I.

Der Ausdruck »Geistesgeschichte« erinnert an ein Verständnis der Geisteswissenschaften, das durch deren grundlegende methodische Selbstreflexion seit den 1960er Jahren kritisiert und verabschiedet worden ist. Dafür gab es gute Gründe. Diese Gründe liegen in dem idealistischen Erbe des Begriffs des Geistes, auf dem jenes traditionelle Verständnis beruhte. Die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« (so Friedrich Kittlers Formel für diesen Prozess) beruhte auf einer Kritik des idealistischen Geistbegriffs. Genauer: Sie beruhte auf einer Kritik am Idealismus des Geistbegriffs. Sie beruhte auf der Annahme, dass von Geist zu sprechen nichts anderes als Idealismus ist.

Wenn das richtig ist, kann dem Begriff der Geistesgeschichte keine orientierende Kraft mehr zukommen; er müsste zurückgelassen und abgelegt werden. In den Diskussionen der letzten Jahrzehnte, seit jenem kritischen Bruch mit der traditionellen Geistesgeschichte, hat sich jedoch gezeigt, dass der Begriff des Geistes eine wichtige, ja, unverzichtbare Rolle spielt, um zu verstehen, worum es im Denken der Philosophie, der Philologien, der Geistes- und Humanwissenschaften geht (nämlich: ums Denken). Das zeigen exemplarisch die Auseinandersetzungen mit den Ideologemen eines reduktiven Naturalismus, dessen hegemonialer Anspruch umso wirksamer geworden ist, als er in unmittelbarer Verbindung mit den Prozessen der Ökonomisierung steht, die die Gesellschaften des Westens seit den 1980er Jahren determinieren; Naturalismus und Ökonomisierung arbeiten Hand in Hand. Auch das ist eine Austreibung des Geistes. Daher muss – wieder oder weiterhin – von »Geist« geredet werden. Es braucht einen anderen, neuen Begriff der Geistesgeschichte: damit die »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft«Footnote 1 enden und es Geschichte geben kann.

II.

Was heißt im Zusammenhang mit der Kritik an der traditionellen Geistesgeschichte »Idealismus«? »Idealismus« heißt hier schlechter Idealismus, und schlechter Idealismus ist ein Denken in hierarchisch organisierten Dualismen: endlich und unendlich, sinnlich oder körperlich und geistig, Interessen und Werte, niedrige Antriebe und höhere Aspirationen, materielle Praxis und spirituelle Erhebung. Idealistisch verstanden, besteht die Funktion der Rede vom Geist darin, vor, hinter oder über unserem gewöhnlichen Selbstverständnis eine tiefere oder höhere Schicht der Bedeutungen und Ursprünge zu bezeichnen, die jenem gewöhnlichen Verständnis ebenso zugrunde liegen wie sie ihm verborgen sind.

Das zeigt sich im traditionellen Vorhaben einer Geistesgeschichte an zwei Ansprüchen. Das ist zum ersten der geistesgeschichtliche Anspruch, Totalitäten zu erfassen, also Formationen so zu verstehen, dass sie ein homogenes Ganzes bilden, mithin in sich einheitlich sind – durch »einen Geist« bestimmt, aus einem Ursprung oder Prinzip gebildet. Dagegen hat die Kritik an der Geistesgeschichte die Brüche, Heterogenitäten, Dissonanzen, Entgegensetzungen, Widersprüche geltend gemacht, die jede geschichtliche Gestalt durchfurchen und unauflöslich sind. Idealistisch ist zum zweiten der damit einhergehende Anspruch, die Elemente und Verhältnisse, die eine geschichtliche Formation ausmachen, in transparente Zusammenhänge des Sinns oder der Bedeutung – also in semantische, hermeneutische oder (im weiten Sinn des Worts) logische Zusammenhänge – aufheben zu können. Dem widerspricht der Aufweis, dass alle diese Elemente und Verbindungen eine materielle, körperliche, mechanische, mediale, technische, funktionale usw. Dimension haben, die kein Sinnverstehen zu erreichen vermag. Geistesgeschichte zu betreiben ist im ersten Sinn idealistisch, weil sie keine Differenzen – das heißt: keine inneren, konstitutiven Differenzen – denken kann. Und sie ist im zweiten Sinn idealistisch, weil sie keine asemantischen Kräfte und alogischen Beziehungen denken kann; sie kann das Asemantische und Alogische nur privativ, als einen Mangel des Geistes (und daher des Verstehens) begreifen.

III.

Das erlaubt der in (I.) formulierten These eine genauere Kontur zu geben. Die These lautet, dass der Begriff der Geistesgeschichte, trotz der zutreffenden Kritik an seinem traditionellen, idealistischen Verständnis, wieder oder erneut orientierend sein kann, um ein anderes – diesmal kritisches, genauer: dialektisch-materialistisches (siehe unten, VI.) – Verständnis der Geisteswissenschaften zu gewinnen. Der Grund dafür kann aber nicht nur ein negativer sein; er kann nicht nur darin liegen, dass die Nachfolgebegriffe für »Geist« – Diskurs, Episteme, Kultur, Medien usw. – sich früher oder später vor ähnlichen (oder ähnlichen, weil umgekehrten) Problemen gefunden haben. Wenn trotz der überzeugenden Kritik am Idealismus dieses Programms wieder von Geistesgeschichte zu reden ist, muss dies positiv begründet werden.

Dieser positive Grund liegt in dem Zusammenhang der beiden Teile des Kompositums – »Geistesgeschichte«. Er liegt in der Verbindung von Geist und Geschichte. Das Kompositum weist die Geschichte als das Grundwort und den Geist als dessen Beiwort aus. Dann besagt »Geistesgeschichte«, dass die Geschichte als geistige, als die Geschichte geistiger, sich selbst verstehend transparenter Totalitäten (und damit die Geschichte selbst als eine sich selbst verstehende transparente Totalität) zu fassen ist; das ist Idealismus. Aber diese Verbindung setzt bereits den umgekehrten Zusammenhang voraus, nach dem nicht die Geschichte geistig, sondern der Geist geschichtlich ist. Liest man die Verbindung von Geist und Geschichte, die das Kompositum behauptet, in dieser umgekehrten Richtung, dann besteht sie in der These, dass der Geist nichts anderes als der Inbegriff des Geschichtlichen, das Prinzip oder die Kraft der Geschichtlichkeit ist. Und das ist nicht idealistisch. Der positive Grund, nach der Kritik am Idealismus der Geistesgeschichte wieder oder noch über diesen Begriff nachzudenken, lässt sich also in der Hypothese fassen, dass ohne den Begriff des Geistes der Begriff der Geschichte gar nicht gedacht werden kann. Dann geht es in dem Programm der Geistesgeschichte nicht mehr um die Geschichte des Geistes – im objektiven Sinn des Genitivs: die Geschichte vom Geist – und damit um die Geistigkeit der Geschichte. Sondern um die Geschichtlichkeit des Geistes. Ja, es geht um die Geschichtlichkeit, und nur deshalb um den Geist: weil – und soweit – es des Begriffs des Geistes bedarf, um den der Geschichte zu verstehen.

IV.

Die Hypothese auszuführen würde zu zeigen verlangen, dass – und wie – die Versuche, die Geschichte ohne den Begriff des Geistes zu denken, scheitern. Das ist ein zu großes Vorhaben. Hier lautet die Frage stattdessen umgekehrt, wie die wesentliche Geschichtlichkeit des Geistes selbst zu begreifen ist. Auf diese Frage liegt eine Antwort nahe, die aber unzureichend ist; denn sie vermag noch nicht aus dem Idealismus, dem das traditionelle Programm der Geistesgeschichte verhaftet war, herauszuführen. Diese naheliegende Antwort besagt, der Geist sei geschichtlich, weil er in einer Folge sich umgestaltender Gestalten bestehe. Geist gibt es demnach erstens nur so, dass er sich in konkreten Gestalten individualisiert, die je besonders und wirklich, real und materiell sind. Diese Gestalten sind als geistige zweitens prozessual. Und das in einem doppelten Sinn: Sie sind das Werk ihrer Selbstgestaltung und daher zugleich Momente, genauer: die Agenten, ihrer Umgestaltung. Der Gestaltcharakter des Geistes – dass es ihn nur in Gestalten oder als Gestalt gibt: der erste Zug der Bestimmung – bedeutet nicht Statik – geistige Gestalten sind nicht in sich geschlossen –, sondern begründet die spezifische Dynamik des Geistes. »Die Gestalt ist selbst eine Struktur der Bewegung und Transformation: in ihr geschieht die Transformation und sie bewirkt und lenkt die Transformation – ja, die Entstehung des ›Neuen.‹«Footnote 2 Der Geist ist demnach geschichtlich, weil er metamorphotisch ist.

Versteht man die Geschichtlichkeit des Geistes so, verbleibt man jedoch im traditionellen Programm der Geistesgeschichte. Denn dieses Verständnis ist idealistisch noch in einem tieferen Sinn als dem der behaupteten Totalität und der Transparenz des Geistes. Es ist idealistisch, weil es die Geschichte als einen Prozess der Selbstveränderung versteht. »Geist« zu sagen heißt demnach, etwas Wirkliches so zu verstehen, dass es sich durch und aus sich selbst hervorgebracht hat und sich durch und aus sich selbst verändert. Es ist wesentlich neu – im doppelten Sinn: Es ist neu gewesen (weil es sich hervorgebracht hat) und wird neu geworden sein (weil es sich verändert). Dieser Gedanke der wesentlichen Geschichtlichkeit, des wesentlich Neuen alles Geistigen, ist nun genau dann idealistisch, wenn er dies so versteht, dass die geistige Gestalt sich selbst hervorgebracht hat und sich selbst verändert: dass dies die eigene Tat des Geistes ist; die Tat seiner vernünftigen Selbstbestimmung, also die Ausübung seines vernünftigen Vermögens oder seines Vermögens der Vernunft (denn Selbstbestimmung heißt Vernunft).

Die beiden folgenden Schritte sollen andeuten, wie die Geschichtlichkeit des Geistes anders verstanden werden kann.

V.

Den Geist als geschichtlich zu definieren, weil er sich gestaltet und umgestaltet, heißt, dass er nicht aus einer Reihe von einzelnen, für sich bestehenden, einander gegenüber selbstständigen Gestalten besteht: Der Geist ist niemals nur in Gestalten, das heißt: als Gestalt, da. Sondern er ist das Prinzip der Hervorbringung der Gestalt; der Geist ist nicht als eine Gestalt da, weil er Gestaltung, und daher Umgestaltung, ist. Der Geist ist immer schon mehr als seine (oder eine) Gestalt. Deshalb und in diesem Sinn bedarf es der Geistesgeschichte: weil der Geist geschichtlich ist. So das skizzierte Verständnis.

Es so zu sehen, bedeutet aber vorauszusetzen, dass es den Geist, als das Prinzip oder Vermögen der (Um‑)Gestaltung, schon gibt. Die Prämisse der skizzierten Konzeption lautet: Es gibt Geist. Der Geist ist (oder hat) das Vermögen, zu gestalten und umzugestalten. Oder: Es gibt Geschichte – so wie und weil es den Geist gibt. Darin liegt der Idealismus dieser Konzeption. Denn der Idealismus – so hat Marx an Hegel beobachtet – ist ein Positivismus.Footnote 3 Idealismus heißt, den Geist als eine Gegebenheit anzusehen, mit der man beginnen, die man immer schon voraussetzen kann. Oder es bedeutet, das Werden des Geistes nur im subjektiven Sinn des Ausdrucks und nicht auch in seinem objektiven Sinn zu verstehen: das Werden von Geist.

Idealistisch verstanden, ist das Werden des Geistes das Werden – die Bewegung, Veränderung, Transformation usw. –, das der Geist selbst hervorbringt oder das ihn ausmacht: dessen Subjekt er ist. Das aber ist ein Werden, das ein Sein voraussetzt: das Sein des Subjekts des Werdens (und damit das Dasein, die positive Gegebenheit, des Werdens). Dieses Sein ist aber selbst geworden. Es muss also das Werden des Seins (des Subjekts) des Werdens – das Werden des Geistes, der das Subjekt seiner umgestaltenden Gestaltung ist – gedacht werden. Die skizzierte Konzeption der Geschichtlichkeit des Geistes ist idealistisch (und ihr Idealismus ein Positivismus), weil sie das Denken des Werdens nicht bis zu diesem Punkt vorantreibt; weil sie das Werden des Werdens – das Werden desjenigen Werdens, das der Geist ist – nicht denkt. Oder genauer: weil sie die Differenz nicht denkt, die das Werden des Geistes im subjektiven und im objektiven Sinn trennt. Idealistisch zu denken heißt, die Differenz des Werdens zu ignorieren. Es heißt, das Werden des Geistes im objektiven Sinn auf dieselbe Weise zu verstehen wie das Werden, dessen Subjekt er ist. (Ein Name für diese Amalgamierung ist »Bildung«.) Umgekehrt heißt, den Idealismus oder Positivismus dieser Konzeption zu kritisieren, die Differenz des Werdens geltend zu machen. Aber nicht in einem sequentiellen Sinn, so als müsste erst der Geist geworden sein, um dann umgestaltend tätig zu werden. Vielmehr muss die Differenz des Werdens als das innere Prinzip der Geschichte des Geistes begriffen werden: Die Differenz des Werdens entfaltet sich im Inneren der Geschichte. Diese Differenz ist nichts anderes als der Geist in der Geschichte oder die Geschichtlichkeit des Geistes. Die Geschichte, als Geschichte des Geistes begriffen, ist der Prozess, in dem sich der gestaltend-umgestaltend wirkende Geist selbst immer erst noch und wieder hervorbringen wird.

Das hat eine unmittelbare Konsequenz für das Programm einer Geistesgeschichte. Die soeben skizzierte Kritik richtet sich gegen die Annahme, dass es den Geist als das Prinzip oder Vermögen der Umgestaltung gibt – dass der Geist da ist (oder dass seine Negativität eine positive Existenz besitzt). Dann würde die Aufgabe der Geschichtsschreibung darin bestehen, dieses Dasein festzustellen und sein Wirken zu verzeichnen. Das kann selbstverständlich nicht durch empirische Beobachtung und Klassifizierung geschehen, sondern bedürfte anderer Verfahren, wie die »Einfühlung« oder das »Verstehen«. Sie würden ins Innere der jeweiligen Gestalt führen, in denen ihr Geist als bildendes Prinzip am Werk ist.

Wenn man diesen geistesgeschichtlichen Verfahren nun ihre Voraussetzung entzieht, dass der Geist, um den es ihnen geht, wenn auch verborgen in der jeweiligen Gestalt schon da ist, gewinnen sie eine ganz andere Aufgabe und Kraft. Sie werden zu Verfahren einer radikalen Veränderung ihrer Gegenstände. Diese Veränderung ist radikal, weil sie ontologisch ist (also nicht material). Genauer gesagt müssen sie Verfahren sein, die an der ontologischen Selbstveränderung, in der der Geist erst wird, in der er selbst- und umgestaltend und daher zum Geist wird, mitarbeiten. Um diese Kraft freizulegen, müssen sie Verfahren sein, die die Fülle und den Reichtum an Bestimmungen, die jede wirkliche Gestalt ausmachen, durchstoßen, sie beiseite räumen und von ihr abstrahieren, um jene Kraft freizulegen – das ist die Kraft der Negativität –, die den Geist ausmacht. Daher gilt immer noch, was Michel Foucault vor über 50 Jahren in einer Rezension der französischen Übersetzung von Ernst Cassirers Philosophie der Aufklärung geschrieben hat: »Es wäre an der Zeit, sich wieder einmal daran zu erinnern, dass die Kategorien des ›Konkreten‹, des ›Erlebens‹ und der ›Totalität‹ dem Reich des Nichtwissens angehören.«Footnote 4 Alles geschichtliche Wissen beruht daher auf einem (oder alles Wissen ist daher ein) »Bildersturm«, der das Zuwissende, den Gegenstand des Wissens, also die Wahrheit, aus dem Wirklichen herauslöst. Denn dieses Wissen gilt dem »Denken einer Epoche« (Foucault): einer Epoche, soweit sie denkt. Wenn die Geistesgeschichte die Geschichte des Geistes sein will; und wenn es den Geist nur so gibt, dass er erst wird – dass er sich seinem Gegenteil entringt –, dann kann die Geistesgeschichte nicht die Werke und Gestalten beschreibend entfalten, die die Existenz des Geistes bereits voraussetzen. Sie muss zu dem Punkt vorstoßen, an dem der Geist sich im Kampf gegen sein Gegenteil erst bildet: an dem er zu denken beginnt und damit erst zum Geist wird. Oder die Geistesgeschichte muss zur Genealogie des Geistes werden.

VI.

Das Gegenteil des Geistes ist die Natur: Der Geist geht aus der Natur hervor, indem er sich ihr entgegensetzt. Wenn die Geschichte des Geistes nicht mit seiner Gegebenheit anfangen und daher nicht als die Geschichte seiner sich umgestaltenden Selbstgestaltung definiert werden kann, sondern zugleich die Geschichte vor der Geschichte, die Vorgeschichte des Werdens des Geistes sein muss (so das Argument in Abs. V.); und wenn weiterhin richtig ist, dass die Vorgeschichte das Werden des Geistes aus der Natur darstellt – dann bildet die geschichtliche Existenz des Geistes (die die Geistesgeschichte zur Darstellung bringt) keine autonome Sphäre jenseits der Natur. Sie ist, in jedem Moment noch und wieder, die Geschichte des Hervorgehens des Geistes aus der Natur. Sie ist die Geschichte und die Geschichte der Geschichte: die Geschichte, in der sich der Geist umgestaltet, und die Geschichte, in der der Geist sich der Natur entgegensetzt und dadurch erst geschichtlich wird. Das bestimmt nach Theodor W. Adorno die »Faktizität« des Geistes, die seine Geschichtlichkeit ausmacht – und die die »Geistesgeschichte«, so wie Wilhelm Dilthey sie entworfen hat, indem er »epochenweise Konstruktionen geschichtlicher Urbilder zu gewinnen« versucht hat, immer schon verfehlt. Ihr gerecht zu werden verlangt nach Adorno dagegen, »die geschichtliche Faktizität in ihrer Geschichtlichkeit selbst als naturgeschichtlich einzusehen.«Footnote 5 Es verlangt einzusehen, dass die Geistesgeschichte zugleich Naturgeschichte ist.

Das heißt zweierlei; es hat zwei Bedeutungen, die in entgegengesetzte Richtungen weisen, die aber zusammenzudenken sind. Nach der ersten Bedeutung bedarf es der Naturgeschichte, weil der Geist immer schon naturverfallen ist. Er ist verfallen in eine naturhafte Existenz; er existiert wie Natur. (Das definiert, was Adorno an der zitierten Stelle seine »material-gefüllte Realität« nennt.) Daher hat die Bewegungsweise des Geistes immer auch eine natürliche Form. Er verändert sich so wie sich die Natur verändert: Es gibt – tatsächlich – eine »Evolution« des Geistes; die Evolution ist, in Marx’ Sinn des Wortes, »vorgeschichtlich«. Das heißt aber zugleich, dass es die Geschichte des Geistes noch nicht gibt. Was es von selbst oder von Natur aus gibt, ist vielmehr die Geschichtlichkeit des Natürlichen – natürliche, naturhafte Geschichtlichkeit. Es gibt die Evolution; die Geschichte – also: die Geistesgeschichte – muss immer erst noch werden.

Dass die Geschichte und damit der Geist (oder der Geist und damit die Geschichte) noch werden müssen, heißt aber, dass ihre naturhafte Existenz vergehen muss. Das ist die zweite Bedeutung der von Adorno exponierten These, dass die Geschichtlichkeit des Geistes »selbst als naturgeschichtlich einzusehen [ist]«. Die Geschichte der Natur ist erstens ihre Evolution, deren Gesetze auch noch bestimmen, was das traditionelle Programm der Geistesgeschichte einfühlend oder verstehend als geistige, sich selbst hervorbringende und verändernde Gestalten zu erfassen versucht. Die Natur ist aber zweitens und im Gegenzug dazu geschichtlich auch in einem ganz anderen Sinn: Die Natur ist geschichtlich, weil sie, »als Schöpfung«, selbst vergänglich ist. Die Natur ist geschichtlich, weil sie vergeht – und weil, nur indem sie vergeht, also im Vergehen des natürlichen Werdens und Vergehens, die Geschichte (das heißt: die Geschichte des Geistes) beginnt. »Wann immer Geschichtliches auftritt, weist das Geschichtliche zurück auf das Natürliche, das in ihm vergeht.«Footnote 6 Nur weil (und wenn) die Natur vergeht, wird der Geist und fängt die Geschichte an. Nur weil die Natur selbst geschichtlich ist, gibt es die Geschichtlichkeit des Geistes.

Also ist die Geistesgeschichte – die Geistesgeschichte, die sich vom Trug des Idealismus befreit – im doppelten Sinn Naturgeschichte. Sie kann der Idee des Geistes und seiner Geschichte nur treu sein, wenn sie seine naturhaft verfallene Wirklichkeit, seine Wirklichkeit als zweite Natur, aufweist (und also zur Kritik wird, das heißt, die Differenz von Geist und zweiter Natur entfaltet). Und sie kann das Werden des Geistes nur freilegen, wenn sie begreift, wie er aus dem Vergehen der Natur hervorgeht: worin also die Kraft besteht, die die naturhaften Kreisläufe des Werdens und Vergehens durchbricht und das Werden des Geistes ermöglicht – die Kraft, die die Determination durch die Natur vergehen lässt und den Geist hervorbringt (und die daher nicht selbst schon geistig sein kannFootnote 7).

Es sind also zwei aufeinander folgende Schritte zu tun, wenn die Idee einer »Geistesgeschichte« von den idealistischen Prämissen befreit werden soll, die ihr von ihrem Ursprung her eingeschrieben sind. Beide Schritte wenden sich dagegen, die Geschichte als die Selbstbewegung, als die Selbstbestimmung des Geistes zu verstehen. Der erste Schritt besagt, dass die Geschichte das Werden des Geistes (Abs. V.), der zweite Schritt, dass sie das Vergehen der Natur ist (Abs. VI.). Wahrhaft geschichtlich sind daher die Momente, in denen die Naturhaftigkeit des Geistes vergeht und er seine Freiheit erringt. Von diesen Momenten muss die Geschichte des Geistes handeln. Das könnte man »Geistesgeschichte« nennen. Sie wäre dies aber in dem Sinn, dass sie »nur eine Auslegung von gewissen Grundelementen der materialistischen Dialektik ist.«Footnote 8