte seine Herausgeber in dem Bestreben, eine Zeitschrift für »Kulturphilosophie und Geisteswissenschaft« zu etablieren und dafür Autoren aus allen Fächern zu gewinnen, »welche im Diltheyschen Sinne weiterbauen«Footnote 28 würden. Die Orientierung an Wilhelm Dilthey war in den 1920er-Jahren in zahlreichen Beiträgen der Zeitschrift zu erkennen. Ebenso deutlich war die Auseinandersetzung mit dem »universitär dominante[n] Neukantianismus«Footnote 29, vor allem mit dem von Heinrich Rickert zur Diskussion gestellten System einer dualistischen Wissenschaftslehre, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann.Footnote 30

I.

Der Name Diltheys wird auch von Hans Welzel gleich zu Beginn genannt, allerdings nur, um die eigene Position zu profilieren. Der Historiker der Weltanschauungen habe nämlich bei dem sich schon »im Mittelalter andeutenden Säkularisationsprozeß« des natürlichen Rechts den Einfluss der Stoa überschätzt und daraus falsche Schlussfolgerungen gezogen: »Die ganz neuartige wissenschaftliche Fundierung des Naturrechts fand vielmehr im Anschluß an die Methodik der aufblühenden mathematischen Naturwissenschaften statt.«Footnote 31 Diese These stellt Welzel an den Beginn seiner Untersuchung, der er noch eine kurze Bemerkung zu der historischen Konstellation vorausschickt, in der Pufendorf sein Hauptwerk geschrieben und verteidigt hat. Denn noch vor der 1672 erfolgten Veröffentlichung von De jure naturae et gentium hätten zwei seiner Gegner im schwedischen Lund einen Index novitatum verfasst, um Pufendorf zu diskreditieren und aus dem Professorenamt zu drängen. Der Begründer des säkularen Naturrechts wurde verketzert und zum Atheisten erklärt. Die Reihe der stereotypen Vorwürfe eröffnete Nicolaus Beckmann (1635–1689), ein Kollege an der juristischen Fakultät, mit der Unterstellung, Pufendorf verführe mit seinen neuen Lehren die studierende Jugend, er hänge zudem der »Machiavellische[n] Religion« an und predige nicht ohne Grund die Polygamie. Der Hauptvorwurf lautete jedoch − und hier beruft sich Beckmann auf ein Ondit in der Gelehrtenwelt −, »Pufendorf sey der andere Doctor Faust, dem der Teuffel Beystand leiste: indem es sonst nicht müglich sey, so viel Unglück in der gelehrten Welt anzurichten.« Das Pasquill diente wenig später als Stoff für eine Gelehrtensatire, aus der hier zitiert wurde.Footnote 32

Die 1675 unter einem Pseudonym veröffentlichte Schrift Beckmanns antwortet auf die ein Jahr zuvor publizierte Apologia Pufendorfs, in der dieser den in der Öffentlichkeit ungenannt gebliebenen Gegner als einfältigen Dunkelmann tituliert – eine Erinnerung an die so wirkungsvollen Epistolae obscurorum virorum des frühen 16. Jahrhunderts – und damit den Ton der Auseinandersetzung vorgibt: »Examinemus […] singulos errores, quorum me reum peragit Asinius Tenebrio.«Footnote 33 Die Folge der pseudonymen Verteidigungen und Abhandlungen nach dem bereits erwähnten Vorbild der DunkelmännerbriefeFootnote 34 ist nicht leicht zu überblicken. Pufendorf hat seine Beiträge 1686 unter dem Titel Eris scandica veröffentlicht, die umfangreiche Sammlung ist als Anhang in die späteren Ausgaben seines naturrechtlichen Hauptwerkes eingegangen. Mit diesen, so Welzel, »glänzenden, äußerst temperamentvollen Gegenschriften« hat er seine stilistische Kunst und Begabung als polemischer Schriftsteller unter Beweis gestellt, seine Kontroversschriften bilden, das hat der Rechtshistoriker zum ersten Mal herausgestellt, »eins der lebenvollsten und anziehendsten Zeugnisse der damaligen wissenschaftlichen Verhältnisse.«Footnote 35

In der Eris scandica werden, auch darauf macht Welzel aufmerksam, Prinzipienfragen berührt. Pufendorf statuiere nämlich – so lautete ein stereotyper Vorwurf seiner Gegner –, »daß man auch im Iure Naturae neue Principia erfinden könne, da doch das Ius Naturae und der Decalogus durchaus keine neuen Principia admittire, sondern unveränderlich sey.«Footnote 36 Nach dem Sündenfall haben wir nur durch die uns verbliebenen Reste der Gottebenbildlichkeit ein Wissen von diesem natürlichen Recht und damit zugleich – hier zitiert Welzel einen der einflussreichsten Kritiker Pufendorfs, den Theologen Valentin Alberti – »ein besonderes Prinzip des Naturrechts, nämlich die Offenbarung des Standes der Unschuld, auf dem ihre [sc. der Christen] vollkommenere Kenntnis des Naturrechts beruht.«Footnote 37 Das Prinzip der Integrität war mit Pufendorfs Lehre vom Naturzustand unvereinbar. Die Wahrheit der biblischen Erzählung musste dabei gar nicht bezweifelt werden, sie erwies sich für die auf der Vernunft gegründete Disziplin schlicht als irrelevant. Da vom Offenbarungszeugnis abstrahiert werden musste, lieferte allein ein Gedankenexperiment zur Erklärung des Naturzustandes die gesuchten Prinzipien der Rechtslehre. Die christliche Anthropologie erhielt so in ihrem Kernbereich, der Lehre von der Sündhaftigkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen, Konkurrenz durch eine ex origine erwiesene Sozialisationstheorie, aus der die gemeinschaftserhaltenden Normen des Handelns einsehbar wurden. Keine der Kontroversen im Umfeld des neuen Naturrechts hat die Zeitgenossen so anhaltend beschäftigt. Der Streit um das Theorem des status naturalis war auch eine Ursache dafür, »dass Pufendorf seinen Kulturbegriff so genau fixierte […], von seinen Gegnern wie von seinen Schülern immer wieder behandelt, angegriffen und verteidigt.«Footnote 38

Den epistemischen Neuansatz hat Welzel in der Deutschen Vierteljahrsschrift ausführlich dargestellt. Die Naturrechtslehre wird zu einer aus Fundamentalsätzen hergeleiteten, axiomatisch verfahrenden Wissenschaft, deren Erkenntnisse von ähnlicher Sicherheit sein sollen wie die in den mathematisch-physikalischen Disziplinen der ›New science‹ entwickelten Naturgesetze. Welzel unterscheidet dabei in Übereinstimmung mit der wissenschaftshistorischen Forschung zwei Schulen:

Die eine – empiristische − Richtung ging von der Erfahrung aus und versuchte durch Induktion neue Erkenntnis zu gewinnen, der andere − rationale − Zweig wollte aus obersten, unmittelbar evidenten Prinzipien alle Besonderheiten der Erscheinungen deduzieren. Die eine Richtung verfocht das Recht der Beobachtung, des Experiments, die andere das Recht der strengen mathematischen Deduktion, beide vereinigten sich in der resolutiven und kompositiven Methode Galileis oder in der Analysis und Synthesis Descartes’.Footnote 39

Dieser Dualismus findet sich im Werk von Pufendorf, auch er unterscheidet zwei Arten von Prinzipien, nämlich »Axiome«, die unmittelbar aus der Vernunft einsichtig sind, und »Observationen«, die auf Beobachtungen oder einem Experiment beruhen. Bei der Suche nach einem ersten Prinzip des Naturrechts, einer praemissa maxima, aus der alle Einzelsätze zu deduzieren sind, muss notwendig von Erfahrungen ausgegangen werden. Der Jurist teilt hier nicht nur die methodischen Grundlagen mit der Naturwissenschaft, sondern auch das Objekt: »die ›Natur‹ war das gemeinsame Tätigkeitsfeld […], hier die menschliche, dort die außermenschliche.«Footnote 40 Durch die Orientierung an diesem Vorbild soll das Naturrecht zu einer auf Prinzipien der natürlichen Vernunft gegründeten wahren Wissenschaft werden, deren Sätze nicht nur partikulare, sondern universale Geltung beanspruchen können. Dass dieser »Systemgedanke« zu einem entscheidenden »Agens der Entstehung des Naturrechts«Footnote 41 werden konnte, deutet sich zwar bereits bei Autoren des 16. Jahrhunderts an, doch das erstrebte Wissenschaftsideal verwirklicht sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit dem aus einem einzigen Begriff hergeleiteten Naturrecht, wobei zwischen »dem System und dem Prinzip […] ein wechselseitiges Verhältnis«Footnote 42 besteht. Hier konnte es zu divergierenden Annahmen kommen.

Welzel beschreibt die Systementwicklung im 17. Jahrhundert im Ausgang von Hobbes und Spinoza, die der neuen »Form des Naturrechts ihren schärfsten und konsequentesten Ausdruck« gaben, indem sie es auf das »Prinzip der Selbsterhaltung« gründeten, was zu einem »radikale[n] Naturalismus«Footnote 43 führte. Pufendorf habe diese Lösung abgelehnt und dem naturalistischen Ansatz seine »auf der Grundüberzeugung von der menschlichen Freiheit beruhende Lehre von den entia moralia« gegenübergestellt, eine für Welzel »wahrhaft geniale Tat«Footnote 44, der er breiten Raum gibt, wohl auch, wie bemerkt, weil er bei der Leserschaft der Deutschen Vierteljahrsschrift ein Interesse an kulturphilosophischen Fragen voraussetzen konnte. Die Geselligkeit (socialitas) als Fundamentalsatz des Pufendorf’schen Naturrechts findet dagegen keine genauere Betrachtung.Footnote 45 Das ist zu bedauern, da Welzels Ausführungen zu der propositio fundamentalis aufschlussreich sind, mit der neueren Forschung ist er hierüber im Gespräch geblieben.

II.

Wie kommt Pufendorf zu dem Spitzensatz seiner Beweisführung, aus dem die Normen des Naturrechts deshalb abzuleiten sind, weil er diese bereits implizit umfasst? Nicht aufgrund eines aus der Vernunft einsichtigen Axioms, sondern aus Erfahrung, genauer: aus der Beobachtung der menschlichen Natur. An die Stelle der tradierten Wissensordnungen treten die keinem Wandel unterworfenen Konstanten anthropologischen Wissens. Dieser Paradigmenwechsel wurde auch in anderen Disziplinen und in der literarischen Welt wahrgenommen, es entstanden erzählerische Gattungen, in denen die conditio humana im Sinne der neuen Prinzipien befragt wurde und die Natur in Konkurrenz zu den christlichen Bekenntnisschriften treten konnte.Footnote 46 In der 2004 vorgelegten New History of German Literature findet sich – erstmals bei einem Handbuch dieser Art – ein eigener Eintrag zum Werk von Samuel Pufendorf. Zur Grundfrage seiner deskriptiven Anthropologie wird hier ebenso knapp wie treffend bemerkt: »To discover natural law, we must study human nature.«Footnote 47

Pufendorf geht analytisch vor, indem er die Natur des Menschen in drei Segmente gliedert. Diese hat er in einem Paragraphen unter dem Titel »Lex naturae fundamentalis« zusammengeführt, den er einer Auseinandersetzung mit Hobbes unmittelbar vorangehen lässt, da die erste dieser Grundannahmen ihn in eine erstaunliche Nähe zu der ›naturalistischen‹ Position seines Gegners zu bringen scheint. Welzel zitiert diesen AbschnittFootnote 48, um sowohl das methodische Verfahren als auch das Ergebnis der Beweisführung einer subtilen Prüfung zu unterziehen. Wie Pufendorf ausführt, ist der Mensch zuerst darauf bedacht, sich selbst zu erhalten (conservatio sui), was ihm dadurch erschwert wird, dass er ohne fremde Hilfe im Grunde lebensunfähig ist (imbecillitas), obwohl er sich stets bereit zeigt, anderen zu schaden (pravitas animi), woraus notwendig folgt, dass ein solches Wesen gesellig leben muss. Zu diesem Ergebnis kommt man auch »mit der Fiktion vom einsamen Menschen«Footnote 49, einem weiteren Beweisgang, von dem im Zusammenhang mit der Naturstandslehre noch zu sprechen sein wird.

Pufendorf geht also ähnlich wie Hobbes von der Selbsterhaltung aus, doch seine auf die socialitas abzielende Beweisführung zeigt sich unbeeindruckt davon, ob dieser Trieb, »verbunden mit der Schwachheit (imbecillitas), ein Streben zur Gemeinschaft im Menschen verursacht oder nicht; er bleibt auch gültig, wenn dies nicht der Fall wäre − sofern er überhaupt Bestand hat.«Footnote 50 Der Vorbehalt gegenüber Hobbes’ pessimistischer Ausdeutung des Vitaltriebes ergibt sich aus dem stets mitzudenkenden Zwang zur Sozialisation: Die Geselligkeit, nicht das Bedürfnis nach dieser, ist das Fundament des Naturrechts. Ob das gesuchte Prinzip damit gefunden ist, bleibt allerdings, wie Welzel anfügt, »fraglich«, da nach der Methode der Naturforschung das Verhältnis der Komponenten des sozialen Verhaltens so zu analysieren ist, wie es »wirklich ist«, und nicht, wie es »am besten sein soll«:

Das aber kann keine Analyse, kein theoretisches Zergliedern des wertindifferent Gegebenen erreichen. Pufendorf muß sich darum die Werterkenntnis der socialitas erschleichen; das tut er auf die Weise, daß er die Worte einschiebt ›ut salvum sit‹.Footnote 51

Dass der Beweis für das Sozialitätsprinzip »mißglückt«Footnote 52 sei, hat Welzel allein durch eine systematische Rekonstruktion der Argumentation festgestellt, die Quellen zu der ausgedehnten, bis weit in das 18. Jahrhundert reichenden Diskussion über die Grundregel des Naturrechts hat er nicht herangezogen, obwohl die Zeitgenossen bereits intensiv die Schwächen des Beweisverfahrens diskutiert haben. Die Debatte hat sich auf folgende Problembereiche konzentriert: Umschreibt der Begriff socialitas eine humane Naturanlage oder eine Verhaltensorientierung? Und wenn das erste zutrifft (was bezweifelt wird): Kann eine dieser Beobachtungen über die Natur des Menschen die Ausgangsbasis für die Ableitung aller Einzelnormen bilden? Muss hier nicht eine Trennung zwischen der Normerkenntnis − mit dem problematischen Grundsatz an der Spitze der Beweiskette − und einer Beschreibung der Regeln der praktischen Anwendung gefordert werden? Lassen sich die einzelnen Obligationen aus dem Begriff der Geselligkeit herleiten? Müssen die drei Pflichtkreise (Gott, Selbst, Mitmensch) nicht hierarchisiert und in gesonderten Disziplinen behandelt werden? Und welchen Rang sollten dann die Pflichten gegenüber dem eigenen Selbst einnehmen? Das blieb eine Kernfrage, die zwangsläufig zur Auseinandersetzung mit Hobbes und dem so bedeutsamen Selbsterhaltungsprinzip führen musste.Footnote 53

Die Fachdiskussion lässt nach wie vor offen, »ob Pufendorf eher der gemäßigten Tradition humanistischer Jurisprudenz, wie sie z. B. von Hugo Grotius vertreten wird, oder aber der radikalen politischen Philosophie eines Thomas Hobbes zuzurechnen ist.«Footnote 54 Gefragt wird danach, ob im Werk Pufendorfs »two incompatible accounts of natural law«Footnote 55 anzutreffen sind, aus der sich die beobachteten Inkonsistenzen erklären lassen. Auf die Ergebnisse Welzels wird hier noch immer Rücksicht genommen, sie haben die weitere Forschung angeregt: »According to Hans Welzel […] Pufendorf attempts to demonstrate natural law in a ›naturalistic‹ fashion starting from the instinct for self-preservation, but leaves unexplained how self-preservation itself receives its normative Status […].« Gleichwohl sei sich Pufendorf der »limitations of the naturalistic method« bewusst gewesen, die ihn über seinen Fehlschluss hinaus zu einem »predecessor of eighteenth-century German moral philosophy« habe werden lassen: »Welzel interprets these remarks to mean that the ultimate criteria of natural law is the value of human nature […].«Footnote 56

Damit war eine Perspektive eröffnet, in der Fiammetta Palladini ihre Überlegungen zum Verhältnis von Hobbes und Pufendorf entwickeln konnte:

[She] has offered what might be characterized as an inverted version of the interpretation given by Welzel. According to Palladini, Pufendorf’s conscious intention in the first edition of De jure naturae et gentium was to follow Hobbes in deducing natural law from the requirements of self-preservation. However, because of the highly controversial character such an enterprise had in the seventeenth Century, Pufendorf felt himself forced to soften the most disturbing consequences of such a manner of deducing natural law.Footnote 57

Palladini konnte zeigen, dass jeder historisch-systematischen Rekonstruktion des Pufendorf’schen Naturrechts eine Schwierigkeit aus dem Umstand erwächst, dass die zweite Ausgabe seines Hauptwerkes aus dem Jahr 1684 Abweichungen gegenüber der Erstausgabe aufweist, die sich auf dieselben Fundamentalsätze beziehen. Palladini hat die betreffenden Stellen eingehend untersucht und auf den bestimmenden, in der Retrospektive dann leicht zu Wertungen herausfordernden Einfluss (»disastroso effetto«) hingewiesen, den der Hobbes-Kritiker Richard CumberlandFootnote 58 in dieser zweiten Phase der Systementwicklung auf Pufendorf ausgeübt hat. Verstellt wurde die Einsicht, dass Pufendorf mit seiner deutlichen Unterscheidung zwischen entia physica und entia moralia als »hobbesiano« über Hobbes hinausgeht, vor allem durch die Erklärung des unmöglichen (»ineseguibilità«) Übergangs von empirischen Fakten zu moralischen Normen.

Während Palladini in der späteren Entwicklung Pufendorfs Anzeichen eines Rückschritts sieht (»verso un giusnaturalismo tradizionale«), erkennt Welzel in dem ausgearbeiteten System einen Fortschritt hin zu der Lehre von der menschlichen Würde als Recht, das »darauf beruht, daß die Pflicht zur Geselligkeit und Humanität alle Menschen gleichermaßen bindet, weil sie mit der menschlichen Natur als solcher verknüpft ist.«Footnote 59 Diese Lehre bildete eine Voraussetzung für die amerikanische Menschenrechtserklärung, die 1776 in der Bill of Rights of Virginia festgeschrieben wurde. John Wise (1652–1725), einer der Väter der Unabhängigkeitsbewegung, habe seine Freiheitsvorstellung – wie Welzel später genauer ausführen wird − fast »ganz auf dem Gedanken der Menschenwürde im Sinne Pufendorfs«Footnote 60 aufgebaut.

Pufendorf hat die epochemachende Formel in der anthropologischen Grundlegung seines Hauptwerkes entwickelt, bei ihm

erscheint zum ersten Male der für die Folgezeit (bis einschließlich Kant) so wichtige Begriff der Menschenwürde an zentraler Stelle des naturrechtlichen Begründungszusammenhanges, während z. B. noch Grotius von dignitas humana nur innerhalb des Bestattungsrechts […] spricht. Da nun Pufendorf diese in der Menschenwürde begründete oberste Norm des Handelns im Gebot der Sozialität ausgesprochen fand, mußte sich für ihn eine eminent soziale Struktur des Naturrechts ergeben. Der Einzelne hat sittlichen Wert und die Möglichkeit sittlichen Handelns nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Daran hält Pufendorf mit aller Konsequenz fest.Footnote 61

Hervorzuheben ist, dass Welzel im Blick auf die kritische Philosophie Kants die Menschenwürde als »Korrelatbegriff« zur menschlichen Willensfreiheit und, ebenso bemerkenswert, deren moralischer Gebundenheit zu verstehen sucht: »Die Freiheit des menschlichen Handelns ist die Grundvoraussetzung für das Dasein einer ›moralischen‹ Welt.«Footnote 62 Das führt zu der Theorie von den entia moralia und damit zurück zu der Publikation in der Deutschen Vierteljahrsschrift.

III.

Um in die von moralischen Setzungen bestimmte Welt der Kultur einzuführen, nimmt Welzel eine Analyse des menschlichen Handelns vor, bei der er − deutlicher spürbar als zuvor − das begriffliche Instrumentarium des Juristen zum Einsatz bringt:

Eine freie Handlung, die so aus dem Zusammenwirken von Wille und Verstand entsteht, hat die Eigenschaft, dem Täter als ihrer moralischen Ursache zugerechnet zu werden, eben weil sie vom Willen des Menschen als von einer freien Ursache so abhängt, daß sie ohne dessen freier, nach vorgängiger Erkenntnis erfolgenden Determination nicht geschehen wäre.Footnote 63

Bei einer solchen Handlung ist die materiale von der formalen Seite zu unterscheiden. Ein Geschehen kann in seinem natürlichen, kausalen Ablauf betrachtet oder einem Akteur zugerechnet werden. In beiden Fällen beruht die Betrachtung auf einer methodischen Abstraktion, die wertindifferent ist. Um diese aufzuheben und zu einer »vollen moralischen Handlung« zu gelangen, bedarf es der Kenntnis einer Norm, die dem Handelnden als Forderung eines bestimmten Verhaltens gegenübertritt und damit seine Freiheit einschränkt: »Das Gesetz kann den Willen nicht zu einer Handlung zwingen, aber es verleiht ihm ein Kriterium (quasisensus), durch das er der Werthaftigkeit seiner Handlung bewußt wird, und fordert von ihm, diesem Kriterium gemäß seine Freiheit zu gebrauchen.« Hier ist zu erkennen, wie die entia moralia auf die räumlich-körperlichen, auch psychischen Erscheinungen durchgreifen und diesen, ohne deren natürliche Gegebenheit zu verändern, durch einen Setzungsakt eine »neuartige ›moralische‹ Seinsweise beilegen.«Footnote 64 Dass es sich hierbei nicht um einen willkürlichen Vorgang handelt, der sich einer Rekonstruktion im Rahmen des Systems entzieht, hat Wolfgang Röd, Welzel ergänzend, herausgestellt und mit einer kritischen Nachfrage versehen: »Obwohl nun die moralischen Sachverhalte in ihrer Gesamtheit durch impositio entstehen, sind gewisse impositiones doch insofern notwendig, als sie mit Notwendigkeit aus der menschlichen Natur hervorgehen, die von Gott in bestimmter Weise geschaffen […] ist«, womit das Problem jedoch nicht »methodologisch, sondern ontologisch«Footnote 65 gelöst wird.

Ohne die Willensfreiheit gibt es keine Moralität der Handlung und ohne diese keine Welt der Kultur, die durch Wertbeziehungen hergestellt wird, die auf den entia moralia beruhen, über deren Realität Pufendorf allerdings »keine expliziten Angaben«Footnote 66 macht. Das führt einerseits zu einem – wie noch zu zeigen ist − Theoriedefekt, andererseits aber zu einer Erklärung dafür, warum sich unser kulturelles Leben, das an keinen »uniformen Modus« gebunden ist, so schwer fassen lässt, was Welzel mit der Nonchalance des Strafrechtlers exemplifiziert:

Die spezifische Eigenart der entia moralia, überhaupt ihr fundamentalster Gegensatz zu den entia physica liegt in ihrer Sinnhaftigkeit und Wertbestimmtheit. Alle physischen (und psychischen) Erscheinungen als solche, abstrahiert von den entia moralia, sind wertindifferent, d. h. weder gut noch schlecht. Darum können die physischen Elemente mehrerer moralisch ganz verschiedenartigen Handlungen gleich sein; so z. B. die Tötungshandlung eines Mörders, Henkers, Soldaten oder eines in Notwehr Handelnden. Sinnhaftigkeit und Wertbestimmtheit erhalten sie erst durch die entia moralia, eben weil sie deren sinnhafte und wertbestimmte Seinsweisen sind.Footnote 67

Unterschieden werden »vier Klassen von entia moralia: Stand, Person, Qualität und Quantität«, die bei genauerer Betrachtung eine Aufteilung nach Rechtsthemen erkennen lassen. Die wichtigste dieser Gruppen bilden Personen, die moralisch bestimmt sind (also nicht deren psychophysische Träger) und daher substanzanalog in ihrem jeweiligen Bezugssystem betrachtet werden können: »dem status.« Aus diesem Grund kann ein Mensch zugleich »mehrere moralische Personen«Footnote 68 verkörpern, etwa als Familienvater und als Politiker, der ein ›Amt bekleidet‹: Zweifellos gibt es Bezüge »zwischen der Pufendorfschen persona moralis und dem Rollenbegriff der modernen Soziologie.«Footnote 69 Ebenso kann sich die Person in verschiedenen status bewegen. Dieser hat Unterabteilungen, die Pufendorf sorgfältig nach raumzeitlichen und anderen Kriterien aufteilt, wobei der Stand der Natur besondere Beachtung findet. Das Theorem begegnet bei ihm in mehreren Varianten, je nach Kontext als kontrafaktische Fiktion, als normativ verpflichtender Stand der Menschheit oder als historische Gesellschaftsform.Footnote 70 Von besonderer Bedeutung ist der status naturalis in se, den Welzel als »methodische Abstraktion« versteht, in der die humane Natur »bis auf einige Grundanlagen […] aufgelöst wird«, um daraus die allein angemessene staatliche und gesellschaftliche Lebensweise abzuleiten; zum »leichteren Verständnis« dient dabei die erwähnte »Fiktion«Footnote 71 des einsamen Menschen.

Die Ursprungssituation eines den Naturmächten hilflos ausgelieferten Kindes dient dem Nachweis, dass der Mensch als Gattungswesen diesen Zustand immer schon überwunden hat. Sein wahrer Status ist der von seinen Bedürfnissen geforderte Stand einer durch Sprache, Kunst und rechtliche Ordnung ermöglichten Existenz in der Gesellschaft anderer Menschen. Die narrative Konstruktion zielt bei ihm auf das isolierte, in seiner Lage verzweifelnde Individuum. Die Insel als Mikrokosmos wird bei Pufendorf nicht zum Bild für eine utopische Kolonie, im Gegenteil. Die Interferenzen mit der in der Zeit entstehenden Robinsonaden-Literatur sind jedoch kaum zu übersehen und jüngst eingehend untersucht worden.Footnote 72

Die Hypothese wird zu einem überzeugenden Argument, wenn sie durch Prüfung und Experiment bestätigt wird. Die indirekte Beweisführung ist dagegen eine »deductio ad absurdum«: Wenn sich die Geselligkeit positiv aus der Fähigkeit der Menschen beweisen lässt, einander zu helfen und zu schaden, bildet die Vorstellung des hilflosen und auf sich allein gestellten Menschen dazu die »fictio contrarii.«Footnote 73 Die Lehre von seiner angeborenen Schwäche wird bei Pufendorf zur »negative[n] Beweisführung«Footnote 74 für die Grundregel des Naturrechts. Die genannten Entwürfe des Naturzustandes sind für Pufendorf − das hat Welzel erschlossen − Resultat eines Abstraktionsprozesses, der die Voraussetzung für die Rechtsdeduktion schafft. Die Modelle hat Pufendorf dabei immer wieder bearbeitet und verfeinert.Footnote 75

Die Doktrin von den entia moralia bildet für Welzel die Grundlage der Kulturphilosophie Pufendorfs und eine der großen Errungenschaften der frühneuzeitlichen Rechtstheorie, auch wenn er damit bei den Zeitgenossen auf »fast völlige Verständnislosigkeit«Footnote 76 gestoßen sei. Das trifft zu. Selbst ein Parteigänger wie Christian Thomasius hat bereits im Vorwort zu den Fundamenta juris naturae et gentium (1705) – der überarbeiteten Fassung seines zunächst eng an Pufendorf angelehnten Systems − die strikte Trennung zwischen Natur und Kultur aufgehoben, wobei er ausdrücklich empfiehlt, die »metaphysischen Kunst-Wörter«Footnote 77 zu meiden. Damit wurde bereits früh auf ein Problem in Pufendorfs Begriff der persona moralis hingewiesen: »Eine Einbeziehung in den einheitlichen Oberbegriff der entia moralia ist nur unter Inkaufnahme eines Systembruchs möglich, nämlich unter Durchbrechung des Grundsatzes, daß moralische Entitäten nur als Modi natürlicher Substanzen in Betracht kommen.«Footnote 78 Da für Pufendorf die humane Natur nicht auf die physische zu reduzieren ist, sondern auch seine moralische Bestimmung und Willensfreiheit einbezieht, wird die Trennung zwischen »Faktizität und Normativität« zurückgenommen: »Pufendorf verwirklicht den naturrechtlichen Sein-Sollen-Schluß durch den ontologischen Trick, daß er die moralische Person unter Durchbrechung des modalen Charakters des Normativen zur Substanz erhebt.«Footnote 79 Zugleich war es jedoch Pufendorfs bleibende Leistung, »die Person als das einzige Zurechnungssubjekt identifiziert zu haben, das in der Lage ist, die normative Lücke zwischen Sein und Sollen, zwischen Natur und Kultur zu überbrücken, mit der seit Anbruch der Neuzeit jede Moral- und Rechtsphilosophie konfrontiert ist.« Sein »idealistisches Kulturrecht« führte zu Kant und zur »Begründung der Person und des subjektiven Rechts aus dem Gedanken der Freiheit […]«Footnote 80.

Im letzten Abschnitt seines Beitrags zur Deutschen Vierteljahrsschrift kommt Welzel noch einmal auf die These von der Ausbildung des natürlichen Systems der Geisteswissenschaften zurück, indem er die natürliche Theologie in die Betrachtung einbezieht und eine Korrektur an dem von Wilhelm Dilthey entworfenen Bild der Epoche anbringt:

Zwar hatte er [sc. Pufendorf] mit der Befreiung des Naturrechts von der Theologie der späteren Entwicklung des natürlichen Systems der Geisteswissenschaften, damit auch der natürlichen Theologie, den Boden bereitet, er selbst aber trat dem Anspruch der natürlichen Religion, als wahres Christentum das ewige Heil bringen zu können, mit aller Entschiedenheit entgegen.Footnote 81

Die neuere Forschung hat dieses Urteil bestätigt: »Pufendorf bewegte sich hinsichtlich aller zentralen Glaubenssätze der christlichen Lehre auf dem Boden der lutherischen Orthodoxie seiner Zeit«Footnote 82 – einerseits; andererseits hat er seine kritische Distanz zum kirchlichen Lehramt keineswegs aufgegeben, die Autonomie des wissenschaftlich begründeten, universale Geltung beanspruchenden Naturrechts sollte gewahrt werden. Um diese Widersprüchlichkeit zu erklären, wirft Welzel einen kurzen Seitenblick auf das letzte Werk Pufendorfs (Jus feciale divinum), einen Text, den der Autor unter der Überschrift De consensu et dissensu inter Protestantes (1695) verschickt hat.Footnote 83 Welzel übersetzt eine Stelle aus diesem Werk, die den »Glaubensartikel von den drei Personen« verteidigt, der das Fundament des Christentums bilde; fällt das Dogma, dann auch die Religion, »und es bleibt nichts übrig, als eine akkurate Moralphilosophie.«Footnote 84 In der Vierteljahrsschrift hat Welzel die Passage nicht weiter erläutert, sondern nur angefügt, dass bei Pufendorf das »innerste [!] Wesen der Religion« in einem »scharfe[n] Gegensatz« zur Ethik stehe, die im Verbund mit der natürlichen Religion zur kulturellen Sphäre gehöre, welche für die »Heilsreligion«Footnote 85 nur von sekundärem Interesse sei; der Kontext der zitierten Stelle bleibt abgeblendet.

Anders in der Buchfassung. Hier hat Welzel das Jus feciale-Zitat eingehend kommentiert und darauf hingewiesen, dass Pufendorf mit der Entgegensetzung von Religion und Moral den religiösen Nonkonformismus, genauer den »Sozinianismus«Footnote 86 kritisiere, dem man eine zersetzende Wirkung zuschrieb. Ein kurzer Katalog der religiösen InnovationenFootnote 87 kann das verdeutlichen: Die Offenbarung ist demnach an der Vernunft zu prüfen, so wie sich die Bibel nur rationalistisch interpretieren lässt; bestritten wird die Göttlichkeit der Trinität und die Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater, womit vom Christentum kaum mehr als eine Sittenlehre übrig bleibt, die man ebenso gut der antiken Ethik entnehmen kann.Footnote 88 Im Blick auf diesen Kontext wird man Welzels strikte Trennung von Religion und Ethik abschwächen müssen. Pufendorf – so modern er als Rechtstheoretiker wirken mag − entwickelt noch keine Vorstellung einer rein individualistischen Privatreligion, wie sie das späte 18. und 19. Jahrhundert kennt; sein Anliegen ist ein polemisches, wie auch die Kritik an den Reformierten zeigt, die mit ihrer Prädestinationslehre die Religion und damit zugleich die Moral aufheben würden.Footnote 89

Am Ende bedarf es bei Welzel keiner langen Rekapitulation, um noch einmal die Grundprämissen der Theorie und ihre Konstruktion in Erinnerung zu rufen: »Natur, Kultur und Religion oder entia physica, entia moralia und religio bilden die Angelpunkte des naturrechtlichen Systems Samuel Pufendorfs«Footnote 90 – das nach oben hinFootnote 91 offen erscheint, denn so, wie das Naturrecht in sich evident und geschlossen ist, bleibt es im Verhältnis zur Schöpfung kontingent, »denn Gott hätte den ersten Grundsatz auch anders bestimmen können.«Footnote 92

IV.

Kurz angesprochen wurde bereits die Situation der Rechtswissenschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts, also das Wahrnehmungsfeld des jungen Juristen Hans Welzel, der zwischen Positivismus, Naturrechtsdenken und kulturwissenschaftlicher Methode nicht nur die Wahl seines Dissertationsthemas, sondern auch den Ort der Veröffentlichung getroffen hat. Unter Relevanzgesichtspunkten konnte die Entscheidung, einen vergessenen Naturrechtstheoretiker der Barockzeit zum Gegenstand zu wählen, als ebenso fragwürdig erscheinen wie die Wahl einer fachfremden Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, in der 1931 zwei Kapitel der Arbeit abgedruckt wurden. Dass er in beiden Hinsichten richtig entschieden hat, zeigt seine weitere Karriere, vor allem aber die stürmische Entwicklung der Pufendorf-Forschung in verschiedenen Fächern – von der Philosophie, Kirchengeschichte und Politologie bis zur Literaturwissenschaft −, für die Welzel die Grundlagen geschaffen hat, nicht zuletzt durch die Wahl einer interdisziplinär und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Zeitschrift. Die Wirkung seiner Dissertation war enorm, wie in einem Forschungsbericht jüngst noch einmal gezeigt worden ist:

Insgesamt bleibt der Interpretationsansatz von Welzel noch immer am fruchtbarsten, weil er die Grundlegung des juristischen Naturrechts in einer säkularen Anthropologie der normgebundenen Freiheit in den Mittelpunkt rückt und dabei materiell die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde hervorhebt, geistes-geschichtlich die Autonomie der Moralität gegenüber den Auffassungen des metaphysischen Rationalismus einerseits, des naturwissenschaftlichen Determinismus und Positivismus andererseits, so dass von Pufendorf […] eine Linie zu […] Kant gezogen wird.Footnote 93

Hier hat die hochspezialisierte, an der frühneuzeitlichen Wissens- und Ideengeschichte interessierte Forschung zum Naturrecht Anschluss gesucht, die Welzel selbst nicht mehr zur Kenntnis nehmen konnte. Zu fragen bleibt abschließend, was den Juristen nicht erst in den 1920er-Jahren, sondern auch in seinen Schriften zum Strafrecht nach dem Zweiten Weltkrieg zur Rückkehr ad fontes bewogen hat.

In einem programmatischen Beitrag aus dem Jahr 1953 hat Welzel das Verhältnis von »Naturrecht und Rechtspositivismus« behandelt, wobei er sich noch einmal der Voraussetzungen am Beginn der Neuzeit vergewissert, nicht bei Pufendorf, sondern bei dessen Gegenspieler: »Hobbes’ Staatstheorie enthält die bisher tiefste Rechtfertigung des positiven Rechts, sie bedeutet die naturrechtliche Rechtfertigung des positiven Rechts.« Mit dem Denker des 17. Jahrhunderts ist von der »Kontingenz der materiellen Wertinhalte des Rechts« auszugehen, auch wenn die daraus folgende »Lehre von der rechtlichen Allmacht des Gesetzgebers der eigentliche[] Sündenfall des Rechtspositivismus [ist]«, den es zu überwinden gilt. Denn tatsächlich scheint der Gesetzgeber »stets an bestimmte immanente Grenzen des positiven Rechts gebunden« zu sein, die »erste Schranke findet er an den sachlogischen Strukturen […]«Footnote 94.

Mit der Orientierung an den genannten Strukturen (das heißt »an kulturell tief sitzenden und explizit zu machenden konsentierten Wertungen«Footnote 95) sucht Welzel nach einem »dritten Weg« zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus, sein Ansatz wird »in Konzepten eines ›schwachen Naturrechts‹«Footnote 96 noch immer diskutiert. Deutlich ist, dass Welzel hier unmittelbar an seine rechtshistorischen Studien und die »werttheoretischen Überlegungen«Footnote 97 der 1930er-Jahre anknüpft, vor allem an die intensive Auseinandersetzung mit der neukantianischen Wertlehre Heinrich Rickerts in der Habilitationsschrift.Footnote 98 Welzels Einfluss auf die Strafrechtsdogmatik der jungen Bundesrepublik war bedeutend, seine Lehre »stellt den bislang letzten großangelegten Entwurf einer metaphysischen Strafrechtstheorie dar«Footnote 99 – eine Synthese, zu deren Verständnis nicht zuletzt die 1931 in der Deutschen Vierteljahrsschrift veröffentlichte Abhandlung über die kulturphilosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs beiträgt.