Zusammenfassung
Das Programm der Verbindung von Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte basiert auf dem Konzept des Kontexts. Literarischer Text und geistesgeschichtlicher Kontext scheinen auf den ersten Blick problemlos voneinander trennbar. Allerdings stecken in jedem Text immer schon Spuren von Kontext wie in jedem Kontext immer schon Anteile von Textualität. Wesentlich mithin ist beider Relation. Dies vermittelt vor allem der Ansatz der Funktionsgeschichte, indem er weniger nach der Nachträglichkeit von Funktionszuweisungen fragt denn nach den Funktionsvorgaben von Strukturbildungen. Hierdurch kommt die scheinbar natürliche Vorordnung der Struktur vor die Funktion – und zugleich hermeneutisch die Relation von Frage und Antwort wie epistemologisch die Frage nach dem Realen und dem Imaginären – ins Schwanken: der kontextuelle ›Sitz im Leben‹ beeinflusst die jeweilige Textbildung offenbar in gleichem Maße, wie der textuelle Sinn seinerseits auf den Kontext auszugreifen sucht; scheint das Konstrukt einer ›Realität‹ eine plausible imaginäre Antwort auf die Frage nach der Welt, so ist das Imaginieren in Literatur und Kunst oftmals der Ort ihrer Rückführung in Fragen. In der Vormoderne als Zeit der Umstellung von einer – über eine quasi göttlich gesetzte Geschlossenheit des Kosmos – vornehmlich ähnlichkeitsgeführten Weltversicherung zu einer – sich öffnenden und damit eine menschenbestimmt Geltung beanspruchende Vorstellung von Wirklichkeit allererst herstellenden – Verzeitlichung und Kausalisierung ist dies ein wesentlicher Motor für einen an Veränderungen des gesellschaftlichen Imaginären, seiner Rahmung wie Findung, nachzeichenbaren ›epochalen‹ Wandel.
Abstract
The programme of bringing together Literary Studies and Intellectual History (›Geistesgeschichte‹) has its foundation in the notion of context. At first sight, literary text and historical context look as if they could be separated from each other with ease. However, each text carries with it contextual elements just as much as each context is always already imbued with textuality. What seems to be at stake is their relation. This is above all taken into account by functionalist approaches less interested in the attribution of functions to seemingly pre-existent structures than seeing structure as following function. It clearly undermines the commonsensical assumption that structure precedes function – just as much as it destabilizes the hermeneutical relation between question and answer and the epistemological precedence of the real over the imaginary: obviously, the contextual ›seat in life‹ seems to have the same impact on text-making as textual meaning has in relation to its context; wherever the construction of a ›reality‹ looks like a plausible imaginary answer to the question of what the world is, imagination in literature and art seems to be the site of turning the answers back into questions. In the premodern period, seen as the epoch of a shift from a predominantly analogical world-view, characterized by a cosmological closure guaranteed by God, to the open concept of reality as the result of a temporal and causal, man/woman-made individual realization, this seems to be one of the decisive driving forces affecting the modification of the social imaginary, both in its framing and in its truth-finding methods, with regard to the process of ›epochal‹ change.
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I.
text | kontext
Die Geschichte der Literaturwissenschaft, insonderheit der Germanistik, nimmt sich aus wie eine Geschichte unentwegter Suche nach Relevanz.Footnote 1 Nach einer längeren Eingangsphase scheinbar ›natürlich‹ positivistisch geleiteter quellenkritischer wie zudem streng philologisch bestimmter editorischer Textarbeit – einschließlich biographisch texterklärender Erkundung faktisch autorenbezogen kontextueller Lebensdaten – erfolgt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, vor allem unter dem weitreichenden Einfluss von Diltheys Postulat vermeintlich klarer Trennbarkeit zwischen faktenbasiert Gesetzmäßigkeiten suchenden ›nomothetischen‹ Naturwissenschaften einerseits und ausgesucht hochrangige singuläre Einzelphänomene interpretierenden ›ideographischen‹ Geisteswissenschaften andererseits, eine Wende hin zu einem alle maßgeblichen Umstände der Texterstellung mit in die Betrachtung einbeziehenden, ebenso dezidiert transphilologisch wie programmatisch interdisziplinär angelegten vertieft allumfassenden Verstehen.Footnote 2 Dies ist Movens und Motiv der im – erheblich von finanziellen Entbehrungen wie nicht zuletzt auch von Papierknappheit geprägten – Nachkriegsjahr 1923 erfolgenden Gründung der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte.Footnote 3
Mit der programmatisch bewussten Verbindung von ›Literaturwissenschaft‹ und ›Geistesgeschichte‹ verändert sich hermeneutisches Tun potenziell in eine Praxis intensivierter Inbezugsetzung; es ist dies eine der ersten Phasen eines klar artikulierten Methodenbewusstseins wie der Beginn einer zunehmend engagierten, wo nicht – ebenso relevanzsuchend wie relevanzbehauptend – sich in erhöhtem Maß acharniert antagonistisch voneinander abzusetzen suchenden vermeintlichen Methodendebatte und -kritik.Footnote 4 Dies bedingt eine Expansion des Kontexts um ein Vielfaches. Verblieben positivistische Fragestellungen kontextuell noch vornehmlich historisch-biographisch, wofern nicht teleologisch einsinnig biographistisch, im persönlichen Lebensumfeld des in den Blick genommenen Autorsubjekts, so erweitern sich die Kontextbezüge nunmehr ideen-, sozial-, mentalitäts- und wissensgeschichtlich um theologische, philosophische, ethisch-moralische, gesellschaftlich-kulturelle bis hin zu epistemologischen, wo nicht epistemischen Begleitbedingungen, welche den Text situieren und seine Entstehung wie Rezeption beeinflussen. Auf diese Weise wird der Kontext zu einem für das Verstehen eines Textes unhintergehbar mitentscheidenden Faktor.
Das auf Prägnanz und Minimalismus bedachte Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert ›Kontext‹ als die »Menge der für die Erklärung eines Textes relevanten Bezüge« und expliziert dies einlässig als dreigliedrige Relation: »A ist Kontext für B in Hinsicht auf C«.Footnote 5 Dies fasst die Text-Kontext-Relation vorderhand als binär-oppositives Verhältnis auf Basis einer Gemeinsamkeit; es impliziert tendenziell zugleich eine gegenseitige Ausschließlichkeit im Sinne eines textuellen Innen oder vermeintlich ›Eigentlichen‹ gegenüber einem kontextuellen Außen oder auch ›Hintergrund‹ samt der daraus folgerecht hervorgehenden Suggestion einer temporal-kausalen Ordnung, wonach entweder der primär gesetzte Text den Kontext oder der primär gesetzte Kontext den Text bedingt oder auch nach sich zieht.Footnote 6
Gegenüber einer solchen vornehmlich auf Differenz basierenden Auffassung hat man in jüngerer Zeit begonnen, die Text-Kontext-Dyade stärker ineinander verwoben und integral zu begreifen als ein Emergenzphänomen wechselseitiger Implikatur, wonach beide Anteile eher gleichursprünglich gedacht sind denn wie auch immer verzeitlicht nacheinander gereiht.Footnote 7 Dies betont im Verhältnis von Text und Kontext vor allen Dingen das ›und‹, also die Einsicht, dass es – trotz aller heuristischer Trennungsverlockung – keinen Text ohne Kontext, aber zugleich auch keinen Kontext ohne Text geben kann, entsprechend in Relation füreinander beides mit einem Schlag zugleich entsteht. Ersteres betrifft das Phänomen der Referenz, zweiteres die Spur der Intertextualität: Texte sind demnach immer schon kontextgemacht wie Kontexte textgespeist. Ein solches Ineinander gegenseitiger Abhängigkeit propagiert vor allen Dingen die funktionalistische Text- wie sodann verstärkt die daraus weiterentwickelte anthropologische Fiktionstheorie Wolfgang Isers; es findet sich zudem bereits angelegt in der Literaturtheorie des sowjetisch-baltischen Semiotikers Jurij M. Lotman.Footnote 8 Für Iser besteht der Akt des Fingierens vornehmlich darin, dass er, wie er dies synoptisch zeichentheoretisch formuliert, »die Wiederkehr lebensweltlicher Realität im Text bewirkt und gerade in solcher Wiederholung das Imaginäre in eine Gestalt zieht, wodurch sich die wiederkehrende Realität zum Zeichen und das Imaginäre zur Vorstellbarkeit des dadurch Bezeichneten aufheben«.Footnote 9 Funktionsgeschichtlich erscheint demnach das bereits vortextuell Bekannte im Text zeichenhaft als das ›Repertoire‹ eines kontextuell gegebenen Realen, mithilfe dessen textueller ›Selektion‹ individuell Vorgestelltes in mischender ›Kombination‹ zum Ausdruck kommt und genau über die Teilreferenzierbarkeit zu diesem Realen eigene Prägnanz gewinnt.Footnote 10 Dies wäre die über das ›Reale‹ laufende Ingestaltziehung des ›Imaginären‹: eines ihrer Resultate wäre die ›Fiktion‹.
Allerdings scheint dies nicht allein auf das Fingieren beschränkt. Ich habe andernorts versucht, in Umdrehung der vermeintlich ›natürlichen‹ Überzeugungen des ›gesunden Menschenverstands‹ unsere Vorstellung von Wirklichkeit als Sonderfall des Fiktiven zu fassen, auf den sich eine Gesellschaft als ihre ›Welt‹ und ihre ›Realität‹ – autoritätsgeführt oder auch demokratiebewusst – für eine Zeit kollektiv und, zumindest in Einstellung und Verhalten, mehrheitlich konsensuell zu einigen bereit ist: stets ziehen wir in unseren Äußerungen kontextuelles Repertoire und individuelle Vorstellungen ineins, um über solche Ingestaltziehung ›unsere‹ kulturelle Welt zu fassen, sie uns zu erklären und verstehend begreiflich zu machen.Footnote 11 Der klassische Konstruktivismus hat die hieraus resultierenden Realitätseffekte, wo nicht -verkrustungen, zu erfassen gesucht unter dem Stichwort der ›Verdinglichung‹.Footnote 12 Über solche Gesten der Reifizierung baut sich offensichtlich jede Gesellschaft über die Gesamtheit ihrer Einzelmitglieder ihre Kultur als ihr menschengemachtes »künstliches Habitat« und bewirkt hierin, dass sie sich andauernd emergent – und dadurch scheinbar widersinnig paradoxal – »durch das, was [sie] hervorbringt, selbst produziert«.Footnote 13 Dabei müssen jedoch die Akte eines solchen ›gesellschaftlichen Fingierens‹ unmittelbar in die Latenz geschoben werden, um deren Resultate ›real‹ zu halten. Verena und Eckhard Lobsien haben dies für Mittelalter und frühe Neuzeit sehr schön beschrieben als das ›Unsichtbare‹ des Imaginären: »Die Imagination«, so ihre zentrale Hypothese, »bildet Kultur in ihren konkreten vielfältigen Erscheinungen, indem sie sich in den durch sie ermöglichten kulturellen Diskursen zugunsten der jeweils verhandelten Gegenstände zum Verschwinden bringt. Ihre Omnipräsenz ist verschränkt mit ihrer Unsichtbarkeit, ihre Abwesenheit ist die paradoxe Bedingung ihrer Präsenz, ihre Universalität erzwingt ihre Limitation.«Footnote 14 Damit sind offenbar stets zwei Aspekte des Imaginären zugleich im Spiel: ein ernsthaft kollektiv ›gesellschaftlich‹ ingestaltgezogenes Imaginäres mit dem unmittelbaren Gebot seiner Latenzverschiebung und ein spielerisch augenzwinkernd je individuell und ›frei‹ anderwärts genutztes Imaginäres mit der Option seiner reflexiv bewusstmachenden Hebung aus der Latenz; ersteres wäre ›gesellschaftliches‹ Imaginieren, zweiteres ist das, was wir im engeren Sinn – nicht zuletzt mit Iser – als ein ›literarisches‹ oder auch ›ästhetisches‹ Imaginieren ›Fingieren‹ nennen.
In dieser Sicht dient die Text-Kontext-Dyade dem permanenten Abgleich zweier – womöglich einander ergänzend komplementär, wofern nicht eher überschießend supplementär – gegensinnig angelegter Ingestaltziehungstypen des Imaginären. Dies verleiht dem Imaginären seine unterschiedlichen ›Relevanzen‹: baut und verhandelt der auf Konstruktion ausgerichtete gesellschaftliche Typus eine je spezifische ›Kultur‹, erkundet der gegenläufig, wenn man so will, ›dekonstruktiv‹ angelegte, suspensiv ästhetisch-literarische Typus in deren Rahmen ihre Ränder und Alternativen.Footnote 15 Der Konstruktionstyp findet sich einlässig theoretisiert bei Cornelius Castoriadis in seinen Überlegungen zur Gesellschaft als einer imaginären Institution; ausgehend von einem unergründlich rauschenden, magma-ähnlich amorphen und hierin intransitiven ›radikalen Imaginären‹ als dem ungreifbaren prozessualen Urgrund unserer geistigen Tätigkeit, beschreibt er das ›gesellschaftliche Imaginäre‹ als dessen jeweilig konkret relationierende und hierin transivierende Instantiierung über willkürlich bezeichnende semantische Setzung (dies nennt er ›legein‹) und habituelle pragmatische Nutzung (er nennt dies ›teukein‹).Footnote 16 Hieraus emergiert ›Gesellschaft‹ als prekär ephemeres Produkt unaufhörlich gemeinschaftlich betriebener, ingestaltziehender Instituierung eines kollektiven Imaginären. Den hierzu gegenstrebigen Typ fasst mit am umsichtigsten und überzeugendsten Jurij Lotmans Sujet- und Semiosphärenmodell als Theorie beständiger Inbezugsetzung von Text und Kontext zur befragenden Erkundung und alteritär aushandelnden Ausdeutung von ›Welt‹; ausgehend von der – wiederum scheinbar kontra-intuitiven – Einsicht, dass erst die Kunst den Menschen lehrte, »den Sujetaspekt der Realität zu erkennen, das heißt, den nichtdiskreten Strom von Ereignissen in diskrete Einheiten zu zerlegen, diese mit Bedeutungen zu verknüpfen (also semantisch zu interpretieren) und zu Ketten anzuordnen (syntagmatisch zu interpretieren)«, beschreibt er unsere soziale ›Wirklichkeit‹ als Semiosphäre, in der – über den kulturellen Bau des künstlichen Habitats hinaus – stets auch erfundene Sujets kontrafaktische Ereignishaftigkeiten artikulieren, inszenieren und erproben.Footnote 17
Hierin liegt nunmehr die eingangs postulierte wechselseitige Verschränkung. Wo Isers Fiktionstheorie zeigt, dass jedes textuelle Fingieren immer schon den Einbezug kontextuellen Repertoires voraussetzt, weist Lotmans Sujettheorie darauf hin, dass jede Interpretation kontextueller Wirklichkeit immer schon deren vorgängiger Zurichtung zum Text bedarf. Die Kunst der Mimesis spiegelt demnach nicht lediglich den Kontext im Text nachträglich verdoppelnd wider, sondern modelliert den Text mithilfe ausgesuchter Kontextelemente dergestalt, dass dieser in wechselseitiger Dynamis wiederum auf den Kontext zurückwirkt. Rainer Warning hat diese unauflösliche Text-Kontext-Verwobenheit aus textseitiger Perspektive ausdifferenziert: gefasst nicht als wie immer gedachte, mimetisch repräsentierende ›Spiegelung‹, sondern eher performativ als »ideologisch interessierte Modellierung von Wirklichkeit«, kann ein Text zwar gewiss einvernehmlich »seine Ereignisse konstituieren über Normen, die auch textextern gelten. Er kann aber ebenso gut auch textexterne Ereignisse zu Nichtereignissen machen, und er kann schließlich gesellschaftlichen Nichtereignissen die Dimension des Ereignishaften neu verleihen oder auch wieder zurückgeben.«Footnote 18 Text und Kontext befinden sich mithin in steter Mischung und in stetem Dialog. Was das gesellschaftliche Imaginäre in ernster Geltung instituiert, löst das literarische Imaginäre (sprich: ›Fiktive‹) potenziell spielerisch – und hierin womöglich zugleich erkenntnistheoretisch systematisch – fragend wieder auf.Footnote 19
II.
›geist‹ | ideen
Auf den ersten Blick scheint der geisteswissenschaftliche Ansatz im engeren Sinne einer solchermaßen dialektisch-dynamisch wechselseitigen Text-Kontext-Verknüpfung schon recht nahe zu kommen; was er als ›Geist‹ fasst, ist zunächst einmal nicht viel anderes als ein Kontext, der zirkelhaft synthetisierend bestimmt ist als intuitiv gespürte Ganzheit gegenüber den ihn je partiell und individuell zum Ausdruck bringenden Einzeltexten.Footnote 20 Verstehen läuft demnach – zumindest in der Theorie – über unablässige wechselseitige Erhellung der Teile und des Ganzen. Dabei bleibt allerdings das ›Ganze‹ als Ausgangspunkt und Resultat des hermeneutischen Tuns eigentümlich vage. So interdisziplinär oder auch ›transphilologisch‹ das Kontextkonzept ›Geist‹ auf den ersten Blick intendiert erscheint, so schnell verliert es sich, wie dies unter anderem auch so undifferenziert bleibende raumzeitliche Prägungen wie ›Weltgeist‹ oder ›Zeitgeist‹ bezeugen, im unstrukturiert Numinosen, ›weltanschaulich‹ Allgemeinen. Entsprechend verdanken sich der deutsche oder englische ›Geist‹, wie auch der ›Geist‹ des Barock oder des Mittelalters, keiner minutiös-methodischen Aufarbeitung von Dokumenten, sondern einer apriorisch gefühlten monolithischen Setzung, mithilfe deren ein einzelnes Werk – sei es theologisch, philosophisch, juristisch oder literarisch – unmittelbar, aber auch unter dem Risiko permanenter tautologischer Selbstbestätigung, als kreativ schaffender Ausdruck des menschlichen Geistes seiner Zeit ›verstanden‹ werden kann. Auf diese Weise reduziert sich der angestrebte Dialog zur monologischen Spiegelung, und das im Spiel befindliche Imaginäre ist ein lediglich intuitiv erfühltes, hochgradig subjektiv geprägtes, individuelles Imaginäres.
Dem suchen stärker ideengeschichtlich orientierte Ansätze alsbald abzuhelfen; statt eines kaum bezeichenbaren allwaltenden ›Geists‹ erkunden sie einzeln isolierbare und dadurch auch konkret benennbare ›Ideen‹ als dessen prägend kollektiv durchwaltende Vorstellungen und setzen über diese Text und Kontext in einen rationaler nachvollziehbaren, verhandelnden Bezug.Footnote 21 Dies macht den bis dato diffusen ›Geist‹ ebenso strukturier- wie hierarchisierbar: über das Postulat spezifizierbarer Ideen gewinnt das kontextuelle gesellschaftliche Imaginäre mithin zusehends an Kontur und an Gestalt. Dabei wird es wissenschaftsgeschichtlich in einem ersten Schub – gewissermaßen im Sinne des Castoriadis’schen ›legein‹ – zunehmend semantisch ausdifferenziert, wie dies die ideengeschichtliche Entwicklung von der insonderheit ab den 1930er-Jahren aktiv werdenden angloamerikanischen History of Ideas über die die Nachkriegszeit prägende französische histoire des mentalités wie auch die vor allen Dingen in Deutschland gepflegte Begriffsgeschichte bis hin zur heute einflussreichen Intellectual History bezeugt; es wird in einem zweiten Schub – nunmehr eher hinsichtlich des ›teukein‹ – pragmatisch ergänzt, wie sich dies vor allem ab den 1960er-Jahren an den nach dem je historisch-situativen Sinn von Sprachhandlungen fragenden Aktivitäten der Cambridge School bis hin zu den Versuchen der Begründung einer handlungsorientierten Historischen Anthropologie ablesen lässt.Footnote 22 Methodisch dient es einer zunehmenden Spezifizierung wie Konkretisierung des Kontexts zu einer begründbaren und konturierten Vorstellung von einem allgemein das Denken einer Kultur (wie England oder Frankreich) oder auch einer Epoche (wie das Mittelalter oder die frühe Neuzeit) prägenden Imaginären; ich will dies in der Folge sehen als Fortentwicklung und Verlängerung des geistesgeschichtlichen Projekts in einem weiteren Sinn.
Auf diese Weise lässt sich nunmehr genauer beschreiben, wie zum einen kontextuelle ›Ideen‹ als Repertoireelemente in einen jeweiligen Text eingezogen werden, um ein bereits weitgehend bestehendes gesellschaftliches Imaginäres in bestätigender oder modifizierender Wiederholung stets erneut ingestalt zu ziehen, und wie sie zum anderen auch genutzt werden können zur erprobenden Erkundung von bislang Ungedachtem, ›Neuem‹ als auch möglichen, im oben skizzierten Sinn ›literarisch‹-fiktiven Ingestaltziehungen aushandelnden Abgleichs. Zentral instituierende Ingestaltziehungsagentur hierfür ist das, was man ›Diskurs‹ genannt hat; gefasst als je themenspezifisch organisiertes und relational auf Wahrheits- wie Machtansprüche ausgerichtetes »System des Denkens und Argumentierens«Footnote 23, artikuliert, kanalisiert und spezifiziert der Diskurs die in einer Gesellschaft kursierenden religiösen, politischen, sozialen und anderweitigen Vorstellungen und Ideen und führt sie zugleich einer wertenden Beurteilung zu. Dieses Tun ist vor allen Dingen ein textuell-sprachliches; es basiert vornehmlich auf dem, was man instrumentell unter Begriffen wie ›Konzept‹ und ›Norm‹ zu fassen gesucht hat.Footnote 24 Lassen sich aus narrativer Sicht, wie Karlheinz Stierle vorgeschlagen hat, ›Konzepte‹ beschreiben als semantische Entitäten, mit deren Hilfe aus bloßem kontingenten Geschehen textuell sinnhafte Geschichten gestiftet werden können, so stellen sich ›Normen‹, wie oben bereits kurz angeführt, aus soziologischer Perspektive dar als Verhaltenserwartungen, über deren Einlösung oder auch Nicht-Einlösung ein bloß okkurrentes Geschehnis letztendlich zum kontextuell erzählenswerten ›Ereignis‹ wird oder auch nicht.Footnote 25 Auf diese Weise wird, um ein klassisch gewordenes Beispiel aufzugreifen, bereits textintern die bloße konsekutive Geschehensfolge ›the king died and then the queen died‹ über das Konzept der ›Trauer‹ zur hermeneutisch plausibel ausgedeuteten sinnhaften Geschichte ›the king died and then the queen died of grief‹, gleichwie ein und dasselbe Geschehnis wie etwa die Tötung eines Menschen gemäß der kontextuell geltenden Norm einer an die Familie gebundenen ›Ehre‹ eine in der einen Kultur akzeptierte Normalität und Notwendigkeit und gemäß der Norm gesetzesgebundener Rechtsstaatlichkeit eine in einer anderen Kultur zu ahndende Übertretung darstellt.Footnote 26
Die diskursbasierte beständige (Wieder‑)Ingestaltziehung des Imaginären in ein ›gesellschaftliches‹ Imaginäres ist unser aller alltägliches sprachlich-konstruktives Tun. Sie fügt zuweilen noch unscharfe Ideen in bestehende und durch steten Gebrauch fortwährend latent modifizierte Systeme des Denkens und Argumentierens und gibt ihnen so in immer neuen ausformulierten Texten jeweils mit einem Schlag punktuell artikulierten ephemeren Sinn. Dies baut das kulturelle Habitat; es schafft, wenn man so will, metaphorisch den ›Geist‹ einer Zeit oder auch Welt. Gegenüber einem solchen an Systemen des Denkens und Argumentierens orientierten, und zugleich in ihnen befangenen, ›diskursiven‹ Aufbau von Vorstellungen zu ›Welt‹ und ›Wirklichkeit‹ eröffnet das ästhetische Imaginäre zudem einen wesentlichen Freiraum alteritärer sprachlicher Ingestaltziehung von Auch-Möglichem, Nicht-bereits-vermeintlich-Gegebenem, der Phantasie.Footnote 27 Aufgrund der augenfälligen Gegenstrebigkeit zwischen diesen zwei Ingestaltziehungstypen hat man eine solche ungebundene, ›freie‹ Nutzung ›konterdiskursiv‹ genannt; vielleicht sollte man sie wegen ihrer Suspendiertheit von den mit diskursiven Nutzungen immer schon verbundenen Macht- und Wahrheitsfunktionen besser – da den diskursiven Nutzungsgeboten entzogen – als ›adiskursiv‹ bezeichnen.Footnote 28 Vielleicht aber ist das Ästhetische ebenso sinnvoller- wie paradoxerweise auch der vergleichgültigende Ort von beidem: von ernsthaft-spielerischer diskursiver Nutzung und von spielerisch-ernsthafter adiskursiver Zurschaustellung.Footnote 29 Mit Blick auf diese paradoxale, logisch in sich widersprüchliche Doppelung hat Jacques Rancière den platonischen Vorbehalt gegenüber der Rolle der Dichter in einer idealerweise rational auf Eindeutigkeit ausgerichteten Polis luzide ausformuliert weniger als Versuch der Vermeidung von Lüge oder Amoral denn als gesellschaftsgefährdend dysfunktionale Überhebung, »zwei Dinge zugleich zu tun«: »Die Frage, was Fiktion sei,« so Rancière, »ist zunächst eine Frage nach der Verteilung von Orten. Aus platonischer Sicht stört die Theaterbühne – zugleich ein Raum öffentlicher Tätigkeit und ein Ort der Vorführung von ›Trugbildern‹ – die klare Aufteilung von Identitäten, Tätigkeiten und Räumen.«Footnote 30
Ich will das bisher Gesagte an einem Beispiel illustrieren. Die Beratungsszene der Griechen in William Shakespeares rätselhaftem Trojadrama Troilus and Cressida von etwa 1602 – für manche eine bitter ›problemhafte‹ Antikriegstragödie, für andere möglicherweise eine erstaunlich frühe, zynisch ›private‹ kabarettistische Revue für die Londoner Rechtsschulen der Inns of CourtFootnote 31 – zeigt eine zwischenzeitlich bilanzziehende Debatte der belagernden Partei über die Gründe ihres bereits seit Längerem ausbleibenden Kriegserfolgs. Die repertoirehaft zentral eingezogene ›Idee‹ ist die der Großen Kette der Wesen.Footnote 32 Sie dient der argumentationsführenden Figur des Ulysses als Grundvorstellung gesellschaftlicher Ordnung. Seine lange monologische Persuasionsrede (TC 1.3.74–137) basiert, wie die sukzinkte peroratio verdeutlicht, auf der These von der Schwäche in den eigenen Reihen, nicht der Stärke der Trojaner: »To end a tale of length/Troy in our weakness lives, not in her strength.« (136 f.) Binnenfiktional zieht Ulysses dabei das gesellschaftliche Imaginäre aus ordnungspolitischer Sicht insistent in die Gestalt einer über analoge Stufen hierarchisch geschichteten ›Welt‹, derzufolge alles voraussetzungsreich am rechten Platz zu sein hat, bevor sinnvolles gemeinsames Handeln möglich ist. Hierfür bemüht er zunächst die Analogie vom Bienenstock, welcher erst dann Honig einträgt, wenn alle Bienenvolksmitglieder sich fraglos aufgabenerfüllend der als notwendig erachteten Hierarchie fügen (80–82); sodann weitet er dies auf die kosmologische Ordnung, in der die Sonne »In noble eminence enthroned and sphered/Amidst the other« (90 f.) die Geschicke aller, einschließlich der Erde als Zentrum, harmonisch einvernehmlich lenkt und leitet: »The heavens themselves, the planets, and this centre/Observe degree, priority, and place,/Infixture, course, proportion, season, form,/Office and custom, in all line of order« (85–88); schließlich überträgt er es in Analogie auf den militärischen wie auch sozialen Zustand der Griechen, indem er feststellt, »when degree is shaked,/Which is the ladder to all high designs,/The enterprise is sick« (101–103), und diagnostisch resümiert: »Take but degree away, untune that string,/And hark what discord follows« (110 f.). Aus geistesgeschichtlicher Sicht artikuliert dies die Vorstellung einer strikt hierarchisch organisierten stratifizierten Gesellschafts- und Weltenordnung, welche – in vielen Stufen in Perfektion nach oben strebend – auf dem geltungsbeanspruchenden semantischen ›Konzept‹ des ›degree‹ aufruht, dessen respektvolle Einhaltung die erwartete ›Norm‹ darstellt, während seine Missachtung, so zumindest die These des Ulysses, über zunehmend unkontrollierbare ereignishafte Störungen geradewegs in die Handlungslähmung und ins ›Chaos‹ (125) führt. Man hat dies geistesgeschichtlich zu verstehen gesucht als Dokument eines ›elisabethanischen Weltbilds‹.Footnote 33 Gleichwohl macht Shakespeare damit etwas anderes als Ulysses. Denn während die Figur des Ulysses die Idee der Seinskette diskursiv nutzt zur politisch-militärischen Überzeugung der Griechen zur Einigkeit als Grundlage erfolgreichen Handelns, stellt das Stück selbst dies als Option adiskursiv zur Schau. Shakespeares Trojadrama beginnt und endet programmatisch »in the middle« (Prol. 28): weder gibt der im Stück weit vor Kriegsende liegende gezeigte Schluss Ulysses’ Einigkeitsforderung Recht, noch endet der Trojanische Krieg, wie jeder weiß, durch die einlösende Erfüllung der geäußerten Idee, sondern durch eine kontingente individuelle List.Footnote 34 Shakespeare nutzt mithin die Vorstellung von der Großen Kette der Wesen nicht diskursiv zur einvernehmlichen Artikulation der Idee einer geltenden Wahrheit, sondern zeigt vielmehr, wie sie funktioniert, und stellt sie als überkommen und strategisch interessiert aus. Dies wäre nun das von Rancière profilierte platonische Skandalon illiziter Doppelung. Indem das Stück Ulysses die Idee der Seinskette zum einen ernsthaft-spielerisch diskursiv nutzen lässt, stellt es sie in gleichem Zug zum anderen spielerisch-ernsthaft adiskursiv zur Schau und macht auf diese Weise seine Nutz‑, Zeig- und Manipulierbarkeit dem Publikum bewusst. Wo die Figur des Ulysses scheinbar die einzig mögliche, abschließende Antwort weiß, verwandelt das Stück diese zurück in eine ebenso debattier- wie bezweifelbare offene Frage.Footnote 35 Dem figuralen Versuch ausschließender Ingestaltziehung des Imaginären in eine alternativlos reifizierte ›Realität‹ kontrastiert seine simultane, ästhetisch einschließende Ingestaltziehung in mögliche ›fiktive‹ Alternativen: der klaren entscheidungs- wie handlungsermöglichenden Aufteilung in einsinnige Identitäten widerspricht die gleichzeitig auf der Bühne mit gezeigte widersinnige Differenz.Footnote 36
III.
rahmen | wandel
Der ›Geist‹ einer Kultur wie ihre Ästhetik speisen sich mithin beide aus dem Imaginären. Hierin liegen seine – Literaturwissenschaft wie Geistesgeschichte gleichermaßen betreffenden – ›Relevanzen‹. Baut das eine aus dem Imaginären diskursiv über ›Ideen‹ wie etwa die Seinskette ingestaltziehend eine Gesellschaft und ›Kultur‹, so befragt das andere mit dem gleichen Imaginären adiskursiv – in andere, auch mögliche Gestalten ziehend – deren Validität und Geltung. Wo der reifizierende Typus vornehmlich identitär zentripetal festzurrt, sucht der fingierende Typus vergleichgültigend alteritär zentrifugal zu lockern. Der gesellschaftliche Ingestaltziehungstypus ist wichtig und wesentlich, weil er uns als denkenden und vornehmlich sprachlich bestimmten Wesen die Vorstellung von einem syntagmatisch strukturierten und semantisch ausdeutbaren ›Habitat‹ als Sinn und Orientierung zur Verfügung stellt; der ästhetische Ingestaltziehungstypus ist wichtig und wesentlich, weil er deren Verdinglichungsverlockung zum einzig denkbaren und möglichen Habitat infrage stellt und genau darin stets auch Veränderung in Aussicht stellt, wofern nicht garantiert.Footnote 37
Dies läuft noch einmal über die Text/Kontext-Dyade. Aus funktionsgeschichtlicher Sicht hat Wolfgang Iser immer wieder eindringlich auf die Situationsbildungskraft des Ästhetischen aufmerksam gemacht; im Gegensatz zu diskursiv genutzten Texten, die in ihrem Gebrauch in der Regel bereits funktional in vorgegebenen Kontexten verankert sind wie etwa ein Verbot, ein Gesetz, eine Gebrauchsanweisung oder eben auch eine Rede der politischen oder militärischen Mobilisierung, muss ihm zufolge ein im hier vorgeschlagenen Sinne ›adiskursiv‹ angebotener fiktionaler Text »alle die Anweisungen mit sich führen […], die für den Empfänger der Äußerung die Herstellung eines solchen situativen Kontexts erlauben«.Footnote 38 Vielleicht sollte man dies wiederum nicht als einander ausschließende Opposition sehen, sondern erneut als vergleichgültigend egalitäre Addition: wo der Gebrauchstext habituell scheinbar einvernehmlich in einen vorgängigen Kontext eingebettet ist, ist die Fiktion beides: sowohl involviert in einen vermeintlich ursprünglichen Gebrauchszusammenhang als auch zugleich immer schon bis zu einem gewissen Grad dergestalt von ihm abgelöst, dass sie einen solchen Zusammenhang allererst selbst konstituiert.Footnote 39 Ihre Kontextualität ist also vorgängig und nachgängig zugleich.Footnote 40 Jeder Akt des Fingierens steht in einem Kontext und macht einen Kontext; der Kontext von Shakespeares Troilus and Cressida ist nicht der Kontext der Figur des Ulysses: die Entscheidungsnot der Griechen ist keine Entscheidungsnot des Publikums. Während sich also die fiktiven Griechen ausschließlich in einer Situation befinden, in der sie sich zwischen Misserfolg und Einigkeit entscheiden müssen, sind dies die realen Theaterzuschauer – wo, wie und wann auch immer das Stück zur Aufführung kommt – immer schon prinzipiell ebenso widersinnig simultan wie folgerecht entscheidungsenthoben in zwei: in einer ernsthaft-spielerischen der potenziellen, empathisch ›mitspielenden‹ Identifikation und zugleich in einer spielerisch-ernsthaften der kognitiven, das Spiel erkennenden Distanznahme.Footnote 41 Auf diese Weise wird die Art der diskursiven Sprachnutzung – wenn man so will, ihr ›geistesgeschichtlicher Stellenwert‹ – sicht- und erkennbar; über die prinzipielle, selbstwidersprüchliche Doppelung des ästhetischen Imaginären kommt in den Blick, was das gesellschaftliche Imaginäre stets im Verborgenen zu halten sucht. Die Aufdeckung des geistesgeschichtlichen Gehalts jedoch für die alleinige ›Wahrheit‹ des eigenen hermeneutischen Tuns zu halten, käme wiederum einer die Doppelung kassierenden, banalisierenden Reduktion auf lediglich eine Ebene gleich: die oszillierende Prozesshaftigkeit des ästhetischen Imaginären wäre mit der vermeintlich stabilen Resultathaftigkeit des gesellschaftlichen Imaginären vertauscht. Wer etwa – wie über lange Zeit hinweg selbst die seriöseste germanistische Forschung – in Erasmus’ Lob der Torheit trotz des über allem stehenden Matrixsatzes »Stultitia loquitur«/»Die Torheit spricht« in deren fiktiver Rede mit zunehmender Ungeduld des realen Autors ›Wahrheit‹ sucht, verkennt das angebotene Doppelspiel und reduziert es selbstberuhigend auf einen hinter allen vermeintlichen ästhetischen ›Nebelbomben‹ liegenden eindeutigen geistesgeschichtlichen (›Sprachrohr‹-)Gehalt, als gäbe es den Matrixsatz irgendwann nicht mehrFootnote 42; wer gleichermaßen – wie etwa der einstmals angesehene Shakespeareforscher und vornehmliche Historienspezialist E. M. W. Tillyard – die Rede des Ulysses losgelöst von der fiktiven Situation des Stücks betrachtet, macht aus Troilus and Cressida ein bloßes Lehrstück einer Weltanschauung und kassiert so von vornherein seine spezifisch ästhetischen Leistungen.Footnote 43
Neben dem unmittelbaren Zeigen einer fiktiven Entscheidungssituation und der simultan bewusstmachenden Zurschaustellung ihrer diskursiven Operationen in einer realen Theatersituation leistet die Vorführung der Beratungsszene der Griechen allerdings zudem noch ein weiteres. Schon die Rede des Ulysses selbst verweist auf den Rahmen und die Findungswege, in denen sich die Überzeugungen des gesellschaftlichen Imaginären zu artikulieren vermögen: das vorgebrachte Argument basiert sowohl auf der Vorstellung von der Welt als einem in sich geschlossenen, wohlgeordneten Kosmos als auch auf der Annahme ihrer lesbarkeitsgarantierenden internen Strukturierung über sich entsprechende und spiegelnde Ähnlichkeiten, wie dies die gezogene harmoniebewusste Analogie zwischen Bienenstock, Himmelskörper und griechischer Armee aufruft und impliziert.Footnote 44 Dies betrifft nun nicht mehr allein die im Spiel befindlichen einzelnen geistesgeschichtlichen ›Ideen‹, sondern darüber hinaus das diese Ideen ermöglichende umfassende ›Denksystem‹, das den kontextuellen Bedingungsrahmen stellt, in dem sich die Vorstellungen von ›Welt‹ überhaupt erst artikulieren können.Footnote 45 Zielt das gesellschaftliche Imaginäre aufgrund seiner Konstruktivität eher identitätsbewusst auf die Einhaltung von Grenzen, so spielt das ästhetische Imaginäre an und mit diesen Grenzen und ermöglicht so potenziell Veränderung. Von Michel Foucault stammt die bislang wohl wirkmächtigste ›epistemische‹ Synopse eines solchen Ähnlichkeitswissens, wonach Welterkenntnis über erkennbare und gleichsam von Gott in die Welt gesetzte Gleichheitsmarken läuft, welche sich zu einem geschlossenen Ganzen fügen; man hat dies in der Folge aus philosophie-, wo nicht allgemein wiederum geistesgeschichtlicher Sicht epistemologisch ein wenig relativierend zurechtgerückt in eine an Ähnlichkeiten ausgerichtete Findungstechnik, welche den Menschen erlaubt, die ›Dinge‹ der Welt – einschließlich der ›Wörter‹ (verba) als ihrerseits eben auch ›Dingen‹ (res) – an der Oberfläche interpretierend wahrzunehmen, systematisch zueinander in bezug zu setzen und genau darin zu erkennen.Footnote 46 Auf diese Weise erscheint die Welt wie eine einzige, riesige, in sich geschlossene »›Konvenienz‹ der Dinge«, in der sich gemäß Foucaults pointierter Formulierung »Semiologie und Hermeneutik in der Form der Ähnlichkeit übereinandergelagert« haben.Footnote 47 Das gesellschaftliche Imaginäre folgt dementsprechend einer Vorstellung, welche die Welt grundsätzlich als Zeichen und Welterkenntnis folgerecht als deren Entschlüsselbarkeit und Entschlüsselung zu sehen vermag.
Dies aber setzt zum einen, wie erwähnt, ihre Geschlossenheit und darin ihren – zumindest supponierten – Systemcharakter voraus wie zum anderen darüber hinaus den Verdacht oder auch ›Glauben‹, dass es eine Instanz gibt, die für die Ordnung der Welt verantwortlich ist und sie folgerecht zusammenhält. Hans Blumenberg hat in seiner Skizze der von ihm so genannten ›Wirklichkeitsbegriffe‹ dies sehr schön beschrieben als Vorstellung einer vor allen Dingen das Denken des Mittelalters bestimmenden »garantierte[n] Realität« mit Gott als einer »dritten Instanz« und »absolute[m] Zeugen«, welcher »als der verantwortliche Bürge für die Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis« zu fungieren vermag.Footnote 48 Im weitgehend christlich geprägten Mittelalter wirkt ein solcher ›Glaube, dass‹ wie ein fester, von allen geteilter und nicht zuletzt institutionell dogmatisch ebenso massiv gestützter wie repressiv eingeforderter kontextueller religiöser Rahmen, welcher auch denk- und vorstellbare Alternativen nach außen hin abschottet und das verbliebene Innen als ausschließlich ganze ›Wahrheit‹ verabsolutiert; in dieser Hinsicht ließe sich auch von einem mehr oder weniger verbindlichen, theologisch bestimmten ›Sitz im Leben‹ sprechen als dem Ort, an dem der mittelalterliche Text ›lebt‹ und in dessen alleinig zulässigem kontextuellen Rahmen das gesellschaftliche Imaginäre seine Lizenz gewinnt.Footnote 49 Gleichwohl lassen sich – bewusst oder unbewusst – auch im Mittelalter immer wieder Versuche beobachten, über diesen Rahmen hinauszugelangen. Für das Osterspiel etwa hat Rainer Warning tendenziell nachgezeichnet, dass »das Spiel immer genau das hereinnimmt und perpetuiert, was dogmatischer Purismus als mythologische Aufweichung der Lehre diagnostiziert und auszugrenzen sucht«, sodass gerade die Doppelung durch das zeigende Spiel die an sich intendierte dogmatische Eindeutigkeit des gezeigten, einzuübenden Kerygmas – quasi als stets begleitende ästhetische »Konterbande« – unterläuft und invalidiert.Footnote 50 In ähnlicher Weise sucht etwa die pyrrhonisch geprägte Mystik eines Nikolaus von Kues, wie Verena Lobsien einlässig herausgearbeitet hat, die Grenzen einer solchermaßen garantierten Realität gerade im nie nachlassenden, insistenten textuellen »Exerzitium des Unvermögens« immer wieder erneut tentativ zu ›transzendieren‹ mit dem Ziel, eine Ahnung von Alterität zumindest epiphaniehaft »zur Leseerfahrung« werden zu lassen.Footnote 51
Über die schleichende Institution solchermaßen fingierend ingestaltziehender Alteritätsagenturen kommen verstärkt nunmehr innerhalb der Text/Kontext-Dyade auch bewusst epistemologische Prozesse der Assimilation und Akkommodation ingang, welche einerseits den status quo des geltenden Wirklichkeitsverständnisses zwar noch abdichtend abzusichern bemüht sind, zugleich aber auch andererseits, ohne recht den Ausgang zu kennen, andere Wirklichkeitsauffassungen versuchsweise zu explorieren beginnen. Dies wäre, was man in einer glücklichen Wendung die »Öffnung der Welt« genannt hat: ein ebenso krisenhafter wie neugieriger ›epochaler‹ Moment epistemologischer Umstellung auf einen neuen, noch zu bauenden Kontext.Footnote 52 Wolfgang Krohn hat in Anlehnung an Jean Piagets genetisches Erkenntnismodell des Menschen am Beispiel der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung solche Umstellungsprozesse transformationsgeschichtlich als dreiphasigen Verlauf der assimilatorischen Integration in Bestehendes, »die das Erkenntnissubjekt jedoch noch nicht zu strukturell neuen Akkommodationen zwingen«, der »Umstrukturierung der Erkenntnisschemata des Subjekts« und schlussendlich der »vollzogenen Akkommodation des Erkenntnissubjektes« beschrieben, welche in Hinblick auf sein Untersuchungskorpus letzten Endes »zu neuen empirischen Theorien« geführt habe.Footnote 53 In dieser Hinsicht steht etwa die Rede des Ulysses ganz im Zeichen der Assimilation, wenn auch das Neue sich, wenngleich erst nur in Abwehr, bereits zu konturieren beginnt als egozentrisch machthungriger, selbstzerstörerischer »universal wolf,/So doubly seconded with will and power,/Must make perforce an universal prey,/And last eat up himself« (TC 1.3.126–129)Footnote 54; demgegenüber zeigt sich in einer fast zeitgleichen Figur wie Hamlet, wie sich Erkenntnis in einer nicht mehr unmittelbar lesbaren komplexen Welt mithilfe einer experimentellen Versuchsanordnung wie der inszenierten Mousetrap über sorgfältiges Arrangement und exakte Beobachtung doch noch verlässlich erreichen lässt: »I’ll take the ghost’s word for a thousand pound« (Ham. 3.2.263 f.)Footnote 55; schließlich emergiert ein gesellschaftliches Imaginäres, welches sich in John Donnes notorisch verbitterter Zuspitzung akkommodierend als Einlösung einer individualistischen Vorstellung begreifen lässt, in der »every man thinks he hath got/To be a phoenix, and that then can be/None of that kind, of which he is, but he«.Footnote 56 Dies wäre eine Umstellung von einem religiös geprägten kollektiven ›Glauben, dass‹ auf ein zunehmend subjektgeprägtes, wunschgetrieben individuelles ›Glauben, als ob‹; es zeitigt einen verzeitlichten anderen Wirklichkeitsbegriff, den wiederum Hans Blumenberg beschrieben hat als »Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes«, demzufolge sich »Realität als Resultat einer Realisierung« begreifen lässt, also einer durch das Subjekt betriebenen zukunftsoffenen Aktion, welche Wirklichkeit als »sich konstituierende[n]«, »›offenen‹ Kontext« eigenmächtig erst herstellt, gleichwohl aber nie vollständig einzulösen imstande ist.Footnote 57
Hierüber wandelt sich kaum merklich und doch stetig der epistemologische Rahmen. Sein nie eindeutig spezifizierbarer ›epochaler‹ Kipppunkt liegt zwischen der nicht mehr greifenden Assimilation und der überraschend bereits vollzogenen Akkommodation.Footnote 58 Wo Ulysses noch vorgibt zu ›interpretieren‹, ist Hamlet bereits am ›Ordnen‹Footnote 59; wo Ulysses, wenn auch womöglich nur zum Schein, so tut, als verlasse er sich auf gegebene ›garantierte‹ Wirklichkeit, beginnt Hamlet über die von ihm installierte Versuchsanordnung eine Realität zu ›realisieren‹, die ihm den Kontext schafft für die erwünschte Welterkenntnis zur Überführung seines Onkels; wo der eine rückwärts blickt zur Mobilisierung ›alter‹ angestammter Kraft, schaut der andere nach vorn und schafft sich aktiv die von ihm benötigte Evidenz. Dies ist das ›neue‹ Modell des stets aufs Kommende gerichteten Experiments, der einverleibenden Expansion, des weitertreibenden Fortschritts und des vermeintlich unaufhaltsamen Wachstums. Es verdankt sich – wenn auch gewiss nicht unbedingt ausschließlich – nicht zuletzt den insistenten, stets das vorstellbare Auch-Mögliche mitverhandelnden wie -erprobenden fiktiven Ingestaltziehungen eines ästhetischen Imaginären, welche die Text/Kontext-Relation solange miteinander abgleichen, bis die »Geltungsschwäche« des herrschenden Denk- und Sinnsystems mit einem Schlag unversehens umgemünzt ist in die Instituierung eines neuen.Footnote 60 In diesem steten Abgleich der Relevanzen zwischen dem gesellschaftlichen und dem ästhetischen Imaginären liegt die geistesgeschichtliche Aufgabe literaturwissenschaftlicher Arbeit.
Notes
Dies bezeugen vor allem generationengebunden periodisch wiederkehrende Bestandsaufnahmen zu einer jeweils zeitlich anderen ›Literaturwissenschaft heute‹, welche zuweilen trotzig heilsgewiss und optimistisch nach ihrer Zukunft und oftmals eher larmoyant in sich gekehrt und verzagt nach ihrem möglicherweise kurz bevorstehenden Ende fragen, wie, darüber hinaus, die in den letzten Jahrzehnten extrem beschleunigten Verkündigungen von die Literaturwissenschaft ebenso allentscheidend relevanzversprechend wie zeitlich kurzfristig in den Schallraum der Gesellschaft zurückkatapultierenden ›Wenden‹. Für einen am Beispiel des Narrativen gemachten Vorschlag der Differenzierung zwischen einer lediglich fachextern geliehenen und darin verfallsträchtigen ›extrinsischen‹ und einer durch die Disziplin selbst begründeten und darin potenziell überdauernden ›intrinsischen Relevanz‹ siehe Andreas Mahler, »Disciplining Relevance. On Manifest and Latent Functions of Narratives«, in: Matei Chihaia, Katharina Rennhak (Hrsg.), Relevance and Narrative Research, Lanham, MD 2019, 19–33.
Die Emphase des individualistischen ›Verstehens‹ gegenüber einem objektadäquaten ›Erklären‹ stammt bekanntlich von Dilthey selbst; die Begriffe des ›Nomothetischen‹ und des ›Ideographischen‹ finden sich zuerst bei Wilhelm Windelband. Für einen kollektiven Rekonstruktionsversuch dieser Entwicklung siehe die Beiträge in Christoph König, Eberhard Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910–1925, Frankfurt a.M. 1993; für bündige Zusammenfassungen geistesgeschichtlichen Vorgehens siehe Klaus Weimar, Art. »Geistesgeschichte«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bde., hrsg. Klaus Weimar u. a., Berlin, New York 1997–2003, Bd. 1 (1997), 678–681, und Linda Simonis, Art. »Geistesgeschichte«, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. Ansgar Nünning, Stuttgart, Weimar 22001, 215–217.
So formulieren die beiden Gründungsherausgeber zum Auftakt, dass in der neuen Zeitschrift entsprechend »[n]eben der geistesgeschichtlichen Richtung, vornehmlich Diltheyscher Schule, […] besonders die form- und stilanalytische gepflegt werden« soll; siehe Erich Rothacker, Paul Kluckhohn, »Vorwort«, DVjs 1 (1923), v–vi, hier: v. Signifikanterweise ist ab etwa den 1970er-Jahren ein Wandel im Kürzel der Zeitschrift von einem die Geistesgeschichte noch mitführenden DVLG zum lediglich zeitlich markierten DVjs zu beobachten; für eine Darstellung der geistesgeschichtlich ausgerichteten Bemühungen innerhalb der Anfänge der Zeitschrift, vor allem mit Blick auf – ihrerseits eigens vom Vorwort miterwähnte – mittelalterliche und frühneuzeitliche Fragestellungen, siehe auch die Einleitung zu diesem Heft.
Literaturwissenschaftliche, insbesondere germanistische Einführungskurse waren zu deren Beginn entsprechend eher so genannte ›Methodenrevuen‹, welche Studierenden in übereifrig ›kritischem‹ Bewusstsein in der Regel ein wenig nutzlos vorführten, wie Wissenschaft vor allen Dingen nicht geht; siehe exemplarisch hierfür – als Beispiel für viele – etwa Manon Maren-Grisebach, Methoden der Literaturwissenschaft, München 61977, zur »Geisteswissenschaftlichen Methode« 23–38. Für eine einlässige zeitgenössische Kritik am hier verwandten Methodenbegriff und seine einsichtig elegante Auflösung in ein einander komplementierendes Ineinanderspiel von Erkenntnisinteresse, Fragestellung, Vorgehensweise, Leistung und Problemen siehe die nach dominant historischen von vornehmlich anthropologischen wie überwiegend textuell-sprachlichen Ansätzen geschiedene Darstellung bei Wolfgang Weiß, Das Studium der englischen Literatur. Eine Einführung, Stuttgart u. a. 1979, 59–85.
Siehe Lutz Danneberg, Art. »Kontext«, in: Reallexikon (Anm. 2), Bd. 2 (2000), 333–337, die Zitate 333; in diesem Sinn sind etwa medizinisch-philosophische Liebeskonzeptionen (A) Kontext für die frühneuzeitliche Sonettliteratur (B) in Hinsicht auf die literarische Behandlung des Themas Liebe (C) oder das – nicht unumstrittenene – Konzept des divine right of kings (A) Kontext für Shakespeares Historien (B) mit Blick auf das mittelalterlich-frühneuzeitliche Verständnis von Herrschaft (C) oder auch der christliche Glaube (A) Kontext für das Geistliche Spiel (B) hinsichtlich der Behandlung von Gut und Böse bzw. den Gedanken der ›Erlösung‹ (C).
Auf diese Weise erscheint etwa der Text der Flaubert’schen Éducation sentimentale ohne den Kontext der 1848er Revolution und ihrer Folgen kaum adäquat verstehbar wie auch – zumindest für manche – die Französische Revolution von 1789 ohne etwa Texte wie Beaumarchais’ Le Barbier de Séville und Le Mariage de Figaro kaum denkbar wäre.
Für eine Explikation und literaturwissenschaftliche Nutzung des Emergenzbegriffs siehe die postum veröffentlichten Überlegungen bei Wolfgang Iser, Emergenz. Nachgelassene und verstreut publizierte Essays, hrsg. Alexander Schmitz, Konstanz 2013.
Ich stütze mich hier und im Folgenden auf Gedanken, die ich in anderem Zusammenhang zu entwickeln versucht habe in Andreas Mahler, »Kontextorientierte Theorien«, in: Matías Martínez (Hrsg.), Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart, Weimar 2011, 115–125.
Siehe Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1993, 20; dies scheint mir der zentrale Satz seines Überführungsversuchs der traditionellen Entgegensetzung von ›Fiktion‹ und ›Wirklichkeit‹ in die von ihm vorgeschlagene ternäre Relation des ›Realen‹, ›Fiktiven‹ und ›Imaginären‹.
Für den Entwurf eines funktionsgeschichtlichen Textmodells siehe Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, 87–143, zum ›Repertoire‹-Begriff wie zu den – letztendlich auf Roman Jakobson zurückgehenden – textbildenden Operationen der ›Selektion‹ und ›Kombination‹ v. a. 114 ff.
Am Narrationserwerb von Kindern lässt sich beobachten, wie die Ingestaltziehung des Imaginären in einer ersten Phase zunächst alles Mögliche (›Fiktive‹) und erst in einer späteren zweiten Phase sodann auch, quasi als Bonusgratifikation, zudem referenzierbare ›Wirklichkeitsgeschichten‹ hervorzubringen vermag. Für einen an Iser orientierten Vorschlag der Umdrehung von der Fiktion als Sonderfall des Realen zur Wirklichkeit als Sonderfall des Fiktiven siehe Andreas Mahler, »Konstruktion / Gegen / Konstruktion. Über das Imaginäre als Vermögen und als Funktion«, Comparatio 6 (2014), 87–101; für dessen Ausbau unter dem Stichwort einer uns semiotisch-kognitiv leitenden ›inversen Logik‹ siehe ders., »Logiken des Inversen. Zum anthropologischen Grund medialer Chaosbewältigungen«, Poetica 52 (2021), 143–162.
Zur Verdinglichung als »Auffassung von menschlichen Produkten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte: Naturgegebenheiten«, siehe Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (1966), übers. v. Monika Plessner, Frankfurt a.M. 1984, 94–98, das Zitat 95 (die das Fiktive des Vorgangs betonende Herv. dort).
Zum quasi autopoietischen Bau von ›Kultur‹ siehe Iser (Anm. 7), die Zitate 76.
Siehe hierzu Verena Olejniczak Lobsien, Eckhard Lobsien, Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert, München 2003, 32; vgl. auch den bewusst als Sternchenfußnote klein gehaltenen, gleichwohl enorm gehaltvollen dortigen »Exkurs über Kultur und Imagination«, 258–260 (entsprechend ließe sich in diesem Sinne für den vorliegenden Fall differenzieren zwischen dem Imaginären als dem Numinosen, Gestaltlosen, Amorphen, was ingestaltgezogen wird, und der Imagination als dem Prozess und den Verfahren der Ingestaltziehung). Zur soziologisch-anthropologischen Einsicht, wonach für uns zuweilen Dinge in der Latenz verbleiben müssen, um deren Funktionieren zu garantieren, siehe die zusammenfassenden Überlegungen bei Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, 456–470.
Zur funktionsgeschichtlichen Ausführung des Gedankens, wonach die »Literatur« als nicht unmittelbar gesellschaftsbildendes Fingieren »ihren Ort auf den Grenzen der Sinnsysteme« habe, siehe Iser (Anm. 10), 122.
Zur Auffassung, dass das (radikale) »Imaginäre […] kein Bild von« ist, sondern »unaufhörliche und (gesellschaftlich-geschichtlich und psychisch) wesentlich indeterminierte Schöpfung von Gestalten/Formen/Bildern, die jeder Rede von ›etwas‹ zugrundeliegen», mit dem Effekt, dass »[w]as wir ›Realität‹ und ›Rationalität‹ nennen, […] sich überhaupt erst ihnen« verdankt, siehe Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie (1975), übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt a.M. 1990, 12 (Herv. dort); zum Prinzip des ›legein‹ als einem diskriminierend setzenden semantischen Akt konkretisierenden Vorstellens, Unterscheidens, Ordnens und Bezeichnens wie zum dies permanent begleitenden, ergänzenden Prinzip des ›teukein‹ als einem Akt beständigen pragmatischen (Wieder‑)Ingebrauchnehmens und darin latenten Modifizierens des Gesetzten siehe v. a. 372–454.
Für seine Theorie der Semiosphäre und die darin einbegriffene Rolle des Sujets siehe Jurij M. Lotman, Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, übers. v. Gabriele Leupold, Olga Radetzkaja, hrsg. Susi K. Frank, Cornelia Ruhe, Alexander Schmitz, Berlin 2010, 161–290, das Zitat 232 (meine Herv.).
So die – weitgehend an Isers Funktionsskala zwischen affirmativem ›Abdichten‹ und gesellschaftsbefragendem, wo nicht -›kritischem‹, ›Aufdecken‹ orientierte – Bilanzierung der innovativen Leistung von Lotmans Sujettheorie im Balzac-Kapitel von Rainer Warning, Die Phantasie der Realisten, München 1999, 38; für den originellen Befund einer nicht nur für Balzac konstatierbaren »Abdichtung im Schein der Aufdeckung« siehe ebd. 56, Anm. 25.
Dies erklärte den aus rationalistischer Sicht einigermaßen verblüffenden Fiktionsbedarf des Menschen; siehe hierzu dessen Artikulation sowohl bei Wolfgang Iser, »Anglistik. Eine Universitätsdisziplin ohne Forschungsparadigma?«, Poetica 16 (1984), 276–306, hier: 301, als auch in Lotmans pseudoverwunderter Formulierung, wonach »es einem außerhalb aller irdischen Kulturen stehenden Beobachter große Schwierigkeiten bereiten [würde], zu erklären, warum eine so große Anzahl von Texten existiert, die von Ereignissen berichten, die bekanntermaßen nicht stattgefunden haben« (Jurij M. Lotman, »Die Entstehung des Sujets – typologisch gesehen«, in: Ders., Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst, hrsg. Klaus Städtke, Leipzig 1981, 175–204, hier: 175). Für eine am Sujetbegriff ausgerichtete funktionsgeschichtliche Skizze dieses Fiktionsbedarfs siehe Andreas Mahler, »Raum und ›erzählte‹ Welt. Zyklik – Linearität – Proliferation«, in: Christoph Bartsch, Frauke Bode (Hrsg.), Welt(en) erzählen. Paradigmen und Perspektiven, Berlin, Boston 2019, 281–316.
Mir geht es hier und im Folgenden nicht um eine historische Rekonstruktion des geisteswissenschaftlichen Ansatzes im engeren Sinne der 1910er und 1920er-Jahre, sondern um ein weiteres Projekt geistesgeschichtlichen Denkens als ein Vorstellungen abgleichendes, vernetztes Text-Kontext-Denken, welches sich unter verschiedenen Namen bis in die Jetztzeit ziehen lässt; für – eher ernüchterte – Bilanzierungen des geistesgeschichtlichen Projekts im engeren Sinn siehe Karl Viëtor, »Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. Ein Rückblick«, PMLA 60 (1945), 899–916, und Paul Kluckhohn, Art. »Geistesgeschichte«, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hrsg. Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr u. a., 2. Aufl, 4 Bde., Berlin 1958–1984, Bd. 1, 537–540, sowie aus disziplinhistorischer Sicht Klaus Weimar, »Zur Geschichte der Literaturwissenschaft. Forschungsbericht«, DVjs 50 (1976), 298–364; vgl. auch generell die Überblicksartikel oben in Anm. 2.
Dies wäre der Weg von der Geistesgeschichte über die Problemgeschichte zur Ideengeschichte, wie er sich etwa am Beispiel der Idee des ›Todes‹ vorgezeichnet findet in den Arbeiten von Rudolf Unger und Walther Rehm oder mit Blick auf Vorstellungen von ›Liebe‹ oder ›Freiheit‹ bei Paul Kluckhohn oder Hermann August Korff; siehe Weimar (Anm. 2), 678, und Maren-Grisebach (Anm. 4), 32–38.
Für eine knappe Darstellung der Entwicklung ideengeschichtlicher Bemühungen (samt nachfolgend einschlägiger Texte) siehe die »Einleitung. Die Vielfalt der Ideengeschichte« der Herausgeber in Texte zur Theorie der Ideengeschichte, hrsg. Andreas Mahler, Martin Mulsow, Stuttgart 2014, 9–50; für das Anliegen der Cambridge School ebenso Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, hrsg. Martin Mulsow, Andreas Mahler, Berlin 2010, 7–17. Für eine programmatische Skizze einer Historischen Anthropologie siehe Richard van Dülmen, Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben, Köln, Weimar, Wien 2000; für eine nach wie vor anregende, wenngleich zuweilen auch prononciert eigene, Methodik hierzu vgl. August Nitschke, Historische Verhaltensforschung. Analysen gesellschaftlicher Verhaltensweisen, Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 1981. Einen engagierten ausführlichen und informativen Forschungsbericht aus Sicht der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Literatur bietet Christian Kiening, »Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven«, Jahrbuch für Internationale Germanistik C 5.1 (1996), 11–129.
So die bislang überzeugendste, da operationalisierbarste Definition des Diskursbegriffs bei Michael Titzmann, »Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung«, ZfSL 99 (1989), 47–61, hier: 51; zur ›klassischen‹ funktionalen Formulierung, wonach »in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird« und er sich demzufolge darstellt als »dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht«, siehe Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember 1970, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1982, 7 f.
Ich nehme hier nochmals Überlegungen auf aus Mahler (Anm. 8), v. a. 117–118.
Zum Begriff des ›Konzepts‹ in diesem Sinne siehe Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft, München 1974, 52; zu demjenigen der ›Norm‹ näherhin Klaus Kanzog, Erzählstrategie. Eine Einführung in die Normeinübung des Erzählens, Heidelberg 1976. Hierüber ließe sich nochmals der Lotman’sche Gedanke bestätigen, wonach erst die narrative Modellierung von Ereignishaftigkeit so recht auch deren lebensweltliche Bewusstmachung zu steuern vermag (vgl. oben Anm. 17); für generelle Überlegungen zur Beschreibung des Menschen als ›homo narrans‹ samt der daraus resultierenden Folge seiner prinzipiellen kognitiven Erzählgebundenheit siehe den Entwurf bei Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 2012.
Zur klassischen story/plot-Distinktion siehe E.M. Forster, Aspects of the Novel (1927), Harmondsworth 1976, 87.
Die Vorstellung von der Nutzung des Imaginären sowohl für die retrospektive Verarbeitung und Speicherung von tatsächlich gemachter Erfahrung als auch für die prospektive Verarbeitung und Speicherung von lediglich Eingebildetem geht zurück auf das drei- bzw. fünfgliedrige Kammernmodell des Avicenna, wonach zum einen, in Vorordnung der res vor die verba, sich Erfahrung einprägt und mental reproduziert, wohingegen umgekehrt zum anderen, in Vorordnung der verba vor die res wie etwa im Traum oder in der Phantasie, sich Eingebildetes ausprägt und mental produziert; siehe hierzu die zusammenfassende Darstellung bei Lobsien, Lobsien (Anm. 14), 11–35.
Zum Begriff des Konterdiskursiven siehe bereits Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a.M. 31980, 76 f. und 365 f.; für eine abwägende theoretische Ausfaltung des Begriffs hin zum Adiskursiven siehe das Kapitel »Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault«, in: Warning (Anm. 18), 313–345. Für den Vorschlag einer pragmatisch ausgerichteten Verschiebung der Rede von ›Diskurs‹ und ›Konterdiskurs‹ zu ›Diskursivität‹ bzw. ›Adiskursivität‹ siehe Andreas Mahler, »Diskurs. Versuch einer Entwirrung«, ZfSL 120 (2010), 153–173.
Für eine handlungsorientierte Profilierung des literarischen/ästhetischen Texts als zur Schau stellenden ›display text‹ siehe Mary Louise Pratt, Toward a Speech Act Theory of Literary Discourse, Bloomington, IN 1977, v. a. 136–148.
Siehe Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hrsg. und übers v. Maria Muhle, Berlin 22008, 27 (Übers. leicht geändert).
Zur – immens verzögerten – Rezeptionsgeschichte des erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts so recht als proto-Ibsen’sches ›Problemstück‹ wiederentdeckten Shakespearedramas siehe den kurzen Abriss von Walter Kluge in Ina Schabert (Hrsg.), Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch – Das Werk – Die Nachwelt, Stuttgart 52009, 440–442; für den umfassenden Versuch einer engagiert zeitbezogenen Lektüre des Stücks im Kontext der Inns of Court Revels siehe W.R. Elton, Shakespeare’s Troilus and Cressida and the Inns of Court Revels, Aldershot 2000. Alle Shakespeare-Zitate folgen unter den üblichen Siglen der Ausgabe The Norton Shakespeare. Based on the Oxford Edition, hrsg. Stephen Greenblatt u. a., New York 1997.
Wissenschaftsgeschichtlich ist dies zudem die Idee, der eine der wichtigsten ersten ideengeschichtlichen Monographien überhaupt gewidmet ist; siehe Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens (1936), übers. v. Dieter Turck, Frankfurt a.M. 1993; deren erstes Kapitel findet sich signifikanterweise wenige Jahre später als programmatischer Theorietext eigens noch einmal abgedruckt unter dem Titel »Reflections on the History of Ideas« im neugegründeten Journal of the History of Ideas 1 (1940), 3–23.
Locus classicus hierfür ist das Bändchen E.M.W. Tillyard, The Elizabethan World Picture (1943), Harmondsworth 1978; für eine zunehmend sich ab der Mitte der 1980er-Jahre regende Kritik siehe programmatisch stellvertretend Jonathan Dollimore, »Introduction. Shakespeare, Cultural Materialism and the New Historicism«, in: Ders., Alan Sinfield (Hrsg.), Political Shakespeare. New Essays in Cultural Materialism, Manchester 1985, 2–17, insbes. 5–7, sowie John Drakakis, »Introduction«, in: Ders. (Hrsg.), Alternative Shakespeares, New Accents, London 1985, 1–25, hier: v. a. 14–15. Ein ähnliches Projekt wie Tillyard, allerdings noch betont stärker aus nostalgisch christlicher Perspektive, verfolgt C.S. Lewis, The Discarded Image. An Introduction to Medieval and Renaissance Literature (1964), Cambridge 1988; für eine explizite Rückführung der geistesgeschichtlichen Methode aus marxistischer Sicht auf das »religiöse[] Denken des M[ittel]A[lters], in dem die Wirklichkeit als Emanation einer vollkommenen geistigen Substanz – nämlich Gott – erscheint«, siehe Marion Förster, Art. »Geistesgeschichte«, in: Wörterbuch der Literaturwissenschaft, hrsg. Claus Träger, Leipzig 1989, 178–180, das Zitat 178.
Für eine ausführlichere Ausdeutung der Rede aus epistemologischer Sicht siehe Andreas Mahler, »Epistemologisches Interpretieren. Der Historiker Foucault und Shakespeares Troilus and Cressida«, Shakespeare Jahrbuch (1994), 113–128.
Für eine ausführliche Darstellung des Einflusses insbesondere der pyrrhonischen Skepsis auf den zunehmend Andersdenkbares ingestaltziehenden Entwurf von Alternativen in Spätmittelalter und früher Neuzeit siehe die alteritären Überlegungen bei Verena Lobsien, Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur, München 1999.
Den Gedanken einer ›einschließenden Ausschließung‹ samt ›ausschließender Einschließung‹ in einer ›Zone der Ununterschiedenheit‹ entnehme ich den in anderem Zusammenhang entwickelten, gleichwohl aber ihrerseits wiederum auf Vergleichgültigungsgesten abzielenden Überlegungen Giorgio Agambens zu den Bedingungen des Ausnahmezustands; siehe Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben (1995), übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002, die genannten Begriffe 31 und 29.
Zum Funktionsspektrum des Ästhetischen zwischen affirmativem ›Abdichten‹ und kritisch-akkusatorischem ›Aufdecken‹ als jeweilige Bilanzierungsleistungen in bezug auf herrschende Sinnsysteme siehe die Skala bei Iser (Anm. 10), 114–143, v. a. 139 f.; vgl. auch oben Anm. 18.
Siehe ebd., 101–114, das Zitat 106; dies führt Iser zuweilen zur Rede von der ›Situationslosigkeit‹ des fiktionalen Textes, die freilich nicht als absolute Kontextlosgelöstheit missverstanden werden darf.
Die grundsätzliche Kontextualisiertheit des literarischen Textes unter dem notorischen Schlagwort ›always contextualize‹ ist Programm in Stephen Greenblatts jeweils ingeniös narrativ an der unscheinbaren Einzelanekdote aufgehängten ›New Historicism‹. Für eine profunde Differenzierung des Text/Kontext-Verhältnisses zwischen Ästhetik und Alltagsgebrauch unter dem vielleicht nicht ganz glücklichen Etikett einer grundsätzlichen »Dialektik von Einbettung und Ausbettung« siehe die Überlegungen bei Rainer Warning (Anm. 28), das Zitat 318.
Dies wäre nochmals eine Folge des Phänomens der Emergenz; siehe oben Anm. 7.
Für den Gedanken fiktionaler Situationsspaltung in eine »interne Sprechsituation« und eine »externe Rezeptionssituation« samt einer – wiederum an Rancière gemahnenden – pragmatischen Bestimmung fiktionaler Rede über die (unmögliche) »Simultaneität zweier Situationen« siehe Rainer Warning, »Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion«, in: Dieter Henrich, Wolfgang Iser (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven, Poetik und Hermeneutik 10, München 1983, 183–206, die Zitate 193, die Rede von einer »Schule der Distanznahme« 204; für einen daran orientierten Entwurf einer Dramentheorie mit einer auf Identifikation und Mimesis abzielenden ›dramatischen Perspektive‹, einer auf Distanz und Performativität abzielenden ›theatralen Perspektive‹ und einer auf Kontext und Gesellschaft abzielenden ›lebensweltlichen Perspektive‹ siehe Wolfgang Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik, München 1982, 13–68. Für eine umfassende Diskussion so genannter ›ästhetischer Illusion‹ zwischen spielbereiter Identifikationswilligkeit und immer zugleich auch notwendiger Distanzierung siehe die Beiträge in Werner Wolf, Walter Bernhart, Andreas Mahler (Hrsg.), Immersion and Distance. Aesthetic Illusion in Literature and Other Media, Studies in Intermediality 6, Amsterdam, New York 2013.
Siehe Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit, übers. und hrsg. Uwe Schultz, Frankfurt a.M. 1979; für einen vor allen Dingen gegen die germanistische These von einer – letztlich wiederum beruhigenden – satirischen ›Norm‹ argumentierenden Nachweis irritierender radikaler Offenheit bei Erasmus siehe die Überlegungen bei Nicola Kaminski, »Stultitia als Sophistin. Satire ohne Norm im Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam«, DVjs 68 (1994), 22–44.
Siehe Tillyard (Anm. 33), 17–19; Tillyard beginnt seine Ausführungen mit dem bezeichnenden Satz: »Shakespeare’s version is the best known.« (17).
Zum Gedanken eines Wandels der Sicht von ›Welt‹ in der frühen Neuzeit siehe die klassischen Überlegungen bei Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum (1957), übers. v. Rolf Dornbacher, Frankfurt a.M. 1980; für den Topos von der Lesbarkeit der Welt siehe Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1986.
Für den Versuch einer Beschreibung von ›Denksystemen‹ bzw. ›Denkstrukturen‹ einer Kultur oder auch Epoche als »Gesamtmenge der […] epistemologischen Basisannahmen« dieser Kultur bzw. Epoche samt ihrem Wissen siehe Titzmann (Anm. 23), 55, wobei der Begriff der ›Gesamtmenge‹ angesichts der hier vertretenen These von der beständigen Dynamis solcher Systeme gleichwohl wiederum vielleicht ein wenig optimistisch erscheint.
Zum Ähnlichkeitswissen als Vorspiel einer auf Klassifizieren und Ordnen abzielenden Episteme der ›Klassik‹ siehe die Ausführungen bei Foucault (Anm. 28), 46–91; für eine bisweilen scharfe, wenn auch im Grunde durchweg wohlwollende Kritik mit Blick auf den Findungscharakter der verba als ihrerseits res im epistemologisch an Topoi orientierten Findungsprozess siehe Stephan Otto, Das Wissen des Ähnlichen. Michel Foucault und die Renaissance, Frankfurt a.M. 1992.
Siehe Foucault (Anm. 28), 48 und 60.
Siehe hierzu Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans« (1964), in: Ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, hrsg. Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M. 2001, 47–73, die Zitate 50 und 51 (Herv. dort).
Zur Metapher vom gesellschaftlichen ›Leben‹ einer literarischen ›Form‹ als ›Sitz im Leben‹, vor allem mit Blick auf die Bibelexegese, siehe Klaus Berger, Einführung in die Formgeschichte, Tübingen 1987, 156–161; vgl. hierzu auch Klaus Koch, Was ist Formgeschichte? Methoden der Bibelexegese (1964), Neukirchen-Vluyn 1989.
Siehe Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974, die Zitate 32 und 33.
Für eine Analyse unverdrossenen Erschreibens von gleichwohl Unsagbarem als in hoffnungsfroher Skepsis ›inszenierte Transzendenz‹ bei Nikolaus von Kues siehe Lobsien (Anm. 35), 49–84, die Zitate 65; für eine kleine Genealogie mittelalterlich-frühneuzeitlicher Alteritätsagenturen siehe Andreas Mahler, »Allegorie und Aisthetis. Zur Genealogie von Alteritätsagenturen«, in: Ulla Haselstein u. a. (Hrsg.), Allegorie, DFG-Symposion 2014, Berlin, Boston 2016, 356–381, insbes. 372–379.
Ich verdanke diese Prägung der hispanistischen Untersuchung von Susanne Dürr, Die Öffnung der Welt. Sujetbildung und Sujetbefragung in Cervantes’ Novelas Ejemplares, Stuttgart 2010. Das Epochale ist bekanntlich eher die Schwelle denn der Zeitraum; für eine frühe Polemik gegen die aus seiner Sicht unzulässige Reifizierung von Epochen zu Entitäten siehe den nach wie vor lesenswerten Aufsatz von Benno von Wiese, »Zur Kritik des geistesgeschichtlichen Epochenbegriffes«, DVjs 11 (1933), 130–144.
Für seine äußerst anregende Umsetzung der Piaget’schen Einsichten auf epochale Entwicklungen in der frühen Neuzeit siehe Wolfgang Krohn, »Die ›Neue Wissenschaft‹ der Renaissance«, in: Gernot Böhme, Wolfgang van den Daele, ders., Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt a.M. 1977, 13–128, die Zitate 23; für den Versuch einer Applikation auf literaturwissenschaftliche Fragen siehe Andreas Mahler, »Jahrhundertwende, Epochenschwelle, epistemischer Bruch? England um 1600 und das Problem überkommener Epochenbegriffe«, in: Klaus Garber u. a. (Hrsg.), Europäische Barock-Rezeption, Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 20, 2 Bde., Wiesbaden 1991, Bd. 2, 995–1026.
Ähnliches zeigt sich etwa auch in Robert Weimanns Situierung des King Lear zwischen einer abdankenden analogen alten Weltordnung und einer neuen der individuell zu realisierenden Wünsche: »In ›König Lear‹ ist die alte Welt von Rang und Ordnung, Dienst und Gefolgschaft erschüttert und im äußersten gefährdet; die neue Welt des Aufstiegs der natürlichen Begierden, die unbarmherzig expansiven Kräfte hinter Handel und Gewerbe, bis hin zur Selbstherrlichkeit Edmunds, stehen drohend schon am Horizont. Shakespeare zeigt die alte Welt im Gestus des Abschieds, die neue im Gewand einer Warnung und Vorahnung«; siehe Robert Weimann, Shakespeare und die Macht der Mimesis. Autorität und Repräsentation im elisabethanischen Theater, Berlin, Weimar 1988, 217.
Für eine ausführlichere Darlegung dieses Sachverhalts siehe Andreas Mahler, »Don Quixote, Hamlet, Foucault. Language, ›Literature‹, and the Losses of Analogism«, in: Hugo Keiper, Christoph Bode, Richard J. Utz (Hrsg.), Nominalism and Literary Discourse. New Perspectives, Amsterdam, Atlanta, GA 1997, 251–268, v. a. 265–267.
Siehe John Donne, »An Anatomy of the World. The First Anniversary«, in: Ders., The Complete English Poems, hrsg. A.J. Smith, Harmondsworth 1976, 269–283, V. 216–218; das Gedicht ist an sich eine Totenklage auf die jung verstorbene Elizabeth Drury.
Siehe hierzu Blumenberg (Anm. 48), die Zitate 51 und 52 (auch Anm. 6; Herv. jeweils dort); Blumenberg beschreibt dies sehr schön als Umstellung von einer Vorstellung von ›der‹ vorgängig gegebenen Welt mit bestimmtem Artikel zu ›einer‹ bzw. näherhin ›meiner‹ immer schon aufgeschobenen nachträglichen Welt mit Possessivpronomen.
Zum Schwellensinn der ›Epoché‹ als »unmerkliche[m] Limes, an kein prägnantes Datum oder Ereignis evident gebunden«, siehe Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner. Erw. u. überarb. Neuausg. von »Die Legitimität der Neuzeit«, vierter Teil, Frankfurt a.M. 1976, das Zitat 20.
Vgl. hierzu nochmals die zusammenfassende Bemerkung bei Foucault (Anm. 28), 91: »Diese Beziehung zur Ordnung ist für das klassische Zeitalter ebenso wichtig, wie für die Renaissance die Beziehung zur Interpretation war.« (Herv. dort).
Zum Gedanken einer durch die Fiktion vollzogenen »imaginäre[n] Bewältigung defizitärer Realitäten« siehe nochmals Iser (Anm. 10), 143; die Rede von der ›Geltungsschwäche‹ 139. Dass das Realisierungsparadigma selbst seit Längerem bereits am Abdanken ist, bezeugt Blumenbergs vierter Wirklichkeitsbegriff der »Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige, ihm Widerstand Leistende« (Blumenberg [Anm. 48], 53; Herv. dort); für den Versuch einer Fortschreibung des Blumenberg’schen Projekts über den dort als bloße Antithese zum dritten gesehenen ›vierten‹ Wirklichkeitsbegriff hinaus siehe Andreas Mahler, »›Realität‹ in der ›Postmoderne‹? Überlegungen zu Blumenbergs viertem Wirklichkeitsbegriff«, Comparatio 8 (2016), 181–198.
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Mahler, A. Relevanzen des Imaginären. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 97, 387–406 (2023). https://doi.org/10.1007/s41245-023-00188-8
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