Die germanistische Phase der ›Geistesgeschichte‹ wurde längere Zeit selbst geistesgeschichtlich beschrieben: Die kanonische Geschichte der Methodenentwicklung erzählte von der Ablösung des Positivismus und unterstellte jenseits der Unterschiede etwa von Stil‑, Problem‑, Ideengeschichte ein grundsätzliches Einverständnis, das den Kollektivsingular ›Geistesgeschichte‹ rechtfertigt. Letztlich blieb davon jedoch nur eine programmatische Zäsurbehauptung übrig,Footnote 1 die Syntheseversprechen mit popularisierungsfähigen Sinnangeboten verband, um ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ aufeinander zu beziehen.Footnote 2 Die programmatische Einheit der Geistesgeschichte entfaltete ihre Wirkung – wenn überhaupt – als Einheitsforderung und Einheitsversprechen. Im Folgenden will ich danach fragen, welche alternativen Syntheseeffekte sich in pragmatischer Hinsicht ergeben und was daraus für das aktuelle Selbstverständnis von Geisteswissenschaften folgen könnte.

Eine alternative Bestimmung der geistesgeschichtlichen Epoche in der Literaturwissenschaft setzt nämlich entgegen der Einheitsfantasie der Geistesgeschichte genau bei der Diversität der wissenschaftlichen Lage an: Die 1910er und -20er Jahre markieren demnach jene Phase, in der man die Vielfalt der Zugänge zu Phänomenen wie ›Literatur‹ und ›Literaturgeschichte‹ anerkennen musste,Footnote 3 und sei es dadurch, dass man für den eigenen (z.B. geistesgeschichtlichen) Zugang als privilegierte Hinsicht argumentativ warb und die Unzulänglichkeit von Alternativen darlegte. Ein überaus folgenreicher Effekt des Methodenpluralismus war, dass von nun an Methodologie und Theorie zum unentbehrlichen wissenschaftlichen Rüstzeug zählten. Schon damals begann man, wie heute noch üblich, Methoden Revue passieren zu lassen: Paul Merker unterschied in seinen Ausführungen zu den Neuen Aufgaben der deutschen Literaturgeschichte (1921) die »philologische Methode« neben der »historischen«, der »ethnologischen«, der »psychologischen«, der »ästhetischen«, der »sozialliterarischen« und der »philosophischen« als einen spezifischen Zugang unter anderen. Zugleich entstand der Prototyp jener Sammelwerke, die – wie ebenfalls bis heute beliebt – unterschiedliche Methoden und Theorien an einem Gegenstand exemplifizierten: Auch hier avancierte Paul Merker mit seinen Ausführungen über Höltys Elegie auf ein Landmädchen zum Pionier, als er an diesem Beispiel »die vier Wege des Literaturhistorikers« veranschaulichte.Footnote 4

Theoriebedarf wurde allerdings schon zuvor reklamiert, und zwar genau von jenem Philologen, der als Haupt der ›Scherer-Schule‹Footnote 5 keinen guten geistesgeschichtlichen Leumund besaß: Als der sogenannte »Nibelungen-Streit«Footnote 6 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer argumentativ schismatischen Situation unter deutschen Philologen führte, forderte Wilhelm Scherer eine grundsätzliche Neubesinnung angesichts eines Konflikts, der sich auf gewohnten Wegen nicht entscheiden ließ: Weil es um »Streitfragen […] ganz allgemeiner Natur« gehe, so meinte er, möge man sich über »die sogenannte exakte Feststellung einzelner Tatsachen […] erheben […]«.Footnote 7 Auch die »Geisteswissenschaften« sollten sich »über die Berechtigung der Methoden theoretisch im Klaren« werdenFootnote 8 und »das weiße Blatt endlich […] füllen, welches die Logik und Wissenschaftslehre für uns offen hält«.Footnote 9

Scherer schlug mithin vor, die Rede über ›Methoden und Theorien‹ als integralen Bestandteil der philologischen Praxis aufzufassen bzw. Praktiken des Methodologisierens und Theoretisierens als essentiellen Teil geisteswissenschaftlicher Forschung zu akzeptieren. Er deutete jedoch auch an, dass abstraktere und grundsätzlichere Bezugnahmen auf epistemische Dinge und das eigene wissenschaftliche VorgehenFootnote 10 nicht nur in expliziter Form vorgenommen werden. ›Methoden und Theorien‹ sollten nicht nur an dieser oder jener Stelle des wissenschaftlichen Alltags zur Geltung kommen, sondern in die »Berufsmoral des Gelehrten« eingehen.Footnote 11 Man möge, so Scherers Empfehlung, von nun an »etwas mehr philosophische Neigungen mit[]bringen, als unter den Philologen jetzt üblich ist«.Footnote 12

Im Folgenden gehe ich von diesem Befund aus und frage danach, inwiefern die ursprünglich von einem Literaturwissenschaftler in Zusammenarbeit mit einem Philosophen herausgegebene Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte diesen Ratschlag beherzigte und »philosophische Neigungen« (Scherer) von ihren Beiträgerinnen und Beiträgern forderte. Die »Berufsmoral« der ›Geistesgeschichte‹ lag demnach zwar auch darin, dass sie etwa Literatur‑, Kunst- oder Philosophiegeschichte als Einheit begreifen wollte. Vor allem aber jedoch reagierte sie auf die inter- und intradisziplinäre Ausdifferenzierung der Wissenschaften und bewahrte selbst in ihren Einheitsbemühungen ein Know How im Umgang mit Komplexität, das sich lediglich unter anderem in methodologischen und theoretischen Äußerungen artikulierte. Signale für das Bewusstsein, dass das eigene Vorgehen und die eigenen Vorlieben kontingent sind und dass daher eine gewisse Pflicht zur Verhältnisbestimmung im Blick auf Alternativen besteht, werden auf vielfältigere Weise ausgesandt. Genau in diesen Bezugnahmen und im Umgang mit entsprechender Perspektivität liegt die Einheit geisteswissenschaftlicher Aktivitäten. Dieser Hypothese will ich im Folgenden aus zwei entgegengesetzten Perspektiven nachgehen, die mich in den letzten Jahren beschäftigt haben: zum einen Studien zu einer »Praxeologie der Geisteswissenschaften«,Footnote 13 zum anderen quantitative Untersuchungen zur Fachgeschichte mit Verfahren der Digital Humanities – es handelt sich dabei natürlich um kontingente Zugänge.

I.

mikro- und mesoperspektiven – beobachtungen zur zeitschriftenpraxis der dvjs

Im Nachlass Paul KluckhohnsFootnote 14 finden sich diverse Varianten des kurzen Editorials, mit dem die DVjs programmatisch beginnt.Footnote 15 Eine dieser Fassungen erweitert einen bereits im Druckbild der Zeitschrift gesetzten Text handschriftlich zu jener Version, die dann auch tatsächlich publiziert wurde – ich markiere die Zusätze durch Kursivierungen, um die Stand- und Spielbeine der Positionierung zu identifizieren:

»Wenn Verleger und Herausgeber es wagen, bei der jetzigen wirtschaftlichen Lage Deutschlands eine neue wissenschaftliche Zeitschrift ins Leben zu rufen, so sind sie von der Überzeugung erfüllt, daß Vertiefung in die eigene Geistesgeschichte uns heute nötiger ist als je, und von der Hoffnung, daß diese Überzeugung von vielen geteilt wird. Der Geschichte deutschen Geisteslebens will die Deutsche Vierteljahrsschrift dienen, im besonderen der deutschen Literatur. Sind bisher viele und nicht die schlechtesten Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte in allgemein bildenden Zeitschriften oder Organen benachbarter Wissenschaften, auch in solchen des Auslands, erschienen, so soll hier den verschiedenen Richtungen der Literaturgeschichte, deren lebendiges Nebeneinander für die heutige Lage dieser Wissenschaft charakteristisch ist, ein gemeinsamer Wirkungsboden geschaffen werden. Neben der geistesgeschichtlichen Richtung, vornehmlich Diltheyscher Schule, soll besonders die form- und stilanalytische gepflegt werden. Gerade eine Vereinigung dieser beiden Methoden erscheint fruchtversprechend und wegweisend. Auch andere Richtungen, so die literarsoziologische, sollen zu Worte kommen und Untersuchungen zur Poetik und methodologische Erörterungen die Selbstbesinnung der Wissenschaft fördern. Für Arbeiten aller Methoden aber wird philologische Strenge und Gewissenhaftigkeit selbstverständliche Voraussetzung bleiben müssen.Footnote 16

Mit besonderem Nachdruck soll die Literatur des Mittelalters in die geistesgeschichtliche und stilanalytische Literaturbetrachtung einbezogen werden. Und neben der Literaturgeschichte werden die anderen Gebiete der Geistesgeschichte Pflege finden, so die Geschichten der Philosophie, Religion und Ethik, der bildenden Kunst, Musik und Sprache sowie des öffentlichen Lebens. Sie machen erst in ihrer Gesamtheit eine Geschichte deutschen Geistes möglich. Wie aber diese mit der Geistesgeschichte anderer Völker verflochten ist und gerade in enger Wechselwirkung mit ihnen ihre Eigenart entfaltet, so sollen auch Untersuchungen zur Literatur- und Geistesgeschichte der Nachbarvölker aufgenommen werden, die für die deutsche oder für die allgemein europäische Geistesgeschichte von Bedeutung sind oder grundlegende Fragen der literaturwissenschaftlichen Methode behandeln.

Die beiden Herausgeber werden durch Mitherausgeber unterstützt, anerkannte Gelehrte der älteren und jüngeren Generation der Germanisten, Philosophen und Vertreter der Nachbarwissenschaften, deren Namen die Vielseitigkeit des Programms verbürgen.

Arbeiten, die bloß Materialsammlungen sind, rein stoffliche Quellenuntersuchungen, Funde, die nicht von ganz besonderer geistesgeschichtlicher Bedeutung sind, Miszellen u. dergl. sollen aus der Vierteljahrsschrift ausgeschlossen bleiben. Besprechungen sind nicht vorgesehen, aber größere Sammelreferate auf den verschiedenen Gebieten werden vorbereitet, z. T. von den Mitherausgebern selbst. […]«.Footnote 17

Dieser Text verdient eine eingehende Betrachtung.Footnote 18 Ich kann hier nur zwei Aspekte festhalten. Erstens: Hätten die Herausgeber die kürzere Fassung des Editorials veröffentlicht, wäre die DVjs im Wesentlichen als das aufgetreten, was sie auch heute ist, nämlich als eine literaturwissenschaftliche, vor allem germanistische Fachzeitschrift. Sowohl die interdisziplinäre als auch die internationale Ausrichtung des Programms wird erst im längeren Zusatz nachdrücklich formuliert. Sie scheint sich insofern weniger von selbst verstanden zu haben als ein literaturwissenschaftlich-germanistisches Publikationsprojekt, war aber problemlos damit kompatibel. Jedenfalls deutet die erste, kürzere Erweiterung, die die »deutsche[ ] Literatur« ins Zentrum des Interesses rückt, genau in diese fachspezifische Richtung. Tatsächlich finden sich im Archiv Listen von möglichen Zeitschriftentiteln, die eine gewisse Profilunsicherheit dokumentieren (neben dem späteren Titel werden u.a. genannt: »Zs. f. Lit.wiss. u. Geistesgesch.«, »Deutsches Museum für Lit.wiss. / für Lit. und Geistesgesch.«, »Deutsche Blätter«, »Mnemosyne«).Footnote 19

Fest stand hingegen – zweitens –, dass man nicht hinter die Situation des Methodenpluralismus zurückgehen konnte und dass die Vielfalt von Zugängen akzeptiert werden musste. Während beinahe alles andere optional war, lag darin das entscheidende Ausschlusskriterium. Alle Beiträge sollten philologisch solide sein, durften im Übrigen aber geistesgeschichtliche, stilgeschichtliche, formalistische, sozialhistorische oder andere Interessen verfolgen. Nur jene Aufsätze kamen von vornherein nicht für die neue Zeitschrift in Frage, die dieses Reflexionsniveau nicht anzeigten und »bloß[e] Materialsammlungen« oder »rein stoffliche Quellenuntersuchungen« boten. Sogar gegen ›Material‹- und ›Quellen‹-Präsentation war also nichts zu sagen, solange ein Text nicht glaubte, Gegenstände »bloß« und »rein« darstellen zu können.

Eine lediglich kursorische und sehr vorläufige Sichtung der Herausgeber-Korrespondenz der ersten Jahrzehnte der DVjs sowie der Zeit nach 1945 scheint zu bestätigen, dass die in Anschlag gebrachten Auswahlkriterien für die Aufnahme eines Beitrags sich keinen besonderen Methoden oder Theorien (also etwa der ›Geistesgeschichte‹) zuordnen lassen, sondern allgemeiner angelegt waren. Immer wieder wurden eher vage Kriterien wie Innovativität, Relevanz für einen größeren Zusammenhang, grundlegende Durchdringung des Themas oder die dezidierte Adressierung wissenschaftlicher Kommunikation genannt. Beiträge, die dies nicht leisteten, wurden abgelehnt bzw. mit diesen Argumenten für untauglich erklärt. Manche ihrer Kollegen verwiesen die Herausgeber an andere Zeitschriften, etwa an solche, die sich »an ein weiteres Publikum wenden«,Footnote 20 primär »von Schulmännern« gelesen wurdenFootnote 21 oder für »Lehrer und allgemein literarisch Interessierte« gedacht sind.Footnote 22 Es ging also nicht allein um Wahrheitsfragen, denn die Beiträge waren nicht einfach ›falsch‹ und wurden deswegen abgelehnt, sondern sie ließen den angemessenen Gegenstands- und Sozialbezug vermissen. Für die Leser der DVjs, so pointierte Kluckhohn gegenüber einem abgelehnten Beiträger, sei es »wünschenswert […], daß zwischen dem, was man communis opinio nennen darf und dem, worin Sie die Forschung weiterführen, schärfer unterschieden würde«.Footnote 23 Angesichts des vielfältigen Spektrums, das auch aktuell in der DVjs vertreten ist, scheint sich an diesen gleichsam transmethodischen und -theoretischen Auswahlkriterien und der Akzeptanz von Pluralität nichts Wesentliches geändert zu haben.

Zumindest in den ersten Jahrzehnten war es normal, dass Beitragsanwärter mit Veränderungsvorschlägen rechnen mussten. Zwei typische Überarbeitungsvarianten sind besonders aufschlussreich. Sie betreffen zum einen den Umfang der Beiträge, zum anderen den Forschungsbezug. Sehr häufig erfolgt – erstens – die Bitte um teils erhebliche Kürzung, bisweilen schon mit konkreten Vorschlägen dafür, was wegfallen könnte. Dies gilt bereits für Konrad Burdachs Eröffnungsbeitrag der DVjs, dessen Darlegungen zu »Faust und die Sorge« allerdings selbst nach der Bearbeitung noch ausufern.Footnote 24 Auch bei solchen Proporz-Erwägungen stellt sich die Frage, wie sich der wissenschaftliche Leitwert ›Wahrheit‹ zu anderen wissenschaftsrelevanten Normen verhält. Weder also sollten Beiträge in der DVjs zu kurz sein (»Miszellen u. dergl.«), noch zu lang. Diese ästhetische Bestimmung zielte auf ein bestimmtes Problembewusstsein bzw. auf eine Problematisierungsfähigkeit, die sich am Gespür für fachtypische Formate zeigte. Mit Alex Csiszar formuliert: Neben vielem anderen hat die wissenschaftlich angemessene Partizipation an »journal literature« die Funktion, »to identify who counts as a legitimate scientific practitioner […]«.Footnote 25 Könnerschaft beweist sich auch in der Formatierung einer Forschungsaufgabe, sodass das verhandelte Problem auf vorgegebenem Platz plausibel bewältigt werden kann. Zugleich soll das Ganze so breit angelegt sein, dass sich das Publikum auf dieser Strecke nicht langweilt. Die DVjs-Herausgeber trafen mit ihren Passungsforderungen selten auf Widerstände, wie etwa im Fall von Herbert Cysarz, der höchst allergisch auf Kürzungs- und andere Verbesserungsvorschläge reagierte.Footnote 26 Einerseits also mussten die Beiträger erst an gewisse Zeitschriftenstandards gewöhnt werden, sonst wären die Überarbeitungsbitten nicht notwendig gewesen; andererseits erschienen diese ungeschriebenen Publikationskonventionen so plausibel, dass man sich ihnen in der Regel fügte.Footnote 27

Aus der Perspektive der Zeitschrift sieht die Wissenschaft aus wie »a series of discrete discovery events localized in time and connected with an individual author«.Footnote 28 Auf ihre Weise erfüllte die DVjs als Zeitschrift mithin nicht das zentrale Leistungsversprechen der Geistesgeschichte, nämlich die Bewältigung des »problem of synthesizing«,Footnote 29 sondern trug umgekehrt gerade zur Diversität von Wissenschaft bei: Kürzungen dienten schließlich dazu, in einem Zeitschriftenheft möglichst viele unterschiedliche Beiträge zu verschiedenen Themen von unterschiedlichen Autoren unterzubringen und dabei das Risiko methodischer Vielfalt bewusst einzugehen. Oder anders formuliert: Wenn Kürzungen gefordert und akzeptiert wurden, rangierte der Plausibilisierungsaufwand, der einem Verfasser ursprünglich angemessen erschienen war, nach dem Ziel der Zeitschrift, Vielfalt zu präsentieren. Das gilt auch für zeitschrifteninterne Arrangements: So lobte Kluckhohn zwar einen eingesandten Beitrag von Richard Alewyn und hielt ihn von der Sache her offenbar für DVjs-tauglich, lehnte die Publikation aber gleichwohl ab, weil der Aufsatz zu nahe an einem Beitrag von Karl Viëtor im bereits konzipierten kommenden Heft lag.Footnote 30

Hier nun greift der zweite typische Überarbeitungsvorschlag: Häufig wurden Artikel abgelehnt, weil sie den DVjs-Herausgebern nicht ›neu‹ erschienen. Damit deutet sich eine Parallelgeschichte zur Entwicklung und zum Renommee-Gewinn der naturwissenschaftlichen Zeitschrift an, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich zum zentralen Medium wurde, um wissenschaftliche Innovationsansprüche zu erheben und zu dokumentieren.Footnote 31 Bei Beiträgen, die für die Aufnahme in Betracht gezogen wurden, legten die DVjs-Herausgeber nämlich von Anfang an nicht nur großen Wert auf Originalität, sondern auch darauf, dass der Neuigkeitswert explizit kommuniziert und kompetent beansprucht wurde. Immer wieder forderten sie Beiträger dazu auf, die Forschungslage zur Kenntnis zu nehmen und nachzutragen. So bittet Kluckhohn Ernst Barthel, in seinem problemgeschichtlichen Beitrag zu Hölderlin und Nietzsche »die schon vorhandene Literatur« zu konsultieren und sich zu »vergewissern, dass das von Ihnen Gefundene dort noch nicht publiziert ist […]«Footnote 32 – der Beitrag erschien daraufhin nicht in der DVjs, sondern in der Kölner Zeitung.Footnote 33

Häufig wurden konkrete Hinweise gegeben, etwa im Fall von Harry G. Barnes: Auch ihn bat Kluckhohn, zu seinen Ausführungen über Goethes Wahlverwandtschaften »mehr Fachliteratur […] hinzuzuziehen, als Sie es getan haben, wofür ich Sie einfach auf die Bibliographie von Josef Körner (S. 360) verweisen darf«.Footnote 34 Konkret empfahl Kluckhohn Beiträge, die methodisch-theoretisch sehr unterschiedlichen Konzepten verpflichtet waren, etwa den »große[n] Aufsatz von Walter Benjamin« sowie Beiträge von Günter Müller, Wilhelm Emrich oder Benno von Wiese. Ebenso interessant ist, dass Kluckhohn nicht nur die Nutzung von Bibliographien erwartete, sondern sich auch darum bemühte, dass die DVjs-Beiträge ihrerseits bibliographisch gut zu erreichen waren und daher einen prägnanten Titel trugen. Tatsächlich erschien Barnes’ Beitrag 1956 in der DVjs unter der von Kluckhohn vorgeschlagenen neuen Überschrift Bildhafte Darstellung in den Wahlverwandtschaften.

Die Herausgeber bemühten sich also einerseits in der DVjs um Vielfalt. Andererseits sollten die Beiträge sich in einem größeren und diversen Forschungszusammenhang situieren, ihre Bezüge dazu klären und auf diese Weise unbedingt relevante Ansprechpartner für ein fortlaufendes Forschungsgeschehen sein. Dann nämlich stellten sie in der Art und Weise ihrer Formulierungen unter Beweis, dass sie kompetent an jenen »Social Interactions« teilhaben, die das »Academic Writing« eben vor allem implizit prägen: durch epistemische Modalisierung, die argumentative Artikulation von Wissensansprüchen, die damit verbundene Organisation von Dialogizität und Vielstimmigkeit sowie die entsprechende Perspektivierung ›epistemischer Dinge‹.Footnote 35 Mit anderen Worten: Die »philosophische[n] Neigungen«,Footnote 36 die Wilhelm Scherer angesichts irreduzibler wissenschaftlicher Pluralität in Gestalt von Methodenbewusstsein und Theoriekompetenz auch von Philologen mit einer entsprechenden »Berufsmoral« forderte, mussten auch den Beiträgen der DVjs stets implizit sein. Sie sollten das wissenschaftliche Kommunikations- und Erkenntnisethos definieren.

Die DVjs-Herausgeber erwarteten von den Beiträgern nicht, dass sie ›geistesgeschichtlich‹ vorgingen und einer homogenen Erkenntniserwartung etwa dadurch folgten, dass sie die Einheit literarischer und philosophischer Problembezüge auf methodisch verbindlichem Weg erwiesen. Diese Art der Beziehung von Literaturwissenschaft und Philosophie war gewiss erwünscht, es wäre aber wirklichkeitsfremd gewesen, daran die Tauglichkeit eines Aufsatzes für die DVjs zu bemessen. Stattdessen könnte man sagen, dass die pluralistisch angelegte Zeitschrift selbst von einer Syntheseerwartung getragen wurde, wohingegen dies eben nicht für die einzelnen Beiträge galt, die durchaus diversen Methoden und Theorien verpflichtet sein durften. Indem die Kontingenz und Vielseitigkeit der Einreichungen zugelassen wurde, lief die Einheitsunterstellung mit, dass die Elemente des Publikationsprojekts vor und jenseits aller Methoden und Theorien etwas miteinander zu tun haben.

Dieser Effekt ergibt sich freilich nur, solange man den einzelnen Beitrag als Teil eines größeren Zusammenhangs auffasst. Die DVjs hat lange Zeit allein durch ihre Erscheinungsform, durch die Qualität des Druckbilds und des verwandten Papiers sowie durch die Haptik des Umschlags der Hefte gezeigt, dass sie Wert darauf legt, als Zeitschriftenzusammenhang und nicht als Lieferantin von Einzelbeiträgen wahrgenommen zu werden. Mit dem verlegerischen Wechsel von Metzler zu Springer hat sich dies verändert: Der Konzernverlag vernachlässigt die Erscheinungsqualität der Zeitschrift bzw. richtet das Periodikum am digitalen Geschäft der fortlaufenden Lieferung von ›Content‹ aus. Was aber bedeutet dies für die ›geistesgeschichtliche‹ Qualität der DVjs und ihre impliziten »philosophischen Neigungen«, wenn man davon ausgeht, dass Formate und Genres epistemische Konsequenzen haben?Footnote 37

II.

makroperspektiven – quantitative aspekte der zeitschriftenentwicklung

Es fällt aus herkömmlicher literaturwissenschaftlicher Perspektive allein der schieren Menge wegen schwer, profunde Aussagen über die ca. 2500 Beiträge insgesamt zu machen, die bislang in der DVjs erschienen sind. Es liegt daher nahe, das Bild durch quantitative Verfahren zu ergänzen. Für sich genommen sind die sich dabei ergebenden Einzelbefunde wenig aussagekräftig. Zusammen aber stützen auch sie den Eindruck, dass die impliziten »philosophischen Neigungen« für Einheit in der Vielfalt sorgen.

Die Bedeutung, die die Herausgeber schon in den ersten Jahrzehnten des Bestehens der Zeitschrift den bibliographischen Hausarbeiten der Beiträger zumessen und damit der Platzierung der DVjs-Beiträge in einem Forschungszusammenhang, bestätigt bereits die Länge und Zahl der Fußnoten: Der Anmerkungsapparat wurde von den Anfängen bis in die jüngste ZeitFootnote 38 zunehmend umfangreicher, und zwar nicht linear progressiv, sondern in drei Etappen; zugleich werden die Fußnoten länger, dies allerdings nicht mit demselben Entwicklungsmuster.Footnote 39 Entscheidend ist dabei, dass zwar große Spielräume genutzt wurden, dass aber der Umfang des Anmerkungsapparats in jeder Phase um einen Mittelwert pendelte bzw. innerhalb eines bestimmten Spektrums blieb. Dies gilt im Übrigen auch für den Umfang der Beiträge, auf den die Kürzungsvorschläge der Herausgeber zielten: Die Länge der Aufsätze umspielte bei großen Schwankungen ein relativ gleichbleibendes Mittelmaß. In einem Fach wie der literaturwissenschaftlichen Germanistik war mithin stets sehr vieles, aber nicht alles möglich, wenn man dazugehören wollte. Diese normale Varianz bestätigt nicht die krisenhafte Wahrnehmung einer sich katastrophal radikalisierenden Diversität. Zumal die Stabilität der Modernisierungsphase seit den 1960er Jahren scheint darauf hinzudeuten, dass bestimmte Praktiken, Genres und Medien durch institutionelle Veränderungen (Durchsetzung der Massenuniversität, New Governance u.a.) ebenso wenig direkt beeinflusst wurden wie durch explizite Theorieprogramme.

Die Bedeutung einer gewissen inneren Theoretizität der DVjs-Beiträge, die sich aber nur selten auf das festlegen lässt, was Methoden- oder Theorie-Revuen als explizite Programme verhandeln, zeigt sich – erstens – daran, dass zentrale literaturwissenschaftliche Begriffsregister sehr lange verwendet und nicht mit den etablierten fachhistorischen Epochen ausgewechselt werden.Footnote 40 Zweitens intensiviert sich der Gebrauch von Fachterminologie in den 1960er und -70er Jahren insgesamt, sinkt dann wieder ab und bleibt auf diesem im historischen Vergleich relativ hohen Niveau. Drittens werden bestimmte Theorievokabulare intensiver genutzt, die sich etwa dem Strukturalismus, Poststrukturalismus oder auch der Narratologie zuordnen lassen. Dabei liegt allerdings die Vermutung nahe, dass spezifische Theorieorientierungen nur mit Vorsicht attestiert werden können, weil bestimmte Begriffe in den breiten Normalbestand des allgemeinen literaturwissenschaftlichen Vokabulars absinken und eben nicht (mehr) terminologisch gebraucht werden. Das alles sind freilich nur erste Vermutungen. Immerhin aber bestätigen die quantitativen Verhältnisse vorläufig die Hypothesen der qualitativen Untersuchungen.

Bleibt man auf der Ebene von Worten und Wortkonjunkturen, um die Beiträge der DVjs weiter makroskopisch zu charakterisieren, ergeben sich aus einer Untersuchung neugermanistischer Interpretationstexte interessante Hinweise. Dies gilt zunächst für den historischen Befund, dass das Genre ›Interpretation‹ in der DVjs erst in jener Phase einen dominanten Beitragstyp ausmacht, als die Szientifizierungsprogramme der 1960er Jahre, die vor allem mit strukturalistischen und sozialhistorischen Methoden die deutschen Literaturwissenschaft modernisieren wollten, hermeneutische Zugänge in Frage gestellt haben.Footnote 41 An dieser Beliebtheit des Interpretierens ändert sich auch unter der Konjunktur poststrukturalistischer und kulturwissenschaftlicher Ansätze nichts: Seit den 1980er-Jahren bleibt der Anteil an Interpretationen in der DVjs stabil.

Entwicklungen des Genres lassen sich stilometrisch genauer erfassen. Legt man Interpretationstexte aus den 1920er- und 1930er-Jahren neben jüngere Beiträge aus den 2000er Jahren ergibt sich ein eigentümlich geordnetes und zugleich disparates Bild:Footnote 42 Die sprachlichen Unterschiede sind so drastisch, dass »stylo« die beiden Korpora eindeutig voneinander trennt; zugleich wirken die beiden Textgruppen intern eigentümlich zerfasert. Für die Frage nach den »philosophischen Neigungen« der DVjs-Beiträge sind nun die Wörter interessant, die für die Unterscheidung der Korpora maßgeblich sind:Footnote 43 Im Bereich der Interpretationstexte der ersten beiden Zeitschriften-Jahrzehnte ergibt sich hier der Eindruck, dass ein objektbezogenes geistesgeschichtliches Vokabular dominiert. Wörter wie »Dichter«, »Dichtung«, »Seele«, »Leben«, »Schicksal«, »Wesen«, »Geist«, »Gestalt« oder »Erlebnis« stehen demnach hoch im Kurs und verlieren danach ihre Attraktivität. Das für das Korpus der 2000er Jahre besonders charakteristische Vokabular ist sehr viel technischer (»Gliederung«, »Kontext«, »Funktion«, »Literatur«, »Lektüre«, »Autor«, »Text« u.a.). Zugleich fällt die Vielzahl an Wörtern auf, die sich zur Modalisierung der eigenen Position eignen (»allerdings«, »sowie«, »Perspektive«, »zumindest«, »jedoch«, »insbesondere«, »einerseits« u.a.). Wie genrespezifisch sind diese Befunde? In den DVjs -›Interpretationen‹ kamen jedenfalls im Lauf der Zeit jene »philosophischen Neigungen« intensiver zur Geltung, die auf die strukturelle Überforderung durch fachliche Diversität sowie Methoden- und Theoriepluralismus reagierten, sodass epistemische Dinge entsprechend perspektivierend und modalisierend aufgefasst und Plausibilisierungsstrategien sowie Selbstpositionierungen entsprechend eingerichtet wurden.

Auch ein zweiter stilometrischer Versuch führt zu bemerkenswerten Ergebnissen. Dabei wurden Beiträge der DVjs mit Zeitschriftenartikeln aus den Bereichen Naturwissenschaft (Hydrologie), Soziologie und Geschichtswissenschaft (insgesamt mehr als 1100 Aufsätze) aus den Jahren 2000 bis 2020 sowie im Fall der DVjs zusätzlich aus den 1960er Jahren verglichen. Ob man dabei nun die Parameter so einstellt, dass die Fachterminologie eine ausschlaggebende Rolle spielt, oder ob man überwiegend ›bedeutungslose‹ Funktionswörter (›der‹, ›die‹, ›und‹, ›den‹, ›des‹ etc.) fokussiert: Stets werden die Fächer deutlich auseinanderdividiert, und zwar im Fall der Literaturwissenschaft tendenziell mit einer Trennung der ›älteren‹ und der ›jüngeren‹ Beiträge. Dies gilt schließlich auch, wenn man sich allein auf typische Folgen von Wortklassen (Artikel, Adjektiv, Nomen etc.) konzentriert und ›Baupläne‹ für typische Phrasen im linguistischen Sinn (z.B. Nominalphrasen) erfasst.Footnote 44 Versucht man diese eindeutigen Stildifferenzen zwischen den Disziplinen genauer zu charakterisieren, lässt sich im Blick auf sehr einfache Sachverhalte feststellen, dass sich die DVjs-Texte in den untersuchten Zeiträumen im Vergleich zu sozial- und naturwissenschaftlichen Texten durch eine komplexere Syntax mit einer höheren lexikalischen Diversität auszeichnen.Footnote 45 In der Literaturwissenschaft werden längere Sätze gebaut und weniger jener Nominalkonstruktionen verwendet, die für wissenschaftliche Fachsprachen aus linguistischer Perspektive als typisch gelten. Der höheren Komplexität im Satzbau in der einen Gruppe steht die höhere Komplexität der Lexik in der anderen Gruppe gegenüber, wobei letztlich auch die Beiträge der DVjs allgemeineren Trends der Entwicklung von Wissenschaftssprachen folgen.

Eine Erklärung für diese KomplexitätsdifferenzFootnote 46 deutet wieder auf jene »philosophischen Neigungen« hin, die literaturwissenschaftlichen Ausdrucksweisen in der DVjs implizit sein sollen: Verkürzt formuliert setzt der erfolgreiche Gebrauch von Kompaktbegriffen wissenschaftlicher Terminologie eine gewisse Etabliertheit, Selbstverständlichkeit und auch Schematisierung der Wortverwendung voraus. Sollen Aussagen ähnlich komplex ausfallen, aber ohne terminologische Verdichtung auskommen, bedarf es längerer Ausführungen. Der geringer ausgeprägte Nominalstil der DVjs-Beiträge könnte etwas damit zu tun haben, dass ein höherer Bedarf an sprachlicher Entfaltung begrifflicher Beziehungen und Bedeutungen besteht, weil man es mit weniger verallgemeinerungsfähigen Sachverhalten zu tun hat. Diese These eines erhöhten Erläuterungsbedarfs wird auch dadurch bestätigt, dass die DVjs-Beiträge im Vergleich zu den Zeitschriftenartikeln aus den anderen Disziplinen vorsichtiger zu formulieren scheinen, also mehr (und teils andere) Anzeichen dafür bieten, dass sprachlich modalisiert und perspektiviert werden muss – so wie in diesen Formulierungen, die insofern nicht umsonst in der DVjs erscheinen.

Um zu resümieren: Ich habe die Frage nach der aktuellen Relevanz von Geistesgeschichte aus zwei entgegengesetzten Perspektiven verfolgt. Während praxeologische Zugänge ins Detail gehen und Archivquellen bevorzugen, die die Genese von Wissen zu rekonstruieren erlauben, setzen quantitative Zugänge typischerweise auf gedruckte Quellen, deren Besonderheiten im Einzelnen nicht weiter interessieren. Gleichwohl – und dies ist der erste Befund – konvergieren die Ergebnisse beider Zugangsweisen im Blick auf die Signale einer »Berufsmoral«, die sich durch »philosophische Neigungen« bzw. die mindestens implizite Anerkennung von Pluralität auszeichnet und genau in diesen Verfahren und in diesem Habitus im Rahmen einer Zeitschrift ihre Einheit findet. Die überraschende Konvergenz ergibt sich vermutlich deswegen, weil sich beide Forschungsrichtungen weniger für programmatische Aussagen interessieren als für das, was tatsächlich gemacht wurde, und dabei nicht zuletzt scheinbar triviale Sachverhalte für analysebedürftig und epistemisch ergiebig halten.

Der zweite Befund: Die DVjs trägt ›Geistesgeschichte‹ zu Recht im Titel, wenn man dies als Erinnerung an eine Situation auffasst, deren Synthesefantasien auf unhintergehbare Diversität und Pluralität reagieren. Gerade in den »Social Interactions of Academic Writing« (Ken Hyland) zeigen sich dabei disziplinäre und fachspezifische Besonderheiten bei der impliziten Anerkennung anderer Interessen und Zugänge. Anders formuliert: Wer eine oder einer ›von uns‹ ist, zeigt sich nicht nur und vermutlich nicht einmal in erster Linie daran, dass er oder sie in jeder Hinsicht methodisch-theoretisch dasselbe tut, sondern dass man sich fortlaufend und kompetent zu der Tatsache verhält, dass es – in gewissen Spielräumen – auch anders geht und dass man von einer fähigen Person erwartet, genau dies zu erkennen zu geben. »Philosophischen Neigungen« nachzugehen – dies ist der dritte Befund – bedeutet insofern nicht, es anderen Disziplinen (etwa der Philosophie) gleichtun zu wollen, sondern permanent das Problembewusstsein mitlaufen zu lassen, dass beispielsweise so etwas wie ›Philosophieren‹ auch für Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen eine interessante Tätigkeit ist, dass sie in ihrem Fach aber in der Regel besser sein werden als in der Philosophie (und umgekehrt).