Großbegriffe, abstrakte In- oder Umbegriffe, die keine Namen sind, aber ein Ganzes erfassen sollen, haben einen schweren Stand. Dies völlig zu Recht: Sie sind schwer zu bestimmen (bzw. nur um den Preis von viel Unterscheidungsarbeit), wirken in der Anwendung überfrachtet, laden sich normativ auf und werden mit der Zeit – gerade wenn sie Erfolg hatten, sich also von präzisionsstiftenden Kontexten lösen – mit tödlicher Sicherheit durch Trivialisierungen unterspült. Kritische Theorie, Poststrukturalismus und Dekonstruktion haben von daher jeweils auf ihre Weise die Metaphysik im Großen durch Wie-Fragen und Mikrologien ersetzt. Semantischer Überschuss mag zwar helfen, ein Begehren einzufangen. Ist die Kehrseite aber Vagheit, gerinnt das Gemeinte zum Stereotyp oder konterkarieren sich schnell gezimmerte Zusatzbedeutungen gegenseitig, nutzen sich Großbegriffe umso schneller ab. »Wahrheit«, »Freiheit«, »Gemeinschaft«, »Nation«, »Leben«: Bleibt dergleichen dennoch in Gebrauch, droht die Angriffsfläche ins Unermessliche zu wachsen. Epistemische umbrella terms, »Plastikwörter« (Uwe Pörksen), gleichen großen Zielscheiben. Normative Untertöne diskreditieren sie, in der Theoriebildung mahnt man sie als »weltanschaulich« ab, und irgendwann ist fachsprachliche Nachschärfung dann vergebens. Letztlich wirken gerade paradigmatische Losungen ganzer Epochen auf diese Weise in besonders penetranter Weise zeitgebunden. Den »Geist« wie auch die »Geistesgeschichte« hat dieses Schicksal ereilt. Ob gleiches auch für die »Geschichte« und die »Geisteswissenschaften« gilt, darüber denke ich im Folgenden nach.

I.

Mit dem Befund, worthistorisch gut belegbar sei »Geschichte« im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als moderner »Kollektivsingular« entstanden, hat Reinhart Koselleck nicht nur eine Beobachtung von hohem Symptomwert in die historiographietheoretisch interessierte Epochendiagnostik eingebracht. Er hat auch – und das ist wichtig für das Nachdenken über Diskurse ganz allgemein – eine gleichsam ernüchterte Fassung dessen geschaffen, was man in der Philosophie traditionell eher Idee, Allgemeinbegriff, Leitbild oder vielleicht sogar Ideal genannt haben würde. Er hat den Zugriff auf metaphysische Größen positiviert.

Kollektivsingular zu sagen, hebt freilich gerade nicht auf einen linguistisch-additiven Sachverhalt – etwa die Schaffung einer Sammelbezeichnung – ab. Gemeint ist vielmehr die Emergenz eines gänzlich (und ganzheitlich) Neuen. »Die Geschicht« oder auch »das Geschicht« nannte man über lange Zeit die Summe von Erzählungen im Plural. Der feminine Singular »die Geschichte« geht als moderne Neuprägung darüber gerade hinaus.Footnote 1 Er fungiert als Inbegriff, der ein existenzielles Kontinuum ahnen lässt und »epische« Erwartungen befriedigt: Koselleck spricht von einer »verschobene[n] Grenzbestimmung zwischen Historik und Poetik«.Footnote 2 Des Weiteren streicht Koselleck bekanntlich die veränderten Zeitstrukturen sowie die handlungslogische Verwesentlichung und einen neuartigen Aufforderungscharakter von gegenwärtig vorgefundener Komplexität heraus, welche das mit »der« Geschichte eingeläutete Verständnis des Geschichtlichen intellektuell erzwingt: »Der in dem ›Modewort‹ angelegte Begriff zielte nun darauf, diese Komplexität als eine genuine Wirklichkeit zu erfassen. Damit wurde eine neue Erfahrungswelt erschlossen, eben die der Geschichte.«Footnote 3

»Die Geschichte« ist nun ein Kontinuum, sowie eine »wirkliche« und, philosophisch wie politisch besonders von Interesse, eine, in der sich etwas oder jemand, ja, die sogar »sich« verwirklicht. »Wirklichkeit« wird so womöglich sogar zu einem Geschichts-Synonym, ähnlich wie »Entwickelung«, »Prozess« oder auch »Macht«. In der Philosophie denkt man hier an Hegel, den Hegelianismus, Marx und die Folgen, aber auch an Spencer, Darwin, Nietzsche und Freud. Dass solche Inbegriffe – Kollektivsingulare – geradezu das Kennzeichen der Moderne sind, haben auch der Wissenschaftshermeneutiker Hans Blumenberg oder der Wissenshistoriker Michel Foucault vermerkt. Foucault zufolge formiert sich vor 1800 ein regelrechtes »Zeitalter der Geschichte«Footnote 4, dessen neue »Mode d’être« [Seinsweise]Footnote 5 nicht zuletzt die Philosophie verändert, eine Diagnose, die derjenigen von Koselleck ähnelt. Foucault unterscheidet eine Geschichte mit kleinem von einer mit großem »H«: »La philosophie au XIXe siècle se logera dans la distance de l’histoire à l’Histoire […] Elle ne sea donc plus Métaphysique que dans la mesure où elle sera Mémoire, et nécessairement elle reconduira la pensée à la question de savoir ce que c’est pour la pensée d’avoir une histoire.« [Die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts wird sich in die Distanz der Geschichte zur Geschichte […] stellen. Sie wird als Metaphysik nur noch insoweit sein, als sie Erinnerung ist, und notwendig wird sie das Denken auf die Frage danach zurückführen, was es für das Denken bedeutet, eine Geschichte zu haben.]Footnote 6 Foucault hat für das 19. Jahrhundert insbesondere das Dreieck der in der Moderne avancierenden Großbegriffe »Arbeit«, »Leben« und »Sprache« studiert. Er deutet auch »den Menschen« der sich herausbildenden Anthropologie als eine Art Kollektivsingular. »Dans la pensée moderne, l’historicisme et l’analytique de la finitude se font face.« [Im modernen Denken stehen sich der Historizismus und die Analyse der Endlichkeit gegenüber]Footnote 7 – in ihren Widersprüchlichkeiten verweisen »Geschichte« und »Mensch« aufeinander, wodurch sich auf der Ebene der Individuen wie auch gesamtgesellschaftlich die Machtverhältnisse auf ungute Weise verschärfen.

Was Koselleck in seinen Implikationen auslotet, wird bei Foucault in modernekritischer Absicht dekonstruiert. Kollektivsingulare zeigen an, was sich als fatale Epochentypik erweist. Mikrophysik statt Makrovokabular, »kleine« Narrative statt »großer« Erzählungen – so lauten in den 1980er und 1990er Jahren die theoriesprachlichen Empfehlungen einer ganzen historiographietheoretischen (und begriffsgeschichtlichen) Generation. Aber auch die sich im 20. Jahrhundert stabilisierenden Unterströmungen einer Naturalisierung des Sozialen klagen anstelle des Großbegriffes des eine »Antreffbarkeit« des Geistes »in anthropologisch allgemein nachweisbaren Erfahrungen«Footnote 8 ein.

II.

Auch Geist ließe sich wohl als Kollektivsingular auffassen. Der Begriff wurde, wo nicht als idealistisch verworfen, als »Gespenst« parodiert oder als undifferenziert verabschiedetFootnote 9, minutiösen inquisitorischen Kritikmanövern unterzogen, etwa wenn Jacques Derrida bei Heidegger »Geist« und »Geistiges« aufdeckt: Obwohl der Seinsdenker vor dem Hegelianismus »Geist« gewarnt hat, spricht er in der Rektoratsrede von »geschichtlich-geistiger Welt des Volkes«, von »geistiger Kraft« und mischt auch in seine späten Ausführungen zum Denken als Dichtung den »Geist« irgendwie doppelgängerhaft oder jedenfalls seltsam wieder hinein.Footnote 10

Für die Philosophie lässt sich in der Tat sagen: Das deutsche »Geist« ist weder als Gegenbegriff zu Materie noch als Vorläufer oder Begleitwort für »Kultur« noch gar als Synonym für Bewusstsein oder Kognition (Philosophy of Mind, Philosophie des Geistes) ein hilfreicher Ausdruck. Selbst wer sich heute noch eng an Hegel hält, meidet den Begriff. »Geist« wird als gescheitertes Namenwort behandelt, welches die luftleere reine Vernunft zwar gleichsam vom Kopf auf die Füße zu stellen gehabt hätte – die Vernunft nämlich hätte binden sollen an die Frage nach Freiheitskämpfen und an die Defizite eines »Sittlichen«, das einer »Geschichte« voller Machtvektoren überlassen ist, in denen aber immerhin irgendetwas auf ein Mehr an Möglichkeiten hinauswill … aber eben all dies gerade nicht (mehr) zu sagen vermag. Das, was für Hegel Geist war, »kann allenfalls noch ein Grenzbegriff sein«Footnote 11, so Niklas Luhmann, den man durchaus als Hegelianer bezeichnen kann. Denn nichts und niemand »kann seine Geschichte am Endpunkt als Geist resümieren und beurteilen, geschweige denn sie und damit sich selber für gut und vernünftig halten« (698). »Die Absolutheit des Geistes ist immanent von Hegel nicht durchzuhalten«, bestätigt auch Adorno, »und wenigstens soweit bezeugt das seine Philosophie selbst, wie sie das Absolute nirgends findet als in der Totalität der Entzweiung […]«Footnote 12 – anders gesagt: Wo der »Geist« sich zum ontologisch Letzten aufwirft, muss einem Denken, das so operiert, »die darin liegende Unwahrheit, die des abstrakten Apriori […] wegzuschaffen«Footnote 13 zu einer schier unlösbaren Aufgabe werden. Es konvertiert sich in eine Frage des Denkstils und vielleicht sogar in eine Frage des schriftstellerischen Begehrens, wie weit man es damit treibt.

III.

Sind Kollektivsingulare vom Typ »Geist« oder eben »Geschichte« also nurmehr Symptom, und muss man sie zurücklassen? Wären sie zu tilgen aus dem Wortschatz der Mikrologien, Mikrophysiken, der kleinen Erzählungen, der antimetaphysischen Prosa als endlich pluraler und dabei genauer Umgangsweise mit Sprache – einer Prosa, die »le peuple des historiettes« [das Volk der Geschichtchen]Footnote 14 wäre, so Jean-François Lyotards schöne Metapher für die von ihm geforderte wissenschaftlich und politisch »honorable«, also »achtenswerte« »postmodernité«?Footnote 15

Sowohl dem positivistischen Pathos poststrukturalistisch inspirierter Arbeitsphilosophien, für deren unterschiedliche Spielarten Foucault, Derrida, Lyotard in bemerkenswerter Verwandtschaft zur deutschsprachigen Begriffsgeschichte eines Koselleck wie auch der Historischen Wörterbücher der Philosophie und der Ästhetik stehen, als auch dem Dezentrierungsfuror, der sich den post-psychoanalytischen und postkolonialen Bewegungen des 21. Jahrhunderts eingeschrieben hat, ist eine Antwort auf die Frage, wie mit entwerteten Großbegriffen künftig umzugehen wäre, nicht ohne Weiteres zu entnehmen. In provokativer Absicht substituieren? Ironisieren? In Anführungszeichen setzen, aber redlich wiederholen und durcharbeiten? Oder doch besser hinter sich lassen, wo der kritische Ballast das Alte im Grunde ja fortschreibt und gerade auch der Form nach Neues, Kleineres zu verdecken droht? Statt »Geistesgeschichte« würde man vielleicht von europäischen Archiven zu sprechen haben, statt »Geschichte« würden Erzählungen zur Genese oder Herkunft gefunden oder auch erarbeitet werden – und was »Geist« angeht, wäre allenfalls zu prüfen, ob man nicht versehentlich »Tendenz« oder »Dynamik« in einer doch irgendwie äquivalenten Weise nutzt. Dem methodologischen Zielbild besser entsprechen würden »Felder«, »Ebenen«, »Positionen«, »Dimensionen«, »Ordnungen« und vielleicht »Räume«, also ein lediglich noch topologisch-formales Vokabular, wie es konsequent etwa Foucaults Aussagenanalyse nutzt.

IV.

Aus mindestens zwei Gründen – und in der Sache durchaus zögernd – möchte ich es bei dieser Feststellung nicht belassen. Zwar halte ich es, und bin sicher nicht allein, für unstrittig, dass nicht nur bestimmte Großvokabeln anachronistisch geworden sind, sondern das Prinzip des Kollektivsingulars selbst. Dennoch scheint mir, es gälte, dem Nachklang von außer Kurs gekommenen Großbegriffen aktive Aufmerksamkeit zu widmen – mehr Aufmerksamkeit als die Vorstellung vom Überwinden, Verabschieden etc. nahelegt. Zum einen ist es ja durchaus so, dass neue Kollektivsingulare entstehen. Über den »Geist« mag man müde lächeln. Aber was ist mit »Gehalt«, »Wert«, »Kreativität« oder »Innovation«? Wollte man (im Reich der Theorie) die Metaphysik oder auch nur (überall) die Weltanschauung für etwas halten, das sich als eine Art epochaler Irrtum zurücklassen lässt, schlösse man das kritische Auge. Zudem hinge man höchstwahrscheinlich wiederum einem Großnarrativ, nämlich einer sogar simplen Fortschrittserzählung an. Und entfalten nicht »Geist« oder sogar »Geistesgeschichte« einen Rest von Glanz, wirft man sie – um des schieren Kontrastes willen – einer Semantik beispielsweise der »Qualität« oder des »Erfolgs« entgegen? Auch angesichts der notorischen Schräglage der Rede von den »Humanities« greife ich als historisch arbeitende Philosophin zuweilen, und, wenn ich ehrlich bin, keineswegs nur verstohlen, auf den als Antiquität doch alternativlosen Titel »Geisteswissenschaften« zurück.

Zum anderen ist tatsächlich die Frage, was für ein Theorieideal sich an die Vorstellung einer Theoriesprache binden würde, die Terme vermeiden wollte, die sich potenziell aufladen und semantisch ins Offene ausgreifen – also Inbegriffe, Dachbegriffe, Signal- und Hoffnungsbegriffe, vielleicht auch absolute Metaphorik im Sinne Hans Blumenbergs. Im Grunde wird man schnell zugeben müssen, wie unsinnig die Idee überhaupt einer sozusagen kleinteiligen Entrümpelung unserer Ideologievorräte ist: Auch »Geist« bleibt ja nur ein Pixel auf den großen Leinwänden, auf welchen die schäumende Welle des deutschen Idealismus sich (in diversen Varianten, inzwischen aber eben nur noch in der einen oder anderen, in abgelegenen Kinos gezeigten Retrospektive) bricht. Ob es also, um im Bild zu bleiben, hilft, von vornherein nur noch kleinformatige Kurzfilme zu zeigen, kann man sich durchaus fragen. Begriffe als Begriffe »denken« (noch) nicht, sie kontaminieren daher auch nicht als solche bereits eine Überlegung oder einen Text, sondern durch die Kontextualisierungen, die man durch die Art ihres Gebrauchs vornimmt – oder eben nicht.

Eine Rehabilitierung »der« Geschichte oder des aus den Geisteswissenschaften »ausgetriebenen« (Friedrich Kittler) Geistes soll meine Überlegung nicht sein. Vielleicht ist das vormals heiße Vokabular einer Zeit, die nicht mehr die unsere sein kann, jedoch auf indirekte Weise informativ: als Kontrastmittel, um begriffliche Angebote zu prüfen, deren Reichweite wir schon deshalb kaum ermessen können, weil wir sozusagen zu dicht davorstehen, um sie überhaupt in den Blick zu nehmen und zu perspektivieren. Und zum anderen bleibt es interessant, eine in mikrologisch-positivistischen Zeiten möglicherweise zu starke Fixierung auf vermeintlich neutralisierte Protokollvokabeln zu konfrontieren mit der Frage eines Denkens in größeren Schwüngen und Bögen, für das einzelne Begriffe dann nur Behelfe bleiben.