Nach hundert Jahren sollte es ein Leichtes sein, Anachronismen in einem Zeitschriftenkonzept von 1923 aufzuspüren, einem Krisenjahr der Weimarer Republik mit einer Inflation der Werte auf den Konten und in den Köpfen nach den prägenden Weltkriegserfahrungen. In Umlauf gerieten Orientierungs- und Therapieangebote, von denen zahlreiche von Anbeginn die Reflexionskultur der jungen Republik zu gefährden drohten. Im Titel »Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte« wird die spannungsvolle Einheit von Methodizität wissenschaftlicher Forschung und einer geistesgeschichtlichen Perspektivität aufgespannt, deren erste Ansätze wesentlich durch Wilhelm Dilthey geprägt wurden. Während Paul Kluckhohn die literaturwissenschaftliche Forschung in diesem Zeitschriftenprojekt vertritt, wird der philosophischen Perspektive eine grundlegende Funktion zugewiesen und von dem Philosophen Erich Rothacker als Herausgeber mit Leben gefüllt. Die Gegenwartsorientierung wird für Kluckhohn und Rothacker nach 1933 zum Problem. »Heitere Erinnerungen« waren im Fall von Rothacker 1963 nur möglich, weil nationalsozialistische Texte des Autors ›vergessen‹ wurden. Die Zeitschrift signalisiert mit der Fortführung der Bandzählung im Jahr 1949 unter gleichem Titel Kontinuität. So sehr diese Perspektiven dargestellt und historisiert werden müssen,Footnote 1 so ist doch die Aufforderung, zum Hundertjährigen anschlussfähige Problembeschreibungen und Diskurse im Zeichen der Gründungsidee zu markieren, eine produktive Herausforderung. Diese sollen in der gebotenen Kürze mit einer subjektiven Auswahl von Hinweisen auf die Präsenz des wühlenden Geistes, eine soziologisch angelegte Problemgeschichte und die Idee einer kulturwissenschaftlichen Forschungs- als problemorientierte Bibliothek skizziert werden.

Der Geist, »er ist ein Wühler«. Das notiert der Basler Historiker Jacob Burckhardt an den Rand seines Manuskripts zur Vorlesung »Über das Studium der Geschichte«, datiert auf den 11. November 1868, und ermöglicht mit der Wahl dieser Metapher eine neue Anschaulichkeit angesichts der Erfahrungen des Revolutionszeitalters, die konkret mit der Erfahrung von Umbrüchen und der Erschütterung von Gewissheiten verbunden waren. Hans Blumenberg merkt hierzu an: »Der Geist, der kein Tröster mehr sein kann, wird zum Wühler«.Footnote 2 Tatsächlich öffnet die Metapher den Blick auf einen »Geist«, der an die moderne Lebenswelt zurückgebunden und neu erfasst werden muss. Die Wissenssoziologie unternimmt diesen Versuch, indem sie den »Geist« an eine historische, gesellschaftliche und transdisziplinäre »Konstellation« bindet: »Wir erfassen den Geist in der Form einer Problemgeschichte« ist der Leitsatz in Karl Mannheims grundlegendem Text von 1925 zum »Problem einer Soziologie des Wissens«.Footnote 3 Der Geist als Wühler und Problem ist die anschlussfähige Perspektive des problemorientierten Konzepts von Philosophie, Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, ohne die Gefahren nationaler und normativer Aufladungen im unscharfen Kollektivsingular zu leugnen, wurde er doch nach 1933 zur Gefahr für eine ausdifferenzierte Wissenschaft und Gesellschaft. Hellsichtig beobachtete Walter Benjamin 1931 in seinem Essay zur zeitgenössischen »Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft«: »Der geile Drang aufs große Ganze ist ihr Unglück«.Footnote 4 Der Geist wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts als Leitbegriff entplausibilisiert und teilte das Schicksal von Begriffen des Idealismus im nachidealistischen Zeitalter – oder in der problembeschreibenden Prägnanz von Odo Marquard: Hegel hat den Geist »von der ›Anschauung‹ zum ›Begriff‹ umerzogen«, »um daraufhin geschichtsphilosophisch und systematisch seinen Mann zu stehen, ehe er von den Junghegelianern aufs Altenteil gesetzt und – als der Geist den Geist aufgab – schließlich auf dem Friedhof der Systeme beigesetzt wurde, unter reger Anteilnahme der Hinterbliebenen: der Geisteswissenschaften«.Footnote 5 Tatsächlich ist die anachronistische Stabilität des Begriffs der Geisteswissenschaften bemerkenswert, der Benennungen und Unterscheidungen des 19. Jahrhunderts fortführt und heute noch Gegenstand wissenschaftspolitischer Empfehlungen und Selbstbeschreibungen von Institutionen ist und damit auch von geisteswissenschaftlichen Forschungsbibliotheken. Eine forschungsbibliothekarische Perspektive gehört ebenfalls zum Potenzial der dargestellten Zeitschriftenidee von 1923.

Diese Idee wird in einem von den Herausgebern und dem Verlag gezeichneten Editorial umrissen.Footnote 6 Erwartbar sind die Rede von einer »Vertiefung in die eigene Geistesgeschichte«, der Dienst an der »Geschichte deutschen Geisteslebens« und der Ausgriff auf die »Gesamtheit« der »Gebiete der Geistesgeschichte« für eine »Geschichte deutschen Geistes«. Janusköpfig markiert dieses Vorwort aber auch neue Perspektiven für das kommende Jahrhundert aus »der geistesgeschichtlichen Richtung, vornehmlich Diltheyscher Schule«. So wird unter Beachtung der Methodizität der Forschung eine Methodenvielfalt, darunter auch die literatursoziologische, bejaht, eine generationsübergreifende Gruppe von Mitherausgebern mit Bezügen zu den Nachbarwissenschaften und ein Blick auf die »europäische Geistesgeschichte« sowie die »Wechselwirkung« mit der »Geistesgeschichte anderer Völker« angekündigt. Materialsammlungen, Quellenfunde und bloße Besprechungen stehen unter Positivismusverdacht, wenn sie nicht mit einer geistesgeschichtlichen Perspektive versehen werden. Dafür setzen die Herausgeber auf »Sammelreferate« aus den »verschiedenen Gebieten«, künftig werden auch eingegangene Bücher systematisch präsentiert, ein Ausblick auf künftige Erwartungen an eine Forschungsbibliothek.

Der folgende Rückblick kreiert gegenwartsorientiert drei mögliche und anschlussfähige Perspektiven auf den »Geist« der Zeitschrift: Der Geist als Wühler, die Geistes- als Problemgeschichte und die Forschungs- als Problembibliothek haben demnach zukunftsweisendes Potenzial.

I.

der geist, ein wühler

Jacob Burckhardt ist seit den Anfangsjahren eine bemerkenswerte Bezugsgröße der Zeitschrift, nicht nur in Abhandlungen zur Kunst- und Kulturgeschichte oder zum epochalen Umbruch der Renaissance, sondern auch als Gegenstand eigenständiger Abhandlungen. Hervorhebenswert sind Karl Löwiths Marburger Antrittsvorlesung über »Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie«, publiziert im 6. Jahrgang 1928, und Alfred Neumeyers Abhandlung über »Jacobs Burckhardts ›Weltgeschichtliche Betrachtungen‹«, die 1929 publiziert wurde und dankbar auf »Anregung und Förderung« durch Aby Warburg verweist. Tatsächlich bleibt der Schweizer Historiker eine Orientierungsgröße in der Zeitschrift, exemplarische Hinweise auf Carl Neumann (1931), Ernst Walter Zeeden (1952), Dieter Jähnig (1979/84), Peter Ganz (1988) und Jürgen Grosse (1998/2000) können das unterstreichen. Jacob Burckhardts anthropologischer Ansatz, seine historische Konstellationsanalyse und seine kunst- und kulturhistorischen Werke sind attraktiv für die Idee der Zeitschrift und sein antipositivistischer Affekt macht Identifizierungsangebote. So beklagt er sich über die »jungen Gelehrten der Monumenta Germaniae […], deren Horizont von Jahr zu Jahr enger werde« oder amüsiert sich über die Akteure einer ausdifferenzierten und spezialisierten Wissenschaft als Forschung: »Der liebe Gott will auch bisweilen einen Jocus haben, und dann macht er Philologen und Geschichtsforscher von einer gewissen Sorte, welche sich über die ganze Welt erhaben dünken, wenn sie wissenschaftlich ermittelt haben, daß Kaiser Conrad II am 7. Mai 1050 zu Goslar auf den Abtritt gegangen ist und dergleichen Weltinteressen mehr«.Footnote 7

Berühmt wurde Burckhardt nicht nur durch seinen Constantin (1853), Cicerone (1855), die Cultur der Renaissance in Italien (1860) und die Geschichte der Renaissance in Italien (1867), sondern auch durch die postum herausgegebenen Werke wie die Griechische Kulturgeschichte (1898-1902) und vor allem seine Weltgeschichtlichen Betrachtungen (1905), aus dem Nachlass von seinem Neffen Jacob Oeri unter diesem Titel herausgegeben und gleich in seiner Bedeutung erkannt. Einen Beleg dafür bietet Friedrich Gundolf mit seiner Abhandlung über »Jacob Burckhardt und seine Weltgeschichtlichen Betrachtungen«, die 1908 in den Preussischen Jahrbüchern erschien. Titel der Vorlesungsfassung von 1868 war Über das Studium der Geschichte, eine anthropologische Sicht der Geschichte, die mit der Vorstellung des untergegangenen Alteuropa zugleich eine Kritik der Moderne und des geschichtsphilosophischen Denkens in der Nachfolge Hegels bietet.

Für seine pathologische Sichtweise ist der Geist in seiner Geschichte vom Neuen Testament bis zum Idealismus präsent, wird aber durch die Wahl einer erläuternden Metapher lebensweltlich geerdet. Die Pointe klärt Hans Blumenberg: »Daß er wühlt, wäre eben eine noch dürftige Anschauung, wäre nicht so lange von ihm gesagt worden, daß er weht oder im (pfingstlichen) Ernstfall braust und stürmt. Als Wehender wie als Wühlender ist er, was nicht zur Ruhe kommen läßt; aber das Wühlen ist die Unruhe ohne Richtung, ohne Orientierung, die blinde Bewegung des Maulwurfs, bei der abgewartet werden muß, wo er sich herauswühlt«.Footnote 8 Diese ateleologische und tellurische Vorstellungswelt bindet Burckhardt an die einleitende Diagnose: »Allein der Geist arbeitet weiter« – und das Medium ist nach Blumenbergs Beobachtung nicht mehr luftig, sondern erdig. Der vermeintlich absichernde Boden wird nunmehr sinn- und ziellos durchwühlt. Das ist eine Erfahrung der Gegenwart und bedeutet zugleich die Erschließung neuer Perspektiven auch auf die historischen Realitäten. »Fast sämmtlichen europaeischen Voelkern ist das, was man historischen Boden nennt, unter den Füßen weggezogen worden, auch den Preußen«Footnote 9 – so seine metapherngestützte und erfahrungsgesättigte Zeitdiagnose. Der »Wühler« steht für das Bild einer unterminierenden Belagerung und als Basler Wort für demokratische und sozialistische Radikale, öffnet aber auch den Blick neu auf historische Phänomene. In seiner Griechischen Kulturgeschichte wird das Leben gefesselter Minensklaven zum Thema und der Höhlenmythos entsprechend befragt: »Beruht nicht die platonische Höhle (Polit. VII) auf Eindrücken aus diesen Minen?«.Footnote 10

Burckhardts Geist produziert Leiden, Kultur und Krisen. Andererseits: »Der Geist muß die Erinnerung an sein Durchleben der verschiedenen Erdenzeiten in seinen Besitz verwandeln. Was Jubel und Jammer war, muß nun Erkenntniß werden, wie eigentlich auch im Leben des Einzelnen«.Footnote 11 Tatsächlich wird diese Erkenntnis nun nach den Revolutionen, Kriegen und dem Zusammenbruch tradierter Wissensordnungen zum Problem. Das wird ebenfalls eindrücklich ins Bild gesetzt und von Hans Blumenberg unter dem Titel »Der Zuschauer verliert seine Position« metaphorologisch interpretiert. In seiner Vorlesung zur »Geschichte des Revolutionszeitalters« (1867) möchte er nach den Erfahrungen der Umbrüche die »Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben«. Doch ein fester Standpunkt für objektive Erkenntnis ist nicht mehr verfügbar, Objektivität wird zum Problem: »Wir sind diese Woge selbst. Die objektive Erkenntnis wird uns nicht leicht gemacht«.Footnote 12 Burckhardt nutzt die Unschärfen des Geistbegriffs, um die Erfahrungen der Gegenwart mit der Verwendung des Begriffs zu reflektieren. Scheinbar orientierende Vorstellungen von Idee, Geist und Kultur werden zum Problem.

II.

geistesgeschichte, eine problemgeschichte

Jacob Burckhardt gehört mit seinem Ausgang vom »duldenden, strebenden und handelnden Menschen«, seiner Analyse von Wechselwirkungen und Konstellationen von Staat, Religion und Kultur, dem Blick für die »Wandelbarkeit des Geistigen wie des Materiellen«Footnote 13 und die vorgelegten Kulturgeschichten in Antike und Renaissance zur Idee der Zeitschrift. Burckhardt verwendet die »Cultur« auch als Reflexionsbegriff. Konsequent ist daher das Interesse des Herausgebers Rothacker für Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Kultursoziologie und damit für eine vielversprechende Konkretisierung der Geistesgeschichte. Er berichtet über Ansätze zur Klärung der »Kulturwirklichkeit« und Versuchen, der »Geistesphilosophie durch eine erdnähere und nicht nur rein spirituelle Lehre vom Menschen eine abermalige Unterbauung zu geben; von Kultur und Geist zurückzufragen in die Wurzeln, Kräfte und Bedingtheiten des konkreten geistigen Lebens in Landschaft, Trieb, Rasse, Gesellschaft, Staat«.Footnote 14 In einem weiten Panorama berichtet er von neu edierten Texten Wilhelm Diltheys zur Weltanschauungslehre ebenso wie von Ernst Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« und das vermittelte »Lebensverständnis«, um nur zwei einschlägige Titel herauszugreifen. Im Jahr 1933 wird das »Sammelreferat« fortgesetzt, jetzt ausdrücklich »über Neuerscheinungen zur Kultursoziologie«, und zwar mit Blick auf Soziologien, die sich auf kultursoziologische Probleme beziehen. Rothacker greift das von Alfred Vierkandt 1931 herausgegebene »Handwörterbuch« auf und hebt Karl Mannheim hervor, »dessen ›Wissenssoziologie‹ wohl der scharfsinnigste Versuch ist, die kultursoziologischen Gedanken dieser beiden Meister [Max Weber und Max Scheler; R.L.] theoretisch zu verarbeiten«. Er habe »dieser Wissenssoziologie die Aufgabe zugewiesen, die ›Seinsverbundenheit‹, ›Standortsgebundenheit‹ und ›Aspektstruktur‹ von Wissens- und Denkformen zu untersuchen; eine Fragestellung, die sich mühelos auf alle übrigen Kulturgebiete übertragen läßt«.Footnote 15 Tatsächlich legt Karl Mannheim mit seinem Artikel in Vierkandts Handwörterbuch den Stand einer wissenssoziologischen Reflexion vor, die aus der Debatte um die Geistesgeschichte hervorgegangen ist. Erich Rothacker ist zuzustimmen: Hier liegt ein »ausgezeichneter Artikel« (Erich Rothacker) vor, der den Stand der Diskussion nach Publikation des wissenssoziologischen Klassikers »Ideologie und Utopie« auf der Höhe der Zeit zusammenfasst und noch heute Anknüpfungspunkte für aktuelle Fragen der Kulturwissenschaften bietet – für die Beschreibung der Perspektivität des Wissens und der empirischen Bedingtheit der Epistemologie der Einzelwissenschaften sowie der Neufassung des Verhältnisses von Natur- und Geisteswissenschaften. Mannheim präsentiert eine »soziologisch orientierte Geistesgeschichte«, die er gegenüber einer »vorangehenden geistesgeschichtlichen Orientierung« abgrenzt, die mit dem »Apriori« arbeite, »daß im Gebiete des Wandels des Geistigen alles vom ›Geiste‹ her zu verstehen sei (›immanente Geistesgeschichte‹)«. Berücksichtigt werden vielmehr Bedingungen für Problemstellungen, Auswahlprozesse und Problemdurchführungen. Zur »Faktizität der Seinsverbundenheit« gehört die prägende Bedeutung eines »kollektiv historischen Erfahrungszusammenhanges, der aber unter keinen Umständen als ›Geist‹ hypostasiert und substantialisiert werden darf«.Footnote 16

Károly (Karl) Mannheim war mit einer ungarischen Variante des Neukantianismus und einer Idee von Geistesgeschichte vertraut, die wie im deutschsprachigen Raum gegen Positivismus, Materialismus und Psychologismus in Stellung gebracht wurde. So wurde die Zeitschrift A Szellem (»Der Geist«) zum Kristallisationsprojekt für einen Kreis von Intellektuellen, die sich in dem berühmten Budapester Sonntagskreis und der ›Freien Schule für Geisteswissenschaften‹ zusammenfanden. Im ersten Heft dieser ungarischsprachigen Zeitschrift übersetzte Mannheim Hegel (»Über das Wesen der philosophischen Kritik« und »Wer denkt abstrakt?«) und hielt Vorträge über »Erkenntnistheoretische und logische Probleme« an der »Freien Schule« sowie über »Grundprobleme der Kulturphilosophie« 1919 an der Budapester Universität.Footnote 17 Die erzwungene Emigration nach dem Untergang der Budapester Räterepublik Ende 1919 sensibilisierte für die Vielfalt von Perspektiven, die Beobachtung des Geisteslebens im Ausland und kultursoziologische Arbeiten. In seinen Heidelberger Briefen, publiziert 1921/22 in der ungarischen Exilzeitschrift Tűz (»Feuer«), interessierte er sich für »das Leben derer«, zu denen er gehöre: »Wir, die über alle Punkte der Welt verstreute Menge, sind der einzige haltlose Kehricht ohne Grund unter den Füßen: die wir Bücher schreiben und lesen und die beim Schreiben und Lesen einseitig nur der Geist interessiert«. Im Zuge dieser Beobachtung des Geisteslebens verlässt der reflektierende Zeitgenosse die ptolemäische Welt: »Es sind nicht seine Fragen, nicht seine Gesichtspunkte, nach denen sich die Entwicklung richtet, und es heißt, die Dinge aus einem bemerkenswert engen Gesichtswinkel zu betrachten, wenn wir die Geschehnisse nur mit den Augen der Gebildeten ansehen«.Footnote 18 Aus dem Interesse am Geist wird die Frage nach der geistigen Einstellung. Sie führt wieder zum Geist als Wühler und zu einem diagnostischen Blick auf die »aufgewühlte Welt« und zu den Problemen der Gegenwart.

Es ist Ernst Troeltsch, der mit seinem Oeuvre, seiner Persönlichkeit und seiner Verarbeitung der Historisierungserfahrung die aufgewühlte Gegenwart diagnostiziert. In Troeltsch sieht Mannheim einen neuen ›Gelehrtentypus‹ verwirklicht, der die »glückliche Insel der Zurückgezogenheit« verlassen habe und nun eine »aufgewühlte Welt« zu erfassen sucht. Die Wahl der Metapher veranschaulicht die Historisierungserfahrung und intellektuelle Strategie der Bearbeitung: Die Gegenwart erlaube nur ein reflektierendes »zu Ende Gehen«. Dadurch wühle man »allmählich unter sich alle Fundamente auf« und es »bleibe nur übrig, das Ewige in den unmittelbarsten Zeitaufgaben zu erfassen«.Footnote 19 Begrifflich bedeutet das, jedes Problem »historisch und systematisch« zu behandeln, und zwar unter gleichzeitiger Berücksichtigung der historischen und systematischen ›Voraussetzungen‹ der eigenen Perspektive. Dabei geht es darum, eine reproblematisierende Fragerichtung für eine Reflexionskultur zu etablieren, scheinbare Selbstverständlichkeiten wieder in Probleme zu überführen und damit Orientierungswissen zu verflüssigen. Mit dem Historismus als umfassender Historisierungserfahrung gilt: »was bisher als aproblematisch hingenommen wurde, wird dadurch von Neuem zum Problem«.Footnote 20 Das ist Mannheims reproblematisierende Historisierung. Sie wird in Auseinandersetzung mit Max Scheler zu einer wissenssoziologischen Historisierung und zu einer Wissenssoziologie, die »den Geist in der Form einer Problemgeschichte«, und zwar in Form einer Konstellationsanalyse erfasst.Footnote 21 Mannheim wird mit diesem Problembewusstsein das Wissen der Gesellschaft zum Thema machen, Studien zu ›Konservatismus‹ und ›Ideologie und Utopie‹ vorlegen und Phänomene der modernen Gesellschaft wie ›Generation‹, ›Konkurrenz‹ und ›Bildung‹ untersuchen. Die historische und soziale Rekonstruktion ist immer auch mit epistemologischen Reflexionen verbunden.

Karl Löwith wird später einen historischen Weg zu Wilhelm Dilthey beschreiben, von »Hegels Metaphysik der Geschichte des Geistes zu einer ›Geistesgeschichte‹ ohne Metaphysik«.Footnote 22 Karl Mannheim wird seine Fassung einer soziologisch informierten Geistesgeschichte vor allem in Debatten und Abgrenzungen erläutern, so in einer Diskussion auf dem 6. Deutschen Soziologentag in Zürich 1928, wo er nach einem methodologischen Vortrag von Werner Sombart über »Das Verstehen« darlegt, »wie einerseits der ›Geist des Kapitalismus‹ etwa in den subjektiven Vollzügen wird, wie er sich von den konkreten Individuen her umgestaltet, zugleich aber als objektiviertes Gefüge stets mehr ist, als die Summe der Vollzüge«.Footnote 23 Nach Zusendung von Eduard Sprangers Akademierede über den »Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften« (1929) klärt er seine Vorbehalte gegenüber einer Geistesgeschichte, die »zur Weltlosigkeit« führe und »zur Blindheit der Relevanz sozialen Geschehens gegenüber«. Gegenüber dem Berliner Gelehrten hält er fest: »Die gesellschaftlichen Kräfte sind nämlich nicht sinnfremde Kräfte, sondern eminent sinnhafte Potenzen, als solche notwendigerweise auch Thema geistesgeschichtlicher Fragestellungen«.Footnote 24 Diese strukturieren auch die Literaturberichte der Deutschen Vierteljahrsschrift, so von Erich Rothacker zur Lehre vom Menschen mit eingesandten Publikationen zu kultursoziologischen Problemen.

III.

forschungsbibliothek, eine problembibliothek

Mit der problembezogenen Ordnung der Literatur gerät auch eine Funktion von Bibliotheken in den Blick. Tatsächlich entstehen virtuelle Bibliotheken in der Zeitschrift, entfaltet durch Sammelreferate von Neuerscheinungen sowie Verzeichnisse eingegangener Bücher, die zunächst systematisch sortiert, später alphabetisch als Bibliographien publiziert wurden. Die Funktion von Büchern und Bibliotheken wird latent vorausgesetzt, aber aus dem Verständnis von Geistesgeschichte als Kultur-und Problemgeschichte wird sie explizit, und zwar durch Darstellung und Ordnung nach problemorientierten Fragestellungen. Hier ›weht‹ kein normierender Geist der Tradition, sondern es werden Herausforderungen der Gegenwart formuliert. Die DVjs ist Ort auch für Abhandlungen, die einen sammlungsbezogenen Begriff der Bibliothek unterstellen, und zwar »als kulturelles Artefakt, in dem sich eine spezifische Gestaltungsabsicht manifestiert. Die Kulturfunktion und die Wissenschaftsfunktion der Bibliothek treten hervor«.Footnote 25

Der über seine Kultursoziologie in der Zeitschrift präsente Karl Mannheim beteiligte sich 1937 wie zahlreiche Intellektuelle an einer internationalen Umfrage der Prager Presse. Gegenstand war »Das Buch und die geistige Krise. Zur Diagnose und Therapie«. Die Umfrage sollte feststellen, »welche Bücher von führenden Persönlichkeiten der Gegenwart für geeignet erachtet werden, in irgendeiner Weise zur Ueberwindung jener Krise beizutragen«. Erbeten wurden Buchtitel, »von denen eine tiefgehende und entscheidende Wirkung auf Anschauungen und Lebensformen des heutigen Menschen erwartet werden könnte«. Die bemerkenswerten Antworten sind vielfältig, es werden eigene Bücher ebenso empfohlen wie eine bunte, aber vergleichbare Mischung – oder eben gar keine. Die Initiatoren fassen zusammen: Am häufigsten wurden »Platon und seine Dialoge genannt«. »Es folgen Tolstoj und seine Schriften, das Alte und das Neue Testament, T. G. Masaryk und Goethe«. Karl Kautsky z.B. findet das Anliegen der Umfrage sympathisch, ist aber »nicht der Ansicht«, »die geistige Krise unserer Zeit sei durch Bücher zu heilen, solange nicht eine grundlegende Aenderung der bestehenden Verhältnisse eingetreten ist«. Hermann Hesse wünscht zahlreichen guten Büchern eine weite Verbreitung. »Aber Bücher, von deren Einfluß eine Besserung der Zustände und eine freundlichere Gestaltung der Zukunft zu erwarten wäre, gibt es nicht«.

Karl Mannheim, der sich aus dem Londoner Exil zu Wort meldet, möchte »darauf verzichten, jene Werke zu nennen, die man als ›Ewigkeitswer[k]e‹ zu bezeichnen pflegt. Ich glaube, ein jedes der wirklichen Ewigkeitswer[k]e war seinerzeit höchst aktuell, wurde berühmt, weil es dem damaligen Menschen in ihrer besonderen Situation etwas zu sagen hatte und wird erst wirklich aufleben, wenn die Menschheit in eine jener verwandten Situationen gerät«. Die Wirkung von Büchern und Werken wird relativiert, ihre orientierende Funktion auf die Gegenwart bezogen, allerdings die Institution einer Bibliothek vorausgesetzt, die Werke für eine künftige Gegenwart und ihre Fragestellungen überliefert. Im Jahr 1937 registrierte Mannheim eine Epochenwende und das Scheitern einer idealistisch geprägten Geistes- und Ideengeschichte: »Unsere idealistische Philosophie hat in der gegenwärtigen Lage versagt. Sie stellt, als sie entstanden war, eine überragende Leistung dar, sie hatte aber zu viel Vertrauen auf die Macht der ›Ideen‹ gesetzt, als ob diese den Menschen und die Gesellschaft von sich aus umzugestalten imstande wären. Es wird heute immer klarer, daß das Denken des Menschen ein Teil seiner Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Situation, daß die Formung des Bewußtseins das Ergebnis seines gesellschaftlichen Lebens ist und mit der veränderten Gesellschaft ein veränderter Mensch entsteht«.Footnote 26

Diese vereinfachende Prägnanz bietet eine Neubeschreibung von Geist und Ideen, zugleich legt Mannheim eine Spur für die Funktion von Buch und Bibliothek. Bereits in seinem Beitrag zum »Problem der Generationen«, der 1928 zugleich die soziale Konstruktion von Zeit und Erinnerung zum Thema macht, findet sich ein Hinweis auf das in Bibliotheken gespeicherte Wissen und die Bindung von dessen »Weiterleben« an Formen der Aktualisierung: »Aktualisiert aber kann es stets in den beiden Weisen da sein, als intellektuell das Handeln regulierendes Vor-Bild, Vor-Wissen, an dem man sich orientiert, oder aber als im Vollzug komprimiert vorhandene Erfahrung«.Footnote 27 Martin Warnke entdeckt in diesen Begriffen von Erinnerung, Orientierung und Handeln eine Verbindung zu dem beispielgebenden Projekt einer Forschungsbibliothek, zu Aufbau und Struktur einer Sammlung: die Kulturwissenschaftliche Bibliothek von Aby Warburg in Hamburg.Footnote 28 Der Kunsthistoriker Fritz Saxl war für diese Bibliothek zuständig, die von Warburg seit 1909 aufgebaut wurde und 1926 ein neues Gebäude neben dem Wohnhaus in der Hamburger Heilwigstraße erhielt. »Die Bibliothek Warburg und ihr Ziel« eröffnete den ersten Band der Vorträge der Bibliothek Warburg (1921/22). In diesem Vortrag klärt Fitz Saxl zum einen das Vorbild Jacob Burckhardts, seiner Weltgeschichtlichen Betrachtungen und dessen umfassender Sicht auf die Renaissance für die Ausrichtung der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. »Das Problem der Bibliothek Warburg« – so Fritz Saxl einleitend – »ist die Frage nach Ausbreitung und Wesen des Einflusses der Antike auf die nachantiken Kulturen«. Kennzeichen dieser »Problembibliothek« ist eine problemorientierte und transdisziplinäre Ordnung der Materialien, realisiert auch im evidenten Aufbau eines Bücherschrankes: »Zwischen Religionsgeschichte und Geschichte der Philosophie ist die Geschichte der Naturwissenschaften aufgestellt«. Nach diesem Modell ist das »Problem nicht in der isolierten Betrachtung eines Geistesgebietes zu lösen«. Für Saxl werden in dieser Ordnung und in den Bezügen »Werkzeuge« zur Bearbeitung eines »Problems« geboten.Footnote 29

Für die historische Rekonstruktion der »Befreiung des Individuums aus den Ketten des Kosmos« verweist Saxl auf die Arbeiten des Literaturwissenschaftlers Konrad Burdach zu Reformation, Renaissance, Humanismus (1918), ein Autor, der 1923 auch im ersten Heft der DVjs mit einer umfangreichen Studie über »Faust und die Sorge« präsent ist. Die Idee der Bibliothek wird Ernst Cassirer in seinem Hamburger Vortrag zum »Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« aufgreifen und im Rahmen seiner »Philosophie der symbolischen Formen« erläutern. Für ihn handelt es sich »nicht um eine bloße Sammlung von Büchern, sondern um eine Sammlung von Problemen«. »Nicht das Stoffgebiet der Bibliothek war es, das diesen Eindruck in mir erweckte; sondern stärker als der bloße Stoff wirkte das Prinzip des Aufbaus«. Im »geistesgeschichtlichen Problem« ist Cassirers systematische Erweiterung einer »Philosophie des Geistes« um die Perspektivität und Medialität der Welterschließung angelegt. Entscheidend ist, »daß die Einheit eines geistigen Gebietes niemals vom Gegenstand her, sondern nur von der Funktion her, die ihm zugrunde liegt, zu bestimmen und sichern ist«.Footnote 30 Hans Blumenberg sieht in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923-29) eine Theorie der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg.Footnote 31

Was ist mit dem wühlenden Geist, der kulturwissenschaftlich reformulierten Geistesgeschichte und einer Forschungs- als Problembibliothek gewonnen? Der Geist wird als Wühler relativiert und lebensweltlich historisiert, Geistes- als Problemgeschichte ermöglicht eine kultur- und wissenssoziologische Perspektive und die »Problembibliothek« erlöst die Forschungsbibliothek von einer institutionellen Selbstbeschreibung entlang von Kriterien des Umfangs, vermeintlicher Bedeutung, besonderer Nutzungsformen und der Bindung an die Geisteswissenschaften, die bereits begrifflich signalisieren, dass die Semantik des 19. Jahrhunderts eine Hypothek für die angemessene Beschreibung der Forschungsstrukturen der Gegenwart ist. Forschungsbibliothek als Problembibliothek bedeutet, die Bibliothek konsequent über Räume, Bestände und Sammlungen in ihrer institutionellen Verfasstheit zu beschreiben. Ihre Identität ist nicht ablesbar an Sachzusammenhängen, sondern Ergebnis von Problembeschreibungen: Bestände bilden das materielle Substrat, das in Räumen und durch die Erschließung von Sammlungszusammenhängen kontextualisiert wird. Eine Archiv- und Forschungsbibliothek ist über ihre Funktion beschreibbar, Bestände und Räume zu erhalten und mit der Sammlungserschließung fortschreitend Wissens- und Denkräume zu eröffnen – für die Herstellung von Konstellationen, die mit den Räumen und Sammlungen verbunden sind. Mit der digitalen und analogen Öffnung werden neue Erfahrungen, Netzwerke, Erzählungen und Forschungen ermöglicht, die nicht Interessen der Gegenwart legitimieren, sondern Kontexte und Horizonte öffnen, Welten übersetzen.

Die Problembibliothek ist gesellschaftlicher Akteur und nicht an die Geisteswissenschaften gebunden, hat doch bereits Reinhart Koselleck 1991 in der Denkschrift »Geisteswissenschaften heute« festgestellt: »Die empirisch-naturwissenschaftlich fundierte Restauration der Sixtinischen Kapelle beeinflußt selbst wieder die ikonographische Deutung der Fresken des Michelangelos«.Footnote 32 In Weimar sind es die schwer brandgeschädigten »Aschebücher« von 2004, die nach der Papierrestaurierung neu kontextualisiert werden müssen. Diese Vermittlung ist eine der neuen Aufgaben von »Forschungsbibliotheken im Kontext«Footnote 33, ohne Geist und Geistesgeschichte vor hundert Jahren, aber mit Nutzung der hier angelegten transdisziplinären Perspektiven und der Offenheit für Neubeschreibungen, für problemorientierte Cultural Turns.Footnote 34