I. Die frühe »Cambridge School« und die Literatur

In dem vielzitierten methodologischen Aufsatz »Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte« von 1969, dem inoffiziellen Gründungsakt der Ideengeschichte der sogenannten »Cambridge School«, holte Quentin Skinner – damals gerade einmal 29 Jahre alt – den literarischen Text explizit mit in das Untersuchungsfeld des Ideenhistorikers. »Egal ob er sein Augenmerk auf ein literarisches Werk – ein Gedicht, ein Theaterstück, einen Roman – oder auf ein philosophisches – auf Traktate ethischer, politischer oder religiöser Natur – richtet«, hieß es einleitend, »in jedem Fall bleibt die grundlegende Frage dieselbe: Welche Verfahren sind am besten geeignet zum Verstehen dieses Werks?«.Footnote 1 Je weiter man jedoch in den Artikel hineinliest, desto mehr gerät die Literatur aus dem Blick. Die Leserin findet lediglich einen kurzen Hinweis auf einen Aufsatz des britischen Philosophen Frank Cioffi (1928-2012) mit dem Titel »Intention and Interpretation in Criticism«.

Man könnte hier ansetzen, um zu verstehen, wie die frühe »Cambridge School« die Stellung des literarischen Textes in ihrem vermeintlich neuen Forschungsprogramm einschätzte: In dem von Skinner zitierten Artikel ging es Cioffi darum, die Bedeutung biographischer Daten bei der Interpretation und Bewertung literarischer Texte neu zu überdenken. Dabei richtete er sich gegen die von William Kurtz Wimsatt Jr. und Monroe C. Beardsley eingeführte Rede vom »intentionalen Trugschluss«, der Annahme nämlich, dass sich die Bedeutung eines Textes am ehesten aus der Absicht des Autors bei Abfassung ergebe. Wimsatt und Beardsley wiesen diese Annahme als unhaltbar zurück, versetzte sie doch den Interpreten in die unangemessene Rolle eines auf den Autor spezialisierten Psychologen.Footnote 2 Dementgegen stellte Cioffi die Unterscheidung von »internen« und »externen« Informationen eines Textes insgesamt infrage, von Erkenntnissen der Exegese und der Biographik.Footnote 3 Mindestens implizit, so Cioffi, war die biographische Referenz von jeher integraler Bestandteil der Physiognomie von und unseres Umgangs mit Literatur – und wenn es nur darum ging, mögliche Bedeutungen als unmöglich auszuschließen.Footnote 4 Literarische Texte seien, ungleich der Sprache oder der Zahlenwelt, eben kein abgesondertes Objekt der Forschung, für das sich feste Regeln und Gesetze ablesen ließen, sondern immerfort variabel.Footnote 5

Skinner schien in »Bedeutung und Verstehen« dieser fast formalistische Hinweis zu genügen, um die Rede vom Tod des Autors ohne weitere Diskussion als irreführend abzutun. Wie intensiv jedoch seine Auseinandersetzung mit der literaturwissenschaftlichen Textanalyse der »New Critics« – unter ihnen John Crowe Ransom, Robert Penn Warren oder Allen Tate – verlief, zeigt ein Artikel, der wenige Jahre später unter dem Titel »Motives, Intentions and the Interpretation of Texts« in der Zeitschrift New Literary History erschien. Der wenig beachtete Text hilft zu verstehen, wie Skinner einige der textwissenschaftlichen Grundbegriffe aus »Bedeutung und Verstehen« auszudifferenzieren gedachte. Mit Richard Kuhns beschrieb er den Prozess der Interpretation hier als »der Botschaft eines Textes auf den Grund gehen«Footnote 6 und setzte dies gleich mit dem Entschlüsseln und Explizieren der Bedeutung bzw. des Sinns des Textes.Footnote 7 Interpretation ist notwendig, so Skinner, weil die Bedeutung bzw. der Sinn eines Textes stets jenseits seiner Oberfläche liegt und erst zugänglich gemacht werden muss. Skinner wollte »Bedeutung« bzw. »Sinn« jedoch anders verstanden wissen als die »New Critics«: Nicht die wörtliche Bedeutung des Textes wurde als das Ziel seiner Ideengeschichte angegeben und auch nicht die Bedeutung des Textes für den Leser. Vielmehr ging es darum zu rekonstruieren, was ein Autor tun wollte, indem er seinen Text schrieb.Footnote 8 Unbedingt musste der Vorgang der Interpretation den illokutionären Gehalt eines Textes berücksichtigen; dessen »Bedeutung« oder »Sinn« seien nahezu gleichbedeutend mit den Intentionen des Autors.

II. Das »Mehr« der Geistesgeschichte

Wie verhält sich dieser Vorschlag zu dem umfassenden interpretatorischen Anspruch, mit dem Paul Kluckhohn und Erich Rothacker im Jahr 1923 die Deutsche Vierteljahrsschrift für Geisteswissenschaften eröffneten? Ist eine Verhältnisbestimmung zwischen den Schulen angesichts der zeitlichen und philosophischen Kluft überhaupt angebracht? Zunächst ist festzuhalten, dass Skinners Auseinandersetzung mit der poststrukturalistischen Literaturanalyse zur Grundlage wurde für eine der wissenschaftsgeschichtlich produktivsten Antworten auf die Frage Kluckhohns und Rothackers, wie Geistesgeschichte und textimmanente Literaturanalyse in ein produktives Verhältnis gebracht werden könnten. »Eine Vereinigung dieser beiden Methoden erscheint fruchtversprechend und wegweisend«, hieß es im Vorwort von 1923; die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte sollte dem den Weg bereiten.Footnote 9 Skinners methodischer Vorstoß stellte nun sowohl historischen Kontext als auch Stil oder Semantik in den Dienst der Intention bzw. der Handlungsabsicht des Autors und bereitete mit dieser radikal pragmatischen Lösung des Kluckhohn’schen und Rothaker’schen Problems einer methodischen Klarheit in der politischen Ideengeschichte den Weg, deren Potenzial auch nach jahrzehntelanger Arbeit noch nicht ausgeschöpft ist.

So stringent und hellsichtig Skinners Argumentation bei der Grundlegung der »Cambridge School« auch war: Man merkt nicht zuletzt an den Beispielen in »Motives, Intentions and the Interpretation of Text« – die Debatte, ob gewisse englische Rechtstheoretiker des 17. Jahrhunderts schon so etwas wie das richterliche Prüfungsrecht zu artikulieren suchten, oder die Darstellung uneingeschränkter Kapitalakkumulation in John Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung (1689) –, dass es ihm um den literarischen Text, der zu Beginn von »Bedeutung und Verstehen« als Kerninteresse der Ideengeschichte bezeichnet worden war, allenfalls am Rande ging. »Ein literarisches Beispiel wäre notwendigerweise sehr komplex«, notierte er in dem Artikel für die Zeitschrift New Literary History und beließ es dabei.Footnote 10 Diese Skinnersche Leerstelle, sein Zurückscheuen vor der Besonderheit des literarischen Textes, ist einer der Aspekte, hinsichtlich dessen die »Cambridge School« hinter dem von Kluckhohn und Rothacker ausgerufenen Forschungsprogramm zurückbleibt.

Ein zweiter Aspekt ist die ideengeschichtliche Beschränkung auf das politische Denken, dieses definiert als um die Idee des Staates kreisend. Im zweiten Band seiner Foundations of Modern Political Thought (1978) benannte Skinner die »besondere moderne Idee des Staates«, die »eine Form der öffentlichen Herrschaft bezeichnet, die sowohl von den Regierenden als auch von den Regierten verschieden ist und die die oberste politische Autorität in einem klar definierten Territorium darstellt« als die entscheidende Ordnungskategorie der modernen politischen Philosophie.Footnote 11 So hilfreich diese Klarheit für die historischen Interessen der Politikwissenschaft, der »Geistesgeschichte« wiesen Kluckhohn und Rothacker ein wesentlich weiteres Forschungsfeld. »Neben der Literaturgeschichte« sollten »die Geschichten der Philosophie, Religion und Ethik, der bildenden Kunst, Musik und Sprache sowie des öffentlichen Lebens« Berücksichtigung erfahren.Footnote 12

Sollte die historische Erforschung der menschlichen Geistesprodukte endlich auch unter die Lehrstühle geschichtswissenschaftlicher Institute deutscher Universitäten aufgenommen werden, wäre der Begriff der »Geistesgeschichte« – als eine weit gefasste Geschichte des Denkens und Wissens, die die Politik miteinschließt aber über sie hinausgeht – sicherlich ein bedenkenswerter Titel. Es stellt sich die Frage, ob nicht der Terminus »Geist« fortan eine historische Erforschung des Denkens bezeichnen könnte, die insofern über die Ideengeschichte der Politikwissenschaft hinausgeht, als dass sie – im Sinne Kluckhohns und Rothackers – die Literatur-, aber auch die Wissenschaftsgeschichte oder die Geschichten der Philosophie, Religion, und Ethik mit einbezieht und wechselseitig das Werden und Zerbrechen moderner Institutionen und moderner Gesellschaften zum Fluchtpunkt hat. Der Begriff »Geist« wäre dann nicht Provokation, sondern Reibungsfläche, um ein neues historiographisches Forschungsfeld zu vermessen. Ganz im Sinne Kluckhohns und Rothackers dürfte diese Geistesgeschichte auch nicht auf die Ergründung nationaler Pfade beschränkt bleiben, sondern müsste das Denken in seinen globalen Verflechtungen studieren. Nicht zuletzt läge ein besonderer Auftrag dieser neuen Geistesgeschichte in der kritischen Auseinandersetzung mit der so dunklen Geschichte des eigenen Fachs in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft. Damit verbunden wäre die Erinnerung an die Autorinnen und Autoren, die in der Zwischenkriegszeit Wilhelm Diltheys Erbe antraten und die Geistesgeschichte fortführten, aufgrund der Geschichte ihres Faches im Nationalsozialismus aber derart in Vergessenheit geraten sind, dass sich in den internationalen Debatten um die Ideengeschichte kaum ein Bezug auf sie finden lässt.

III. Literatur als Prüfstein der Ideen

Wie aber lässt sich die politische Ideengeschichte der »Cambridge School« anhand des reichen Erbes der Geistesgeschichte weiterdenken? Und muss angesichts von Skinners »Leerstelle« die Literatur nicht erst noch in die politische Ideengeschichtsschreibung eingegliedert werden, vielleicht gar die Vorschläge der »Cambridge School« in die Literaturwissenschaft? Vorläufige Antworten auf die erste Frage können Skinners Kritiker bieten; Antworten auf die zweite sollen abschließend skizziert werden.

Über die vergangenen Jahrzehnte hat sich vor allem der an der UC Berkeley lehrende Politikwissenschaftler Mark Bevir als Kritiker des linguistischen Kontextualismus der »Cambridge School«, beziehungsweise J. G. A. Pococks, positioniert. Bevir geht es zunächst darum, die Behauptung zu modifizieren, dass die Bedeutung eines Textes insbesondere aus den linguistischen Konventionen und Paradigmen seiner Zeit herleitbar sei. Der Historiker könnte bei der Arbeit gar nicht hinter die Sprache seiner eigenen Zeit zurücktreten, diese Forderung sei illusorisch. Bevir ging dabei so weit, die Ideengeschichte der »Cambridge School« als »reine Chimäre« zu bezeichnen.Footnote 13 »Die Bedeutungen, die Historiker in einem Text finden, können niemals jene des Textes als historische Entität sein, sondern nur solche, die dem Text von den Formen des Diskurses der Historiker selbst gegeben werden«, hieß es erläuternd.Footnote 14 Wenn Bedeutung wirklich aus linguistischen Paradigmen herleitbar sei, dann könne der Historiker unmöglich aus dem hermeneutischen Zirkel austreten.Footnote 15 Bevir stört sich weiterhin am methodischen Rigorismus der »Cambridge School«. Verstehen sei ein kreativer Prozess und so könne es für die Analyse von Texten nicht nur ein einziges richtiges Werkzeug geben. »Der Prüfstein für gute Geschichtsschreibung liegt allein in der Genauigkeit und Nachvollziehbarkeit der Beweise, die Historiker anbieten, um ihr Verständnis eines Textes zu stützen«.Footnote 16

Ein zunächst unter dem Titel »Mind and Method in the History of Ideas« veröffentlichter Artikel verdeutlicht Bevirs Unbehagen über die »Cambridge School« noch. Eine leicht überarbeitete Fassung erschien im Deutschen 2010 unter dem Titel »Geist und Methode in der Ideengeschichte«. Bevir wendet sich hier insbesondere gegen die Vorstellung von Ideen als aus Diskursen hervorgehend, mithin als soziales Konstrukt und will sie viel eher als aus der »Denkweise oder psychisch[en] Disposition« des Autors hervorgehend verstanden wissen.Footnote 17 Zu Beginn ihrer Karrieren hatten Skinner und Pocock sich gegen Ideenhistoriker zur Wehr gesetzt, die den Werken der Vergangenheit nachträglich zu einer Kohärenz verhalfen, die sie in Wahrheit nicht besaßen. Kurz gesagt sollten der Vergangenheit ihre Irrtümer und Widersprüche erhalten bleiben. Bevirs Begriff der »Idee« muss aber die Kohärenz eines Werkes zumindest zur Grundannahme machen, erwachsen die verschiedenen Äußerungen doch aus dem Geist (englisch »mind«) des gleichen Autors. »Kohärenzerwartungen, die wir an eine Sprache anlegen […] [sind] viel schwächer als die, die wir an Überzeugungen anlegen«, heißt es in dem »Geist und Methode«-Aufsatz.Footnote 18

Die Liste der Bevir’schen Kritikpunkte am Kontextualismus der »Cambridge School« ließe sich noch fortführen. Insgesamt bleibt Skinners und Pococks Positionierung jedoch nachvollziehbar und steht im Einklang mit ihren philosophischen Grundannahmen. Es sind diese, an denen sich der Hermeneutiker Bevir stört. So erhärtet sich der Eindruck, dass es einer neuen Verständigung über die philosophischen Grundlagen der Ideengeschichte bedarf. Was bedeutet Autorschaft? Was ist und was kann Sprache? Was macht der pragmatische Ansatz der »Cambridge School« aus dem Text, was aus dem Prozess des Verstehens? Keine Textbasis wäre zur Beantwortung dieser Fragen geeigneter als der Grenzfall Literatur. Keine Expertise wichtiger als jene der Literaturwissenschaft. Bevirs Kritik zeigt mindestens, dass Skinners und Pococks Auseinandersetzung mit Letzterer zu selektiv und defensiv verlief, um dauerhaft befriedigende Antworten liefern zu können.

Der Literaturwissenschaft wiederum bietet die Ideengeschichte der »Cambridge School« zunächst eine sehr hilfreiche Ergänzung des Begriffs politischer Literatur. Kurz gesagt geht es nicht mehr um die kaum zu beantwortende Frage, ob ein Text in sich, also seinem Wesen nach, politisch ist, sondern welche politischen, das heißt auf den Staat und die Regierung bezogenen Handlungen Autor, Lektor oder Verleger vollzogen, indem sie den Text publizierten oder zurückhielten. Zusätzlich ließe sich fragen, in welchem Verhältnis die besonderen sprachlichen Konventionen literarischer Interventionen zu dem linguistischen Paradigma der Politik ihrer Zeit standen. Aber die Bereicherung der Literaturwissenschaft durch die Ideengeschichte endet hier nicht. Im Vorwort zur seit 2003 an der Hebräischen Universität Jerusalem erscheinenden Zeitschrift Partial Answers: Journal of Literature and History of Ideas nennt die Herausgeberin Leona Toker verschiedene »Skripte« der Beziehung zwischen Literatur und Ideengeschichte: Die Literatur sei »Rückkopplungsschleife« der Ideen, sie berge das philosophische Vorherwissen ihrer Zeit, sensibilisiere für den ideologischen Gehalt unterschiedlicher Formen und Genres oder inszeniere andernfalls »verschlüsselte kulturelle Muster«.Footnote 19 Schon diese kurze Aufzählung macht deutlich, dass Skinner mit seiner Notiz, ein literarisches Beispiel sei zu komplex für einen methodischen Aufsatz zur Ideengeschichte, so falsch nicht lag. Es ist Zeit, die Herausforderung anzunehmen.