I.

text | kontext

Die Geschichte der Literaturwissenschaft, insonderheit der Germanistik, nimmt sich aus wie eine Geschichte unentwegter Suche nach Relevanz.Footnote 1 Nach einer längeren Eingangsphase scheinbar ›natürlich‹ positivistisch geleiteter quellenkritischer wie zudem streng philologisch bestimmter editorischer Textarbeit – einschließlich biographisch texterklärender Erkundung faktisch autorenbezogen kontextueller Lebensdaten – erfolgt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, vor allem unter dem weitreichenden Einfluss von Diltheys Postulat vermeintlich klarer Trennbarkeit zwischen faktenbasiert Gesetzmäßigkeiten suchenden ›nomothetischen‹ Naturwissenschaften einerseits und ausgesucht hochrangige singuläre Einzelphänomene interpretierenden ›ideographischen‹ Geisteswissenschaften andererseits, eine Wende hin zu einem alle maßgeblichen Umstände der Texterstellung mit in die Betrachtung einbeziehenden, ebenso dezidiert transphilologisch wie programmatisch interdisziplinär angelegten vertieft allumfassenden Verstehen.Footnote 2 Dies ist Movens und Motiv der im – erheblich von finanziellen Entbehrungen wie nicht zuletzt auch von Papierknappheit geprägten – Nachkriegsjahr 1923 erfolgenden Gründung der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte.Footnote 3

Mit der programmatisch bewussten Verbindung von ›Literaturwissenschaft‹ und ›Geistesgeschichte‹ verändert sich hermeneutisches Tun potenziell in eine Praxis intensivierter Inbezugsetzung; es ist dies eine der ersten Phasen eines klar artikulierten Methodenbewusstseins wie der Beginn einer zunehmend engagierten, wo nicht – ebenso relevanzsuchend wie relevanzbehauptend – sich in erhöhtem Maß acharniert antagonistisch voneinander abzusetzen suchenden vermeintlichen Methodendebatte und -kritik.Footnote 4 Dies bedingt eine Expansion des Kontexts um ein Vielfaches. Verblieben positivistische Fragestellungen kontextuell noch vornehmlich historisch-biographisch, wofern nicht teleologisch einsinnig biographistisch, im persönlichen Lebensumfeld des in den Blick genommenen Autorsubjekts, so erweitern sich die Kontextbezüge nunmehr ideen-, sozial-, mentalitäts- und wissensgeschichtlich um theologische, philosophische, ethisch-moralische, gesellschaftlich-kulturelle bis hin zu epistemologischen, wo nicht epistemischen Begleitbedingungen, welche den Text situieren und seine Entstehung wie Rezeption beeinflussen. Auf diese Weise wird der Kontext zu einem für das Verstehen eines Textes unhintergehbar mitentscheidenden Faktor.

Das auf Prägnanz und Minimalismus bedachte Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert ›Kontext‹ als die »Menge der für die Erklärung eines Textes relevanten Bezüge« und expliziert dies einlässig als dreigliedrige Relation: »A ist Kontext für B in Hinsicht auf C«.Footnote 5 Dies fasst die Text-Kontext-Relation vorderhand als binär-oppositives Verhältnis auf Basis einer Gemeinsamkeit; es impliziert tendenziell zugleich eine gegenseitige Ausschließlichkeit im Sinne eines textuellen Innen oder vermeintlich ›Eigentlichen‹ gegenüber einem kontextuellen Außen oder auch ›Hintergrund‹ samt der daraus folgerecht hervorgehenden Suggestion einer temporal-kausalen Ordnung, wonach entweder der primär gesetzte Text den Kontext oder der primär gesetzte Kontext den Text bedingt oder auch nach sich zieht.Footnote 6

Gegenüber einer solchen vornehmlich auf Differenz basierenden Auffassung hat man in jüngerer Zeit begonnen, die Text-Kontext-Dyade stärker ineinander verwoben und integral zu begreifen als ein Emergenzphänomen wechselseitiger Implikatur, wonach beide Anteile eher gleichursprünglich gedacht sind denn wie auch immer verzeitlicht nacheinander gereiht.Footnote 7 Dies betont im Verhältnis von Text und Kontext vor allen Dingen das ›und‹, also die Einsicht, dass es – trotz aller heuristischer Trennungsverlockung – keinen Text ohne Kontext, aber zugleich auch keinen Kontext ohne Text geben kann, entsprechend in Relation füreinander beides mit einem Schlag zugleich entsteht. Ersteres betrifft das Phänomen der Referenz, zweiteres die Spur der Intertextualität: Texte sind demnach immer schon kontextgemacht wie Kontexte textgespeist. Ein solches Ineinander gegenseitiger Abhängigkeit propagiert vor allen Dingen die funktionalistische Text- wie sodann verstärkt die daraus weiterentwickelte anthropologische Fiktionstheorie Wolfgang Isers; es findet sich zudem bereits angelegt in der Literaturtheorie des sowjetisch-baltischen Semiotikers Jurij M. Lotman.Footnote 8 Für Iser besteht der Akt des Fingierens vornehmlich darin, dass er, wie er dies synoptisch zeichentheoretisch formuliert, »die Wiederkehr lebensweltlicher Realität im Text bewirkt und gerade in solcher Wiederholung das Imaginäre in eine Gestalt zieht, wodurch sich die wiederkehrende Realität zum Zeichen und das Imaginäre zur Vorstellbarkeit des dadurch Bezeichneten aufheben«.Footnote 9 Funktionsgeschichtlich erscheint demnach das bereits vortextuell Bekannte im Text zeichenhaft als das ›Repertoire‹ eines kontextuell gegebenen Realen, mithilfe dessen textueller ›Selektion‹ individuell Vorgestelltes in mischender ›Kombination‹ zum Ausdruck kommt und genau über die Teilreferenzierbarkeit zu diesem Realen eigene Prägnanz gewinnt.Footnote 10 Dies wäre die über das ›Reale‹ laufende Ingestaltziehung des ›Imaginären‹: eines ihrer Resultate wäre die ›Fiktion‹.

Allerdings scheint dies nicht allein auf das Fingieren beschränkt. Ich habe andernorts versucht, in Umdrehung der vermeintlich ›natürlichen‹ Überzeugungen des ›gesunden Menschenverstands‹ unsere Vorstellung von Wirklichkeit als Sonderfall des Fiktiven zu fassen, auf den sich eine Gesellschaft als ihre ›Welt‹ und ihre ›Realität‹ – autoritätsgeführt oder auch demokratiebewusst – für eine Zeit kollektiv und, zumindest in Einstellung und Verhalten, mehrheitlich konsensuell zu einigen bereit ist: stets ziehen wir in unseren Äußerungen kontextuelles Repertoire und individuelle Vorstellungen ineins, um über solche Ingestaltziehung ›unsere‹ kulturelle Welt zu fassen, sie uns zu erklären und verstehend begreiflich zu machen.Footnote 11 Der klassische Konstruktivismus hat die hieraus resultierenden Realitätseffekte, wo nicht -verkrustungen, zu erfassen gesucht unter dem Stichwort der ›Verdinglichung‹.Footnote 12 Über solche Gesten der Reifizierung baut sich offensichtlich jede Gesellschaft über die Gesamtheit ihrer Einzelmitglieder ihre Kultur als ihr menschengemachtes »künstliches Habitat« und bewirkt hierin, dass sie sich andauernd emergent – und dadurch scheinbar widersinnig paradoxal – »durch das, was [sie] hervorbringt, selbst produziert«.Footnote 13 Dabei müssen jedoch die Akte eines solchen ›gesellschaftlichen Fingierens‹ unmittelbar in die Latenz geschoben werden, um deren Resultate ›real‹ zu halten. Verena und Eckhard Lobsien haben dies für Mittelalter und frühe Neuzeit sehr schön beschrieben als das ›Unsichtbare‹ des Imaginären: »Die Imagination«, so ihre zentrale Hypothese, »bildet Kultur in ihren konkreten vielfältigen Erscheinungen, indem sie sich in den durch sie ermöglichten kulturellen Diskursen zugunsten der jeweils verhandelten Gegenstände zum Verschwinden bringt. Ihre Omnipräsenz ist verschränkt mit ihrer Unsichtbarkeit, ihre Abwesenheit ist die paradoxe Bedingung ihrer Präsenz, ihre Universalität erzwingt ihre Limitation.«Footnote 14 Damit sind offenbar stets zwei Aspekte des Imaginären zugleich im Spiel: ein ernsthaft kollektiv ›gesellschaftlich‹ ingestaltgezogenes Imaginäres mit dem unmittelbaren Gebot seiner Latenzverschiebung und ein spielerisch augenzwinkernd je individuell und ›frei‹ anderwärts genutztes Imaginäres mit der Option seiner reflexiv bewusstmachenden Hebung aus der Latenz; ersteres wäre ›gesellschaftliches‹ Imaginieren, zweiteres ist das, was wir im engeren Sinn – nicht zuletzt mit Iser – als ein ›literarisches‹ oder auch ›ästhetisches‹ Imaginieren ›Fingieren‹ nennen.

In dieser Sicht dient die Text-Kontext-Dyade dem permanenten Abgleich zweier – womöglich einander ergänzend komplementär, wofern nicht eher überschießend supplementär – gegensinnig angelegter Ingestaltziehungstypen des Imaginären. Dies verleiht dem Imaginären seine unterschiedlichen ›Relevanzen‹: baut und verhandelt der auf Konstruktion ausgerichtete gesellschaftliche Typus eine je spezifische ›Kultur‹, erkundet der gegenläufig, wenn man so will, ›dekonstruktiv‹ angelegte, suspensiv ästhetisch-literarische Typus in deren Rahmen ihre Ränder und Alternativen.Footnote 15 Der Konstruktionstyp findet sich einlässig theoretisiert bei Cornelius Castoriadis in seinen Überlegungen zur Gesellschaft als einer imaginären Institution; ausgehend von einem unergründlich rauschenden, magma-ähnlich amorphen und hierin intransitiven ›radikalen Imaginären‹ als dem ungreifbaren prozessualen Urgrund unserer geistigen Tätigkeit, beschreibt er das ›gesellschaftliche Imaginäre‹ als dessen jeweilig konkret relationierende und hierin transivierende Instantiierung über willkürlich bezeichnende semantische Setzung (dies nennt er ›legein‹) und habituelle pragmatische Nutzung (er nennt dies ›teukein‹).Footnote 16 Hieraus emergiert ›Gesellschaft‹ als prekär ephemeres Produkt unaufhörlich gemeinschaftlich betriebener, ingestaltziehender Instituierung eines kollektiven Imaginären. Den hierzu gegenstrebigen Typ fasst mit am umsichtigsten und überzeugendsten Jurij Lotmans Sujet- und Semiosphärenmodell als Theorie beständiger Inbezugsetzung von Text und Kontext zur befragenden Erkundung und alteritär aushandelnden Ausdeutung von ›Welt‹; ausgehend von der – wiederum scheinbar kontra-intuitiven – Einsicht, dass erst die Kunst den Menschen lehrte, »den Sujetaspekt der Realität zu erkennen, das heißt, den nichtdiskreten Strom von Ereignissen in diskrete Einheiten zu zerlegen, diese mit Bedeutungen zu verknüpfen (also semantisch zu interpretieren) und zu Ketten anzuordnen (syntagmatisch zu interpretieren)«, beschreibt er unsere soziale ›Wirklichkeit‹ als Semiosphäre, in der – über den kulturellen Bau des künstlichen Habitats hinaus – stets auch erfundene Sujets kontrafaktische Ereignishaftigkeiten artikulieren, inszenieren und erproben.Footnote 17

Hierin liegt nunmehr die eingangs postulierte wechselseitige Verschränkung. Wo Isers Fiktionstheorie zeigt, dass jedes textuelle Fingieren immer schon den Einbezug kontextuellen Repertoires voraussetzt, weist Lotmans Sujettheorie darauf hin, dass jede Interpretation kontextueller Wirklichkeit immer schon deren vorgängiger Zurichtung zum Text bedarf. Die Kunst der Mimesis spiegelt demnach nicht lediglich den Kontext im Text nachträglich verdoppelnd wider, sondern modelliert den Text mithilfe ausgesuchter Kontextelemente dergestalt, dass dieser in wechselseitiger Dynamis wiederum auf den Kontext zurückwirkt. Rainer Warning hat diese unauflösliche Text-Kontext-Verwobenheit aus textseitiger Perspektive ausdifferenziert: gefasst nicht als wie immer gedachte, mimetisch repräsentierende ›Spiegelung‹, sondern eher performativ als »ideologisch interessierte Modellierung von Wirklichkeit«, kann ein Text zwar gewiss einvernehmlich »seine Ereignisse konstituieren über Normen, die auch textextern gelten. Er kann aber ebenso gut auch textexterne Ereignisse zu Nichtereignissen machen, und er kann schließlich gesellschaftlichen Nichtereignissen die Dimension des Ereignishaften neu verleihen oder auch wieder zurückgeben.«Footnote 18 Text und Kontext befinden sich mithin in steter Mischung und in stetem Dialog. Was das gesellschaftliche Imaginäre in ernster Geltung instituiert, löst das literarische Imaginäre (sprich: ›Fiktive‹) potenziell spielerisch – und hierin womöglich zugleich erkenntnistheoretisch systematisch – fragend wieder auf.Footnote 19

II.

›geist‹ | ideen

Auf den ersten Blick scheint der geisteswissenschaftliche Ansatz im engeren Sinne einer solchermaßen dialektisch-dynamisch wechselseitigen Text-Kontext-Verknüpfung schon recht nahe zu kommen; was er als ›Geist‹ fasst, ist zunächst einmal nicht viel anderes als ein Kontext, der zirkelhaft synthetisierend bestimmt ist als intuitiv gespürte Ganzheit gegenüber den ihn je partiell und individuell zum Ausdruck bringenden Einzeltexten.Footnote 20 Verstehen läuft demnach – zumindest in der Theorie – über unablässige wechselseitige Erhellung der Teile und des Ganzen. Dabei bleibt allerdings das ›Ganze‹ als Ausgangspunkt und Resultat des hermeneutischen Tuns eigentümlich vage. So interdisziplinär oder auch ›transphilologisch‹ das Kontextkonzept ›Geist‹ auf den ersten Blick intendiert erscheint, so schnell verliert es sich, wie dies unter anderem auch so undifferenziert bleibende raumzeitliche Prägungen wie ›Weltgeist‹ oder ›Zeitgeist‹ bezeugen, im unstrukturiert Numinosen, ›weltanschaulich‹ Allgemeinen. Entsprechend verdanken sich der deutsche oder englische ›Geist‹, wie auch der ›Geist‹ des Barock oder des Mittelalters, keiner minutiös-methodischen Aufarbeitung von Dokumenten, sondern einer apriorisch gefühlten monolithischen Setzung, mithilfe deren ein einzelnes Werk – sei es theologisch, philosophisch, juristisch oder literarisch – unmittelbar, aber auch unter dem Risiko permanenter tautologischer Selbstbestätigung, als kreativ schaffender Ausdruck des menschlichen Geistes seiner Zeit ›verstanden‹ werden kann. Auf diese Weise reduziert sich der angestrebte Dialog zur monologischen Spiegelung, und das im Spiel befindliche Imaginäre ist ein lediglich intuitiv erfühltes, hochgradig subjektiv geprägtes, individuelles Imaginäres.

Dem suchen stärker ideengeschichtlich orientierte Ansätze alsbald abzuhelfen; statt eines kaum bezeichenbaren allwaltenden ›Geists‹ erkunden sie einzeln isolierbare und dadurch auch konkret benennbare ›Ideen‹ als dessen prägend kollektiv durchwaltende Vorstellungen und setzen über diese Text und Kontext in einen rationaler nachvollziehbaren, verhandelnden Bezug.Footnote 21 Dies macht den bis dato diffusen ›Geist‹ ebenso strukturier- wie hierarchisierbar: über das Postulat spezifizierbarer Ideen gewinnt das kontextuelle gesellschaftliche Imaginäre mithin zusehends an Kontur und an Gestalt. Dabei wird es wissenschaftsgeschichtlich in einem ersten Schub – gewissermaßen im Sinne des Castoriadis’schen ›legein‹ – zunehmend semantisch ausdifferenziert, wie dies die ideengeschichtliche Entwicklung von der insonderheit ab den 1930er-Jahren aktiv werdenden angloamerikanischen History of Ideas über die die Nachkriegszeit prägende französische histoire des mentalités wie auch die vor allen Dingen in Deutschland gepflegte Begriffsgeschichte bis hin zur heute einflussreichen Intellectual History bezeugt; es wird in einem zweiten Schub – nunmehr eher hinsichtlich des ›teukein‹ – pragmatisch ergänzt, wie sich dies vor allem ab den 1960er-Jahren an den nach dem je historisch-situativen Sinn von Sprachhandlungen fragenden Aktivitäten der Cambridge School bis hin zu den Versuchen der Begründung einer handlungsorientierten Historischen Anthropologie ablesen lässt.Footnote 22 Methodisch dient es einer zunehmenden Spezifizierung wie Konkretisierung des Kontexts zu einer begründbaren und konturierten Vorstellung von einem allgemein das Denken einer Kultur (wie England oder Frankreich) oder auch einer Epoche (wie das Mittelalter oder die frühe Neuzeit) prägenden Imaginären; ich will dies in der Folge sehen als Fortentwicklung und Verlängerung des geistesgeschichtlichen Projekts in einem weiteren Sinn.

Auf diese Weise lässt sich nunmehr genauer beschreiben, wie zum einen kontextuelle ›Ideen‹ als Repertoireelemente in einen jeweiligen Text eingezogen werden, um ein bereits weitgehend bestehendes gesellschaftliches Imaginäres in bestätigender oder modifizierender Wiederholung stets erneut ingestalt zu ziehen, und wie sie zum anderen auch genutzt werden können zur erprobenden Erkundung von bislang Ungedachtem, ›Neuem‹ als auch möglichen, im oben skizzierten Sinn ›literarisch‹-fiktiven Ingestaltziehungen aushandelnden Abgleichs. Zentral instituierende Ingestaltziehungsagentur hierfür ist das, was man ›Diskurs‹ genannt hat; gefasst als je themenspezifisch organisiertes und relational auf Wahrheits- wie Machtansprüche ausgerichtetes »System des Denkens und Argumentierens«Footnote 23, artikuliert, kanalisiert und spezifiziert der Diskurs die in einer Gesellschaft kursierenden religiösen, politischen, sozialen und anderweitigen Vorstellungen und Ideen und führt sie zugleich einer wertenden Beurteilung zu. Dieses Tun ist vor allen Dingen ein textuell-sprachliches; es basiert vornehmlich auf dem, was man instrumentell unter Begriffen wie ›Konzept‹ und ›Norm‹ zu fassen gesucht hat.Footnote 24 Lassen sich aus narrativer Sicht, wie Karlheinz Stierle vorgeschlagen hat, ›Konzepte‹ beschreiben als semantische Entitäten, mit deren Hilfe aus bloßem kontingenten Geschehen textuell sinnhafte Geschichten gestiftet werden können, so stellen sich ›Normen‹, wie oben bereits kurz angeführt, aus soziologischer Perspektive dar als Verhaltenserwartungen, über deren Einlösung oder auch Nicht-Einlösung ein bloß okkurrentes Geschehnis letztendlich zum kontextuell erzählenswerten ›Ereignis‹ wird oder auch nicht.Footnote 25 Auf diese Weise wird, um ein klassisch gewordenes Beispiel aufzugreifen, bereits textintern die bloße konsekutive Geschehensfolge ›the king died and then the queen died‹ über das Konzept der ›Trauer‹ zur hermeneutisch plausibel ausgedeuteten sinnhaften Geschichte ›the king died and then the queen died of grief‹, gleichwie ein und dasselbe Geschehnis wie etwa die Tötung eines Menschen gemäß der kontextuell geltenden Norm einer an die Familie gebundenen ›Ehre‹ eine in der einen Kultur akzeptierte Normalität und Notwendigkeit und gemäß der Norm gesetzesgebundener Rechtsstaatlichkeit eine in einer anderen Kultur zu ahndende Übertretung darstellt.Footnote 26

Die diskursbasierte beständige (Wieder‑)Ingestaltziehung des Imaginären in ein ›gesellschaftliches‹ Imaginäres ist unser aller alltägliches sprachlich-konstruktives Tun. Sie fügt zuweilen noch unscharfe Ideen in bestehende und durch steten Gebrauch fortwährend latent modifizierte Systeme des Denkens und Argumentierens und gibt ihnen so in immer neuen ausformulierten Texten jeweils mit einem Schlag punktuell artikulierten ephemeren Sinn. Dies baut das kulturelle Habitat; es schafft, wenn man so will, metaphorisch den ›Geist‹ einer Zeit oder auch Welt. Gegenüber einem solchen an Systemen des Denkens und Argumentierens orientierten, und zugleich in ihnen befangenen, ›diskursiven‹ Aufbau von Vorstellungen zu ›Welt‹ und ›Wirklichkeit‹ eröffnet das ästhetische Imaginäre zudem einen wesentlichen Freiraum alteritärer sprachlicher Ingestaltziehung von Auch-Möglichem, Nicht-bereits-vermeintlich-Gegebenem, der Phantasie.Footnote 27 Aufgrund der augenfälligen Gegenstrebigkeit zwischen diesen zwei Ingestaltziehungstypen hat man eine solche ungebundene, ›freie‹ Nutzung ›konterdiskursiv‹ genannt; vielleicht sollte man sie wegen ihrer Suspendiertheit von den mit diskursiven Nutzungen immer schon verbundenen Macht- und Wahrheitsfunktionen besser – da den diskursiven Nutzungsgeboten entzogen – als ›adiskursiv‹ bezeichnen.Footnote 28 Vielleicht aber ist das Ästhetische ebenso sinnvoller- wie paradoxerweise auch der vergleichgültigende Ort von beidem: von ernsthaft-spielerischer diskursiver Nutzung und von spielerisch-ernsthafter adiskursiver Zurschaustellung.Footnote 29 Mit Blick auf diese paradoxale, logisch in sich widersprüchliche Doppelung hat Jacques Rancière den platonischen Vorbehalt gegenüber der Rolle der Dichter in einer idealerweise rational auf Eindeutigkeit ausgerichteten Polis luzide ausformuliert weniger als Versuch der Vermeidung von Lüge oder Amoral denn als gesellschaftsgefährdend dysfunktionale Überhebung, »zwei Dinge zugleich zu tun«: »Die Frage, was Fiktion sei,« so Rancière, »ist zunächst eine Frage nach der Verteilung von Orten. Aus platonischer Sicht stört die Theaterbühne – zugleich ein Raum öffentlicher Tätigkeit und ein Ort der Vorführung von ›Trugbildern‹ – die klare Aufteilung von Identitäten, Tätigkeiten und Räumen.«Footnote 30

Ich will das bisher Gesagte an einem Beispiel illustrieren. Die Beratungsszene der Griechen in William Shakespeares rätselhaftem Trojadrama Troilus and Cressida von etwa 1602 – für manche eine bitter ›problemhafte‹ Antikriegstragödie, für andere möglicherweise eine erstaunlich frühe, zynisch ›private‹ kabarettistische Revue für die Londoner Rechtsschulen der Inns of CourtFootnote 31 – zeigt eine zwischenzeitlich bilanzziehende Debatte der belagernden Partei über die Gründe ihres bereits seit Längerem ausbleibenden Kriegserfolgs. Die repertoirehaft zentral eingezogene ›Idee‹ ist die der Großen Kette der Wesen.Footnote 32 Sie dient der argumentationsführenden Figur des Ulysses als Grundvorstellung gesellschaftlicher Ordnung. Seine lange monologische Persuasionsrede (TC 1.3.74–137) basiert, wie die sukzinkte peroratio verdeutlicht, auf der These von der Schwäche in den eigenen Reihen, nicht der Stärke der Trojaner: »To end a tale of length/Troy in our weakness lives, not in her strength.« (136 f.) Binnenfiktional zieht Ulysses dabei das gesellschaftliche Imaginäre aus ordnungspolitischer Sicht insistent in die Gestalt einer über analoge Stufen hierarchisch geschichteten ›Welt‹, derzufolge alles voraussetzungsreich am rechten Platz zu sein hat, bevor sinnvolles gemeinsames Handeln möglich ist. Hierfür bemüht er zunächst die Analogie vom Bienenstock, welcher erst dann Honig einträgt, wenn alle Bienenvolksmitglieder sich fraglos aufgabenerfüllend der als notwendig erachteten Hierarchie fügen (80–82); sodann weitet er dies auf die kosmologische Ordnung, in der die Sonne »In noble eminence enthroned and sphered/Amidst the other« (90 f.) die Geschicke aller, einschließlich der Erde als Zentrum, harmonisch einvernehmlich lenkt und leitet: »The heavens themselves, the planets, and this centre/Observe degree, priority, and place,/Infixture, course, proportion, season, form,/Office and custom, in all line of order« (85–88); schließlich überträgt er es in Analogie auf den militärischen wie auch sozialen Zustand der Griechen, indem er feststellt, »when degree is shaked,/Which is the ladder to all high designs,/The enterprise is sick« (101–103), und diagnostisch resümiert: »Take but degree away, untune that string,/And hark what discord follows« (110 f.). Aus geistesgeschichtlicher Sicht artikuliert dies die Vorstellung einer strikt hierarchisch organisierten stratifizierten Gesellschafts- und Weltenordnung, welche – in vielen Stufen in Perfektion nach oben strebend – auf dem geltungsbeanspruchenden semantischen ›Konzept‹ des ›degree‹ aufruht, dessen respektvolle Einhaltung die erwartete ›Norm‹ darstellt, während seine Missachtung, so zumindest die These des Ulysses, über zunehmend unkontrollierbare ereignishafte Störungen geradewegs in die Handlungslähmung und ins ›Chaos‹ (125) führt. Man hat dies geistesgeschichtlich zu verstehen gesucht als Dokument eines ›elisabethanischen Weltbilds‹.Footnote 33 Gleichwohl macht Shakespeare damit etwas anderes als Ulysses. Denn während die Figur des Ulysses die Idee der Seinskette diskursiv nutzt zur politisch-militärischen Überzeugung der Griechen zur Einigkeit als Grundlage erfolgreichen Handelns, stellt das Stück selbst dies als Option adiskursiv zur Schau. Shakespeares Trojadrama beginnt und endet programmatisch »in the middle« (Prol. 28): weder gibt der im Stück weit vor Kriegsende liegende gezeigte Schluss Ulysses’ Einigkeitsforderung Recht, noch endet der Trojanische Krieg, wie jeder weiß, durch die einlösende Erfüllung der geäußerten Idee, sondern durch eine kontingente individuelle List.Footnote 34 Shakespeare nutzt mithin die Vorstellung von der Großen Kette der Wesen nicht diskursiv zur einvernehmlichen Artikulation der Idee einer geltenden Wahrheit, sondern zeigt vielmehr, wie sie funktioniert, und stellt sie als überkommen und strategisch interessiert aus. Dies wäre nun das von Rancière profilierte platonische Skandalon illiziter Doppelung. Indem das Stück Ulysses die Idee der Seinskette zum einen ernsthaft-spielerisch diskursiv nutzen lässt, stellt es sie in gleichem Zug zum anderen spielerisch-ernsthaft adiskursiv zur Schau und macht auf diese Weise seine Nutz‑, Zeig- und Manipulierbarkeit dem Publikum bewusst. Wo die Figur des Ulysses scheinbar die einzig mögliche, abschließende Antwort weiß, verwandelt das Stück diese zurück in eine ebenso debattier- wie bezweifelbare offene Frage.Footnote 35 Dem figuralen Versuch ausschließender Ingestaltziehung des Imaginären in eine alternativlos reifizierte ›Realität‹ kontrastiert seine simultane, ästhetisch einschließende Ingestaltziehung in mögliche ›fiktive‹ Alternativen: der klaren entscheidungs- wie handlungsermöglichenden Aufteilung in einsinnige Identitäten widerspricht die gleichzeitig auf der Bühne mit gezeigte widersinnige Differenz.Footnote 36

III.

rahmen | wandel

Der ›Geist‹ einer Kultur wie ihre Ästhetik speisen sich mithin beide aus dem Imaginären. Hierin liegen seine – Literaturwissenschaft wie Geistesgeschichte gleichermaßen betreffenden – ›Relevanzen‹. Baut das eine aus dem Imaginären diskursiv über ›Ideen‹ wie etwa die Seinskette ingestaltziehend eine Gesellschaft und ›Kultur‹, so befragt das andere mit dem gleichen Imaginären adiskursiv – in andere, auch mögliche Gestalten ziehend – deren Validität und Geltung. Wo der reifizierende Typus vornehmlich identitär zentripetal festzurrt, sucht der fingierende Typus vergleichgültigend alteritär zentrifugal zu lockern. Der gesellschaftliche Ingestaltziehungstypus ist wichtig und wesentlich, weil er uns als denkenden und vornehmlich sprachlich bestimmten Wesen die Vorstellung von einem syntagmatisch strukturierten und semantisch ausdeutbaren ›Habitat‹ als Sinn und Orientierung zur Verfügung stellt; der ästhetische Ingestaltziehungstypus ist wichtig und wesentlich, weil er deren Verdinglichungsverlockung zum einzig denkbaren und möglichen Habitat infrage stellt und genau darin stets auch Veränderung in Aussicht stellt, wofern nicht garantiert.Footnote 37

Dies läuft noch einmal über die Text/Kontext-Dyade. Aus funktionsgeschichtlicher Sicht hat Wolfgang Iser immer wieder eindringlich auf die Situationsbildungskraft des Ästhetischen aufmerksam gemacht; im Gegensatz zu diskursiv genutzten Texten, die in ihrem Gebrauch in der Regel bereits funktional in vorgegebenen Kontexten verankert sind wie etwa ein Verbot, ein Gesetz, eine Gebrauchsanweisung oder eben auch eine Rede der politischen oder militärischen Mobilisierung, muss ihm zufolge ein im hier vorgeschlagenen Sinne ›adiskursiv‹ angebotener fiktionaler Text »alle die Anweisungen mit sich führen […], die für den Empfänger der Äußerung die Herstellung eines solchen situativen Kontexts erlauben«.Footnote 38 Vielleicht sollte man dies wiederum nicht als einander ausschließende Opposition sehen, sondern erneut als vergleichgültigend egalitäre Addition: wo der Gebrauchstext habituell scheinbar einvernehmlich in einen vorgängigen Kontext eingebettet ist, ist die Fiktion beides: sowohl involviert in einen vermeintlich ursprünglichen Gebrauchszusammenhang als auch zugleich immer schon bis zu einem gewissen Grad dergestalt von ihm abgelöst, dass sie einen solchen Zusammenhang allererst selbst konstituiert.Footnote 39 Ihre Kontextualität ist also vorgängig und nachgängig zugleich.Footnote 40 Jeder Akt des Fingierens steht in einem Kontext und macht einen Kontext; der Kontext von Shakespeares Troilus and Cressida ist nicht der Kontext der Figur des Ulysses: die Entscheidungsnot der Griechen ist keine Entscheidungsnot des Publikums. Während sich also die fiktiven Griechen ausschließlich in einer Situation befinden, in der sie sich zwischen Misserfolg und Einigkeit entscheiden müssen, sind dies die realen Theaterzuschauer – wo, wie und wann auch immer das Stück zur Aufführung kommt – immer schon prinzipiell ebenso widersinnig simultan wie folgerecht entscheidungsenthoben in zwei: in einer ernsthaft-spielerischen der potenziellen, empathisch ›mitspielenden‹ Identifikation und zugleich in einer spielerisch-ernsthaften der kognitiven, das Spiel erkennenden Distanznahme.Footnote 41 Auf diese Weise wird die Art der diskursiven Sprachnutzung – wenn man so will, ihr ›geistesgeschichtlicher Stellenwert‹ – sicht- und erkennbar; über die prinzipielle, selbstwidersprüchliche Doppelung des ästhetischen Imaginären kommt in den Blick, was das gesellschaftliche Imaginäre stets im Verborgenen zu halten sucht. Die Aufdeckung des geistesgeschichtlichen Gehalts jedoch für die alleinige ›Wahrheit‹ des eigenen hermeneutischen Tuns zu halten, käme wiederum einer die Doppelung kassierenden, banalisierenden Reduktion auf lediglich eine Ebene gleich: die oszillierende Prozesshaftigkeit des ästhetischen Imaginären wäre mit der vermeintlich stabilen Resultathaftigkeit des gesellschaftlichen Imaginären vertauscht. Wer etwa – wie über lange Zeit hinweg selbst die seriöseste germanistische Forschung – in Erasmus’ Lob der Torheit trotz des über allem stehenden Matrixsatzes »Stultitia loquitur«/»Die Torheit spricht« in deren fiktiver Rede mit zunehmender Ungeduld des realen Autors ›Wahrheit‹ sucht, verkennt das angebotene Doppelspiel und reduziert es selbstberuhigend auf einen hinter allen vermeintlichen ästhetischen ›Nebelbomben‹ liegenden eindeutigen geistesgeschichtlichen (›Sprachrohr‹-)Gehalt, als gäbe es den Matrixsatz irgendwann nicht mehrFootnote 42; wer gleichermaßen – wie etwa der einstmals angesehene Shakespeareforscher und vornehmliche Historienspezialist E. M. W. Tillyard – die Rede des Ulysses losgelöst von der fiktiven Situation des Stücks betrachtet, macht aus Troilus and Cressida ein bloßes Lehrstück einer Weltanschauung und kassiert so von vornherein seine spezifisch ästhetischen Leistungen.Footnote 43

Neben dem unmittelbaren Zeigen einer fiktiven Entscheidungssituation und der simultan bewusstmachenden Zurschaustellung ihrer diskursiven Operationen in einer realen Theatersituation leistet die Vorführung der Beratungsszene der Griechen allerdings zudem noch ein weiteres. Schon die Rede des Ulysses selbst verweist auf den Rahmen und die Findungswege, in denen sich die Überzeugungen des gesellschaftlichen Imaginären zu artikulieren vermögen: das vorgebrachte Argument basiert sowohl auf der Vorstellung von der Welt als einem in sich geschlossenen, wohlgeordneten Kosmos als auch auf der Annahme ihrer lesbarkeitsgarantierenden internen Strukturierung über sich entsprechende und spiegelnde Ähnlichkeiten, wie dies die gezogene harmoniebewusste Analogie zwischen Bienenstock, Himmelskörper und griechischer Armee aufruft und impliziert.Footnote 44 Dies betrifft nun nicht mehr allein die im Spiel befindlichen einzelnen geistesgeschichtlichen ›Ideen‹, sondern darüber hinaus das diese Ideen ermöglichende umfassende ›Denksystem‹, das den kontextuellen Bedingungsrahmen stellt, in dem sich die Vorstellungen von ›Welt‹ überhaupt erst artikulieren können.Footnote 45 Zielt das gesellschaftliche Imaginäre aufgrund seiner Konstruktivität eher identitätsbewusst auf die Einhaltung von Grenzen, so spielt das ästhetische Imaginäre an und mit diesen Grenzen und ermöglicht so potenziell Veränderung. Von Michel Foucault stammt die bislang wohl wirkmächtigste ›epistemische‹ Synopse eines solchen Ähnlichkeitswissens, wonach Welterkenntnis über erkennbare und gleichsam von Gott in die Welt gesetzte Gleichheitsmarken läuft, welche sich zu einem geschlossenen Ganzen fügen; man hat dies in der Folge aus philosophie-, wo nicht allgemein wiederum geistesgeschichtlicher Sicht epistemologisch ein wenig relativierend zurechtgerückt in eine an Ähnlichkeiten ausgerichtete Findungstechnik, welche den Menschen erlaubt, die ›Dinge‹ der Welt – einschließlich der ›Wörter‹ (verba) als ihrerseits eben auch ›Dingen‹ (res) – an der Oberfläche interpretierend wahrzunehmen, systematisch zueinander in bezug zu setzen und genau darin zu erkennen.Footnote 46 Auf diese Weise erscheint die Welt wie eine einzige, riesige, in sich geschlossene »›Konvenienz‹ der Dinge«, in der sich gemäß Foucaults pointierter Formulierung »Semiologie und Hermeneutik in der Form der Ähnlichkeit übereinandergelagert« haben.Footnote 47 Das gesellschaftliche Imaginäre folgt dementsprechend einer Vorstellung, welche die Welt grundsätzlich als Zeichen und Welterkenntnis folgerecht als deren Entschlüsselbarkeit und Entschlüsselung zu sehen vermag.

Dies aber setzt zum einen, wie erwähnt, ihre Geschlossenheit und darin ihren – zumindest supponierten – Systemcharakter voraus wie zum anderen darüber hinaus den Verdacht oder auch ›Glauben‹, dass es eine Instanz gibt, die für die Ordnung der Welt verantwortlich ist und sie folgerecht zusammenhält. Hans Blumenberg hat in seiner Skizze der von ihm so genannten ›Wirklichkeitsbegriffe‹ dies sehr schön beschrieben als Vorstellung einer vor allen Dingen das Denken des Mittelalters bestimmenden »garantierte[n] Realität« mit Gott als einer »dritten Instanz« und »absolute[m] Zeugen«, welcher »als der verantwortliche Bürge für die Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis« zu fungieren vermag.Footnote 48 Im weitgehend christlich geprägten Mittelalter wirkt ein solcher ›Glaube, dass‹ wie ein fester, von allen geteilter und nicht zuletzt institutionell dogmatisch ebenso massiv gestützter wie repressiv eingeforderter kontextueller religiöser Rahmen, welcher auch denk- und vorstellbare Alternativen nach außen hin abschottet und das verbliebene Innen als ausschließlich ganze ›Wahrheit‹ verabsolutiert; in dieser Hinsicht ließe sich auch von einem mehr oder weniger verbindlichen, theologisch bestimmten ›Sitz im Leben‹ sprechen als dem Ort, an dem der mittelalterliche Text ›lebt‹ und in dessen alleinig zulässigem kontextuellen Rahmen das gesellschaftliche Imaginäre seine Lizenz gewinnt.Footnote 49 Gleichwohl lassen sich – bewusst oder unbewusst – auch im Mittelalter immer wieder Versuche beobachten, über diesen Rahmen hinauszugelangen. Für das Osterspiel etwa hat Rainer Warning tendenziell nachgezeichnet, dass »das Spiel immer genau das hereinnimmt und perpetuiert, was dogmatischer Purismus als mythologische Aufweichung der Lehre diagnostiziert und auszugrenzen sucht«, sodass gerade die Doppelung durch das zeigende Spiel die an sich intendierte dogmatische Eindeutigkeit des gezeigten, einzuübenden Kerygmas – quasi als stets begleitende ästhetische »Konterbande« – unterläuft und invalidiert.Footnote 50 In ähnlicher Weise sucht etwa die pyrrhonisch geprägte Mystik eines Nikolaus von Kues, wie Verena Lobsien einlässig herausgearbeitet hat, die Grenzen einer solchermaßen garantierten Realität gerade im nie nachlassenden, insistenten textuellen »Exerzitium des Unvermögens« immer wieder erneut tentativ zu ›transzendieren‹ mit dem Ziel, eine Ahnung von Alterität zumindest epiphaniehaft »zur Leseerfahrung« werden zu lassen.Footnote 51

Über die schleichende Institution solchermaßen fingierend ingestaltziehender Alteritätsagenturen kommen verstärkt nunmehr innerhalb der Text/Kontext-Dyade auch bewusst epistemologische Prozesse der Assimilation und Akkommodation ingang, welche einerseits den status quo des geltenden Wirklichkeitsverständnisses zwar noch abdichtend abzusichern bemüht sind, zugleich aber auch andererseits, ohne recht den Ausgang zu kennen, andere Wirklichkeitsauffassungen versuchsweise zu explorieren beginnen. Dies wäre, was man in einer glücklichen Wendung die »Öffnung der Welt« genannt hat: ein ebenso krisenhafter wie neugieriger ›epochaler‹ Moment epistemologischer Umstellung auf einen neuen, noch zu bauenden Kontext.Footnote 52 Wolfgang Krohn hat in Anlehnung an Jean Piagets genetisches Erkenntnismodell des Menschen am Beispiel der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung solche Umstellungsprozesse transformationsgeschichtlich als dreiphasigen Verlauf der assimilatorischen Integration in Bestehendes, »die das Erkenntnissubjekt jedoch noch nicht zu strukturell neuen Akkommodationen zwingen«, der »Umstrukturierung der Erkenntnisschemata des Subjekts« und schlussendlich der »vollzogenen Akkommodation des Erkenntnissubjektes« beschrieben, welche in Hinblick auf sein Untersuchungskorpus letzten Endes »zu neuen empirischen Theorien« geführt habe.Footnote 53 In dieser Hinsicht steht etwa die Rede des Ulysses ganz im Zeichen der Assimilation, wenn auch das Neue sich, wenngleich erst nur in Abwehr, bereits zu konturieren beginnt als egozentrisch machthungriger, selbstzerstörerischer »universal wolf,/So doubly seconded with will and power,/Must make perforce an universal prey,/And last eat up himself« (TC 1.3.126–129)Footnote 54; demgegenüber zeigt sich in einer fast zeitgleichen Figur wie Hamlet, wie sich Erkenntnis in einer nicht mehr unmittelbar lesbaren komplexen Welt mithilfe einer experimentellen Versuchsanordnung wie der inszenierten Mousetrap über sorgfältiges Arrangement und exakte Beobachtung doch noch verlässlich erreichen lässt: »I’ll take the ghost’s word for a thousand pound« (Ham. 3.2.263 f.)Footnote 55; schließlich emergiert ein gesellschaftliches Imaginäres, welches sich in John Donnes notorisch verbitterter Zuspitzung akkommodierend als Einlösung einer individualistischen Vorstellung begreifen lässt, in der »every man thinks he hath got/To be a phoenix, and that then can be/None of that kind, of which he is, but he«.Footnote 56 Dies wäre eine Umstellung von einem religiös geprägten kollektiven ›Glauben, dass‹ auf ein zunehmend subjektgeprägtes, wunschgetrieben individuelles ›Glauben, als ob‹; es zeitigt einen verzeitlichten anderen Wirklichkeitsbegriff, den wiederum Hans Blumenberg beschrieben hat als »Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes«, demzufolge sich »Realität als Resultat einer Realisierung« begreifen lässt, also einer durch das Subjekt betriebenen zukunftsoffenen Aktion, welche Wirklichkeit als »sich konstituierende[n]«, »›offenen‹ Kontext« eigenmächtig erst herstellt, gleichwohl aber nie vollständig einzulösen imstande ist.Footnote 57

Hierüber wandelt sich kaum merklich und doch stetig der epistemologische Rahmen. Sein nie eindeutig spezifizierbarer ›epochaler‹ Kipppunkt liegt zwischen der nicht mehr greifenden Assimilation und der überraschend bereits vollzogenen Akkommodation.Footnote 58 Wo Ulysses noch vorgibt zu ›interpretieren‹, ist Hamlet bereits am ›Ordnen‹Footnote 59; wo Ulysses, wenn auch womöglich nur zum Schein, so tut, als verlasse er sich auf gegebene ›garantierte‹ Wirklichkeit, beginnt Hamlet über die von ihm installierte Versuchsanordnung eine Realität zu ›realisieren‹, die ihm den Kontext schafft für die erwünschte Welterkenntnis zur Überführung seines Onkels; wo der eine rückwärts blickt zur Mobilisierung ›alter‹ angestammter Kraft, schaut der andere nach vorn und schafft sich aktiv die von ihm benötigte Evidenz. Dies ist das ›neue‹ Modell des stets aufs Kommende gerichteten Experiments, der einverleibenden Expansion, des weitertreibenden Fortschritts und des vermeintlich unaufhaltsamen Wachstums. Es verdankt sich – wenn auch gewiss nicht unbedingt ausschließlich – nicht zuletzt den insistenten, stets das vorstellbare Auch-Mögliche mitverhandelnden wie -erprobenden fiktiven Ingestaltziehungen eines ästhetischen Imaginären, welche die Text/Kontext-Relation solange miteinander abgleichen, bis die »Geltungsschwäche« des herrschenden Denk- und Sinnsystems mit einem Schlag unversehens umgemünzt ist in die Instituierung eines neuen.Footnote 60 In diesem steten Abgleich der Relevanzen zwischen dem gesellschaftlichen und dem ästhetischen Imaginären liegt die geistesgeschichtliche Aufgabe literaturwissenschaftlicher Arbeit.