I. Meliorationen: Bessere Welten?

Als Eduard, der nach Südafrika ausgewanderte Verfasser der Aufzeichnungen aus Raabes Roman Stopfkuchen (1891), zu Gast in seiner Heimatstadt seinem alten Freund Heinrich Schaumann einen Besuch abstatten möchte, muss er einen weiten Weg durch das umliegende Land zurücklegen. Auf dem morgendlichen Spaziergang, der von einer namenlosen, nach dem Vorbild Wolfenbüttel gezeichneten Kleinstadt zu jenem Bauernhof auf der Roten Schanze führt, in den Schaumann, seit Kindheitstagen Stopfkuchen genannt, eingeheiratet hat, macht sich Eduard der Wandel der Zeit als Wandel der Landschaft bemerkbar:

Da war zum Beispiel bei näherer Betrachtung früher […] ein ungefähr vier bis fünf Ar großer Teich oder eigentlich Sumpf; – der war nicht mehr da.

Früher aller geheimnisvoll wimmelnden Wunder voll, hatte man ihn jetzt zu einem Stück mehr oder weniger fruchtbaren Kartoffellandes gemacht, und so nützlich das auch sein mochte, schöner war’s doch früher gewesen und »erziehlicher« auch.Footnote 1

Diese kurze und beiläufig erzählte Szene, die den Auftakt zu Eduards Zusammentreffen mit seinem Schulfreund bildet, ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich. Sie zeugt auf der einen Seite von dem historischen Wandel der deutschen Agrarkultur im Zeitalter ihrer technisch-wissenschaftlichen Optimierung. Hinter dem im Roman aufgerufenen Stichwort der »Melioration, der Feldverbesserung« (34), verbergen sich verschiedene Maßnahmen zur Umgestaltung der Natur, die auf eine maximale Nutzbarmachung des Bodens und auf die Kapitalisierung der Landwirtschaft zielen: »Die Landwirtschaft ist ein Gewerbe, welches zum Zweck hat, […] Gewinn zu erzeugen oder Geld zu erwerben«,Footnote 2 definierte der Begründer der deutschen Agrarwissenschaft, Albrecht Daniel Thaer, in seinem mehrbändigen Hauptwerk Grundsätze der rationellen Landwirthschaft. Er formulierte damit bereits 1809 eine Maxime der Rationalisierung der Agrarkultur, die nicht nur die landwirtschaftliche Arbeit, sondern auch das äußere Erscheinungsbild der deutschen Agrarlandschaft maßgeblich veränderte,Footnote 3 und die im Roman exemplarisch im Bauer und Agrarunternehmer Stopfkuchen ihren Apologeten findet. Die Maßnahmen der Melioration stehen auf der anderen Seite in einem zeitlichen und systematischen Zusammenhang mit den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts. Diese führten über die sogenannte ›Bauerbefreiung‹ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus zu einer Umverteilung des Landes und damit auch einer Neuordnung sozialer Strukturen, die die Lebenswege und Handlungsspielräume der Romanfiguren prägen. Die Um- und Neuverteilung des Bodens, die auch die Aufteilung früheren Gemeinschaftslandes (Allmende) umschloss, war oftmals insbesondere für die ärmliche, besitzlose Bevölkerung mit Nachteilen verbunden und von Konflikten begleitet und so hat auch die Umgestaltung des Lurkenteichs, wie Eduard weiß, »das irdische Behagen von drei oder vier städtischen Gemüsegärtnerfamilien gekostet« (33). Auffällig ist, dass die sozialen und rechtlichen Verwerfungen, die mit den staatlichen Landverbesserungsmaßnahmen einhergingen, von Eduard implizit in einen Zusammenhang mit dem alten Kriminalfall um den ermordeten Viehhändler Kienbaum gesetzt werden. Agrarreform und Kriminalfall, um dessen Auflösung der Roman kreist, werden so metonymisch miteinander verbunden.

In dem von Eduard beobachteten Umbau des Lurkenteichs zum privaten Kartoffelland ist ein für das 19. Jahrhundert hochaktuelles Diskurs- und Konfliktfeld verborgen, das Raabes Roman und seinen Hauptfiguren eingeschrieben ist. Denn sowohl Stopfkuchen als auch Eduard haben sich – was von der Forschung bislang kaum beachtet wurde – einer agrarischen Existenzform verpflichtet. In Opposition zu ihrer soziokulturellen Herkunft, Ausbildung und ihren erlernten Berufen vollziehen Eduard und Stopfkuchen eine umgekehrte Bildungslaufbahn, indem sie, die ehemaligen Lateinschüler und Studenten, von der Bürger- in die Bauernexistenz überwechseln: Eduard wird Viehzüchter bei den Buren in Südafrika, Stopfkuchen übernimmt den Hof des verleumdeten Bauern Andreas Quakatz auf der Roten Schanze nahe der Heimatstadt.

Doch was für eine Motivation könnten gebildete, (klein-)bürgerliche Städter im 19. Jahrhundert haben, Bauer zu werden? Welche Aufstiegsmöglichkeiten und globale Ambitionen sind an die agrarische Existenz geknüpft und welche Kenntnisse und Fähigkeiten setzen sie voraus? Und welche Rolle spielen die (geo-)politischen Konfliktlinien, die sich einerseits zwischen dem Kolonisten Eduard und dem zu Hause gebliebenen Stopfkuchen, andererseits zwischen den beiden Bauern und den Einheimischen bzw. Dorfbewohnern aufspannen, für den Kriminalfall um den ermordeten Viehhändler Kienbaum, dessen Verhandlung und Auflösung der Roman betreibt?

Nach einer kurzen historischen Kontextualisierung der (literarischen) Faszination für das Bäuerliche in der Moderne sollen in einem ersten Schritt die agrarischen Biographien der Protagonisten Eduard und Stopfkuchen und deren wirtschaftliche und politische Möglichkeitsbedingungen in einem globalen Kontext in den Blick genommen werden. Die Inbesitznahme von Land und Hof im dörflichen Niedersachsen und die koloniale Aneignung und agrarische Nutzung fremden Landes in Südafrika lassen sich dabei als zwei Seiten eines agrar-ökonomischen Transformationsprozesses im 19. Jahrhundert darstellen, der durch die Kapitalisierung, Industrialisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft sowie die Ausbeutung natürlicher Ressourcen geprägt ist. In einem zweiten Schritt sollen ausgehend von den jeweiligen Spezifika des Erdbezugs, den Eduard und Stopfkuchen in ihrer landwirtschaftlichen Bodennutzung und ihren Geo-Interessen pflegen, die sozialen und rechtlichen Konfliktlinien des Romans herausgearbeitet werden. Stopfkuchens agrarische Lebensform, so wird gezeigt, geht mit einem spezifischen Materialismus einher, der ihn nicht nur zum erfolgreichen Agrarunternehmer, sondern auch zum Detektiv und Aufklärer des Kriminalfalls um den ermordeten Viehhändler Kienbaum prädestiniert, und die eine alte Figur eines erdgebundenen Rechts beerbt.

II. Rurale Träume der Moderne

Stopfkuchens und Eduards Entscheidung, Bauern zu werden, entspricht einer Phantasie, die seit dem 18. Jahrhundert Bürgerliche und Adlige gleichermaßen umtrieben hat. Spätestens seit Rousseau hatte sich das Bild des Bauern als burlesker Tölpel abgenutzt, wurde die agrarische Existenz zum Sinnbild einer ländlich-arbeitsamen, autarken und genügsamen Existenz jenseits der vermeintlichen Zumutungen des höfischen bzw. städtischen Lebens. Der positiven Umcodierung der bäuerlichen Arbeit zum Vorbild bürgerlicher Tugenden entsprach eine neue theoretische Wertschätzung für die Landwirtschaft, deren volkswirtschaftlicher Nutzen in Zeiten des rasanten Bevölkerungswachstums von Vertretern physiokratischer Theorien entdeckt und propagiert wurde.Footnote 4 Aufklärer appellierten an den ›denkenden Bauern‹ und setzten die Landbevölkerung ins Zentrum ihrer Volksbildungsmaßnahmen, die den Landmann nicht nur schreiben und lesen, sondern auch das Wirtschaften, die neuesten agrarischen Techniken und fundiertes Ackerbauwissen lehren sollten.Footnote 5 Die »Agromanie« des 18. Jahrhunderts, von der sich zumindest zeitweilig Autoren wie Heinrich v. Kleist, Jakob Michael Reinhold Lenz, Johann Wolfgang v. Goethe und Christoph Martin Wieland anstecken ließen,Footnote 6 fand unter neuen Vorzeichen im 19. Jahrhundert eine Fortsetzung, als unter dem Eindruck der Industrialisierung das – nunmehr nostalgisch imaginierte – Dorf- und Landleben zur attraktiven Rückzugs- und Sehnsuchtsphantasie einer urbanisierten Moderne aufgewertetFootnote 7 und zum Gegenstand eines eigenen literarischen Genres erkoren wurde.Footnote 8

Dass auch Raabe selbst den Wunsch, Bauer zu werden, geteilt haben mag, lässt zumindest seine Mitgliedschaft in dem Club »Die Bauernschaft von Krähenfelde« vermuten, in den er ca. 1880 eingeführt worden war.Footnote 9 Als Nachbarschaftsverein in einem Vorort von Wolfenbüttel angelegt, versammelten sich hier ursprünglich Bauern, Handwerker und Gärtner, bevor der Club durch den sozialen Strukturwandel zum Versammlungsort der bürgerlichen Zugezogenen wurde. Kennzeichnend für den Männerverein, dessen von Raabe gezeichnetes Wappen zwei nackte Hinterteile zeigte, war das Reden in Mundart, Braunschweiger Platt. Das Sprechen des Niederdeutschen gehörte zu einer programmatischen Identifikation mit dem Bäurischen, die sich auch in den Vereinsnamen der bürgerlichen Mitglieder für die Stunden der Vereinssitzungen widerspiegelte: Robert Otto, Professor für Pharmazie und allgemeine Chemie an der Technischen Hochschule, hieß hier schlicht »Schwefelbuer«, Archivdirektor Dr. Ludwig Hänsemann »Bäukerbuer« und Raabe selbst »Sparlingsbuer« etc.Footnote 10

Anders als es das rousseauistische Ideal des rustikalen Lebens vorgesehen hat, anders aber auch als es Raabes eigene nostalgisch-sentimentale Kostümierung auf Zeit nahelegte, wird mit der Hinwendung zum Bäurischen in Raabes Roman nur vordergründig eine eskapistische Phantasie ländlicher Idylle bedient. Zwar kokettiert Stopfkuchen immer wieder damit, sich als Bauer von der Roten Schanze wie ein »Eremit[…]«Footnote 11 quasi völlig vom Außenleben zurückzuziehen; zwar ist auch Eduards ›exotisches‹ Fernweh und seine Emigration nach Südafrika als Ausdruck einer zeittypischen Zivilisations- und Europamüdigkeit lesbar; dennoch verhilft die Bauernexistenz sowohl Eduard als auch Stopfkuchen zu einem gesellschaftlichen wie ökonomischen Aufstieg, der ganz auf das Hier und Jetzt angewiesen ist und von diesem profitiert: Als moderne Großbauern und wirtschaftliche global player erlangen beide Wohlstand und soziale Anerkennung. Ihre Bauernexistenz steht damit für eine neue, hybride Form des ländlichen Lebens, das sich zwar noch vordergründig auf die traditionellen Semantiken des ›einfachen‹ Lebens berufen kann, zugleich jedoch, eingebunden in die Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts, die zunehmenden Verflechtungen der Agrarkultur mit kolonialistischen Aneignungsphantasien und einem globalisierten Kapitalismus vorführt, der auf einer neuen Ausbeutung von Land, Boden und Menschen basiert.

III. Eduard bei den Buren. Geo- und Kolonialpolitik im Zeichen der Agrarkultur

Eduard und Schaumann teilen eine kleinstädtische Herkunft und einen durch ihren sozialen Stand vorgezeichneten Karriereweg, der vom Lateingymnasium über das Studium zu der Ergreifung eines bürgerlichen Berufs führt: Während Stopfkuchen sein Theologie-Studium jedoch gegen den Willen seiner Eltern abbricht, schließt Eduard, Sohn eines Postmeisters und Verwaltungsbeamten, das Studium der Medizin erfolgreich ab, heuert als Schiffsarzt auf der Linie Hamburg – New York an, um sich dann einen seit der Kindheit gehegten Traum zu erfüllen: Inspiriert von den Reiseberichten des französischen Geographen Le Vaillant aus dem 18. Jahrhundert und dessen dörflichem Apologeten, dem Postboten Störzer, wandert er nach Südafrika aus, wo er »Gatte, Vater, Grundbesitzer und großer Schafzüchter am Oranjefluss« (25) wird.

Wenngleich in Raabes Roman, wie häufig bemerkt wurde, Eduards koloniales Leben weitestgehend ein blinder Fleck bleibt, werden in den wenigen Andeutungen nicht nur die diskursiven und politischen Möglichkeitsbedingungen neuer globaler und kolonialer Biographien,Footnote 12 sondern auch die Konturen geopolitischer Entwicklungen sichtbar, wie sie typisch für die Verstrickungen einer zunehmend global agierenden Ökonomie, kolonialistischer Bestrebungen und einer expansiven Agrarpolitik des Deutschen Reichs im 19. Jahrhundert waren.

Schon zu Beginn des Romans berichtet der Junge Eduard von dem Verwandten eines ansässigen Kaufmanns, der nach Südamerika ausgewandert und dort zum Millionär geworden ist. Er verweist damit auf die zahlreichen Auswanderungswellen, die insbesondere die ländlichen Gebiete des Deutschen Reichs, darunter auch das Braunschweiger Land, zu dieser Zeit erfasst hatten.Footnote 13 Angesichts der wiederkehrenden Agrar- und Wirtschaftskrisen hatten sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts insbesondere Kleinbauern und unterbäuerische Schichten, aber auch bürgerliche ›Abenteurer‹ zur Auswanderung in die ›neuen‹ Kontinente entschlossen, die von den kommerziellen Auswanderungsagenturen und deutschen Kolonialvereinen mit dem Phantasma grenzenlosen Raums und natürlicher Ressourcen beworben wurden. Neben den USA und Südamerika wurde auch Südafrika, die neue Heimat Eduards, zum beliebten Zielort der Emigration.Footnote 14 Die Reisebeschreibungen Le Vaillants, die in Stopfkuchen als Chiffre und Initialzündung des ›Afrika-Fiebers‹ fungieren,Footnote 15 bildeten Ende des 18. Jahrhunderts den Vorläufer eines breiten literarischen Diskurses der kolonialen Mobilmachung, der insbesondere nach der Gründung des Deutschen Reiches in populären geographischen und Familienzeitschriften, kolonialistischen Werbeprospekten und der neuen Gattung des Kolonialromans bestritten wurde.Footnote 16

Zu einem der bekanntesten Afrika-Reisenden des 19. Jahrhunderts gehörte fraglos Ernst von Weber, dessen Reportagen über die »Die Niederdeutschen Bauern (Boers) von Südafrika« und »Die Zulus und die Racenkriege in Südafrika«Footnote 17 1880 in eben jener Familienzeitschrift Die Gartenlaube erschienen, zu deren Autoren und Lesern auch Wilhelm Raabe gehörte.Footnote 18 Zwei Jahre zuvor hatte Weber seinen zweibändigen Reisebericht Vier Jahre in Afrika veröffentlicht, in dem er die bis dato überwiegend sozial und ökonomisch motivierten Auswanderungsbewegungen mit politischen Ambitionen für ein zukünftiges deutsches Kolonialreich in Afrika verband und populär machte.Footnote 19 Liest man Webers Buch nicht nur als Dokument einer Faszinationsgeschichte für das zu jenem Zeitpunkt gar nicht mehr so unbekannte Afrika, sondern auch als Handreichung zur Formung neuer kolonialer Biographien, zeichnet es exakt den Weg vor, den Eduard in Afrika einschlägt. Wenn sich der erste Band von Webers Buch dem aufregenden »Diggersleben[]« und »Diggersglück« widmet,Footnote 20 wird zunächst die legendäre Goldgräberstimmung aufgerufen, welche die geopolitischen Konflikte um die bodenschatzreichen Kolonien Südafrikas forciert hat und in Raabes Roman offensichtlich auch den abenteuerlustigen Eduard ergriff. Denn seine ersten Jahre in Südafrika verbringt er auf den »Goldfeldern von Kaffraria« (63) – vermutlich ein Hinweis auf die Kolonie Britisch-Kaffraria, in der sich Angehörige der Deutschen Legion aufhielten –, bevor er in einer jenen burischen Kolonien sesshaft wird, die im Zentrum des zweiten Bandes von Webers Reiseerinnerungen stehen. Eduard lässt sich nach eigenen Aussagen in der Nähe des Oranjeflusses in der Kolonie Transvaal bei Pretoria nieder,Footnote 21 wo er eine Burin heiratet, eine erfolgreiche Viehzucht beginnt und eine Familie gründet.

Eduards Heirat steht sinnbildlich für die angetragene Allianz des Deutschen Reichs mit den Buren, deren öffentliche Unterstützung während der beiden Burenkriege gegen die Engländer (1880–1881 und 1899–1902) ungeahnte Ausmaße annahm. Nicht zufällig brüstet sich Raabe 10 Jahre nach Veröffentlichung seines Romans, zur Zeit des 2. Burenkrieges, gegenüber seinem Freund Paul Gerber in einem Brief damit, »die Transvaal-Buren, den Oom Krüger, und seine Stadt Prätoria zuerst in die deutsche Literatur eingeführt zu haben«.Footnote 22 Die deutsche Buren-Bewegung, der sich auch Wilhelm Raabe zeitweilig anschloss,Footnote 23 verdankte sich einer nationalen Identifikation mit einem vermeintlichen Volk der Bauern (Bure, nl. Boer = Bauer), das nicht nur aufgrund seiner deutsch-niederländischen Vorfahren die deutsche Sympathie genoss, sondern dessen bäuerliche Existenzform zugleich mit einer tiefen Verwurzelung in den ›Volksboden‹ und den Familienverbund sowie mit Tugenden des »Fleiß[es], d[er] Ausdauer und d[er] Thatkraft«Footnote 24 assoziiert wurde. Die Buren schienen damit einen »germanische[n] Kern«Footnote 25 aufzuweisen, welcher der ›kalten‹ Explorationsgier, der »gewissenslosen Speculantenlogik« und »Annexionslust« der »verhassten«Footnote 26 Engländer geradewegs gegenüberstand.Footnote 27

Webers geographische, politische und ethnographische Studien über die Buren und deren Kolonien Natal und Transvaal dienten der Einstimmung auf einen Schulterschluss mit den Buren, der auch die deutsche Einflusssphäre in Südafrika vergrößern sollte.Footnote 28 Erklärtes Ziel war die Gründung einer deutschen Ackerbaukolonie, die gleich mehrere ökonomische und soziale Herausforderungen der Zeit zu bewältigen versprach: Mit einer organisierten Auswanderung würde man, so Weber, nicht nur jenes Problem der Überbevölkerung und Armut im Deutschen Reich lösen, das den Keim möglicher Revolutionen in sich trage, auch ließe sich die ökonomische Versorgungskrise in Deutschland überwinden. Angesichts der »herrschaftlichsten Naturschätze«Footnote 29 und »fruchtbaren Aecker«Footnote 30 bedürfe es laut Weber nur einer »hinreichende[n] ackerbauende[n] Bevölkerung im Lande«, damit »die Transvaal-Republik schon in ihrer jetzigen Ausdehnung allein ganz Südafrika mit Getreide versorgen, und noch einen guten Theil ihrer Vorräte nach Europa exportiren«Footnote 31 könnte. Dank der geringen Bodenpreise in Afrika hätten insbesondere die deutschen »Ackerbauer[n]« die Chance, durch Auswanderung und den Erwerb von Land ihr »kleine[s] Kapital […] äußerst fruchtbringend an[zu]legen.«Footnote 32 Die geplante Agrarisierung Afrikas diente zugleich als Legitimationsfigur der kolonialen Besetzung. Im vermeintlichen Stufengang der Zivilisation – der nach Adam Smith von der Jagd über die Weidenviehhaltung und den Ackerbau bis zum Handel und zur Manufaktur führteFootnote 33 – waren die in Südafrika lebenden Völker nämlich laut Einschätzung der europäischen Beobachter auf der Stufe der Weidenviehhaltung verblieben. Schon Le Vaillant berichtete abschätzig über die sog. ›Hottentotten‹:

Der Hottentotte weiß nicht das Mindeste von dem Ackerbaue: er säet nicht, er pflanzt nicht, er erndtet nicht. […] Fänden sie [die Hottentotten, M.S.] Geschmack am Feldbaue, so würden sie gewiß zuerst auf das Pflanzen des Tabaks und auf den Weinbau legen; denn Rauchen und Trinken sind ihr höchstes Vergnügen [...].Footnote 34

Die Beackerung des südafrikanischen Bodens konnte so von Weber zu einer kolonialen Kultur-Leistung erklärt werden, zu der die Deutschen aufgrund ihrer bäuerlichen Identität und Expertise besonders geeignet seien. Geo- und Agrarpolitik wurden folgenreich kurzgeschlossen, denn, so fragte Weber: »Welches Volk versteht das Colonisiren durch Ackerbau besser als das deutsche?«Footnote 35

Eduard erweist sich mit seiner Auswanderung und seiner neuen Existenz als Landwirt und Viehzüchter als Vorläufer der agrarischen Siedlungspläne Webers, die auf eine weitgehende Globalisierung von landwirtschaftlicher Produktion und Handel zielten.Footnote 36 Er wird durch die Heirat Eigentümer eines jener »übermäßig großen Farmpl[ä]tze«, die bei der von Weber angestrebten Parzellierung »[h]underttausende[n] fleißige[n] deutsche[n] Landleute[n] Gelegenheit geben [würden], sich eine freie und unabhängige Existenz zu gründen«.Footnote 37

Da es ohne »hinreichende Arbeitskräfte« – auch Eduard lässt sich diffamierend über die »nichtsnutzige[n] Nigger« (97) aus – jedoch unmöglich ist, »Weizen«, »Kaffee, Thee, Baumwolle und Taback«, »Zuckerrohr und Reis[…]« anzupflanzen,Footnote 38 wie es Weber vorschwebte, hat dieser sich auf ein einkömmlicheres Gewerbe spezialisiert. Mit der Schafzucht wird Eduard nicht nur zum Vertreter eines modernen, exportorientierten Agrarkapitalismus, sondern er schließt sich auch einem der wichtigsten landwirtschaftlichen Produktionszweige Südafrikas an: Südafrika wurde insbesondere im 19. Jahrhundert zum Zuchtzentrum von Merinoschafen. Die Ausfuhr von Fellen und Wolle von Merinoschafen nahm bis Anfang des 20. Jahrhunderts fast 50 % des landwirtschaftlichen Exports ein.Footnote 39

Nach Jahren der nomadischen Umtriebigkeit, die durch transatlantische Seefahrten und Diamantenjagd mit einem spezifisch anglo-englischen Imperialismus assoziiert war, impliziert Eduards Sesshaftwerdung bei den Buren die Wiedereinfügung in eine dezidiert konservative Ordnung. Dies betrifft nicht nur die Etablierung eines der kulturellen und biologischen Reproduktion verpflichteten Familienmodells,Footnote 40 sondern auch die sozial-ökonomische Formierung seines Grundbesitzes. So heißt es in einem Beitrag aus der Gartenlaube aus dem Jahr 1855, also ca. zum Zeitpunkt von Eduards Auswanderung:

Bis jetzt ist freilich die Transvaal-Republik noch ein ziemlich beschränkter, unentwickelter Embryo, eine zerstreute Masse von etwa 150 Farms oder Ackerwirthschaften, die allerdings meist sehr groß und umfangreich sein sollen, und künftig vielleicht die große, grundbesitzende Aristokratie, in der sich leicht ein König entwickelt, bilden mögen. Jedes »Gut« umfaßt mehrere Gebäude mit 30 bis 50 und sogar bis 200 Personen Gesinde und Tausenden von Schafen, Rindvieh und Pferden. Das Gesinde besteht größtentheils aus geflüchteten Kaffern und Hottentotten, die zum theil selbst Grundbesitz und ganz hübsche Häuser und Wirthschaften haben, so daß auch in dieser Beziehung sich Anknüpfungspunkte an unsere alte politische und sociale Entwickelung finden: Große Grundbesitzer als Herren, Arbeitgeber, Beschützer in Rechtsstreitigkeiten u. s. w., dafür eine Art Steuer, feudalistischer Besitzverhältnisse, Vasallen-Treue, Lehnspflicht, Schutzrecht u. s. w.Footnote 41

In dem Verhältnis der kolonialen Landbesitzer zu ihrem Land und zu ihren Arbeitern wird also ein altes Feudalsystem wieder installiert, das auch in Raabes Roman anklingt, wenn Eduard wiederholt von seinem »afrikanische[n] Rittergut« (208) spricht. In der Überblendung der Beziehung von aristokratischem Gutsherrn und Gesinde auf der einen, Kolonialherrn und Einheimischen auf der anderen Seite werden kolonialistische Ausbeutungsverhältnisse zu einer rückwärtsgewandten Utopie ständisch-feudaler Beziehungen umgedeutet – zu einer Zeit, in der in Deutschland das Feudalsystem gerade mühevoll abgeschafft worden war. Der kleine Ackerbauer, der in seiner deutschen Heimat seine Unabhängigkeit just erstritten und die Lehnspflicht abgeworfen hatte, darf also in Südafrika selbst noch hoffen, Ritter, Aristokrat und Großgrundbesitzer zu werden.

IV. Der Bauer als Unternehmer. Innere Kolonisierung und Agrarrevolution auf der Roten Schanze

Der alte Andreas Quakatz ist nur so lange »Bauer Quakatz« oder »Bauer von der Roten Schanze«, bis der Schwiegersohn Heinrich Schaumann seinen Hof übernimmt – und damit selbst zum »Bauer auf der roten Schanze« wird. Bauer Quakatz ist fortan nur noch »Vater«, »Papa« oder »Andreas Quakatz«. Anders als der Bürgerliche, dessen soziale und berufliche Identität sich einer komplexen Gemengelage von Geburt, Besitzverhältnissen, Bildung und sozialem Prestige verdankt, bezeichnet der Titel des Bauern damit vor allem ein genealogisch verbürgtes Rechts- und Besitzverhältnis. Wird dieses Rechts- und Besitzverhältnis übertragen – etwa an einen Erben –, hört der Bauer auf, Bauer zu sein. Dass im Gegenzug durch die Übernahme von Land auch der Bürger zum Bauern werden kann, führt Stopfkuchen ebenso wie Eduard vor. Vom Lateinschüler und ›Hausfreund‹ schlägt Stopfkuchen eine veritable Karriere ein, die ihn zum Großknecht und Administrator der Roten Schanze werden lässt, bevor er zum offiziellen Besitzer und Rechtsnachfolger ernannt wird und schließlich als Pachtherr und Großaktionär ein Vermögen anhäuft. Damit zeigt der Roman zugleich eine Flexibilisierung und Entdifferenzierung sozialer Identitäten an: Im Übergang vom (klein-)bürgerlichen zum bäuerlichen Leben, im unternehmerischen Erfolg seiner Landwirtschaft und in seinem wissenschaftlichen Dilettantismus führt Stopfkuchen eine wechselseitige Durchdringung von bäuerlichen und bürgerlichen Existenzformen vor, die in der sozialen und ökonomischen Realität in Deutschland im 19. Jahrhundert ihre Entsprechung fand. Während auf der einen Seite unter dem Stichwort der ›Verbäuerlichung‹ im 19. Jahrhundert eine ›(Re-)Agrisierung‹ der Gesellschaft zu verzeichnen war, die auf die Versorgung einer exponentiell wachsenden Bevölkerung zielte, kam es andererseits zu einer Ausbreitung bürgerlicher Werte, Umgangsformen und Bildung im ländlichen Raum.Footnote 42

Wie jedoch schafft es der notorisch faule, behäbige, ungeschickte und untalentierte Stopfkuchen, als Bauer auf der Roten Schanze zu reüssieren? Welchem Wissen und welchen Umbrüchen in der Agrarkultur des 19. Jahrhunderts verdankt Stopfkuchen seinen außerordentlichen Erfolg?

»Gehe aus dem Kasten« – dieses Wort, das Gott im Alten Testament zu Noah spricht und diesen damit zum Verlassen der Arche auffordert, ist der Wahlspruch Stopfkuchens, der die Wand seines Wohnzimmers ziert (77). Es ist der göttlich legitimierte Auftrag zur Aneignung und Besiedelung der Erde nach der Aufhebung aller Grenzen und Rechtsverhältnisse durch die Sintflut: Die Söhne Noahs sind folglich diejenigen, »von denen […] alles Land besetzt« ist, Noah selbst wird »Ackermann« und baut Wein an.Footnote 43 Es wurde oft darauf hingewiesen, dass Schaumanns Inbesitznahme der Roten Schanze analog zu Eduards kolonialem Projekt der Landnahme in Afrika stattfindet.Footnote 44 In beiden Fällen richtet sich das Streben auf den Besitz fremden Landes mit dem Zweck, eine agrarische Existenz zu gründen – qua Viehzucht bzw. Ackerbau –, in beiden Fällen muss das Land einem ursprünglichen Besitzer entwendet und der rechtmäßige Erbe seiner Ansprüche entledigt werden. Wie bei Eduard setzt auch bei Stopfkuchen die Inbesitznahme des Bauernhofs die Inbesitznahme einer Frau, der kratzbürstigen Bauerntochter Tine Quakatz, voraus, die im Folgenden – wie die »wilden und zahmen Hottentotten« (19) in Afrika – domestiziert, von der »Wildkatze« (111) zu einer »Mieze« (57) bis zum »Mensch[en]« (118) kultiviert wird.Footnote 45 Und wie in den Kolonien Afrikas geht es auch im Falle der Roten Schanze darum, dem Land neue wirtschaftliche Nutzungsmöglichkeiten abzuringen, es durch neues Wissen und neue Techniken zu kultivieren und fruchtbar zu machen. In der Einnahme fremden Landes und der neuen Bewirtschaftung des heimischen Bodens durch Stopfkuchen werden damit die Grundlinien dessen skizziert, was seit Ende des 19. Jahrhunderts als Prozess der »inneren Kolonisation« beschrieben und propagiert wurde: Die Parzellierung, Besiedelung und Agrarisierung von brachem Land insbesondere in Ostpreußen, aber auch in anderen Teilen des Deutschen Reichs, die angesichts des immensen Bevölkerungswachsums zum Zwecke der Produktionssteigerung von staatlichen Instanzen orchestriert wurde.Footnote 46

Dass Stopfkuchen die Landwirtschaft durchaus auf die professionelle Höhe der Zeit zu bringen bestrebt ist, deutet sich bereits in den ersten Wochen nach der Verlobung an, in denen er zur Überraschung seiner selbst und seiner Umwelt die »Befähigung« erkennen lässt, »eine Landwirtschaft zu führen« (146). Sein Erfolg baut auf einer strikten Arbeitsteilung auf: Er entbindet Tinchen von all ihren Tätigkeiten auf dem Hof, die sie ihr Leben lang ausgeführt hat, und schickt sie – unter dem Hinweis auf die weibliche Tugend der Reinlichkeit – in die Küche. Die ›Entautorisierung‹ weiblicher Agrararbeit (die historisch der Vermännlichung der Landwirtschaft und ihrer Innovationen im 18. und 19. Jahrhundert entspricht)Footnote 47 ermöglicht Stopfkuchen, seine eigenen Kompetenzen unter Beweis zu stellen und damit seine Macht auf dem Hof zu sichern: »Der dicke Schaumann ist Großknecht auf der Roten Schanze geworden! Wer will, kann hinausgehen und ihn im Februarschmadder Klüten treten sehen und Quakatzens Hofgesinde zusammenreißen hören!« (148). Bei dem öffentlich inszenierten »Mistauf- und abladen« entwickelt Schaumann, wie er selbst konstatiert, »zum ersten Mal« in seinem Leben »auch Geschick« (148). Auch Tine bestätigt:

Er ist unser erster und unser letzter Knecht gewesen, als ob er’s von Ewigkeit an gewesen wäre, als ob ihn nie mein seliger Vater hingeschickt hätte, um sein lateinisches Wörterbuch zu holen. Es ist ihm von der Hand gegangen, als ob er von Jugend auf dabeigewesen wäre als Ökonom, als Landwirt, als Bauer auf der Roten Schanze. (148)

Während die körperlichen Bewährungsproben noch dem Zweck dienten, dem Schwiegervater die eigenen landwirtschaftlichen Grundfähigkeiten zu beweisen, wird Stopfkuchen schon bald der eigentlichen Herausforderungen gewahr: »Die Rote Schanze zu erobern, war verhältnismäßig recht leicht gegen die Aufgabe, sie zu erhalten« (154). Stopfkuchens Ambitionen, den Bauernhof an die wirtschaftlichen Veränderungen der Zeit anzupassen und für die Zukunft zu rüsten, erfordern daher zunächst einmal Inventur: Wie er tagsüber den Ackerboden bestellte, so »bestellte [er] auch das Vermögen« (154) des alten Quakatz, das weit über das eigentliche Ackerland rund um die Schanze reichte und in Schuldverschreibungen, Aktien, Hypotheken und Pfandleihen vorlag. Konsequent wird dabei agrarische Arbeit und die wirtschaftliche Neuaufstellung des Kapitals parallelisiert: »Kurz und gut, der Fluch Adams, soweit er den Acker, das Graben, Hacken, Pflügen, die Kartoffel‑, Heu- und Getreideernte angeht, war eine Erholung gegen das nächtliche Graben, Pflügen und Roden am Schreibtische« (155).Footnote 48 In einem ersten Schritt löst Stopfkuchen alle unnötigen Versicherungen, Schuldscheine und Hypotheken auf, die die Dorfbewohner beim alten Quakatz aufgenommen haben, um etwa Wiesen zuzukaufen, und erwirbt dabei im Dorf den zweifelhaften Ruf, der »Schlaueste[], aber auch Gewissensloseste[] aus seiner Mitte« (154) zu sein.Footnote 49 In einem zweiten Schritte analysiert er den eigenen Bestand – angebaut wird bisher überwiegend Kartoffel, Rüben und Getreide –, um festzustellen, dass die Bodenbedingungen für die Zuckerrübe am besten sind, ja, dass »die besten Zuckerrüben der ganzen Gegend auf unserm Grund und Boden wuchsen« (177). Als Konsequenz verpachtet Stopfkuchen seine Äcker an die Zuckerfabrik im benachbarten Dorf Maiholzen, die nun auf den Feldern massenweise Runkelrüben anbaut:

Das ländliche Geschäft hob ich uns natürlich bald so viel als möglich vom Nacken. […]. So verpachtete ich den größten Teil der Äcker vortrefflich an die nächste Zuckerfabrik und führte auf dem Reste von Tinchens Erbgute persönlich den Pflug nur so weit zu Felde, als das eben zu dem gewohnten Behagen meines Bauernmädchens gehörte. (177)

Die von Stopfkuchen herbeigeführte agrar-industrielle Wende in der Bewirtschaftung der Roten Schanze macht diesen zum direkten wirtschaftlichen Gegenspieler des Kolonisten Eduard. Denn um den Zucker hatte sich im 19. Jahrhundert eine wirtschaftspolitische Interessenslage globalen Ausmaßes entsponnen: Bis ins 19. Jahrhundert wurde Zucker – hergestellt aus Zuckerrohr etwa aus Südamerika oder Südafrika – von Übersee nach Deutschland importiert: Zucker war damit ein lukratives Luxusgut, das die Abhängigkeit von den europäischen Kolonialmächten und ihren Handelsvertretern – insbesondere englischen und holländischen Kaufleuten – zementierte.Footnote 50 Schon seit dem 18. Jahrhundert, verstärkt aber nach der napoleonischen Kontinentalsperre, war daher insbesondere Preußen bestrebt, sich von den kostspieligen Importen unabhängig zu machen, und unterstützte die Suche nach einheimischen Alternativen: Die Zuckerrübe, die Anfang des 19. Jahrhunderts als Quelle chemisch identischen Zuckers von dem Chemiker Franz Carl Achard entdeckt wurde, setzte sich seit den 1830er Jahren zunehmend durch und ließ den kolonialen Zucker-Handel zum Erliegen bringen: Zucker wurde zu einer Massenware, die die europäischen Essgewohnheiten massiv veränderte und das Gefälle zwischen der kolonialen Globalwirtschaft und der europäischen Agrarkultur nachhaltig verschob: Rübenzucker wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Hauptexportartikel des Deutschen Reiches.

Zuckerfabriken waren die ersten Fabriken im modernen Sinne überhaupt. Sie entstanden, ganz wie im fiktiven Maiholzen, als Pacht- und Aktiengesellschaften, gegründet von Kaufleuten, Staatsbeamten, Landwirten oder Privatiers.Footnote 51 Auch Stopfkuchen hat nicht nur – wie es zunächst den Anschein macht – der nahe liegenden Zuckerrübenfabrik sein Land lediglich verpachtet, er erweist sich darüber hinaus im Laufe der Erzählung als Aktienbesitzer, als ihr Mitbegründer und zuletzt sogar Inhaber. Er ist damit Vertreter einer neuen bürgerlichen Agrarelite, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich zur Industrialisierung und Kapitalisierung der deutschen Landwirtschaft beitrugFootnote 52 und insbesondere Mitteldeutschland als Zentrum der europäischen Rübenzuckerindustrie etablierte.Footnote 53 Der Roman – und Stopfkuchens erfolgreiches Unternehmertum – ist dabei in den äußerst gewinnträchtigen ›Goldenen Jahren‹ der Zuckerrübe zwischen der Agrarkrise in den 1870er Jahren und der globalen Überproduktionskrise ab den 1880er Jahren angesiedelt, in deren Folge zahlreiche Fabriken in Konkurs gingen.Footnote 54 Stopfkuchens blühende Zeiten mögen also bald vorbei sein – noch hat er jedoch allen Grund, selbstzufrieden die Zuckerrüben auf seinen Feldern zu inspizieren und damit den Anstieg seiner Aktienkurse zu befördern. Dass dem Land die neue Mono-Bewirtschaftung durch die Zuckerrüben gut zu tun scheint, die Felder eine Ordnung und Qualität erlangt haben, die ihnen früher abkam, impliziert Stopfkuchen, wenn er abermals das Kolonialisierungs- und Landnahmeprojekt Eduards mit seiner Eroberung der Roten Schanze analog setzt: »Dein afrikanisches Kolonistenauge wird es Dir gezeigt haben, lieber Eduard, dass es heute gar so übel nicht aussieht, sowohl auf der Roten Schanze wie um sie her« (177).

Als Fabrikbesitzer und Agrarunternehmer hat Stopfkuchen damit eine Möglichkeit gefunden, zwei Lebensstile zu vereinigen, die sich vormals zu widersprechen schienen: Die Sesshaftigkeit und Schollenexistenz des Bauern, dessen harte körperliche Arbeit mit Mühe und Entbehrung assoziiert ist, mit einem frei flottierenden Kapital, das sich langfristig ohne eigene Arbeit vervielfacht. Stopfkuchen kann Bauer sein und trotzdem faul und untätig auf seinem Schaukelstuhl sitzen; er kann die Erträge seiner Äcker im Überfluss ernten und in Kapital umwandeln, ohne diese Äcker selbst bestellen zu müssen. Er behält zwar die Felder rund um das Haus, führt aber »auf dem Reste von Tinchens Erbgute persönlich den Pflug nur so weit zu Felde, als das eben zu dem gewohnten Behagen meines Bauernmädchens gehörte« (177). Die Beobachterposition der nunmehr entbäuerlichten Valentine Quakatz ist die einer urbanisierten, bürgerlichen Moderne, in der die bäuerliche Existenz nur noch als Gegenstand einer beschaulichen Idyllik präsent bleibt: Das Landleben wird zum sentimentalen Schauspiel, das dem ästhetischen Vergnügen und der Steigerung der Behaglichkeit der Betrachterin dient.

Ebenso wie die Idee des eigenen Grund und Bodens nur noch als theatrale Inszenierung für Tinchen aufrechterhalten wird, ist auch die mit der bäurischen Existenz verbundene Autarkie, die Schaumann ostentativ in seiner eremitenhaften Lebensform der Weltabgeschiedenheit zur Schau trägt, bloße Illusion. Während es zunächst noch heißt, dass Stopfkuchen seit der Übernahme der Rote Schanze »keine sechs Male den Fuß über unser Besitztum [..] hinausgesetzt« hat (157) und die Stadt nur dann besucht, »wenn ihm eine Behörde dreimal ein Mandat geschickt hat und zuletzt mit Gefängnis droht« (157), scheinen die »doch immer notwendigen Geschäftsgänge[]« (63), die Stopfkuchen selbst veranschlagt, häufiger zu sein. Auch die verpachteten Ländereien unterzieht er regelmäßige Inspektionen, wie er in gewohntem understatement ausführt:

Meine Wege […] führten mich nimmer weit über meinen Grenzwall hinaus, aber doch von Zeit zu Zeit wenigstens ein wenig hinein in die Feldmark. Bist Du Mitbegründer und Aktieninhaber einer Zuckerfabrik, so siehst Du auch in Afrika dann und wann nach deinen und der andern Rüben, so faul Du auch sonst auf Deiner Löwenhaut liegen […] magst. (192)

Die Verbindung mit der Welt, die im konkreten nachbarschaftlichen Verhältnis und der sozialen Nahwelt von Stopfkuchen aufgekündigt wird, erfüllt sich auf potenzierte Weise in der Vernetztheit des globalen Zucker-Handels, in dem Stopfkuchen als erfolgreicher Akteur agiert. Damit spielt Stopfkuchen ein geschicktes Versteckspiel: Während sich die Unbeliebtheit des Schwiegervaters im Kreise des Dorfes auch der Tatsache verdankte, dass der reiche Großbauer zu den Gewinnern der Agrarreformen gehörte und sich das halbe Dorf bei ihm verschuldete, ist Stopfkuchens Reichtum und seine Art der Geldanlage – Aktien in der Fabrik – unsichtbarer und folglich dem Sozialleben zuträglicher: Er kultiviert seinen Ruf als kauziger, aber liebenswerter Sonderling, während er hochangepasst eine neue globale Kapitalistenexistenz führt.Footnote 55

Die Ähnlichkeiten in den hybriden bäuerlichen Biographien und globalen Verstrickungen von Eduard und Stopfkuchen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre agrarischen Existenzen von einer kategorialen Divergenz geprägt sind, die in einem direkten Zusammenhang mit der Art und Weise ihres Erdbezugs und ihrer jeweiligen Nutzung des Bodens steht. Sie verweisen auf jene »›Grundverschiedenheiten‹ des Lebensbodens«,Footnote 56 die nach Blumenberg zugleich mit unterschiedlichen Lebensstilen und Weltansichten einhergehen und die Konfliktlinien zwischen den beiden heimlichen Konkurrenten Eduard und Stopfkuchen konturieren.

Für den weitgereisten Abenteurer und Viehzüchter Eduard tritt die Erde vor allem als Oberfläche und Horizontale in Erscheinung: Es ist die Erdoberfläche, auf der sein Kindheitsfreund, der Postbote Störzer, im Laufe seiner beruflichen Laufbahn eine Strecke gelaufen ist, die sechs Erdumrundungen umfasst. Es ist die Erdoberfläche in ihrer skalierbaren Weite, die Eduard auf seinem Weg nach Afrika selbst erkundet und durchmessen hat. Und es ist die Erdoberfläche als ebener Grund, die er mit seiner Farm in Besitz nimmt, besiedelt und auf der er seine Schafe weiden lässt. Seine Paradedisziplin ist denn auch die Geographie, als »Wissenschaft von der Erdoberfläche und den mit ihr in ursächlichem Zusammenhang stehenden Dingen und Erscheinungen«.Footnote 57 Eduards Erdbezug »will nichts aus der Tiefe und alles gegen die Tiefe.«Footnote 58 Er zielt auf die »Glättung und Festigung, auf Belastbarkeit und Tragkraft der Oberfläche«Footnote 59 und verrät damit das Bedürfnis nach einem soliden Boden, der als Fundament des menschlichen Verkehrs, der Kommunikation und des Handels fungiert. Im Roman wird Eduards Wunsch nach einer »felsennahe[n] Dichte und Unlösbarkeit«Footnote 60 des Grundes jedoch gleich mehrfach zur Disposition gestellt: Durch das fatale Erdbeben von Chile zu Beginn des Romans, durch die Maßnahmen der »Feldverbesserung«, die Eduard bei seinem Spaziergang zu Stopfkuchens Bauernhof kritisch kommentiert,Footnote 61 und nicht zuletzt – in einem existentiell-metaphorischen Sinne – durch den Kriminalfall und seine überraschende Auflösung, die Eduard am Ende des Romans einmal mehr die Frage nach dem »letzten Grund« allen Seins stellen lässt.Footnote 62 Eduards Verhältnis zum Boden erweist sich in diesem Sinne ebenso modern wie krisenhaft: Nicht zuletzt seine ständige Mobilität, die noch den Entstehungsbedingungen seiner Aufzeichnungen eingeschrieben ist – Eduard verfasst den Roman auf (unruhiger) See –, ist symptomatischer Ausdruck der Unmöglichkeit, in ›Grund und Boden‹ sein festes Fundament zu finden.

Der horizontalen Perspektivierung der Erdoberfläche durch Eduard, die mit einem idealistisch-ästhetisierten Blick auf die Landschaft und ihre SilhouetteFootnote 63 sowie den »verzauberten Boden« (58) der Roten Schanze einhergeht, steht Stopfkuchens vertikaler Erdbezug entgegen.Footnote 64 Dessen Zuckerrübengeschäft macht zwangsläufig das Aufbrechen und Umgraben der Erde erforderlich und ist auf die Porosität und Durchlässigkeit der Erde geradezu angewiesen: »Das Wachsenlassen der ›Bodenkultur‹«, so hat es Blumenberg beschrieben, »verlangt nach dem Pflug und der Egge, nach dem Aufschneiden und Umbrechen der heil-sterilen Fläche.«Footnote 65 Stopfkuchens kultivierender, praktischer Umgang mit der Erde ist mit einem stofflich-materialistischen und funktionalen Verständnis von Grund und Boden verbunden, das auf die unsichtbaren Lebens- und Wachstumsprozesse, Verwurzelungen und Formationen unterhalb der Oberfläche zielt. Die Erkenntnis, dass die Erde eben nicht fest, sondern lose, unterbrochen und porös ist – das hierin ihre Gefahr, aber auch ihre Fruchtbarkeit liegt–, durchzieht Stopfkuchens Erfahrungswelt. Bereits als Kind lernt er die Erde aus einem konkreten Nahverhältnis und in ihrer intimen Stofflichkeit kennen. Anders als Eduard, der den stabilen Grund braucht, um auf ihm stehen und gehen zu können, liegt Heinrich, dem Prinzip der Trägheit und Schwerkraft nachgebend, bevorzugt auf dem Boden: Der Lieblingsplatz des jungen Stopfkuchen ist unter der Hecke (er nimmt die »Belagerung« der Roten Schanze damit wörtlich), wo er von seinen Schulkameraden zurückgelassen wird; und diese Liegeposition setzt er später als Erwachsener bei seinem geologischen »Herumkriechen in Steinbrüchen und Kies- und Mergelgruben« (105) fort.Footnote 66 Vom »Erdenstaube« (69), von dem Stopfkuchen sein Butterbrot aufheben muss, bis zum »Erdkloß« (115), den ihm die Nachbarskinder an Tines statt an den Kopf werfen, zeigt sich ihm der Boden als ein loses, unfestes Konglomerat verschiedener Stoffe, Schichten und Materialien. Noch seine erste Tätigkeit als Bauer besteht darin, »Klüten [zu] treten« (148), d.h. Erdklumpen zu heben.

Wenngleich Stopfkuchens Projekt der Sesshaftwerdung auf ›Grund und Boden‹ der Roten Schanze damit ebenso illusorisch erscheint wie Eduards Versuch, seine Existenz in afrikanischem Boden zu fundieren,Footnote 67 weiß er die Instabilität und Flexibilität des Bodens für sich und seine Ambitionen zu nutzen. Für Stopfkuchen gibt es nicht nur einen, sondern verschiedene Böden von unterschiedlicher Qualität, stofflicher Zusammensetzung und Eignung. In deren Analyse, Handhabung und Nutzbarmachung treffen Ackerbauwissen und geologische Wissenschaft, Geschäftssinn und Steckenpferd zusammen. Denn dem vom Mergel »fetten Ackerboden« (51) verdankt Stopfkuchen einerseits seine erfolgreiche Zuckerrübenzucht: Mergel wurde im 18. und 19. Jahrhundert zu einem beliebten Düngemittel, nachdem die entstehende Agrarwissenschaft die Notwendigkeit der Bodendüngung erstmals wissenschaftlich fundierte und insbesondere angesichts der Umstellung auf eine extensive, industrialisierte Agrarkultur propagierte.Footnote 68 Wenngleich der Mergel im Laufe des 19. Jahrhunderts seinen guten Ruf verlor – man stellte fest, dass langfristig eine irreversible Schädigung des Bodens drohteFootnote 69–, wird er in einschlägigen Handbüchern der Landwirtschaft der Jahrhundertmitte noch als Wundermittel für Böden jeder Art gepriesen.Footnote 70 Mergel, laut dem Geologen Lyell »Ton, der vielen Kalk eingemengt enthält«,Footnote 71 ist andererseits aber auch ein Stoff mit versteinernder Wirkung, der folglich häufig Fossilien enthält. In den Kies- und Mergelgruben rund um die Rote Schanze wird Stopfkuchen bei der Ausübung seines Hobbys, den paläontologischen Ausgrabungen, daher besonders fündig. Stopfkuchen selbst scheint sich der stofflichen Doppeleignung des Bodens durchaus bewusst zu sein, wenn er konstatiert, »dass diese Knochensuche sehr genau mit der Zuckerraffinerie und also auch mit dem Steigen und Fallen unserer Fabrikaktien zusammenhäng[t]« (178).

V. Landnahmen: Ceres oder der stoffliche Grund des Rechts

In den diametral unterschiedlichen Bezügen zu Grund und Boden, die sich in der Viehzucht Eduards und dem Ackerbau Stopfkuchens manifestieren, ist auf eine mythische Differenz verwiesen, die schon in dem ältesten und vielleicht bekanntesten Kriminalfall der Menschheit, der Kain- und Abel-Geschichte im Alten Testament, zur Ursache eines gewaltsamen Konflikts wird: Aus Wut und Kränkung über die Bevorzugung Abels, dessen Tieropfer von Gott freundlicher aufgenommen wird als Kains Getreideopfer, ermordet der Ackerbauer Kain seinen Bruder, den Viehhirten Abel, hinterrücks auf dem Feld. In dem Konflikt zwischen den beiden Söhnen von Adam und Eva werden nicht nur die vermeintlich ältesten Berufe der Welt gegeneinander ausgespielt, sondern auch unterschiedliche Lebensstile priorisiert: Während die »Bodenverschonung des nomadischen Lebensstils«, personifiziert in Abel, zwar gottgewollt ist, aber keine Zukunft hat, wird die agrarische »Ausbeutung des verletzten Bodens«,Footnote 72 so Blumenbergs ökologische Pointe, zwar von Gott verachtet, jedoch im Überleben Kains als durchsetzungs- und zukunftsfähiger markiert. Störzer mag demnach recht haben, wenn er den Ackerbauern Quakatz als denjenigen identifiziert, dem der Mord an dem Viehzüchter Kienbaum eigentlich zukäme:Footnote 73 Erscheint doch die durch Neid und Feindschaft geprägte Beziehung zwischen Quakatz und dem mit Reichtum gesegneten Kienbaum als Kontrafaktur der Kain- und Abel-Geschichte, die sich – wenngleich weniger blutig – in der latenten Konkurrenz des Ackerbauern Stopfkuchen und des Viehzüchters Eduard zu wiederholen scheint. Ein »Groschenbild von Kain und Abel« (95) findet sich denn auch im Wohnhaus des alten Quakatz, das Stopfkuchen beerben wird. Mit dem »Zeichen Kains« (184) explizit ausgezeichnet wird jedoch – zumindest in der Perspektive Stopfkuchens – der Postbote Störzer, der den Mord an Kienbaum letztendlich auch gestehen wird. Störzers rastlose Bewegung und exzessive Wanderungen, aber auch seine relative Armut ließen sich in diesem Sinne als Konsequenz aus dem zweiten großen ›Sündenfall‹ des Alten Testaments lesen, in deren Folge Gott die Ackererde verflucht und unfruchtbar macht, Kain seiner Lebensgrundlage und Heimat entzieht und zur ewigen nomadischen Wanderschaft verdammt.Footnote 74

Mit der historischen Durchsetzung des Ackerbaus wird zugleich eine Urszene des Rechts aufgerufen, die sich mit Carl Schmitt als Akt der Landnahme denken lässt. Für Schmitt ist damit auf den materiellen Ursprung des Rechts verwiesen, das eben nicht, wie es die Fehlübersetzung antiker philosophischer Schriften suggeriere, in einem abstrakten, ideellen Begriff des Gesetzes aufgehe, sondern genuin physischer Natur sei. Dass das Recht an die materielle Beschaffenheit der Erde, ihre Aufteilung und Benutzung gebunden ist, zeigt sich für Schmitt schon in der etymologischen Abstammung des Wortes »nomos« vom griechischen »nemein« (Nahme/nehmen), das erstens die Landnahme meint, d.h. die Besetzung von Land, zweitens die Teilung und Verteilung des genommenen Bodens und drittens das Weiden, d.h. die »Nutzung, Bewirtschaftung und Verwertung des bei der Teilung erhaltenen Bodens«, die »Produktion und Konsumption« ihrer Früchte.Footnote 75 Im agrarischen Boden zeigt sich für Schmitt das Recht »an sich, als feste Grenze«. Denn der vom Menschen bearbeitete Boden weist »feste Linien« auf, die »durch die Abgrenzungen der Äcker, Wiesen und Wälder eingefurcht und eingegraben«, durch die »Verschiedenheit der Fluren und Felder, des Fruchtwechsels und der Brachen sogar eingepflanzt und eingesät« wurden. Die Erde ist damit nicht nur als »mütterlicher Grund« dasjenige Element, »das dem Menschen bestimmt ist und das ihn am stärksten bestimmt«,Footnote 76 sondern auch die mythologisch verbürgte »Mutter des Rechts«. »Das Recht«, so Schmitt, »ist erdhaft und auf die Erde bezogen«.Footnote 77

Die Frage, ob es sich bei Raabes Roman um eine Kriminalgeschichte handelt, kann in dieser Hinsicht zurückgestellt werden. Vielmehr scheint es sich um eine Geschichte zu handeln, in der die historische und systematische Grundlegung des Rechts selbst zur Verhandlung steht. Raabes Roman ist durchzogen von Rechtsstreitigkeiten, die von den durchgängig als abwesend markierten Institutionen nur notdürftig in Schach gehalten werden. Immer wieder laufen die sozialen Beziehungen Gefahr, in offene Feindschaft, Gewalt und »Krieg«Footnote 78 umzuschlagen.

Dass es dabei weniger um isolierte Streitfälle oder spezifische Rechtsfragen, sondern vielmehr pars pro toto um das Recht in einem globalen und grundsätzlichen Sinne geht, machen die schon zu Beginn des Romans platzierten Verweise auf das »Weltgericht« (30), »Erdenrecht« (10) und »Menschenrecht« (68, 102) deutlich. Der Ackerbauer Stopfkuchen nimmt in dieser neuen Austarierung des Rechts eine Schlüsselfunktion ein. Auch er selbst scheint der Überzeugung zu sein, dass er mit der Einnahme der Roten Schanze eine konstitutive Figur des Rechts beerbt, wenn er sich als »der schwerwiegendste lateinische Bauer« bezeichnet, den die »Göttin der Geschichte der Landwirtschaft je auf ihre Waagschale gelegt hat« (154). Die Göttin der Landwirtschaft, der sich Schaumann unterstellt, ist jene römische Göttin Ceres, die als Göttin sowohl der ›Ähren‹, d.h. des Ackerbaus, als auch der ›Gesetze‹ gilt und damit den stofflichen Charakter des Rechts verbürgt.Footnote 79 Dass in der Figur der Ceres, der ›Nährenden‹, die schon in den Zwölftafelgesetzen als Gesetzgeberin auftritt,Footnote 80 Ackerbau und Gesetz eng zusammenliegen, wird auch in der Benennung ihrer (Ernte‑)Feste als ›Gesetzgebungen‹ deutlich.Footnote 81 Als »Stifterin aller bürgerlichen Gesellschaft« ging von Ceres »alle Gesittung aus; sie verlieh dem heimatlos umherwandernden Menschen die Liebe zum heimatlichen Herde und damit allmälig höhere Bildung«.Footnote 82 In ihr vereinigen sich bürgerliche Kultur, stoffliche Bodenbindung und rechtliche Ordnung. Stopfkuchen zumindest scheint auf diese Doppelfunktion der Ceres als Schutzgöttin der Landwirtschaft und der Gesetzgebung hinzuweisen, wenn er sie mit der Waagschale ausstattet – die als Symbol des rechten Maßes eben auch das der Justitia ist. Und in der Tat bedingt es gerade seine Übernahme des Bauernhofes und der bäuerlichen Existenz, dass Stopfkuchen – trotz mangelhafter Lateinkenntnisse und fehlender institutioneller Legitimation – zum Rechtsvollstrecker und Richter im Falle Kienbaum wird und damit nicht nur die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Recht neu absteckt, sondern auch dessen irdisches Maß neu bestimmt.

VI. Rechtskonflikte auf dem Lande. Agrarreform und Schuldverhältnisse in Maiholzen

Bevor in Stopfkuchen der die Handlung antreibende Rechtsfall um den Mord an den Viehhändler Kienbaum eingeführt wird, findet ein anderer Rechtsprozess Erwähnung. Denn auch die Trockenlegung und Agrarisierung des Lurkenteichs, deren ästhetische Folgen Eduard auf seinem Spaziergang zur Roten Schanze so bedauert, ging mit einem veränderten Rechts- und Besitzstatus des Landes einher: Was früher Gemeindeland gewesen ist, wurde im Rahmen der »Melioration« neu aufgeteilt. Dieser neue Verteilungsprozess wiederum ging nicht ohne Komplikationen vonstatten, sondern führte zu einem »durch alle Instanzen ausgefochtenen Prozess«, der das »irdische Behagen von drei oder vier städtischen Gemüsegärtnerfamilien« gekostet hat (33). Der erste Rechtsprozess, von dem in dem Roman die Rede ist, wird also durch eine Um-Ordnung von Grund und Boden ausgelöst, die die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Land neu setzt und auch eine soziale Komponente beinhaltet. Schließlich handelt es sich bei den Gemüsegärtnern, die ihre Anrechte auf das Land und seine Bebauung geltend machen, allem Anschein nach um Angehörige einer ärmeren Bevölkerungsschicht, die zu den Verlierern der Agrarreformen gehörten.

Es ist daher bezeichnend, wenn der Prozess um die Landverteilung der Allmende metonymisch mit dem Kriminalfall um den ermordeten Kienbaum verbunden wird. Bei Eduard weckt das Nachdenken über den (Rechts‑)Prozess in Folge der Melioration die Erinnerung an den jahrzehntelang zurückliegenden Mordfall: »Da war ein anderer Prozess, der schon von meinen frühern Jugenderinnerungen her eine ganz andere Bedeutung hatte: der böse Fall Quakatz in Sachen Kienbaum« (33). Eduards Assoziationskette legt nahe, dass auch der sich über Jahrzehnte erstreckende Mordfall um den Viehhändler Kienbaum, der den verdächtigten Bauern Quakatz nicht nur in die soziale Isolation getrieben, sondern in eine unabschließbare Folge von Prozessen, Rechtshändeln und Nachbarschaftskonflikten verwickelt hat, seinen Ursprung in der Aufteilung, Besitznahme und Nutzung von Land hat.

Schon die Topographie von Quakatz’ Bauernhof, der auf einer alten Militäranlage errichtet ist, signalisiert eine absolute und zugleich konfrontative Grenzsetzung zur Umgebung.Footnote 83 Die Rote Schanze ist von einem Graben und einem alten, mit Hecken besäumten Wall begrenzt und nur durch einen Dammweg mit der Außenwelt und dem benachbarten Dorf Maiholzen verbunden.

Auffällig ist gleichwohl die Tatsache, dass trotz der öffentlichen Verfemung und offensichtlichen Vernachlässigung des Hofes Quakatz ein reicher, zumindest wohlhabender Bauer ist, dessen Geschäfte zu florieren scheinen.Footnote 84 Der Dammweg, so erinnert sich Eduard in der Rückschau, zeigte an,

dass der kriegerische Aufwurf im fetten Ackerboden dieser Landschaft zu der Umwallung eines friedlichen Bauernhofes geworden war, dass Mensch und Vieh darüberhin ein und aus gingen, dass Mist- und Erntewagen darüber hinfuhren, dass der Mensch, trotzdem dass Kienbaum von hier aus totgeschlagen worden war, auch hier noch seiner Nahrung und seinem Behagen nachging. (51)

Die landwirtschaftlichen Erfolge der Roten Schanze scheinen sich einerseits einer geschickten Wirtschaftsführung zu verdanken, die sensibel auf die Konjunkturen und Entwicklungen des Agrarmarkts reagiert. Wenn der alte Bauer Quakatz neben Obst – Birne, Apfel,– insbesondere Getreide, nämlich »Roggen und […] Weizen« (20) anbaut, konnte er von der erhöhten Getreide-Nachfrage profitieren, die aufgrund des rapiden Bevölkerungswachstums und der Verstädterung seit den 1820er Jahren bis in die 1870er Jahre den Agrarmarkt belebte.Footnote 85 Der rege Schriftverkehr, den Quakatz zum Leidwesen des Postboten Störzers mit seiner Umgebung führte,Footnote 86 ist zudem ein Hinweis darauf, dass die Feindschaft mit dem Nachbardorf Maiholzen einen Prozess beschleunigt hat, der für die wirtschaftliche Reorganisation des Landlebens im 19. Jahrhundert überhaupt kennzeichnend war: Während sich die Handelsbeziehungen der Bauern bis dahin überwiegend auf die lokale Bevölkerung und die Dorfgemeinschaft konzentriert hatten, erstreckten sie sich nun auf die Versorgung der Stadt, hier Wolfenbüttel und Braunschweig.Footnote 87

»Der Bauer Andreas Quakatz«, so gesteht Stopfkuchen gegenüber seinem Gast Eduard ein, war jedoch »auch abgesehen von seinem Grundbesitz, ein vermöglicher Mann […], […] er [hatte] Geld […], einerlei, woher das stammte, ob von Kienbaums Morde oder nicht« (177). Quakatz kann ein beträchtliches Kapital sein Eigen nennen, das über die geschickte Bewirtschaftung seiner Äcker hinausgeht. Damit gibt er sich als Gewinner einer Liberalisierung des Agrarmarkts zu erkennen, deren sozialrechtliche Voraussetzung jene Agrarreformen darstellten, die unter dem Stichwort der »Bauernbefreiung« bekannt wurden. Im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, in dem fiktionales Geschehen und Personal von Raabes Roman angesiedelt sind, wurde erst in Folge der Revolution von 1830 die »Ablösbarkeit der gutsherrlichen und sonstigen Realrechte [...] gegen eine Entschädigung« (§ 36) und die »Aufhebung der Feudalrechte« (§ 37) in die Landesverfassung von 1832 aufgenommen.Footnote 88 Die zuvor finanziell und sozial von ihren Feudalherren abhängigen Bauern konnten die auf ihren Bauernhöfen ruhenden Steuern und Abgaben fortan mit Geld ablösen. Zeitgleich fanden umfangreiche Flurbereinigungen statt, die eine Neuordnung und -verteilung des Bodens implizierte. Kleine Ackerparzellen wurden zu größeren Grundstücken zusammengefasst (Kopplung) und bislang gemeinschaftlich genutzte Flächen wurden privatisiert – wobei nur Vollbauern Anrecht bei der Aufteilung (Separation) der dörflichen Gemeindegründe hatten.Footnote 89

Die agrarrechtlichen Reformen, die innerhalb der Dorfgemeinschaften zu großen sozialen Gefällen und Konflikten führten, fanden zu jener Zeit statt, als der Mord an Kienbaum passierte – und Quakatz sich unversehens unter Mordanklage sah. Quakatz, so legen Stopfkuchens Ausführungen nahe, ging gestärkt, finanziell selbständig und mit einem großen Grundbesitz aus dem agrarischen Umwandlungsprozess hervor. Als Profiteur der Agrarreformen und GroßbauerFootnote 90 stand er im Gegensatz zu jenen unterbäuerlichen Schichten, die durch den Wegfall der gemeinschaftlich genutzten Allmende um ein zusätzliches Zubrot bzw. die Möglichkeit zur Selbstversorgung gebracht wurden, sowie zu den zahlreichen Kleinbauern, die die Ablösesumme nicht oder nur durch hohe Verschuldung aufbringen konnten.Footnote 91

Dass der Bauer Quakatz als Kreditgeber in der neuen Architektonik dörflicher Agrarverhältnisse eine zentrale Rolle gespielt hat, legen die Berichte von Stopfkuchen nahe:

Ich bestellte auch das Vermögen, welches er in Schuldverschreibungen, also nicht bloß in rund um die Rote Schanze liegenden, nicht nur in paläontologischer Hinsicht fruchtreichen Gründen besaß. (154)

Quakatz, so erfährt man aus Stopfkuchens Berichten, hat Geld gegen Zinsen verliehen, hat »Pfandscheine[], Hypotheken, Bürgschaften, und was sonst im wechselnden Verkehrsleben vorkommt« (155), ausgestellt, und somit den Dorfbewohnern unter Umständen auch ermöglicht, ihre kleinen Betriebe aufrechtzuerhalten und für die Geschäfte notwendiges Land zu erwerben.Footnote 92 Als »fruchtreiche[] Gründe« (154) kann Stopfkuchen das bäuerliche Vermögen vermutlich auch deshalb klassifizieren, weil die Schuldverschreibungen mit hohen Zinsen belegt waren.

In der im Roman entfalteten Feindschaft zwischen Dorf und Hof wird damit auf eine Opposition verwiesen, in welcher sich der privilegierte, freie Bauer und der abhängige, landlose Dorfbewohner, aber auch Modernisierungsgewinner und -verlierer gegenüberstehen. Angesichts der Tatsache, dass das halbe Dorf bei Quakatz hoch verschuldet ist, verwundert es kaum, dass er den Neid und Unmut der Bewohner auf sich zieht – die wiederum ein durchaus nachvollziehbares Interesse haben, ihn als Mörder des Viehhändlers Kienbaum verurteilt zu sehen.Footnote 93 Die öffentliche Ächtung des Bauern sollte damit nach Ansicht Stopfkuchens so lange erfolgen,

[b]is der Bauer Andres Quakatz endlich eingestand, dass er Kienbaum totgeschlagen habe, oder bis der Hof auf der Roten Schanze im Ganzen unter den Hammer gebracht oder noch besser für Maiholzen im Einzelnen ausgeschlachtet worden war. (41)

VII. Exzessive oikonomia: Stopfkuchen und das agrarische (Un‑)Maß des Rechts

»Nehmen–Teilen–Weiden« – die »Grundbegriffe jeder Ordnung«Footnote 94 – bezeichnen den Dreischritt, der die bäuerliche Existenz sowohl Eduards als auch Stopfkuchens begründet. Während Eduard sich im Einklang mit dem imperialen Selbstverständnis seiner Zeit jedoch noch einreden kann, dass es sich bei den afrikanischen Kolonien um freies Land handelt (auch Carl Schmitt wird sich dieser Lesart anschließenFootnote 95), ist die rechtliche Legitimation im Falle Stopfkuchens komplexer. Wenn Stopfkuchen mit der Übernahme der Roten Schanze nach eigener Aussage auch die »Mordgeschichte« in seinen Besitz genommen hat,Footnote 96 verweist dies nicht nur auf den Nexus von Landnahme und Gewalt, sondern auch auf einen komplizierten Rechtsakt: Denn die Übertragung der Roten Schanze erfolgt als Teil einer vertraglichen Abmachung zwischen Quakatz und Stopfkuchen. Dieser Handel wird bereits in Stopfkuchens Kindheit abgeschlossen. Nachdem der Bauer den jungen Lateinschüler Heinrich Schaumann erfolglos verpflichtet hat, ihm das Corpus Juris zu übersetzen, schlägt er ihm ein Tauschgeschäft vor:

Die Alten, unsere Vorfahren, haben es auch so gemacht, dass sie sich an die Dummen und Unmündigen gehalten haben. Junge, Junge, meine Tine sagt, dass du herausgekommen bist, um die Rote Schanze zu verstudieren. Verstudiere sie und kriege es mir heraus, wer recht hat, die Welt oder der Bauer auf der Roten Schanze! […] Kriegst du es mir heraus, wer Kienbaum totgeschlagen hat, so schenkte ich dir […] die Rote Schanze mit allen Historien vom Siebenjährigen und Dreißigjährigen Kriege und ziehe ab von ihr mit meinem Kinde und dem weißen Stabe in der Hand. […] [S]o probiere es, kriege heraus, wer Kienbaum totgeschlagen hat, und ich verschreibe die Rote Schanze dir und allen deinen Rechtsnachfolgern. (96)

Indem die Auflösung des Mordfalls Stopfkuchen zur Bedingung für die Übernahme der Roten Schanze gemacht wird, werden Rechtsvollzug und physischer Landbesitz direkt miteinander verkoppelt.

Doch auch in anderer Hinsicht erscheinen der Kriminalfall um den Mord an Kienbaum, seine Auflösung durch Stopfkuchen und der abschließende Rechtsakt, den dieser mit der Ermittlung und öffentlichen Verurteilung des vermeintlichen Mörders Störzer vollzieht, als ein genuin ›erdgebundener‹. Stopfkuchens intimer Bezug zum Boden, zu seiner Tiefenstruktur, Materialität und Stofflichkeit, aber auch zu seiner symbolischen Codierung lässt ihn nicht nur zum arrivierten Agrarunternehmer und Hobby-Geologen, sondern auch zum erfolgreichen Detektiv werden: Sein kriminalistisches Agieren zeugt von einem Wissen und souveränen Umgang mit dem lockeren Grund, den er eben nicht – wie Eduard es sich wünscht – befriedet und glättet, sondern, ganz Ackerbauer, weiter ›löst‹.

Schon der Mord selbst ist, wie sich herausstellt, der Erfahrung unebener und loser Erde geschuldet. Störzer, der seinen durch den Angriff von Kienbaum auf den Boden gefallenen Wanderstock wieder aufheben will, greift daneben, erhascht aus Versehen einen Stein, der sich auf dem Feldweg befindet, und wirft ihn auf Kienbaum, der tödlich getroffen wird. Steine und Erdklumpen zirkulieren fortan durch die Geschichte: »Steine[] und Erdklöße[]«(58) muss das Bauernmädchen Tinchen als Kind von den Nachbarskindern über sich ergehen lassen; es wird damit zur Zielscheibe derselben Dorfbewohner, die auch dem verleumdeten Vater kontinuierlich »Steine des Ärgernisses in den Weg« (181) werfen.Footnote 97

Die poröse Natur der Erde und ihre rituelle Codierung im Rahmen der »Be-erd-igung« nutzt Stopfkuchen – »[h]alb Pfarrherr, halb Landbebauer« (162) denn auch geschickt aus, um den Mörder Kienbaums zu überführen. Nachdem Stopfkuchen bereits die Totenpredigt des Pastors verfasst und den Dorfbewohnern ob ihrer schändlichen Behandlung des Bauern Quakatz ins Gewissen geredet hat, wird die darauffolgende Choreographie der Bestattung – »drei Spaten voll Mutterboden« (183) sollen die Anwesenden auf den Toten werfen – zu einem schamhaften Schauspiel. Die liturgische Formel (»Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden«) verfehlt ihre Wirkung nicht, wiederholt doch das christliche Ritual des Erdwurfs jene ursprüngliche mörderische Bewegung gegen Kienbaum, für die der alte Quakatz zu Unrecht hat büßen müssen. In diesem Sinne ist der Erdwurf nur scheinbar eine späte Ehrerbietung gegenüber dem Toten, eher jedoch ein öffentliches Reenactment der Mordtat – kein Wunder, dass der wahre Täter Störzer reißaus nimmt, den Erdwurf verweigert und die Schippe auf den Boden fallen lässt.

Und nun weiß ich wirklich nicht, liebster Eduard, wie es kam, dass ich bei dem dritten so für mich hinmurmelte: ›Für Kienbaums Mörder‹. […] Ich reichte den Spaten dem mir jetzt Nächststehenden und sah in ein sehr merkwürdiges Gesicht. Den Spaten hätte ich ebenso gut ins Leere reichen können. Er fiel zu Boden und wurde erst von einem Nachdrängenden, dem Ortsvorsteher, aufgegriffen. Der, dem ich die Höflichkeit hatte erweisen wollen, war unter das Volk, das heißt unter die Weiber und Kinder zurückgewichen […] Es hatte niemand außer mir, auch meine Frau nicht, im Kreise um das Grab des Bauern von der Roten Schanze bemerkt, dass eben etwas Absonderliches geschehen sei, dass einer die drei Schaufeln für den Toten mit dem Zeichen Kains auf der Stirne verweigert habe. (183 f.)

Wenn Stopfkuchen das dem entlarvten Täter Störzer kurz darauf auf einsamer Landstraße abgerungene Bekenntnis einige Jahre später – just nach dem Tod des alten Postbeamten – öffentlichkeitswirksam der Dorfgemeinschaft im Wirtshaus offenbart, kann er nicht nur seinem alten Jugendfreund Eduard einen empfindlichen Schlag versetzen, sondern auch die Einverleibung des Bauernhofs nachträglich legitimieren und auf Dauer stellen.

Anders als Quakatz, der sich zeitlebens verzweifelt nach der Anerkennung der Institutionen sehnte,Footnote 98 bedarf Stopfkuchen dabei keiner formellen Rechtsinstanz, sondern kann sich auf jenes Rechtsprinzip der Ceres berufen, unter deren Schutze die dörfliche Gemeinschaft von jeher steht. Sie impliziert ein stoffliches Maß des Rechts, das seinen Ursprung in einer agrarischen oikonomia hat: Denn die Fruchtbarkeit der Erde, so Schmitt, impliziert ein »inneres Maß« der »Gerechtigkeit«, das jeder Bauer kenne, ja, das die Arbeit des Bauern antreibt und möglich macht: »[D]ie Mühe und Arbeit, Saat und Bestellung, die der Mensch an die fruchtbare Erde verwendet, wird von der Erde durch Wachstum und Ernte gerecht belohnt.«Footnote 99 So »birgt« die Erde das Recht »in sich, als Lohn der Arbeit«,Footnote 100 von dem auch Stopfkuchen noch anfangs zehren darf: »Ich bestellte den Acker, von dem ich aß« (154). Im Ausgleich von Nehmen und Geben als vermeintlichem Grundprinzip des Rechts zeigt sich die Verwandtschaft zur Nemesis, der Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit, die auch etymologisch verbürgt ist durch die gemeinsame Wortwurzel des nemein.

Bezeichnenderweise werden von Stopfkuchen denn auch die Helferinnen der Nemesis, die Erinnyen, angerufen, um Quakatz »sein letztes Recht zuteil werden [zu] lassen« (156):Footnote 101

Eduard wird dabeisein, wie ich das Blut bespreche, Kienbaums Manen Genugtuung verschaffe und auch meinerseits die Erinnyen veranlasse, endlich hübsch die Tür hinter sich zuzumachen und die Rote Schanze in Ruhe zu lassen. (162)

Nicht nur Stopfkuchen, sondern das ganze Dorf scheint sich diesem naturwüchsigen Prinzip des Nomos verbunden zu fühlen, das Gleiches mit Gleichem vergilt und dem als Rechtsform dort unbeschränkte Geltungskraft verliehen wird, wo das institutionelle Recht sich als unzulänglich oder abwesend erweist. Dass die Nemesis gleichwohl nicht immer das intendierte Gleichgewicht erzielt, vielmehr zum Exzess neigt und damit zugleich das reklamierte ›Recht der Erde‹ verletzt, zeigt sich exemplarisch am Fall Kienbaum bzw. Quakatz: Nicht nur die – womöglich berechtigte – Selbstverteidigung Störzers gegen die demütigenden Übergriffe des reichen Viehhändlers Kienbaum gipfelt in einen ungewollten Totschlag, fällt also unter die Kategorie des Notwehrexzesses;Footnote 102 auch die lebenslange Bestrafung von Bauer und Tochter durch die Dorfgemeinde qua Ächtung und Verleumdung übertrifft jedes Maß der Ausgleichs. Dies implizieren zumindest die – freilich von Stopfkuchen kolportierten – letzten Worte des alten Bauern auf dem Totenbett: »Und vergib ihnen in Maiholzen und der Umgegend auch, was sie nach unserer armen Menschenweise an mir zu viel getan haben.« (182, Herv. M.S.)

Es ist jedoch insbesondere Stopfkuchen selbst, der als archaischer Selbsthelfer jenseits der Institutionen eine irdische und göttliche Gerichtsbarkeit zu vollziehen behauptet,Footnote 103 gerade darin aber das durch die Erde vermeintlich vorgegebene ›Maß der Gerechtigkeit‹ auf eklatante Weise verletzt. Darin spiegelt sich sein Verhältnis zum agrarischen Boden wider, das eben in dem Maße als modernes gelten kann, in dem es nicht auf eine ›natürliche‹ Wiederherstellung ausgerichtet ist, sondern auf eine maximale Ausnutzung der Ressourcen und Profit. Das Gleichgewicht des fruchtbaren Ackerbodens, von Säen und Ernten, Arbeit und Lohn, weicht einer exzessiven oikonomia, die zugleich für ein exzessives Recht einsteht. Und so, wie Stopfkuchen die Mistgabel schon kurz nach der Übernahme der Roten Schanze an den Haken hängt und die Ausbeutung und langfristige Ausdörrung seiner Erde durch den monokulturellen Zuckerrübenanbau ungehemmt betreibt, beutet er Störzer und seinen Tod aus: Er bringt ihn durch sein langes Schweigen um ein gerechtes Gerichtsverfahren – und auch einen möglichen Freispruch – und ruiniert das Ansehen und die Existenzgrundlage seiner besitzlosen und notleidenden Erben durch den minimalen Aufwand eines Gasthausplausches. Stopfkuchen nimmt von der Erde, er gibt nicht. Er verhilft sich und den seinen zu seinem Recht, aber er erteilt kein Recht. Stattdessen sät er Rache, die fortan das Leben in Maiholzen und der Stadt so vergiftet wie die Zuckerrüben seinen gedüngten, ausgemergelten Boden.