Seltsam, nicht sagen zu können, was man ist. Wenn ich auf Englisch gefragt werde, ist es einfach: »I am an intellectual historian«. Aber auf Deutsch? »Ich betreibe Ideengeschichte«? Ideengeschichte wäre »History of Ideas«, und dieser Terminus ist in den englischsprachigen Ländern seit mehreren Jahrzehnten überholt, weil man Arthur O. Lovejoys Konzeption aus den 1930er-Jahren kritisch gegenübersteht: Welche Art Entität sollen diese »Ideen« eigentlich sein? Ist man da nicht festgelegt auf fragwürdige ontologische Annahmen, auf deren Grundlage man Geschichte schreibt?Footnote 1 Daher das flexiblere »Intellectual History«, das einem alle Freiheiten läßt, eine Kulturgeschichte von Denkmotiven, eine Geschichte der Praktiken geistiger Arbeit oder eine Philosophiegeschichte alten Stils zu schreiben. Möchte man diese flexiblere Form wieder ins Deutsche zurückübersetzen, steht man vor einer Unmöglichkeit. »Denkgeschichte« oder gar »Intellektualgeschichte« klingt schlecht, aber das simple »Geistesgeschichte«, das sich anbieten würde, ist historisch verbraucht.

Verbraucht? Warum? Weil es, so sagt man, nach Hegel klingt, nach Dilthey, nach Meinecke. Nach Historismus und Geistphilosophie. Dahinter steht ein nicht unbegründeter Argwohn gegenüber belastenden Bestandteilen deutscher Traditionen des 19. Jahrhunderts. Der Kern des Problems liegt in der Hypostasierung, die in den Begriff der »Geistesgeschichte« eingebaut ist. Sogar eine doppelte Hypostasierung: der Geist, die Geschichte. Der Terminus legt es nahe, es gebe einen einzigen umfassenden »Geist« etwa einer Nation, oder einer Epoche, oder einer Kultur. Und es gebe eine einzige, überwölbende Geschichte, die von ihm zu schreiben sei, im Kollektivsingular, ohne Varianten.

Beides entspricht sicherlich nicht dem, was man heute als »Intellectual History« praktiziert, einer Disziplin, die sich plural versteht und gern Detailgeschichten erzählt statt sich an einer großen Synthese zu überheben. Nun kann man sicherlich diskutieren, ob die Arbeiten gerade eines Wilhelm Dilthey wirklich so sehr auf einen Geist im schwergewichtigen Hegelschen Sinne verpflichtet sind, und ob die Geistesgeschichtler des frühen 20. Jahrhunderts – die ja Lovejoy zu seinem etwas abweichenden Unternehmen angeregt haben – wirklich nur monomanische Großgeschichten erzählt haben. Daß mit dem deutschen »Geist« viel Schindluder getrieben worden ist, bis hin zu den Barbarismen des Volksgeistes der Nazis, ist unstrittig.

Die Frage ist nur: Was kann man tun, um sich aus der verfahrenen Lage herauszumanövrieren? Man könnte zumindest mit der Möglichkeit spielen, so etwas wie eine »Neue Geistesgeschichte« auszurufen, bei der das Prädikat »neu« signalisiert, daß man sich der Verhängnisse des älteren Begriffs bewußt sei, nun aber unter veränderten Bedingungen nochmals an den Start gehe. Wenn man das täte, hätte man zwei Möglichkeiten, eine defensive und eine offensive. Die defensive: Man konzipierte die neue Geistesgeschichte ganz analog zur gegenwärtig praktizierten Intellectual History und betonte jedem gegenüber, ob er oder sie es hören will oder nicht, daß man natürlich »Geist« hier nichtsubstantiell und nur als Platzhalterbegriff verstehe, daß es eigentlich um vielfältige Formen von Denkgeschehen, Theoriegeschichte oder intellektuellen Inhalten gehe. Der alte Name sei nur wieder in Gebrauch genommen worden, weil man nichts Besseres zur Hand habe, da die »Ideengeschichte« zu sehr an einem obskuren Begriff von »Idee« klebe. Dann könne man auch gleich wieder zum alten (auch obskuren) Begriff vom Geist zurückkehren.

Vielleicht interessanter ist die offensive Möglichkeit. Dann nämlich würde man das Prädikat »Neue Geistesgeschichte« als Herausforderung verstehen, zu erkunden, ob die synthetischen Anmutungen, die im Begriff des »Geistes« im Singular stecken, in zeitgemäßer Weise reformuliert werden könnten. Es muß ja keine Hypostasierung sein. Aber der Anspruch, Einheitlichkeiten zu erkennen, liegt dem ursprünglichen Konzept der deutschen Geistesgeschichte zugrunde, die jenseits von engen Disziplingrenzen innerhalb der »Geisteswissenschaften« nach gemeinsamen Strukturen fahndete.

Interessanterweise ist der Begriff der »Geisteswissenschaften« selbst nicht vom Verdikt getroffen worden, man könne ihn nicht mehr verwenden. Das mag daran liegen, daß er nur einen Singular enthält, nicht deren zwei. Zwar trägt er an demselben nachhegelschen »Geist« wie die Geistesgeschichte, doch zumindest die Wissenschaften finden sich im Plural. Dabei ist gerade ihre Einheit – als verstehende Wissenschaften – das, was den Begriff bis heute so interessant macht. Wenn dem so ist, dann müßte aber auch in der Geistesgeschichte als der Disziplin, in der historische Verläufe innerhalb eines verstehend nachvollziehenden geisteswissenschaftlichen Horizontes beschrieben werden, etwas zu holen sein.

Versuchen wir deshalb einmal, die Syntheseanmutung in heutiger Terminologie auszubuchstabieren. Geistesgeschichte, die nicht nur allgemein Intellectual History sein will, würde zunächst (1) die interdisziplinären Querbezüge, die von der alten Geistesgeschichte durch ein Konzept des »Lebens« des Geistes, das sich in seinen Formen »ausdrückt«, sichergestellt wurden, nun entweder in einer schwächeren Form durch Praxeologie gewährleisten, insofern Praktiken in allen Spielarten der Geisteswissenschaften identifiziert werden können, oder stärker durch ein performatives Verständnis des Sich-Ausdrückens.Footnote 2 Allerdings muß man sich darüber im Klaren sein, daß alle Praxeologie (wenn man nicht gerade, wie Robert Brandom, jede sprachliche Tätigkeit praxeologisch als das Geben und Nehmen von Gründen versteht) nicht hinreicht, geistige Inhalte damit durchsichtig zu machen. Mit der Aufmerksamkeit für das scheinbar Unbedeutende, mit materiellen Kontexten, mit Gesten kann heute erstaunlich viel charakterisiert werden, aber, seien wir ehrlich, an sehr abstrakte Denkformen kommen wir damit nicht heran.

(2) Man kann auch an die Variante der Cambridge School anknüpfen, in der John Pocock die Kontextualisierung von Denkbewegungen als Rekonstruktion politischer Sprachen aufgefaßt hat.Footnote 3 Politische (oder philosophische, theologische, wissenschaftliche) Sprachen sind Ganzheiten, die durch ein gemeinsames Vokabular und eine gemeinsame Syntax gekennzeichnet sind. Davon werden die einzelnen Aussagen, die in solchen Sprachen formuliert werden, geprägt. Zwar sind immer noch unendlich viele Aussagen in jeder Sprache formulierbar, doch sind sie alle in typischer Weise gefärbt. Pocock selbst hat diese Konzeption in seinen späten Arbeiten nicht weitergeführt, nur indirekt scheint sie noch durch, wenn er etwa von verschiedenen »Aufklärungen« spricht.

(3) Für problematischer, aber nicht völlig abwegig, halte ich es, an die strukturalistischen Versuche zu erinnern, kommunikative »Codes« aufzufinden, die das Denken einer Epoche oder einer Kultur kennzeichnen. Jurij Lotman war einer der Vorreiter darin, die »Innenwelt des Denkens« als codiert zu beschreiben.Footnote 4 Allerdings zeigen die Schwächen in Michel Foucaults Definitionen der »Episteme« der Renaissance oder der klassischen Epoche deutlich, wo die Grenzen dieses Ansatzes liegen. Die oben genannte Hypostasierung oder Singularisierung wirft nämlich auch auf diese Versuche ihre Schatten. Letztlich beschreibt Foucaults Ähnlichkeitsdenken der Renaisssance bestimmte Muster etwa der hermetischen oder paracelsistischen Strömungen des 16. Jahrhunderts, blendet dadurch aber viele andere aus, etwa den Skeptizismus, den Aristotelismus oder Neu-Epikureismus – die durch traditionelle Formen der Intellectual History viel adäquater und ausgewogener beschrieben werden.

(4) Vielversprechender ist es da, den niedriger gehängten Begriff der epistemischen Situation zu verwenden, der mir längst noch nicht in seinen Möglichkeiten ausgelotet zu sein scheint. Auch »epistemische Situation« ist seiner Art nach ein Synthesebegriff, aber kleiner dimensioniert und flexibler einsetzbar als ganze »Epistemen« oder auch »Sprachen«. Er ist die Fregatte, wo die anderen Schlachtschiffe sind. Aus der Psychologie und der Soziologie der Situation, die seit längerem ausgearbeitet sind, läßt sich manches lernen, das auf die Epistemologie übertragen werden kann. Natürlich ist die Einheit einer Situation nicht die Einheit »des Geistes«. Sie bleibt ganz bewußt kontingenzverhaftet. Betont werden die Perspektivität und Positionalität von Aussagen und Selbstbeschreibungen. Aber als schwacher Synthesebegriff, der zumindest kleine Teile der wechselseitigen Konstitutivbeziehungen, die den Hegelschen Geistbegriff ausmachen, enthält, kann er sinnvoll sein.

(5) Ähnlich steht es mit dem Begriff der Rahmung.Footnote 5 Auch er entstammt der Psychologie und der Sozialforschung und nimmt die Beobachtung ernst, daß Aussagen oder Handlungen ganz unterschiedliche Bedeutung haben können, je nachdem wie sie pragmatisch (oder in sonst einer Weise) eingebettet sind. Auch das ist situativ und kontingent und arbeitet somit erfolgreich gegen die Hypostasierungen in der Art von Volks- oder Zeitgeist an. Denkt man etwa an die Versuche, Begriffs‑, Geistes- oder Ideengeschichte als Problemgeschichte zu schreibenFootnote 6, kann man schnell erkennen, was Rahmung bedeutet: Es sind bestimmte Fragestellungen und Problemlagen, die Ähnlichkeitsmuster in Denkbewegungen erzeugen können, ohne daß sich dahinter ein substantieller »Geist« verbergen muß.

(6) Eine neueres Konzept, das in eine solche schwache Richtung geht, ist das der Resonanzverhältnisse.Footnote 7 Resonanz als Gegenbegriff zur Entfremdung zielt auf Formen der Wechselseitigkeit in den Weltbeziehungen; es nimmt Anleihen bei Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung und der Leiblichkeit und wendet sie hin auf eine Soziologie der Gegenwart. In gewisser Weise ließe sich damit auch das aktualisieren, was Dilthey unter dem »Leben« des Geistes verstanden hat. Zumindest wäre es den Versuch wert, die scheinbar so obsoleten lebensphilosophischen Grundlagen der Geistesgeschichte im späten 19. Jahrhundert im Lichte der Spätkapitalismus-Kritik neu zu lesen und das Ziel von »Geist« nicht in vollkommener theoretischer Reflexivität, sondern in stabilen Resonanzverhältnissen zu sehen.

(7) Um diesen Gedanken etwas weiterzuspinnen: Geistesgeschichte hat durch ihr Hegelsches Erbe immer den Anspruch mit sich getragen, Selbstbewußtsein und Selbstreflexivität zu inkorporieren. Wie aber sähe eine Selbstreflexivität aus, die praktisch gewendet und auf resonante Verhältnisse heruntergebrochen ist? Man könnte das psychoanalytische Konzept der Gegenübertragung fruchtbar machen, um das mit Inhalt zu füllen. Gegenübertragung meint die Gefühle, Erwartungen und Vorurteile, die der Therapeut auf den Patienten überträgt, oft in Reaktion auf dessen Projektionen auf ihn. Im Bewußtwerden dieser Form von Übertragung kann der Therapeut sie zum Erkenntnismittel machen. Eine neue Form von Geistesgeschichte, die diese Art von Resonanz berücksichtigt, würde sich klarer darüber Rechenschaft geben, warum sie ihre Themen wählt und wie sie mit ihnen umgeht.

(8) Und schließlich noch ein letzter Gedanke. Geistesgeschichte hat stets etwas Schillerndes und Anregendes aus der Unklarheit gezogen, was denn jetzt die Entwicklung des »Geistes« im Singular sei: die ontogenetische oder die gleichsam phylogenetische Betrachtung des geistigen Geschehens, das als auf ein Ganzes, auf ein Individuum zentriert gedacht ist. Gattungsentwicklung als eine Art von Individualentwicklung. Davon möchte man heute nichts mehr wissen – es sei denn, man zöge Profit aus den neuen Bemühungen um eine »Deep History«.Footnote 8 Deep History meint die Ausweitung des Geschichtsbegriffs über die frühen Hochzivilisationen hinaus auf die ganze Geschichte des Homo sapiens sapiens seit etwa 100000 Jahren. Das Konzept wendet sich gegen die methodologische Trennung von natur- und geisteswissenschaftlichem Vorgehen, die es angesichts der faktischen Vielfalt heutiger Methodenansätze für obsolet hält. Damit kommt aber wieder ein Moment ins Spiel, das neuere Intellectual History völlig ausgeblendet hatte: die mögliche Prägung späterer expliziter geistiger Formen und Inhalte durch frühere implizite. Eine dann denkbare »deep intellectual history« bewegt sich zwar immer auf sehr angreifbaren, hypothetischen Bahnen, würde aber die verlorengegangene Syntheseanmutung auf einer zeitlichen Ebene, einer Ebene der longue durée, in die Geschichtsschreibung von Denkformen zurückbringen.

Dies alles mag als Anregung verstanden sein, nicht zu schnell den defensiven Weg einzuschlagen, sondern zumindest einen Augenblick innezuhalten und abzuwägen, was denn an offensiven Möglichkeiten bereitstünde, sich heute noch – oder wieder – mit so etwas wie »Geistesgeschichte« zu identifizieren. Zweifellos wird vieles von dem, was ich hier beschreibe, derzeit unter einem anderen Label schon betrieben – nämlich dem der »Wissensgeschichte«. Das ist die momentan gängige Münze. Doch Wissensgeschichte hat ihre eigenen Probleme, wenn man sie auf ihre ontologische Verpflichtung hin anspricht. Denn das »Wissen«, von dem sie handelt, ist streng genommen gar keines. Wissen ist – nach einer veralteten Formel, die aber immer noch einen ersten Zugang bietet – begründete wahre Meinung. Wissensgeschichte brüstet sich aber gerade damit, daß es ihr nicht auf die Wahrheit der Meinungen, die sie beschreibt, ankommt. Sie will sich ja von der teleologischen, aktualistischen Wissenschaftsgeschichte absetzen. Genaugenommen beschreibt sie daher vergangene Wissensansprüche; Meinungen, von denen behauptet wurde, daß sie wahr seien, von denen viele glaubten, daß sie wahr seien, die als »gekochte« Konglomerate von »rohen« Informationen angerichtet worden sind. Nur daß der Kochvorgang, von heute aus gesehen, nicht immer zur Wahrheit geführt hat. Nicht schlimm, man interessiert sich ja für den Kochvorgang selbst. Wissen im strengen Sinne ist das aber nicht.Footnote 9

Ich will hier gar nicht dafür plädieren, das endlich gefundene Glückswort »Wissensgeschichte« durch »Neue Geistesgeschichte« zu ersetzen. Wichtig ist mir nur zu betonen, daß manche der Syntheseanmutungen, die Wissensgeschichte so attraktiv machen, auch für die Legitimierung eines neuen Verständnisses der synthetischen Kerneigenschaften von »Geist« herhalten könnten.