Schon vor langer Zeit bin ich dazu übergegangen, den Begriff Geistesgeschichte als einen längst historisch gewordenen Terminus zu betrachten, der für meine aktuelle literaturwissenschaftliche Praxis ohne jede Bedeutung ist. Geistesgeschichte: das bezeichnet ein zur Zeit der Begründung der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte prominentes literaturwissenschaftliches Paradigma, das sich allerdings, als die Herausgeber ihre programmatischen Überlegungen formulierten, nach seiner Blütezeit im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts schon in seiner Ausklingphase befand. Wieder einmal begann die Eule der Minerva in der Dämmerung ihren Flug, und während eine literaturwissenschaftliche Mode in das Stadium der Ermattung trat, machte sich die Zeitschrift daran, deren theoretische Prämissen und Konzeptionen zu kanonisieren. Die Neigung der Literaturwissenschaften, sich Leitbegriffen mit schillerndem Bedeutungsgehalt anzuvertrauen, wurde in dieser Zeit nachdrücklich befördert, und der Anspruch, die intellektuellen Grundlagen einer Epoche in Staat und Gesellschaft, in Literatur, Kunst und Literatur durch die Bestimmung des allem zugrunde liegenden »Geistes« zu erfassen, hat leider nicht dazu beigetragen, eine Neigung zur Bescheidenheit bei der Bestimmung ihrer Erkenntnisziele zu befördern; das eine wie das andere hat bis heute seine Folgen. Karl Viëtor hat mit der bösen Präzision desjenigen, der auch über sich selbst urteilt, die Strömung der Geistesgeschichte als »das letzte Aufflackern eines senilen Idealismus« bestimmt,Footnote 1 und das kann ich nicht falsch finden. Lassen wir der Zeitschrift also ihren Titel und verabschieden wir das von ihm bezeichnete methodische Paradigma für alle Zeiten.

So ganz einfach ist das allerdings nicht, wie mein Hinweis auf die sich seit den Tagen der Geistesgeschichte fortschleppende Neigung der Literaturwissenschaft zu terminologischer Unschärfe und zur damit verbundenen Überdehnung ihrer Erkenntnisansprüche bereits andeutet. In diesem Zusammenhang ist mir ein Punkt besonders wichtig: Allen mit den Begriffen Geist und Geistesgeschichte verbundenen Universalitätsansprüchen zum Trotz hat die methodische Verbindung der Literaturwissenschaft mit der Geistesgeschichte zu einer entschiedenen Einschränkung ihrer Erkenntnisgegenstände geführt: zu einer geradezu obsessiven Kanonverliebtheit, die sich bis heute fortzeugt und ein selbstverständliches Medium der (nicht nur) germanistischen Karriereplanung bildet. Die programmatische Verbindung von Literaturwissenschaft und Philosophie, in deren Zeichen sich der Titel der Zeitschrift stellte, ließ kaum eine andere Möglichkeit, als sich den Geist als ein Spitzenerzeugnis und Hochprodukt vorzustellen, das seine ästhetische Gestalt nur in literarischen Spitzenwerken und künstlerischen Gipfelerzeugnissen zu finden vermag; dass die Geistesgeschichte als eine »dezidiert normensetzende Forschungsrichtung« aufgetreten sei, hat Rainer Kolk zu Recht hervorgehoben.Footnote 2 Mustert man die Reihe der großen Monographien, die das geistesgeschichtliche Jahrzehnt hervorgebracht hat, fällt diese Tendenz, das ästhetische Erscheinen des Geistes an den Kanon der künstlerischen Gipfelwerke zu binden, sofort ins Auge: von Friedrich Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist (1911) und Rudolf Ungers Hamann und die Aufklärung (1911) bis zu Hermann August Korffs Geist der Goethezeit (der erste Band erschien 1923). Korff war sogar der Überzeugung, dass eine auf den Geist zentrierte Ideengeschichte der Literatur im Grunde nur im Falle von Klassik und Romantik, den Blütezeiten des deutschen Idealismus, möglich sei. Immer sind es im geistesgeschichtlichen Normenhorizont die Gipfelleistungen in Philosophie und Poesie, die miteinander kommunizieren, einander durchdringen und sich gleichsam wechselseitig auf der Höhe halten.

Das hat dazu geführt, dass als wissenschaftswürdiger und -fähiger Gegenstand der Literaturwissenschaften im Grunde nur ein schmales Korpus von Autoren und Werken akzeptiert wurde, auf das als ihren ewigen Vorrat sie bis heute ihre interpretatorischen Anstrengungen richten. So blieb zum Beispiel von der uferlosen literarischen Produktion des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum im Bewusstsein der Literaturhistoriker nur ein schmaler Kanon von acht bis zehn Autoren übrig, deren literaturwissenschaftlicher Nachruhm zudem verdeckt, dass ihr Werk wie im Falle Georg Büchners, Annette von Droste-Hülshoffs und Gottfried Kellers zu ihren Lebzeiten auf dem Literaturmarkt marginalisiert war; Franz Grillparzer hatte sich sogar schon mehrere Jahrzehnte vor seinem Tod dazu entschlossen, auf die Publikation seiner Werke ganz zu verzichten. (Aus dieser Randstellung der kanonisierten Werke in ihrer eigenen Zeit resultiert im Übrigen ein in methodischer Hinsicht bemerkenswerter Widerspruch zwischen dem Geist des Werks und demjenigen der Epoche). Das Amalgam von Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte hat jedenfalls entschieden dazu beigetragen, der germanistischen Forschung nachdrücklich die historische Neugier auszutreiben; sie blickt beharrlich nach oben und bestaunt die immergleichen Gipfel, auf denen sich der Geist niedergelassen hat, die Mittelgebirge hingegen nimmt sie kaum zur Kenntnis und in die Täler blickt sie ohnehin nicht. Aber weht der Geist nicht auch dort? Und manchmal sogar sehr heftig?

Die Fixierung auf die künstlerisch herausragenden Werke des deutschen und des europäischen Kanons kann zu bemerkenswerten literaturgeschichtlichen Fehleinschätzungen führen. Ich zitiere hier exemplarisch einen Satz aus einem Werk, das ich seit vielen Jahrzehnten als eine der bedeutendsten Leistungen der Literaturwissenschaft verehre. In Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur schreibt Erich Auerbach im Jahre 1946: »Keiner der Männer zwischen 1840 und 1890, von Jeremias Gotthelf bis zu Theodor Fontane, zeigt in voller Ausbildung und Vereinigung die Hauptmerkmale des französischen, das heißt des sich bildenden europäischen Realismus: nämlich ernste Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung«.Footnote 3 Diesen Satz erläutert er auf nur einer Seite seines Buches mit knappsten Strichen am Beispiel kanonisierter Autoren wie Friedrich Hebbel und Adalbert Stifter, und das hat mir jahrzehntelang genügt, um mich der Strenge seines Urteils zu beugen. Aber wenn man einmal damit begonnen hat, sich durch die nahezu uferlose literarische Produktion des 19. Jahrhunderts, in dem eine gewaltige Expansion des Buchmarkts und eine ständige Erweiterung des Lesepublikums stattfand, systematisch hindurch zu lesen, dann will einem diese durch eine bedingungslose Akzeptanz des Kanonischen legitimierte Einschätzung doch recht fahrlässig erscheinen. Denn dann begegnet man allenthalben ernster Darstellung zeitgenössischer alltäglicher gesellschaftlicher Realität mit großer Einsicht in politische Verhältnisse und sozialpsychologische Mechanismen, und auch wenn sie sich sprachlich nur selten auf der Höhe Stifters oder Kellers bewegt, so lernt der Leser doch unentwegt über den Ernst des Lebens im 19. Jahrhundert und die konfliktträchtigen Strategien seiner emotionalen, rechtlichen, religiösen und ökonomischen Bewältigung hinzu. Man muss allerdings dazu bereit sein, Autoren wie Berthold Auerbach und Otto Ludwig, Karl Gutzkow und Karl von Holtei und auch Autorinnen (eine Möglichkeit, die Erich Auerbach erst gar nicht in Erwägung zieht) wie Fanny Lewald zu lesen.

Dies alles sind Autoren, die gewiss auch unterhalten wollten (aber das wollten Stifter und Keller auch), deren Werk sich aber nicht unter dem Begriff der Unterhaltungsliteratur und schon gar nicht unter demjenigen der Trivialliteratur fassen lässt. Sie wollten vielmehr über die gesellschaftliche, politische, ökonomische und religiöse Verfasstheit des zeitgenössischen Lebens aufklären, und das ist ihnen oft erstaunlich gut gelungen. Man hat in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als Erich Auerbach seine bildungsbürgerlich-literarische Sozialisation erfuhr, Werke der literarischen Vor-Moderne wie die Schwarzwälder Dorfgeschichten seines einst berühmten Namensvetters nicht mehr gelesen, und dabei zeichnen sie doch in der Miniatur die Mühen und Konflikte der zeitgenössischen alltäglichen Existenz nach, und dies keineswegs immer, wie das Klischee es besagt, mit dem Willen zum guten Ausgang, sondern mit dem Mut zur von Erich Auerbach geforderten ernsten Darstellung und damit zur Tragik. In dieser Welt geht es so ernst und ungemütlich zu, dass die Möglichkeit zur Auswanderung nach Amerika auf sehr zeittypische Weise zur bewährtesten Konfliktbewältigungsstrategie wird. Die sozialen Unterschiede und Konflikte in einem Dorf, die Spekulationswut und der nur durch Mord, Brandstiftung und Versicherungsbetrug abgewendete Ruin, die Praktiken von Schwurgerichtsverfahren, die sozialpsychologischen Mechanismen, die zum endgültigen Untergang führen: von all dem erzählt Berthold Auerbach auf meisterliche Weise in seinem kurz vor der bürgerlichen Revolution entstandenen Kurzroman Die Geschichte des Diethelm von Buchenberg und gibt damit in der Nuss einer Dorfgeschichte ein konzentriertes Abbild der gesamten zeitgenössischen Gesellschaft.

Und so kann, wer etwas über den Ernst des gesellschaftlichen Lebens im 19. Jahrhundert erfahren will, sich durch die zeitgenössische Literatur jenseits des Kanons hindurchlesen und wird allenthalben fündig werden, weil auch in ihr ein politisch und sozial aufgeklärter Geist weht. Die Bedeutung von Religion und Konfession im 19. Jahrhundert und die Härte der konfessionspolitischen Auseinandersetzungen – zentrale Themen wenn nicht der Geistesgeschichte, so doch der Ideen- und Religionsgeschichte – hat Karl Gutzkow in den neun Bänden seines Romans Der Zauberer von Rom nicht ohne den Mut zur Kolportage ins panoramatische Bild gesetzt. Die Härte und den Konfliktreichtum handwerklicher Existenz im 19. Jahrhundert schilderte Otto Ludwig spannend und anschauungsgesättigt in seinem Roman Zwischen Himmel und Erde. Industrialisierung und Umweltverschmutzung haben die deutschen Erzähler von Karl Immermann über Karl Gutzkow bis zu Wilhelm Raabe in all ihren sozialen Konsequenzen registriert. Wer etwas über die soziale Lage des Künstlers zwischen Vagabundenexistenz und Virtuosentum und zwischen Epigonalität und Innovationsdruck bereits in der ersten Jahrhunderthälfte erfahren möchte, möge Karl von Holteis Roman Die Vagabunden lesen. Und die Erscheinungsformen des Antisemitismus auch in gehobenen bürgerlichen Kreisen hat Fanny Lewald in ihrem Roman Jenny sensibel aufgezeichnet. All dies, nicht nur die Systementwürfe des Idealismus und die politischen Ideenparadiese des 19. Jahrhunderts, repräsentiert: deutschen Geist. Eine Erscheinungsweise des Geistes freilich, die als nicht kanonfähig erschien. Wer sich mit der Literatur des 19. Jahrhunderts beschäftigt, wird aber wissen, dass die Wertungsdichotomie von Hoch und Niedrig, die das Normenbewusstsein der Geistesgeschichte und mit ihr das Programm unserer geliebten Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte nachdrücklich stabilisiert hat, ihrer komplexen geschichtlichen Situation nicht gerecht wird.

Nein, ich plädiere nicht für die Abschaffung des Kanons. Warum auch? Das wäre ein vergebliches Unterfangen schon deshalb, weil sich der Kanon innerhalb der literaturwissenschaftlichen Praxis schon aus karrierestrategischen Gründen weitgehend von selbst stabilisiert. Goethe wird auch fernerhin im Zentrum meiner literaturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit stehen. Ich plädiere nur für größere literaturhistorische Neugier, damit unser Fach sich durch seine Kanonfixiertheit nicht um seine Erkenntnismöglichkeiten bringt und am Ende an Langeweile zugrunde geht. Wer Bücher über Goethe oder George schreibt, darf sich also das Vergnügen gönnen, gelegentlich auch Büchlein über Michael Beer oder Felix Dahn zu schreiben. Er wird danach den primären Gegenstand seiner wissenschaftlichen Interessen besser und schärfer sehen.