I.

einleitung

Im zehnten Gesang des Purgatorium, in dem Dante und Vergil den eigentlichen Läuterungsberg betreten, erreichen beide Wanderer nach mühsamem Aufstieg und etlichen Wendungen schließlich eine Felswand mit Reliefbildern, die Beispiele für die Tugend der Demut geben sollen. Das erste Bild der in jeder Hinsicht vollkommenen Serie von Fresken zeigt die Verkündigungsszene, Maria und den Erzengel Gabriel, und damit das neutestamentliche Ideal der Demut, das zweite präsentiert König David, der vor der Bundeslade tanzt und damit ein Exempel alttestamentlicher humilitas.Footnote 1 Das dritte Bild, das den beiden anderen in Intensität und Lebendigkeit in nichts nachsteht, illustriert in der Symmetrie Dantes ein Zeugnis paganer Demut. Vor den beiden Betrachtern breitet sich die sogenannte Trajanslegende aus: Kaiser Trajan, der vor einem Feldzug, wie es heißt, noch rasch Gericht gehalten hatte, um der leidenschaftlichen Bitte einer Witwe um Gerechtigkeit Genüge zu tun. Gott selbst hatte dieses Relief, das den Kaiser inmitten seiner goldenen Legionsadler auf die Bittstellerin treffen ließ, wie seine beiden Vorgänger in den Felsen geschlagen; seine Überzeugungskraft war entsprechend. Wie Dante ebenfalls anschließt, sollte diese Demut des Kaisers später Papst Gregor zu einer ungewöhnlichen Tat veranlassen, einem großen Sieg, gran vittoria, wie der Florentiner schreibt.Footnote 2 Das Ergebnis dieses Sieges besichtigt der Dichter im 20. Gesang des Paradiso, im sechsten Himmel, als er auf Trajan und König David als ideale Regenten treffen wird. Der Kaiser war aus der Hölle befreit worden.Footnote 3 Vielleicht hatte Dante auch an seinen heidnischen Begleiter Vergil gedacht, als er ein Beispiel für eine pagane Seele geben wollte, der sich als Folge besonderer Gnade ein Ausweg aus der Unterwelt geboten hatte.Footnote 4

Die besondere Aussagekraft dieser Episode hatte schon einen der Gründerväter der romanistischen Literaturwissenschaft, Gaston Paris, im Jahre 1878 zu einem eigenen Beitrag veranlaßt. Woher rührte die Szene, die den Betrachter im Fegefeuer so umgetrieben hatte? Paris meint eine Begebenheit aus Cassius Dio, die eigentlich Kaiser Hadrian betraf, als Ausgangspunkt der Geschichte erkennen zu können; wir werden dieser Idee noch wiederbegegnen.Footnote 5 Vor allem die Kunstgeschichte sollte sich der Begebenheit in der Folgezeit wiederholt in diversen Ausfächerungen und Genres annehmen.Footnote 6 Noch faszinierender als die Erfolgsgeschichte der Legende um den antiken Kaiser ist das Detail, das Dante nur anreißt, und dem bisher, von einem grundlegenden Beitrag Gordon Whatleys abgesehen, weitaus weniger Beachtung geschenkt wurdeFootnote 7. Die Seele des heidnischen Kaisers war durch die Hilfe Papst Gregors aus der Verdammnis befreit worden. Darin verortete sich die eigentliche Provokation, die Dante seinen Lesern zumutet; niemand, so war es jedem Theologen offenkundig, konnte dem finalen Urteilsspruch entgehen, der ihn in die Hölle geführt hatte.

Der Kontroverse um die Errettung der Seele Trajans aus der Hölle soll in dieser Untersuchung nachgegangen werden, von ihrer Grundlegung in der Spätantike bis zu ihrer weitgehenden Auflösung im frühen 18. Jahrhundert. Der diachrone Gang durch die Epochen begreift sich dabei als Fallstudie. Nachvollziehen möchte ich, wie in der Debatte um die Seele des Kaisers unterschiedliche Textgattungen, die in der Auseinandersetzung schließlich auch als solche identifiziert werden, miteinander kollidieren mußten. Die Rede ist hier von Textgruppen, die in ihrer divergenten Logik und ihrem voneinander abweichenden Selbstverständnis zu einem bestimmten Zeitpunkt für die Beteiligten der Debatte nicht mehr in Einklang gebracht werden konnten, nämlich, wie gezeigt werden soll, Heiligenviten und Exempel, deren im weitesten Sinne offene narrative Strategien nicht auf Kohärenz angelegt waren, auf der einen Seite, und die rationale und demonstrative Theologie der Summen und Sentenzen auf der anderen, die genau diese Kohärenz einforderte und sich über sie definierte.Footnote 8 Beide Gattungen standen in engem Wechselverhältnis zueinander; mit jedem Rationalisierungsschub der Theologie mußte eine Übereinkunft ihrer Darstellungsformen jedoch schwieriger werden. Dokumentiert werden soll, wie Gelehrtenzirkel über die Epochen hinweg ein gleichsam literaturwissenschaftliches Selbstverständnis entwickeln konnten, das die Theologie schließlich in die Lage versetzte, sich vom Ballast des Unsagbaren zu befreien. Möglich wurde diese Befreiung, weil erkannt wurde, was heute vielleicht selbstverständlich erscheint, daß Heiligenviten einem anderen Wahrheitsbegriff verpflichtet waren, als die Theologie ihn für sich selbst in Anspruch nahm.

Die langsame Heranbildung dieser Reflexionsfähigkeit im Kreise der Theologie werde ich in einem diachronen Schnitt vom frühen Mittelalter bis zur frühen Neuzeit nachvollziehen. Ich werde dazu zunächst einen Einblick in das durchaus heterogene Material geben, um den Schwerpunkt dann auf einige weniger bekannte Theologen der Frühen Neuzeit zu legen. Die Debatte um die Trajansseele kann auf diese Weise zum Exempel eines Abwicklungsprozesses werden, in welchem neue wissenschaftliche Methoden und eine Purgierung der Theologie ineinandergreifen mußten. Einer Autorität, der sich auf einer rational-systemimmanenten Ebene nicht beikommen ließ, konnte, wie wir sehen werden, immerhin durch die Entwertung ihres Mediums ihre Berechtigung genommen werden.

II.

ein konsens der gattungen im mittelalter: die seele trajans zwischen hagiographie, geschichtsschreibung, exempel und vision

Das Fundament unserer Episode, das auch Dante in seinen Terzinen referiert hatte, formte eine eigenartige Allianz aus lateinischen und griechischen Autoritäten, in deren Kombination sich bereits der Anlaß für die späteren Debatten ankündigen sollte. Ein Text, der unter dem Namen des Johannes Damascenus verbreitet wurde, der Libellus de his, qui in fide dormierunt, hatte im 7. Jahrhundert von Papst Gregor dem Großen berichtet, er habe auf dem Trajans-Forum darum gebetet, der Seele des Kaiser Trajan Vergebung zu gewähren. Eine göttliche Stimme bescheinigte dem Papst, sein Wunsch sei erhört worden, doch solle er in Zukunft davon Abstand nehmen, für Ungläubige zu betenFootnote 9. Ein Auszug dieser Passage war in das griechische Hymnenbuch, das Euchologium Graecorum, gelangtFootnote 10. Auf lateinischer Seite war die Befreiung Trajans von den beiden Autoren, die Papst Gregor eine Vita verfaßt hatten, aufgegriffen worden, von Johannes Diaconus und Paulus Diaconus. Beide Autoren weichen in ihrer Darstellung voneinander ab, was die Angelegenheit nicht erleichtern sollte. Johannes Diaconus nennt Überlieferungen der englischen Kirche, auf die er sich gestützt haben möchte, konkretisiert sie jedoch nicht weiter. Auf dem Forum sei Papst Gregor ein markantes Beispiel der Gerechtigkeit Kaiser Trajans in den Sinn gekommen. Vor dem Aufbruch in den Daker-Feldzug habe sich eine Witwe zu Füßen des Kaisers geworfen und die Ermordung ihres Sohnes beklagt. Trotz des anstehenden Feldzuges und des kaiserlichen Versprechens, sich der Sache im Anschluß anzunehmen, beharrt die Frau darauf, Gerechtigkeit zu erhalten. Trajan läßt die Mörder verurteilen und das Blutgeld der Witwe auszahlen. Ergriffen von der Tugendhaftigkeit des Kaisers bittet Gregor in der Basilika Sankt Petri um die Befreiung des Regenten aus der Hölle. Zur Antwort erhält der Papst, seine Bitte sei erhört worden. Johannes Diaconus fühlt sich in seiner Vita berufen, noch eine Erklärung hinzuzufügen. Hatte Gregor wirklich für die Errettung einer Seele aus dem Inferno gebetet, obwohl er selbst in seinen Dialogi eine solche Praxis untersagt hatte?Footnote 11 Johannes schlägt eine andere, gleichsam vom Skandalon befreite Lesart der von ihm referierten Begebenheit vor. Der Papst hatte zwar geweint, doch nicht gebetet. Auf seine Tränen hin war der Kaiser auch nicht einfach ins Paradies versetzt worden, lediglich von den Qualen der Hölle hatte Gott ihn befreit.Footnote 12 Die Version, die Paulus Diaconus zugeschrieben wird, fällt ein wenig anders aus.Footnote 13 Gregor befindet sich ebenfalls auf dem forum Trajani, doch sieht er dort die insignia misericordiae des Kaisers, ein Monument, das an die Begebenheit mit der Witwe erinnert. Der Papst betet am Grab des Heiligen Petrus für die Seele Trajans, im Traum erhält er zur Antwort, sein Wunsch sei erfüllt worden, doch würde er, falls er noch einmal für einen Ungetauften in der Hölle beten würde, Züchtigung verdienen. Paulus fügt noch hinzu, man möge die Macht der göttlichen pietas verehren und das iudicium, statt Zweifel daran vorzubringen.Footnote 14

Die Überlieferung der Gregor-Viten ist mit Blick auf ihre Interpolationen und Varianten komplex und inzwischen gut rekonstruiert. Vor allem die Rolle einer weiteren angelsächsischen Gregor-Vita war hier mit zu berücksichtigen.Footnote 15 Wohl schon früh ist unsere Episode in ihrer Transmission um zwei wichtige Details ergänzt worden, die dem Procedere Gregors mehr Ordnung gegeben hatten. Gott hatte den Kaiser auf die Bitte des Papstes von den Toten erweckt, Gregor hatte ihn getauft, im Anschluß hatte er den Weg ins Paradies antreten können. Die Strafe für die unzulässige Fürbitte war dem Papst nicht nur angedroht worden, er hatte sie auch auf sich nehmen müssen. Zwei Optionen hatte ihm ein Engel hier angeboten, zwei Tage im Fegefeuer oder massive körperliche Beschwerden im Diesseits. Gregor entschied sich für letzteres und war fortan genötigt, an Fieber, Magenbeschwerden und Podagra zu laborieren.Footnote 16 Es kommt wohl eher selten vor, daß die Verfasser von Heiligenviten ihren eigenen Gegenstand problematisieren und dabei theologische Bedenken vorbringen. Auch daß sich dieses Unbehagen in der Variation ihres Stoffes widerspiegelt, fällt nicht in den Erwartungshorizont der Hagiographie.

Die Erfolgsgeschichte der anima Trajani im Mittelalter schlug sich außerhalb der genuinen Theologie in drei Textgattungen nieder, die sich im weitesten Sinne als nichtfiktional beschreiben lassen, der Historiographie, der Vision und der Predigt. Alle drei Gattungen mußten die Vertreter der Theologie in Zugzwang bringen. Daß sich diese Textformen in ihrem Anspruch und Selbstverständnis nicht sauber voneinander trennen lassen, liegt auf der Hand. Zugleich erkennt man rasch, wie fluide die Gestalt unserer Heiligenlegende in ihrer Überlieferung war. Die Geschichtlichkeit der Begebenheit stand zunächst außer Zweifel. Schon Hugo Aetherianus in seinem Liber de regressu animarum, der in der Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden war, erinnert an die pastorale Großzügigkeit Gregors, deren Anlaß er allerdings nicht auf dem Forum, sondern einer römischen Brücke verortet. Dem Papst wird die indulgentia gegenüber Trajan bestätigt, zugleich wird er aufgefordert, Vergleichbares in Zukunft zu unterlassen. Die Episode sei eindeutig bezeugt, fügt Hugo noch hinzu. Sicher durfte man sich sein, daß dem Kaiser zumindest auf das Gebet Gregors hin die Schmerzen in der Hölle erleichtert wurden.Footnote 17

Andere Autoren schlossen sich Hugo an, variieren aber das eine oder andere Detail. Für Vinzenz von Beauvais war die Seele Trajans komplett aus dem Inferno befreit worden, Anlaß dazu war eine Statue des Kaisers, die Gregor an dessen Gerechtigkeit gegenüber der Witwe erinnert hatteFootnote 18. Bei Antonius von Florenz, der im 14. Jahrhundert eine der populärsten Chroniken schrieb, lesen wir, daß der Kaiser der Witwe sogar den eigenen Sohn als Wiedergutmachung überantwortet, auf Geheiß Gregors wird Trajan im Anschluß die Höllenstrafe erlassen.Footnote 19 Sigebert von Gembloux und Gottfried von Viterbo notieren die Befreiung Trajans in ihren Chroniken,Footnote 20 Gottfried erinnert in einem Gedicht zusätzlich an die Schmerzen, die der Papst im Anschluß auf sich nehmen mußte.Footnote 21 Andere Historiker wie Matthew Paris oder Ranulph Hidgen wiederholen fast Wort für Wort die Gregor-Vita des Johannes, um im Anschluß noch einmal die humilitas des Papstes hervorzuheben, der bereitwillig, so der Tenor, die anschließende Krankheit ertragen habe.Footnote 22 Johannes von Salisbury referiert die Begebenheit in seinem Policraticus, hier vor allem jedoch, um die außergewöhnlichen Tugenden Trajans noch einmal ins Gedächtnis rufen zu können. Ähnliches leistet Petrus Abaelardus, ebenfalls mit einem eher allgemeinen Verweis auf die Tugendhaftigkeit des Kaisers.Footnote 23

In der deutschen Kaiserchronik, die sich im weitesten Sinne ebenfalls der Historie zurechnen läßt, ruft der Verfasser zunächst einige Kostproben der Großmütigkeit und Tugend Kaiser Trajans in Erinnerung und gibt vor allem der Witwe ausreichend Raum.Footnote 24 Der Regent hatte so viel an genade gewonnen, wie es heißt, daß er Gregor noch 200 Jahre später beeindrucken konnte, und ihn veranlaßte, für die Erlösung des Kaisers zu beten. Der Engel tadelt ihn, er möge nicht für Heiden beten, und stellt ihm Schmerzen für die Befreiung Trajans in Aussicht. Als Gregor bitterlich weint, überantwortet man ihm, wie es heißt, die Seele des Kaisers. Gregor, den es fortan mit Krankheiten schlägt, möge sie bis zum Jüngsten Tag bewahren, auf daß sie dann endgültig gerichtet werde. Trajan, so die Kaiserchronik, hatte die Gnade Gottes erhalten können, weil er selbst Gerechtigkeit geübt hatte.Footnote 25

Zu den späteren Geschichtsschreibern, die sich der Sache annehmen, gehören Giacomo Filippo Foresti von Bergamo,Footnote 26 aber auch Giovanni Stella in seiner Sammlung von Papst-Viten, die sich auf die erfolgreiche Befreiung der Seele aus der Hölle beschränken.Footnote 27 Ins Bizarre gleitet schließlich die Erweiterung der Erzählung ab, die der italienische Humanist Bernardino Corio in seiner Geschichte Mailands in der dort angehängten Vita Trajans zum Besten gibt. Keine Statue oder das Forum hatten Anlaß zur Fürbitte Gregors gegeben. Zu Lebzeiten des Papstes war der Schädel des Kaisers ausgegraben worden, in dem die noch unversehrte Zunge Trajans steckte. Der Kopf hatte zu sprechen begonnen und von den Schmerzen der verdammten Seele geklagt. Tief angerührt bat Gregor daraufhin um Gnade für den Verdammten, die ihm, wie Corio anschließt, natürlich auch zuteil wurde.Footnote 28

Wollte man die Macht des Gebets, den Wert der Gerechtigkeit, die göttliche Barmherzigkeit, aber auch die Unerforschlichkeit der göttlichen Vorsehung illustrieren, bot die anima Trajani ausreichend Anschauungsmaterial. Jacobus de Voragine, der die Trajanslegende auch in seiner eigenen Gregor-Vita zusammenfaßt,Footnote 29 beruft sich auf sie, um die göttliche miseratio mit Beispielen zu füllen, auch wenn er vielleicht zur vorsorglichen Absicherung ein ut dictum vor ihre Erwähnung stellt.Footnote 30 Johannes Gerson reiht unsere Episode aus dem gleichen Grund in eine Exempelkette ein, als er im Beisein des französischen Königs über den Frieden predigt; sie war ein Beispiel für die radikale Barmherzigkeit Gottes.Footnote 31 In den Sermones de Sanctis Vinzenz Ferrers, die etwa zur gleichen Zeit wie die Predigten Gersons verfaßt werden, steht stattdessen die Tugend der Gerechtigkeit im Mittelpunkt. Trajan hatte der Witwe wie bei Antonius von Florenz seinen Sohn als Wiedergutmachung ausgehändigt. Gregor sieht ein Gemälde der Geschichte und sinniert, so Vinzenz, über Paradies und Hölle. Wenn die Hölle ein Ort der Gerechtigkeit war, sollte so ein derart gerechter Herrscher wie Trajan dann im Inferno verharren müssen? Gregors Bitte wird erhört, doch trägt er als Folge die bekannten Schmerzen davon.Footnote 32

Diese Schmerzen nimmt der Luther-Opponent Silvester Prieras Mazzolini zum Anlaß, um in einer Predigt über die Notwendigkeit des Fegefeuers die Episode aus der Gregor-Vita zu referieren und ebenfalls die iustitia in den Mittelpunkt zu rücken. Gregor hatte Fieber und Podagra, die ihm für die Erlösung Trajans auferlegt worden waren, geduldig ertragen, weil sie wie das gesamte Fegefeuer, so Prieras, Produkt der göttlichen Gerechtigkeit waren.Footnote 33 Noch als der große Dominikanerprediger Gíronimo Battista de Lanuza 150 Jahre später auf die Totenauferweckungen des Neuen Testaments zu sprechen kommt, unterfüttert er die göttliche misericordia, die er zum Thema seiner Predigten macht, mit dem Exempel Trajans. Viele andere antike Potentaten hatte Gott mit gutem Grund im Inferno belassen, so Lanuza, Trajan jedoch hatte Barmherzigkeit an der Witwe geübt. Gregor hatte die Geschichte auf einer Wandmalerei dargestellt gesehen und war, wie Lanuza weiter ausschmückt, von der misericordia und pietas des Kaisers ergriffen worden. Voller Leidenschaft hatte er in seiner Zelle daraufhin für den Kaiser gebetet. Um seine eigene Barmherzigkeit unter Beweis zu stellen und zugleich zu demonstrieren, daß alle Herrscher, selbst der Spanier Trajan, vor Gott nur vermiculi abiectissimi waren, hatte der himmlische Monarch im Anschluß die Seele des Kaisers aus der Hölle entlassen und damit die Barmherzigkeit Trajans unendlich übertroffen.Footnote 34

Als letzte paratheologische Gattung sei die Vision genannt, die in Mittelalter und Früher Neuzeit nur zu oft als autoritativ empirisches Reservoir theologischer Spekulation dienen mußte. Birgitta von Schweden, deren Geltung bis zur Frühen Neuzeit stetig gewachsen war, hatte in ihrem Augenzeugentum auch zur Trajansseele etwas beizutragen. Birgitta erklärt ihren Lesern ein weiteres Mal die enorme Kraft des tränenreichen Gebets, das für die Seelen im Fegefeuer als unerläßliche Hilfe diente. Ein Vaterunser war für den Nächsten von höherem Wert als ein Pfund Gold, wie Gregor gezeigt hatte. Ihm war es gelungen, so Birgitta, die Seele des Kaisers auf eine höhere Stufe, ad altiorem gradum, zu heben.Footnote 35 Als zweite Visionärin berücksichtigt Mechthild von Hackeborn den Kaiser, wenn auch in ähnlich zweideutiger Gestalt wie Birgitta. In einem Katalog von göttlichen Leistungen, die den Verstand, so Mechthild, zur Gänze übersteigen mußten, ist bei der Zisterzienserin auch von Kaiser Trajan die Rede, dem Gott gewogen war. Obwohl er Taufe und Glaube nicht besaß, war der Kaiser zum Empfänger der göttlichen liberalitas geworden. Was Gott konkret an ihm vollbracht hatte, mußte jedoch, so Mechthild, im Verborgenen bleiben.Footnote 36

III.

ein theologischer skandal und versuche der theologie, ihm beizukommen

Daß der Klärungsbedarf im Fall der anima Trajani erheblich war, hatten schon die Gregor-Viten selbst dokumentiert. Zugleich war durch die diversen Gattungen hindurch deutlich geworden, wie sehr unsere Episode auch aus diesem Grund schillerte und die Kernaussage in unterschiedlichen Ummantelungen dargeboten wurde. Wo sich das Dilemma verortete, war offenkundig. Die Seelen in der Hölle hielten sich aufgrund ihrer Todsünden, ihrer Unbußfertigkeit und ihres fehlenden Christentums an dem Ort auf, an dem sie sich befanden. Für suffragia, spirituelle Hilfeleistungen aller Art, aus dem Diesseits waren sie umempfänglich, das Urteil der göttlichen Gerechtigkeit war irreversibel.Footnote 37 Auch ein Papst konnte einen Verdammten, und um einen solchen handelte es sich im Fall des römischen Kaisers eindeutig, nicht durch ein Gebet aus seiner Verurteilung herauslösen. Die offenbarungs- und vernunftorientierte Theologie und die mehrdeutig flirrende Wahrheit des legendarischen Erzählens, auf die sich Historiographen, exempelorientierte Prediger und Visionärinnen gleichermaßen berufen konnten, standen in eklatantem Widerspruch zueinander. Was ließ sich tun? Tatsächlich sollten sich die Vertreter der Theologie zunächst, wenn auch in übertragenem Sinne, um eine Neuerzählung unserer Episode bemühen, die ihr eine nachträgliche Rationalisierung ermöglichte. Auch das scheinbar Unauflösliche ließ sich zu einer Auflösung bringen. Daß Viten vielleicht auf andere Weise zu behandeln waren und nicht um jeden Preis Konsistenz produzieren mußten, stand in dieser ersten Annäherung an die Kette von Ereignissen, die uns hier interessiert, noch nicht zur Debatte.

Den Wunsch nach einer nachträglichen Legitimation des Skandalons sollte erhöhen, daß sich in der Schar derjenigen, die den mirakulösen Bruch mit der Dogmatik verteidigten, ausgerechnet Thomas von Aquin eingefunden hatte. Vorher schon hatte Wilhelm von Auxerre eine Hypothese zur anima Trajani vorgelegt, als er die Frage beantworten wollte, warum suffragia, die üblichen geistlichen Hilfen, für Verdammte ohne Wert waren. Wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen war Wilhelm der Auffassung, daß die göttliche Gerechtigkeit unumkehrbar war. Weder Todsünden noch läßliche Sünden, peccata venialia, konnten daher in der Hölle nachträglich korrigiert oder abgebüßt werden. Wilhelm war sich durchaus darüber im Klaren, daß es konträre Sichtweisen gab.Footnote 38 Vor allem Praepositinus von Cremona hatte noch die Meinung vertreten, vor dem Endgericht könnten zumindest die Strafen für die läßlichen Sünden auch in der Hölle noch erleichtert werden.Footnote 39 Die zeitweilige Erleichterung der Strafen des Judas, die sich aus der Navigatio Brendani belegen ließ, war hier als Beleg angeführt worden. Vergleichbare temporäre Ablässe in der Hölle aber mußten, wie Wilhelm betont, der göttlichen Gerechtigkeit und der Eindeutigkeit ihrer Verdikte widersprechen.Footnote 40 Wie aber stand es unter dieser Voraussetzung mit der Seele Trajans, deren Befreiung die Unumkehrbarkeit göttlicher Entscheidungen ja erst recht zu entwerten schien? Zeigte die Auslösung des Kaisers aus der Verdammnis nicht, daß Gebete bis in die Hölle hinein wirksam waren und auch dort Straferlaß erreichen konnten? Die Angelegenheit mußte, wie Wilhelm betont, in einem anderen Licht betrachtet werden. Der Schuldspruch, die sententia, die den Kaiser betraf, und seine Verurteilung waren noch nicht endgültig gewesen. In solchen und vergleichbaren Fällen, so Wilhelm, besaß ein Heiliger die Option, die Seele wieder zum Leben zu erwecken, um ihre fides informis in wahren Glauben zu verwandeln und sie nachträglich der Erlösung zuzuführen. Auch die Apostel hatten nach dieser Maxime heidnische Tote auferwecken können.

Die Antwort des Thomas von Aquin ließ sich in dessen Sentenzenkommentar nachlesen und im Supplement der Summe; sie erscheint im gleichen Problemkontext, fällt jedoch etwas anders aus als beim Verfasser der Summa aurea. Thomas schlägt zwei Lösungen vor, um unsere Episode zu retten. Gregor hatte, so die erste mögliche Lesart, den Kaiser aus der Hölle befreit, indem er ihn von den Toten auferweckt hatte. Wie andere nur scheinbar verdammte Idolatriker, so Thomas, war auch Trajan nicht endgültig verurteilt worden, sondern nur vorläufig, secundum praesentem iustitiam propriorum meritorum. Eine übergeordnete Ursache, Gott selbst und die Vorsehung, hatte für ihn ein anderes Schicksal vorgesehen. Die zweite mögliche Lesart nahm den Modus der Befreiung in den Blick. Vielleicht, so Thomas, war Trajan nur zeitweilig aus der Hölle befreit worden, um nach dem Endgericht wieder zurückzukehren. In beiden Fällen hatte ein göttliches privilegium das gewohnte Gesetz der suffragia, das ihnen jede Wirkung in der Hölle untersagte, ausgehebelt und außer Kraft gesetzt.Footnote 41 Richard von Middleton,Footnote 42 Bonaventura,Footnote 43 aber auch ein Theologe wie Durandus von San Porciano, der sonst kaum die Meinung des Aquinaten vertrat, hatten sich der Interpretation des Thomas angeschlossen. Entweder war Trajan nur conditionaliter verdammt worden und nicht absolut, oder es lag ein singulare privilegium gratiae vor, das die übliche Ordnung der Dinge hinter sich ließ.Footnote 44 Es ist diese thomasische Sichtweise, die wir, nur am Rande bemerkt, in sehr knapper Form auch in jenen mittelalterlichen Dante-Kommentaren lesen können, die genötigt waren, die betreffenden Verse des Purgatorium weiter mit Bedeutung zu füllen und eine Interpretation anzubieten.Footnote 45

Bis in die Neuzeit hinein sollten viele katholische Gelehrte eine vergleichbare Auslegung der anima Trajani repetieren, darunter Juan de Torquemada,Footnote 46 Bartolomeo de Medina,Footnote 47 Jean de Azoar,Footnote 48 Martino Alonso VivaldoFootnote 49 oder Fabiano Giustiniani.Footnote 50 Einhellig hatte man hier im Sinne des Aquinaten hervorgehoben, daß Trajan nicht ohne Vorleistungen gen Himmel geführt worden war, sondern daß seiner Erweckung durch Gregor Taufe, Buße und gnadengebundene Vergebung gefolgt waren, der Kaiser also im Anschluß den regulären Dienstweg eingehalten hatte. Nur ein göttliches Privileg hatte diesen Vorgang ermöglichen können. Daß von den Hagiographen niemand, so Martín de Azpilcueta, von diesen Begleitumständen berichtet hatte, mußte sie nicht fragwürdig werden lassen; sie waren schlicht zu selbstverständlich gewesen.Footnote 51 Henrique Henriquez, der ebenfalls die thomasische Meinung referiert, favorisiert wie viele seiner Zeitgenossen eine nur zeitweilige Befreiung Trajans von den Höllenstrafen, die unter dem Vorbehalt des Endgerichtes erfolgt war.Footnote 52 Gleiches schlägt auch der Theologe Jean Viguier vor, der sich allerdings für eine vorübergehende Linderung der Qualen allein innerhalb der Hölle selbst ausspricht.Footnote 53 Daß eine solche zeitweilige Erleichterung der Strafen im Sonderfall nicht ausgeschlossen war, glaubt auch Sixtus Senensis in seiner Bibliotheca sancta.Footnote 54 Augustinus hatte in seinem Enchiridion, wie Sixtus erinnert, vergleichbare Schwankungen in der Intensität der Schmerzarchitektur nicht ausgeschlossen,Footnote 55 Prudentius sie in seinen Hymnen sogar zur besonderen Gnade erhoben.Footnote 56 Warum sollte Trajan nicht eine ähnlich angelegte consolatio auf Bitte Gregors hin gewährt worden sein? Luis de Granada äußert in einer Predigt dazu noch den Gedanken, dem Kaiser sei auch deshalb durch ein Sonderprivileg der Weg aus der Hölle und zu einer erneuten Buße gebahnt worden, weil dem gewöhnlichen Menschen im Diesseits die Notwendigkeit der radikalen Buße vor der drohenden Hölle auf diese Weise noch einmal exemplarisch in ihrer ganzen Unabdingbarkeit vor Augen geführt werden konnte.Footnote 57

Kritik an der thomasischen Lösung wurde auch von Seiten derer geäußert, die zum Ende keinen Zweifel am Gesamtnarrativ der Viten vorbringen wollten. Konnte man den Unstimmigkeiten der Überlieferung so leicht entkommen? Domingo de Soto, ein Ordensbruder des Aquinaten, weist auf eine elementare Schwierigkeit hin. Welchen Wert sollte die Entscheidung Gottes, einen Menschen zu verdammen, haben, wenn Gott diese Entscheidung wieder rückgängig machen konnte? Konnte eine solche ratio praedestinationis Gottes überhaupt sub conditione erfolgt sein? Und was noch wichtiger war und schon von den Viten thematisiert worden war: Wie hatte sich Gregor erdreisten können, für einen offenkundig Verdammten zu beten?Footnote 58 Eine ganze Kette von Bedenken, die auch den späteren Moraltheologen geläufig war, lesen wir bei Alonso Tostado Ribera y Madrigal, einem der einflußreichsten Bibelkommentatoren des Spätmittelalters. Warum, so fragt der Bischof von Avila in seinem Kommentar zum vierten Buch der Könige, hatte Gregor nicht selbst in seinen Dialogi vom Wunder berichtet, das ihm widerfahren war? Hatte sich das Mirakel nicht in die Argumentation des Werkes gefügt, sondern, im Gegenteil, seiner Stoßrichtung widersprochen? Was hatte den Papst überhaupt veranlaßt, für einen Verdammten eine Fürbitte vorzutragen? Hatte er sich damit nicht einer Todsünde schuldig gemacht? Für Tostado läßt erst die elementare Verfehlung Gregors den weiteren überlieferten Verlauf der Geschichte plausibel werden. Der Engel, der dem Papst den Erfolg seines Gebetes proklamiert, hatte den Papst bestrafen müssen. Die Optionen, die Gregor angeboten wurden, Fegefeuer oder Invalidentum, waren eine legitime Antwort auf seine Verfehlungen gewesen; sie mußten sich als Sühne begreifen lassen.Footnote 59

IV.

die ausweitung der kampfzone: das rasiermesser der kritischen theologie trifft auf die verteidiger des kaisers

Hatte Tostado die Unstimmigkeiten der Gregor-Viten noch aus ihnen selbst zu rechtfertigen versucht, so formuliert es wenige Jahrzehnte später ein weiterer Dominikaner, Melchior Cano, in seinen Loci um einiges deutlicher und benennt damit genau jenes Problem, das sich aus der Kollision unterschiedlicher Textgattungen und ihren divergenten Wahrheitsansprüchen ergeben mußte. Wie glaubwürdig sollten die monumenta annalium sein, auf die ein Theologe in seiner Argumentation zurückgriff? Die Trajanslegende bot ein Musterbeispiel, so Cano, zu welchen Schlüssen sich ein Theologe verleitet sehen konnte, wenn er irrationale Zeugnisse und ihre, so Cano, ›goldenen Berge‹ in sein System integrieren wollte. Der Johannes Damascenus zugeschriebene Text konnte in dieser Angelegenheit kein glaubwürdiger Zeuge sein, zumal der Kirchenvater, wie Cano irrtümlich behauptet, zeitlich vielleicht sogar vor Gregor anzusiedeln war. In jedem Fall hatte diese dubiose Autorität eine Kettenreaktion provoziert, die selbst den Aquinaten zu falschen Schlußfolgerungen veranlaßt hatte. Den doctor angelicus entschuldigte allenfalls seine Jugend, denn, so sein Ordensbruder Cano, als er seinen Sentenzenkommentar verfaßte, hatte ihm die notwendige Reife noch gefehlt.Footnote 60

Im ersten Anlauf sollte Canos Einwand, der den Kern des Problems traf, noch wirkungslos verpuffen. Als Verteidiger der bisherigen Lesart wendet sich Alonso Salmeron, der wohl wichtigste Evangelienkommentator der ersten Generation der Jesuiten, nicht nur gegen Tostado, sondern auch gegen Melchior Cano. In seiner theologischen Legitimation des Vorgangs unterscheidet sich Salmeron durchaus von seinen Vorgängern. Zunächst, so Salmeron, war die Errettung Trajans aus der Hölle kein Einzelfall gewesen. Auch von der heiligen Agnes wußte man, daß sie auch nach den Aposteln Heiden zum Leben erweckt und für ihre Taufe gesorgt hatte, die heilige Perpetua hatte, sofern man Augustinus Glauben schenkte, ihren Bruder Dinokrates erretten können. Gregors Fürbitte hatten sich die Auferstehung, die Taufe, Buße und unmittelbar dann auch die Himmelfahrt des Kaisers angeschlossen. Ein längerer Aufenthalt Trajans in der Welt oder gar eine zeitweilige Wiederaufnahme seiner Amtsgeschäfte waren kaum vorstellbar. Entgegen der Annahme mancher, so Salmeron, mußte das Urteil, das über die Seele des Kaisers gesprochen war, kraft seiner Sünden endgültig gewesen sein, ebenso wie die Errettung Trajans nicht hatte bedeuten können, daß nur seine Schmerzen gelindert wurden. Die Befreiung aus der Hölle kannte keine Grauzonen. Damit war auch unwahrscheinlich geworden, so Salmeron, daß die Straffreiheit Trajans nur bis zum Jüngsten Gericht angehalten hatte, um dann erneut von der Hölle abgelöst zu werden.Footnote 61

Warum aber hatte Gott das Gebet Gregors erhört und dem Kaiser ein Privileg zugestanden, das die Theologie sonst nicht vorsah? Ähnlich wie im Fall der bekannten Apostel, so Salmeron, offenbarte Gott anhand einer radikalen Ausnahme, welche durchdringende Gewalt das von Tränen begleitete Gebet besitzen konnte, wenn es mit reinem Herzen vorgebracht wurde. Der Sonderfall dokumentierte die Regel. Gregor hatte die Befreiung des Kaisers in seinen Werken nicht weiter notiert, gerade weil sie den Verstand des Betrachters, wie auch kleinmütige Skeptiker wie Cano offenbarten, übersteigen mußte. Hätte Gregor mit diesem Gebet eine Todsünde begangen, wie Tostado unterstellt hatte, wäre er kaum von Gott erhört worden. Bei den Schmerzen, die der Papst im Anschluß auf sich genommen hatte, hatte es sich daher nicht um eine Strafe gehandelt, sondern um die Möglichkeit, weitere Verdienste zu sammeln.Footnote 62 Gegen Cano galt es festzuhalten, daß die Autorität des Damascenus wie der Viten außer Zweifel stand und der Aquinat sich kaum zufällig auf sie gestützt hatte. Alle Versuche, die Schlüsseltexte und ihre Verfasser zu diskreditieren, meint Salmeron im Detail widerlegen zu können.Footnote 63

Canos Kritik an der Trajanslegende hatte den argumentativen Horizont der Theologie und ihren Kohärenzanspruch allerdings weit hinter sich gelassen und den Wert der herangezogenen Quellen in Frage gestellt. Daß die Diskussion sich daher fortan auf einem anderen Niveau bewegen mußte, auf dem die Kollision von Textgattungen selbst zum Thema gemacht wurde, zeigt so schon die letzte ausgreifende Verteidigung, die der anima Trajani im 16. Jahrhundert zuteilwurde, die stark apologetisch gehaltene Historia des Alfonso Chacón.Footnote 64 Zum ersten Mal weitet ein Autor den Blick und versucht, Zeugen außerhalb der Hagiographie in seine Beweisführung zu integrieren.Footnote 65 Chacón gesteht zu, wie umstritten durch Sotos und Canos Einlassungen die Trajanslegende geworden war. Gab es Quellen außerhalb der drei Standardtexte, Damascenus, Johannes und Paulus Diaconus? Die Episode, die Gregor so angerührt hatte, die Konfrontation mit der Witwe, fand sich auf den ersten Blick nirgendwo in der paganen Literatur beglaubigt, auch wenn sie offensichtlich die Nachgeborenen zur Errichtung eines Freskos oder eines vergleichbaren Monuments veranlaßt hatte. Konnte der betreffende Bericht, so Chacón, nicht einfach verlorengegangen sein, wenn man bei Cassius Dio, der wichtigsten Quelle zur Flavier-Dynastie, berücksichtigte, daß weite Teile dieses Autors nur in Epitomen vorhanden waren? Mehr noch, eine vergleichbare Großzügigkeit gegenüber einer Witwe hatte, wenn man Dio glaubte, Hadrian an den Tag gelegt. Hatte hier nicht einfach eine Verwechselung von Seiten des Historikers vorgelegen? Daß auch Plinius in seinem Panegyricus auf Trajan angesichts der Fülle von Tugenden, die den Monarchen ausgezeichnet hatte, mit keinem Wort auf die Begegnung vor dem Daker-Feldzug eingegangen war, mußte nicht weiter irritierenFootnote 66.

Chacón kann zuzüglich der drei christlich-konnotierten Quellen noch mit einer vierten aufwarten, von der er behauptet, sie in der Vatikanischen Bibliothek gefunden zu haben. Zwei Diakone, kaum zufällig tragen auch sie den Namen Johannes und Paulus, beglaubigen hier, wie Chacón referiert, daß wer auch immer in der Kirche Sankt Andreas am Clivo di Scauro in Rom bestattet werde, werde unverzüglich den Weg ins Paradies antreten können. Gregor hatte diese Gnade, so das Dokument, durch die besondere Kraft seiner Fürbitten erreicht, die gleiche, mit der er auch Kaiser Trajan aus der Hölle befreit habe.Footnote 67 Zusätzlich zu den vielen christlichen Historikern, die sich für die Glaubwürdigkeit der Episode ausgesprochen hatten, galt es im Besonderen, so Chacón, auf die Visionen Birgittas und Mechthilds zu verweisen, deren Urheberinnen sich nicht allein durch theologische Expertise, sondern auch durch Heiligkeit und gnadenhafte Erwählung ausgezeichnet hatten. Ihre Orakel waren mehr wert als die Worte eines Livius oder Sallust, waren sie doch vom Heiligen Geist als Prophetien ausgewiesen.Footnote 68

Chacón glaubt auch, den weiteren Einlassungen begegnen zu können. Warum hatte Gregor, der selbst wiederholt auf die Unumkehrbarkeit der Hölle hingewiesen hatte, die Seele eines Idolatrikers aus dem Inferno erlösen wollen und war damit erfolgreich gewesen? Der Italiener bemüht sich um eine neue Antwort. Menschen, die Gott besonders nahe waren, hatten das Recht, so Chacón, die Normen der Religion zu überschreiten und, vom Heiligen Geist angetrieben, ungewöhnliche Dinge zu tun oder zu erbitten. Abraham hatte seinen Sohn opfern wollen, Samson eine Kohorte Philister getötet und dabei seinen eigenen Tod in Kauf genommen, der Prophet Elisha hatte die Kinder, die ihn beleidigt hatten, durch einen Bären vertilgen lassen, der heilige Thomas in Indien dafür gesorgt, daß zwei Sklaven, die ihn bei der Andacht störten, durch einen Löwen zerfleischt wurden. Numine afflatus, von Gott beseelt, waren darüber hinaus auch suizidale und selbstverstümmelnde Praktiken erlaubt gewesen. Die heilige Apollonia hatte sich ins Feuer gestürzt, der Heilige Markus einen Daumen abgehackt und die heilige Katharina sich in ihren Fastenübungen förmlich zu Tode gehungert. Schon Augustinus oder Thomas hatten solche Handlungen durch den Impetus des Heiligen Geistes zu entschuldigen gewußt. Gregor hatte also nicht gesündigt, sondern war einem direkten Impuls Gottes gefolgt. Der Schöpfer hatte ein Beispiel dafür geben wollen, zu welchen Wundern an seinen Heiligen er in der Lage war. Warum aber hatte der Papst dann die Schmerzen davongetragen? Ähnlich wie Salmeron hält auch Chacón fest, daß hier keine Strafe vorgelegen hatte, sondern lediglich eine confirmatio, eine Bestätigung, die Gregor davon abhalten sollte, dem Hochmut zu verfallen, und andere Menschen davor warnen, es ihm gleichzutunFootnote 69.

Und wie ließ sich der Unumkehrbarkeit der Verdammnis mit Blick auf den Kaiser beikommen? Chacón verwirft alle Vorschläge, mit der die Theologen versucht hatten, das Mirakel in seiner Reichweite abzumildern. Weder eine Schmerzlinderung im Höllenfeuer noch eine nur temporäre Befreiung aus der Hölle bis zum Moment des Endgerichtes wären tolerierbar gewesen; sie hätten in ihrer Vorläufigkeit im Anschluß die Qualen nur steigern müssen. Hätte der Kaiser für eine Interimsperiode ins Fegefeuer oder in den Limbus wechseln sollen? Mußte man ihm zumuten, nach dem Endgericht wieder ins ewige Feuer zurückzukehren, um dessen volle Brutalität ertragen zu müssen? Chacóns Lesart der thomasischen Lösung entspricht dem Modell Salmerons. Gregor hatte Trajan von den Toten erweckt, ohne dabei großes Aufsehen zu erregen, ihn getauft und zügig Buße tun lassen und damit vollständig aus der Hölle erlöst. Anders als Soto beargwöhnt hatte, war das Urteil Gottes über Trajan zwar endgültig gewesen, doch hatte aus der Ewigkeit heraus die Gebete Gregors schon miteingeschlossen, damit aber auch die Revision der Verdammnis und das besondere Vorrecht, das Inferno wieder verlassen zu dürfen. Als causa prima hatte Gott die causa secunda, die Gebete, wirksam werden lassen, so Chacón, auch wenn suffragia bei Verdammten sonst keine Wirkung mehr entfalten konnten. Die vielen vergleichbaren Fälle von Erweckungen, die Heiden in der Kirchengeschichte widerfahren waren, konnten dieses Vorgehen Gottes weiter absichern. Seine Barmherzigkeit hatte sich über die lex communis, das von ihm selbst erlassene theologische Gesetz, auch wieder hinwegsetzen können.Footnote 70

V.

die vita als fabula : dogmatische kohärenz und überlieferungskritik

Trotz der Leidenschaft, mit der sich Salmeron und Alfonso Chacón für die Seele Trajans in die Bresche geworfen hatten, war die Geschichte für die Theologen fragwürdig geworden und hatte an Glaubwürdigkeit verloren. Deutlich illustriert dies ein weiterer zeitgenössischer Jesuit, Roberto Bellarmin, in seinem Traktat zum Fegefeuer. Schon zu Beginn hält Bellarmin mit Nachdruck fest, daß kein Ausweg aus der Hölle möglich sein konnte. Alle Lektüren unserer Passage hatten sich diesem Dogma zu unterwerfen. Die theologischen Ausflüchte, die man bisher vorgebracht hatte, mußten sich vor diesem Hintergrund entwerten. Cano war recht zu geben, der Libellus de iis, qui in fide dormierunt konnte nicht von Damascenus verfaßt worden sein, einem Autor, der in seiner Dogmatik, De fide orthodoxa, selbst deutlich auf der Ewigkeit der Höllenstrafen beharrt hatte.Footnote 71 Auffällig war auch, so Bellarmin, daß vor den lateinischen Gregor-Viten kein Autor, auch nicht Anastasius Bibliothecarius, Marianus Scotus oder Beda Venerabilis, einer der besten Kenner Gregors, die Episode mit der Trajansseele überliefert hatten und Gregor selbst, wie schon konstatiert, sie nicht erwähnte. Warum hätte ein Papst, der in seinen Moralia und den Dialogi die Unumkehrbarkeit der Hölle emsig als Dogma repetiert hatte, seine eigene Lehre durch eine gegenteilige Praxis in Frage stellen sollen? Wußte er nicht, daß ein ungeformter Glaube, die fides informis eines Heiden, wie bei Trajan ohne Liebe leer bleiben mußte? Die Verfasser der Viten waren Erzählgut aufgesessen. Daß Johannes Diaconus selbst nur auf obskure englische Überlieferungen verwies, ohne direkten Zugriff auf sie zu besitzen, war kein Zufall. Die Verläßlichkeit der ganzen Begebenheiten mußte durch nachträgliche figmenta, durch novitates, wie Chacón sie aus den Archiven hervorgezaubert hatte, nur noch weiter nachlassen. Selbst die Visionsberichte waren, anders als ihre Verteidiger behaupteten, valde obscurum und ließen sich kaum miteinander in Einklang bringen.Footnote 72

Caesar Baronius, der wohl wichtigste katholische Kirchenhistoriker der Frühen Neuzeit, schließt sich Bellarmin an und wendet sich noch deutlicher gegen Chacón. Die Bedenken, die Baronius gegenüber dem bisherigen Narrativ vorbringt, sind noch grundlegender und richten sich ebenfalls gegen die Selbstverständlichkeit, mit der man die bisherigen Textzeugen hingenommen hatte. Wollte man als Christ jemanden in den Himmel versetzt sehen, so Baronius, den ein Erz-Heide wie Julian Apostata in seinem paganen Himmel verortet hatte? Einzige Pflicht der Theologen wäre es gewesen, die Zeugnisse auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, also vor allem nach der Aussagekraft des Damascenus-Textes und der Johannes-Diaconus-Vita zu fragen. Sollte der geschulte Leser nicht ein Freund der Wahrheit sein und sich nicht von seinen Affekten leiten lassen? Stattdessen hatte die schola theologorum scholasticorum, so Baronius, versucht, eine historia zu plausibilisieren, die in Wirklichkeit nicht zu retten war, weder in sich noch aufgrund ihrer Quellen. Wer war Trajan in Wirklichkeit gewesen? Folgte man Cassius Dio oder Aelius Spartianus, einem Mitverfasser der Historia augusta, war er der Nachwelt, so Baronius, nicht nur als erfolgreicher Regent im Gedächtnis geblieben, sondern auch als Alkoholiker und Päderast. Gott hatte die Sodomiten mit Feuer verheert, doch sollte ausgerechnet diesen Monarchen, einen heidnischen Idolatriker, aus der Hölle entlassen?Footnote 73

Anders als Chacón postulierte, war die Episode eine caeca et stupida fictio, wie Baronius höhnt, und in keiner Weise bei Cassius Dio überliefert; auch spätere Verwechselungen und Interpolationen waren ausgeschlossen. Auch das Monument, ob es nun eine Statue, ein Fresko oder ein Gemälde war, das den Papst zu seiner fatalen Fürbitte veranlaßt haben sollte, konnte nach 400 Jahren kaum noch existiert haben, zog man, so Baronius, die Verwüstungen in Betracht, die der Goten- und Vandalensturm im Stadtbild von Rom hinterlassen hatte. Gregor selbst hatte den Schaden beklagt.Footnote 74 Die dogmatischen Unstimmigkeiten lagen für Baronius auf der Hand und bedurften keiner weiteren Erörterung. Schon in seinen Briefen hatte Gregor auf der Ewigkeit der Hölle beharrt. Ihren Anfang hatten die immer neuen Spekulationen genommen, weil man einen Text, der nicht vom anvisierten Autor, Damascenus, stammte, und eine fragwürdige Vita nicht in ihrem fabulösen Charakter erkannt hatte.Footnote 75 Resultat waren immer weitere fabulae gewesen, mit deren Hilfe man versucht hatte, die erste Fabel schlüssiger zu machen, also zum Beispiel die Wiederauferstehung und Taufe des Kaisers oder die Strafen, die Gregor im Anschluß heimsuchten. Man war der Logik des Erzählens zum Opfer gefallen, die zum Ende, so Baronius, Lüge auf Lüge häufen mußte, bis schließlich als letzte Degeneration vollständig lächerliche Details wie der sprechende Kaiserschädel, wie ihn Bernardo Corio eingeführt hatte, das Ergebnis waren. Zu den nachgereichten Autoritäten, mit denen Chacón noch hatte aufwarten wollen, hatte Baronius ein Bonmot parat: Wer immer in einer Bibliothek ein Netz auswarf, konnte wie in einem Meer gute und schlechte Fische zutage fördern.Footnote 76

Nachdem Bellarmin und Baronius die Trajanslegende in sich hatten zusammenbrechen lassen, oblag es den nachfolgenden Generationen, die Scherben zusammenzufegen. Viele Theologen, genannt seien Aegidius de Coninck, Jean de Lorin, Pierre Halloix oder Francesco de Mendoza, aber vor allem auch Francesco Suárez und Giovanni Paolo Nazario, repetieren die Sichtweise der beiden Koryphäen,Footnote 77 Antonius Possevinus spricht sogar von einem commentum falsissimum, das Johannes Damascenus in die Geschichte getragen habe.Footnote 78 Bellarmin und Baronius hatten dem theologischen Diskurs und seinen Rationalisierungsversuchen die Quellengrundlage entzogen. Seine Autoritäten waren entwertet worden, weil die Gattung der Heiligenvita ebenso wenig verbindliche Wahrheit beanspruchen konnte wie die Vision. In gewisser Hinsicht hatte eine literaturwissenschaftliche Analyse dafür gesorgt, daß die Theologie von der Hypothek befreit wurde, Realien zu legitimieren, die sie dogmatisch in Verlegenheit gebracht hatten.

Den Schlußfolgerungen schließen sich im 17. Jahrhundert weitere katholische Gelehrte an. Franciscus Collius, der den paganen Seelen im Jahre 1638 eine ganze Monographie widmet, qualifiziert die Trajanslegende fast schon gehässig als dreistes Lügengebäude ab.Footnote 79 Warum hatte kein antiker Autor die Witwen-Episode bezeugt? Warum war kein Baudenkmal, kein Fresko, keine Münze, keine Inschrift erhalten, die sie hätte absichern könnenFootnote 80? Hatte niemand den eklatanten Widerspruch zwischen der historischen Persönlichkeit Trajans, dem pädophilen Säufer, und der Legende bemerkt? War die Kluft zwischen den orthodoxen Lehren Gregors und der scheinbaren Auslösung der Seele nicht evident? Die Analogien, die Chacón vorgebracht hatte, um das Gebet für Trajan als gnadenhaften Impuls zu rechtfertigen, überzeugen Collio nicht. Hatte Gregor mit der gleichen Zustimmung gerechnet, die Abraham oder Samson begleitet hatte? Das wäre wohl dreiste Hybris gewesen. Das Wirken des Heiligen Geistes verifizierte sich aus dem guten Effekt einer Handlung: wo wäre dies bei Gregor der Fall gewesen, dem ein Engel Schmerzen beschieden hatte? Warum sollte die göttliche Vorsehung 600 Jahre brauchen, bis die bei Trajan zur Tat schreiten konnte, nachdem der Delinquent schon ein halbes Jahrtausend in der Hölle gebrannt hatte? War dieses Vorgehen nicht völlig kontraintuitiv?Footnote 81

Auch für Collio müssen die Textgattung und der Erzählmodus ins Auge gefaßt werden, mit dem die Errettung der Seele weitergetragen worden war. Von Anfang an hatte die Transmission eine heterogene Gestalt besessen. Einmal war von einer kompletten Errettung die Rede gewesen, einmal von einer Strafminderung, einmal hatte ein Engel auftreten dürfen, einmal die Stimme Gottes. Die Örtlichkeiten variierten ebenso wie das weitere Setting, bis hin zum obskuren Sohn Trajans, den der Kaiser der Witwe angeblich überantwortet hatte. Daß der Adoptivkaiser keine Kinder hatte, hätte ein kurzer Blick in die Geschichtsschreibung zeigen können. Eine vergleichbar schillernde Überlieferung, so Collio, war nicht Kennzeichen einer quellenbasierten historia, sondern einer fabula, an der jeder neue Autor weiterschreiben und die jeder Dichter um eine weitere Strophe hatte ergänzen können. Ein impostor, so Collio, hatte eine Begebenheit in die Welt gesetzt, die in unterschiedlichen Gemütern unterschiedliche Wurzeln hatte schlagen können.Footnote 82 Das Genre der Visionen, so gilt es für Collio mit Blick auf Birgitta und Mechthild noch festzuhalten, hatte keine bindende Kraft, zumal ihre Berichte voneinander abwichen. Schon Bonifacius IX. hatte darüber hinaus die Vertrauenswürdigkeit von Birgitta in Zweifel gezogen.Footnote 83 Collio geht noch einen Schritt weiter. Es war zum Ende gleichgültig, ob Johannes Damascenus für die Genese der fabula verantwortlich war, die auch den Urhebern der Gregor-Viten das Recht gegeben hatte, sie weiterzuspinnen, oder ein obskurer zweiter Autor. Auch Kirchenväter hatten keinen Anspruch auf Wahrheit; nur zu oft widersprachen sie einander. War das Paradies in der Sintflut untergegangen oder existierte es noch? Schon Augustinus hatte die vielen Dispute unter seinen Mitstreitern beklagt, sie aber selbst um weitere absurde Auffassungen bereichern können. Sollte Plato wirklich der Zeitgenosse des Propheten Jeremiah gewesen sein, wie er behauptet hatte? Damascenus hatte sich bei seinem unglücklichen Versuch, die Gnade Gottes gegenüber den heidnischen Philosophen zu rechtfertigen, zur Erfindung hanebüchener Beispiele hinreißen lassen; seine hyperbolische Rhetorik hatte ihr Übriges getan.Footnote 84 Thomas von Aquin und ein reicher Katalog an weiteren Autoren hatten sich dann von der Autorität des Damascenus hinreißen lassen.Footnote 85

Wohl als letzter Katholik der Frühen Neuzeit noch einmal ausführlich geht der Kirchenhistoriker Noël Alexandre im 17. Jahrhundert auf die anima Trajani ein.Footnote 86 Neue Überlegungen bringt er nicht mehr vor; aus einer historia war auch für ihn eine fabula geworden. Die Argumente, die man für die Tragfähigkeit der Geschichte hatte vorbringen können, hatten für Alexandre schon Baronius und Bellarmin deutlich entkräftet. Theologisch war die Annahme einer Seelenrettung aus der Hölle, wie Alexandre noch einmal festhält, auf keinen Fall zu retten. Wenn Gott eine lex generalis erlassen hatte, die dem Verdammten den Ausgang aus dem Inferno versperrte, und sich dieses Gesetz durch Tradition und Offenbarung gleichermaßen bestätigen ließ, mußte jede lex extraordinaria, die das Gebot unterlaufen wollte, absurd erscheinen. Niemandem, der sich außerhalb der communio sanctorum befand, konnte ein Gebet noch nützen, hatte schon Augustinus festgehalten.Footnote 87 Auch die Ausweichoptionen, die man im Gefolge der Viten vorgeschlagen hatte, eine damnatio tolerabilior, wie sie im Kern ebenfalls schon Augustinus alludieren wollte, konnten keine Alternative sein. Auf welche Passage der Heiligen Schrift hätte sich eine solche Erleichterung der Hölle berufen können? Daß im Mittelalter tatsächlich Messen für Seelen gefeiert wurden, wie auch Alexandre wußte, deren Heilsstatus zweifelhaft war, die Missa pro defuncto, de cuius anima dubitatur, deren Feier Aldrevandus von Fleury überliefert hatte, war ein Skandalon, so Alexandre, das kaum als Rechtfertigung einer noch abseitigeren Praxis dienen konnte.Footnote 88 Wie Baronius und Collio kann schließlich auch Alexandre Visionen keine natürliche Glaubwürdigkeit abgewinnen; sie hatten keine Aussagekraft, wenn sie von der Dogmatik abwichen. Auch Thomas, so bedeutend er sonst als Theologe gewesen sein mochte, war nicht auf Wahrheit abonniert. Hatte er nicht auch behauptet, so Alexandre, daß der Äquator unbewohnt sei?Footnote 89

VI.

dogmatik aus der pandora fabularum : protestantische reaktionen

Eine Allianz aus kritischer Philologie, posttridentinischem Ordnungsbedürfnis, das dogmatischen Überschuß ausmerzen wollte, und rigider Quellenkritik hatte auf katholischer Seite einer bizarren Ausnahmeregel ein Ende bereitet. Daß legendarisches Erzählen sich nicht am Kohärenzprinzip der Theologie orientieren mußte, sondern anderen Maßgaben folgte, dem Unterhaltungsbedürfnis, dem Leitmotiv des Exemplarischen, das eine Aussage übersteigern durfte, und einer persuasiven Rhetorik, damit aber auch nicht zum Testimonium taugte, war eine Erkenntnis, die sich am Ende einer fast dreihundertjährigen Entwicklung einstellen mußte. Seit dem Beginn der Reformation waren Heiligenlegenden von protestantischer Seite mit der gleichen Skepsis betrachtet worden wie die scheinbaren Auswüchse der katholischen Eschatologie. Mit dem Fegefeuer hatten die Verantwortlichen der Confessio Augustana auch die über den Tod hinausgreifenden suffragia gestrichen. Was die Vertreter der katholischen Kirche längst selbst beargwöhnt hatten, mußte sich bei den Theologen des Luthertums in eine polemische Waffe verwandeln, die als Beleg der dogmatischen Verirrungen der Alten Kirche und ihrer Leichtfertigkeit dienen konnte. Es wundert nicht, daß von etwa 1550 an Dutzende von protestantischen Theologen auf die anima Trajani eingingen, ohne freilich zum Gegenstand nach zweihundert Jahren katholischer Diskussion ernsthaft Neues beitragen zu können. Mehr noch, die Vertreter der lutherischen Schultheologie machten sich, wie so oft, die Früchte der innerkatholischen Diskussion zueigen, ohne jedoch ihre Gewährsleute noch ernsthaft zu würdigen.

War es nicht bizarr, so fragt Johannes Gerhard, der wohl wichtigste Dogmatiker des frühen 17. Jahrhunderts, in seinen Loci theologici im Jahre 1657, daß trotz evidenter Widerlegungen so viele Theologen auf katholischer Seite an der Trajans-Episode festgehalten hatten? Warum hatte sich trotz Bellarmin und Baronius noch immer kein Papst bereitgefunden, der die ganze Geschichte mit einem Verdikt bedachte? Warum hatte man stattdessen so viele Ausflüchte gesucht? Es wundert so nicht, daß Gerhard, als er die dogmatischen Verirrungen in der Eschatologie sichtet, die Papisten in einem Durchgang mit den Origenisten, den Wiedertäufern, Photinianern und anderen Häretikern auflistet.Footnote 90 Schon vor Gerhard hatten lutherische Theologen wie Johann Hülsemann oder Martin Chemnitz sich über diese scheinbare Depravation der eigenen Dogmatik in einer Weise geäußert, die zwischen Entrüstung und Sarkasmus schillerte.Footnote 91 Es war komplett unverständlich und mehr als nur bezeichnend, so Chemnitz, daß die katholischen Theologen versuchten, eine fabula zu retten, indem sie ihren Inhalt immer wieder neu kolorierten und erweiterten. Waren sie hier nicht, wie im Fall des ganzen Fegefeuers, den Illusionen des Teufels zum Opfer gefallen?Footnote 92 Die Unfähigkeit, ein literarisches Konstrukt als solches zu erkennen, konstatieren für die katholische Seite auch Johann Tobias Major oder Martin Geier, auch wenn sie der Kurie zumindest zugestehen, daß sie die Gebete für die Verdammten aus den Brevieren zumindest entfernt hatten.Footnote 93 Hatte man wirklich erst einen Bellarmin und einen Baronius gebraucht, um sich, so fragen Johann Meisner oder Christian Kortholt, von den fundamenta lubrica, dem fluiden Fundament einer lächerlichen theologischen Diskussion zu lösen? Hatte sich damit die Leichtgläubigkeit der Katholiken nicht ein weiteres Mal deutlich bestätigt?Footnote 94 War es nicht absurd, dem eigenen Papst eine vergleichbare Episode unterzuschieben, fragt Heinrich Höpfner?Footnote 95 Oder war der Versuch im Gegenteil als Ausdruck der allgemeinen dogmatischen Unzuverlässigkeit Gregors zu werten, wie Jesper Brochmand nahelegt, wenn ihm ein vergleichbares Vorgehen über einen so langen Zeitraum hinweg ohne Skrupel unterstellt werden konnte?Footnote 96 Etwas versöhnlicher ist der Blick des Helmstedter Irenikers Georg Calixt und mit ihm auch von seinem Nachfolger Johannes Andreas Schmidt, die vor allem den katholischen Bedenken fairen Raum geben. Hatte nicht zum Ende auch auf Seiten der Papsttreuen die Vernunft gesprochen und war damit nicht, nachdem man die figmenta inania erkannt hatte, ein weiteres, wenn auch nur kleines Hindernis ausgeräumt worden, das der Versöhnung der Konfessionen im Weg gestanden hatte?Footnote 97 Hatten sich damit nicht, so der Theologe Thomas Ittig im Jahre 1699, die prudentiores Pontificii, die Klügeren unter den Papisten, Gehör verschaffen können?Footnote 98

Gisbert Voetius, der in Utrecht eine konsequent reformierte Position vertrat, nutzt die Trajansseele in einer Disputation im Jahre 1667 zu einer Generalabrechnung. Der Theologe referiert zunächst eine ganze Galerie affirmativer Einlassungen von Seiten der Katholiken.Footnote 99 Gestützt auf die Materialsammlung des Baronius, die Voetius dankbar ausschlachtet, um sie gegen sich selbst zu wenden, galt es hier festzuhalten: Die Vertreter der papistischen Theologie waren auch in selbstevident absurden Fällen wie der befreiten Seele des Kaisers nicht in der Lage, eine Einigung zu erzielen. Die Kurie war trotz stichhaltiger Argumente nicht durchsetzungsstark genug gewesen, eine komplett abseitige Debatte zu beenden. Im Gegenteil, kanonisierte Kirchenlehrer hatten über Jahrhunderte ungestraft Energie und Pergament verschwendet, um eine zutiefst heterodoxe Position abzusichern. Zeigte sich hier nicht ein weiteres Mal, wie sehr die Reformation dieser korrumpierten und depravierten Kirche vonnöten gewesen war? Stand die anima Trajani nicht stellvertretend für die vielen Irrwege des Fegefeuer‑, Ablaß- oder Heiligenglaubens?Footnote 100

Nach Voetius lassen noch andere protestantische Theologen Disputationen zum Gegenstand folgen, darunter Johann Friedrich Köber aus Gera und vor allem Paul Preusser aus Leipzig, der im Jahre 1710 eine regelrechte Monographie zum Thema vorlegt.Footnote 101 Auch Preusser, mit dem diese Studie enden soll, legt den Schwerpunkt auf die narrative Strategie, die Heiligenviten ausgezeichnet hatte, und die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten, die Theologen veranlaßt hatten, sich von ihnen in die Irre führen zu lassen. Heiligen-Viten waren, wie Preusser schon zu Beginn festhält, eine Pandora fabularum, die für sich keine Glaubwürdigkeit beanspruchen durften, geschweige denn theologische Beweiskraft besaßen. Wie sehr die Theologie sich verleiten ließ, wenn sie ihnen Autorität zugestand, hatte die fabula anilis, das Altweibermärchen der befreiten Kaiserseele augenfällig dokumentiert.Footnote 102 Auch Preusser sichtet die vielen Quellen und Einlassungen, die das Dilemma über die Epochen hinweg nach sich gezogen hatte, darunter auch etliche von Seiten der griechischen Orthodoxie, die man bisher nicht berücksichtigt hatte, doch die deutlich machen mußten, daß das Problem sich nicht nur auf katholischer Seite lokalisierte.Footnote 103 Das Kardinalproblem blieb: Hatte niemand die Paradoxie erkannt, die sich aus einem erlösten Christenschlächter ergeben mußte?Footnote 104 Hatte niemand begriffen, wie auf absurde Voraussetzungen ein lächerlicher theologischer Winkelzug nach dem anderen folgen mußte? Offenbarten nicht die nachträglichen Interpolationen wie die Auferstehung und nachträgliche Taufe Trajans, wie eine Geschichte um ihrer Schein-Plausibilität willen mit weiteren figmenta, puren Erfindungen, hochgerüstet werden mußte? Schlimmer noch war, so Preusser, wenn wie im Fall der vermeintlichen Parallelen, der Erweckung des Dinocrates durch Perpetua, der Falconilla durch Thecla, noch weiteres Erzählgut aufgehäuft wurde, um reines Erzählgut zu retten und zu rechtfertigen.Footnote 105 Eine Geschichte, der die stichhaltige Quelle fehlte, konnte keine zweite erklären.Footnote 106

Zu den textimmanenten Widersprüchen der Episode, den offenkundigen theologischen Bedenken ihr gegenüber und auch der Kluft, die zwischen ihr und der konkreten Lehre Gregors bestand, hat Preusser nichts weiter hinzuzufügen.Footnote 107 Bemerkenswert ist allenfalls noch, daß der Leipziger Theologe, als hätte er dabei an Dante gedacht, auch zur vermeintlichen Quelle des Freskos oder der Statue, die unsere Geschichte über die Epochen hinweg begleitet hatte, eine eigene Ansicht hat. Durfte ein Kunstobjekt überhaupt, so Preusser, als Zeugnis in Betracht gezogen werden? War es nicht in seinem Wesen Fiktion?Footnote 108 Die Trajanslegende, so schließt Preusser am Ende, verortete sich als Teil der Viten auf dem gleichen Niveau wie die Mären, die als freies Erzählgut seit dem Hochmittelalter Verbreitung gefunden hatten und längst selbst zum Gegenstand von Arbeiten geworden waren. Auch hier kursierten, wie schon ein Frühaufklärer wie Jacob Thomasius gezeigt hatte, Berichte von Mönchen, die in der Lage waren, durch ein einziges Gebet eine Seele aus der Hölle auszulösen. Den direkten Beleg hatte hier eine Episode aus dem Apologus des Radikalreformers Bernardino Ochino geliefert, der vergleichbare Praktiken schon als besondere Dekadenz der Papisten gebrandmarkt hatte.Footnote 109

VII.

fazit

Auch wenn man sich vor vorschnellen Analogien hüten sollte, war aus einer theologischen Realie damit ein Gegenstand der folkloristischen Motiv- und Erzählforschung geworden, als Teil einer Domäne, in der man die Trajanslegende auch heute verorten würde. Deutlich hat unsere historische Rückschau gezeigt, wie viel Zeit über die Epochen hinweg die Transformation unserer Episode in Anspruch nehmen konnte, bis schließlich ihre Exekution unausweichlich wurde. Erstaunlich ist dabei nicht, daß sich zum Ende des 16. Jahrhunderts die ersten Gelehrten zu fragen begannen, ob man weiter Energie darauf verwenden durfte, eine kuriose Aberration zu rechtfertigen, nur weil sie zweifelhafte Biographen und dubiose pseudoepigraphische Traktate dem Leben eines Papstes angedichtet hatten. Verblüffender ist, daß Theologen 800 Jahre lang das majestätische Räderwerk der Dogmatik zu ihrer Rettung um kuriose Stellschrauben und sonderbare Abseitsregeln erweitern konnten, statt die ganze Episode als bloßes, auf Unterhaltung bedachtes Erzählgut endlich zu den Akten zu legen. Daß neben der hinreichend dokumentierten Eigendynamik, die jede Debatte irgendwann auszeichnen mußte, gerade die Begründung von Ausnahmen ihre eigene intellektuelle Erotik kannte, liegt auf der Hand; hier mochte ein wichtiger Grund für die Persistenz unseres Streites liegen. Ein zweiter lag in den Schwierigkeiten, mit denen sich Theologen auch der Frühen Neuzeit noch konfrontiert sahen, wenn sie etablierte Autoritäten in Frage stellen wollten. Daß selbst eine Heiligenlegende wie die Gregor-Vita über Jahrhunderte weitgehend ungebrochen eine wörtliche Lektüre beanspruchen durfte, zeigt auch, welche Strahlkraft diese Gattung im mittelalterlichen Diskurs besaß. Vielleicht hatte es wirklich erst der philologischen Strenge der posttridentinischen Theologen bedurft, um dieser Strahlkraft ein Ende zu bereiten.

Deutlich geworden aber ist vor allem noch etwas Anderes. Gerade um der Purgierung der Theologie willen bedienten sich Männer wie Cano, Baronius, Alexandre oder Collius einer Methode, die im besten Sinne textwissenschaftliche Züge trug. Nicht nur, daß die Frage nach dem Selbstverständnis und der Eigenlogik einer Gattung von ihnen gestellt wurde und man die Mechanismen der Textproduktion und -transmission mit Blick auf die Heiligenlegende vorbrachte, um sie angemessen zu evaluieren, mehr noch, das Traditionsverständnis einer Gattung selbst, mitsamt dem Autoritätsanspruch und der Glaubwürdigkeit, die sich daraus ableiteten, rückte ins Zentrum des Interesses. Wie ließen sich historia und fabula voneinander unterscheiden? Mußte sich die Heiligenlegende als eigene ›Diskursform‹ begreifen lassen, die über eine ihr spezifische Praxis des Wieder- und Weitererzählens verfügte, damit aber als theologische Autorität auf andere Weise ins Gewicht fallen mußte, als man bisher behauptet hatte? War es notwendig, wie die Trajanslegende für die Theologen des 17. Jahrhunderts gezeigt hatte, die Strategien der Ausschmückung, des ornatus, dieser Texte, damit aber auch eine gattungsimmanente Dynamik der Fortschreibung von Motiven, ins Auge zu fassen? Mußte man hagiographischen Autoren zubilligen, Geschichten um der Geschichte willen zu präsentieren, wie man erst argwöhnte und dann schlicht verständnisvoll zur Kenntnis nahm?

Aus dem gleichen Kohärenzbedürfnis der Theologen, das die apodiktische Ableitbarkeit der Dogmen erforderlich gemacht hatte, war auch eine Textkritik hervorgegangen, die jene Zeugnisse ausscheiden konnte, die diesem Kohärenzbedürfnis nicht mehr genügten. Zwei Beobachtungen gilt es ebenfalls zum Ende noch festzuhalten. Der hier konstatierte methodische Zugriff, so rudimentär er auch noch erscheinen mag, war auf katholischer Seite schon entwickelt worden, bevor sich die protestantischen Theologen seiner bedienten und als Argument verwendeten, um die katholischen Vertreter zu diskreditieren. Und, was nicht minder erwähnenswert ist, diese Methodik hatte, wie wir gezeigt haben, im ausgehenden 17. Jahrhundert, unausgesprochen, auch schon zur Anwendung gelangen können, bevor Gelehrte wie Jean Mabillon sie ausformulierten und mit einer gewissen Verbindlichkeit einforderten.Footnote 110 Sie war schon vorher aus der Notwendigkeit der Theologie heraus geboren worden.