I.

Nichts erscheint auf den ersten Blick befremdlicher als die Idee einer Geistesgeschichte. Die Vorstellung, man solle die »Geschichte deutschen Geisteslebens« erforschen oder ihr sogar »dienen«, wie die Begründer der Deutschen Vierteljahrsschrift 1923 in ihrem Vorwort zur ersten Ausgabe festhielten,Footnote 1 riecht stark nach Nationalismus und Eurozentrismus. Und die Aufforderung, man solle untersuchen, wie diese Geschichte »mit der Geistesgeschichte anderer Völker verflochten ist und gerade in enger Wechselwirkung mit ihnen ihre Eigenart entfaltet«,Footnote 2 weckt üble Erinnerungen an die Suche nach einer völkischen Identität. Wenn eine derartige Geistesgeschichte heute noch von Interesse ist, dann nur noch als Forschungsgegenstand einer kritischen Wissenschaftsgeschichte, die nach den ideologischen Gründen für die Entstehung einer »Geschichte deutschen Geisteslebens« im frühen 20. Jahrhundert fragt.

Heißt dies, dass Geistesgeschichte ausgedient hat? Keineswegs. Wie das in den letzten Jahren wiedererstarkte Interesse an einer »intellectual history« zeigt, ist eine Erforschung der Entstehung und Transformation von Ideen in ihrem historischen Kontext keineswegs obsolet geworden. Nicht nur in der Literatur- und Kulturwissenschaft, sondern auch in der Philosophie gibt es eine zunehmende Beschäftigung mit Fragen nach der historischen Bedingtheit scheinbar überzeitlicher Ideen. Dies gilt auch – und sogar in besonderem Maße – für die analytische Philosophie, die lange Zeit als geschichtsblind galt. Sie versteht sich zunehmend als eine Disziplin, die philosophische Argumente und Theorien in ihrem jeweiligen Kontext situiert und dabei auch außerphilosophische Faktoren (z.B. naturwissenschaftliche, theologische oder literarische) berücksichtigt.Footnote 3

Allerdings wirft dieser kontextuelle Zugang zu älteren Theorien die methodische Frage auf, wie denn die einzelnen Theorien rekonstruiert und evaluiert werden sollen. Diese Frage möchte ich im Folgenden beantworten, indem ich vier Thesen formuliere und mithilfe ausgewählter Beispiele erläutere. Ich konzentriere mich dabei auf mein Arbeitsgebiet, die mittelalterliche Philosophie, deren Erforschung in den letzten Jahren wie kaum eine andere Epoche der Philosophie Methodendebatten ausgelöst hat. Wie sollen scholastische Texte analytisch erschlossen und gleichzeitig historisch kontextualisiert werden? Kurz gesagt: Wie ist eine analytische Geistesgeschichte möglich?

II.

Will man diese Kernfrage beantworten, muss man zunächst den Zugang zu philosophischen Texten in den Blick nehmen. Dabei gilt es eine erste These zu berücksichtigen:

(1):

Nominalismus-These: Es müssen einzelne philosophische Texte und die in ihnen dargestellten Theorien untersucht werden, nicht etwa allgemeine Ideen oder Geistesströmungen.

Entscheidend ist hier, dass immer nur einzelne Texte und damit partikuläre Gegenstände zu untersuchen sind. Genau dadurch grenzt sich der Nominalismus vom Realismus ab, der auch universale Gegenstände annimmt.Footnote 4 Zwar gibt es gemäß dem Nominalismus Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen partikulären Gegenständen, und genau diese Beziehungen erlauben es uns, universale Begriffe zu bilden. Derartigen Begriffen entsprechen aber keine universalen Gegenstände in der Realität, sondern nur Gruppen von einander ähnlichen Gegenständen.

Auf den ersten Blick erscheint die Nominalismus-These vielleicht selbstverständlich oder gar trivial. Was könnte man denn außer einzelnen Texten analysieren? In der Tat sind sie die einzigen Quellen, die uns in philosophiehistorischen Untersuchungen zur Verfügung stehen. Sie werden aber häufig nur als Belege für allgemeine Strömungen gelesen, deren Existenz vorausgesetzt wird. Oder allgemein gesprochen: Die partikulären Gegenstände werden häufig nur als Manifestationen universaler Gegenstände gesehen. Dadurch kommt es nicht selten zu einer starren Gegenüberstellung von allgemeinen Strömungen und zu einer schematischen Einordnung von Texten. Ein Beispiel möge dies verdeutlichen.

In der älteren Forschung ist immer wieder angenommen worden, in der Mitte des 13. Jhs. habe sich der Aristotelismus etabliert und sei zur dominanten Strömung geworden, bis er im 15. Jh. durch den Platonismus bedrängt und im frühen 17. Jh. durch den Cartesianismus und andere antiaristotelische Strömungen ersetzt wurde. Die spätmittelalterlichen Debatten sind daher als Auseinandersetzungen zwischen Aristotelismus und Antiaristotelismus interpretiert worden.Footnote 5 Dabei ist wie selbstverständlich angenommen worden, dass sich alle Theorien einer dieser beiden Richtungen zuordnen lassen. Unterschiede zwischen einzelnen aristotelischen Theorien sind durchaus beachtet worden, aber sie sind meistens als Ausdifferenzierungen einer einzigen Strömung gedeutet worden. In der neueren Forschung ist jedoch deutlich geworden, dass man von dem Aristotelismus gar nicht sprechen kann. Schon im 13. Jh. haben einzelne Autoren (z.B. Albertus Magnus, Roger Bacon) aristotelische Elemente mit platonischen oder augustinischen kombiniert, teilweise auch mit Versatzstücken aus der arabischen Tradition, und dadurch eigene Theorien entworfen, die sich nicht als eindeutig aristotelisch oder antiaristotelisch charakterisieren lassen. Folglich ergibt es keinen Sinn, sie der einen oder anderen Strömung zuzuordnen.Footnote 6 Es gilt vielmehr, mit Blick auf einzelne Autoren und ihre Texte die jeweiligen Theorieelemente in ihrer spezifischen Konstellation zu rekonstruieren.

Wichtig scheint mir hier weniger die Neubewertung einzelner Philosophen als die methodische Einsicht, dass Geistesgeschichte nicht darin bestehen kann, eine Art von Landkarte konkurrierender Geistesströmungen zu erstellen und dann verschiedene Autoren auf dieser Karte einzutragen. Vielmehr müssen zunächst einzelne Texte mit Blick auf die in ihnen enthaltenen Thesen und Argumente ausgewertet werden. Genau dadurch zeichnet sich eine analytische Methode aus, die sich um eine kleinteilige Rekonstruktion und Diskussion von Texten bemüht. Erst wenn feststeht, was in den einzelnen Texten überhaupt behauptet wird, können Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen ihnen festgestellt werden, und erst dann können auch Thesen oder Argumente identifiziert werden, die sich in mehreren Texten finden. So lassen sich mit der Zeit verschiedene Gruppen von Texten bilden. Doch es lassen sich keine Strömungen als universale Gegenstände bestimmen, die irgendwie in den Texten manifest werden. Wenn es hier etwas Universales gibt, so nur die Klassifikationsbegriffe, die je nach den Ähnlichkeitsbeziehungen, die in den Blick genommen werden, ganz unterschiedlich ausfallen können. Wichtig ist dabei, dass diese Begriffe explizit formuliert werden. Es muss also offengelegt werden, aufgrund welcher Kriterien einzelne Texte unter dem Begriff »aristotelisch« zusammengefasst werden. Werden neue Kriterien in Anschlag gebracht, können dieselben Texte ganz anders klassifiziert werden.

Ein solcher nominalistischer Ansatz ermöglicht es, starre Klassifikationen aufzubrechen und vorschnelle Zuweisungen von Texten zu Schulen oder Strömungen zu vermeiden. Besonders wichtig ist dies im Hinblick auf die Aristoteles-Kommentare, die sämtliche philosophischen Debatten vom 13. bis zum 16. Jh. geprägt haben. Wählt man beispielsweise mit Bezug auf die Kommentare zu De anima die Textvorlage als Klassifikationskriterium, lassen sich zweifellos alle Kommentare als aristotelisch bezeichnen. Wendet man hingegen ein inhaltliches Kriterium an, etwa die Bestimmung des Intellekts oder die metaphysische Erklärung der intelligiblen Gegenstände, ergibt sich eine ganz andere Klassifikation. Einige Kommentare (etwa jene, die einen einzigen Intellekt für alle Menschen annehmen) lassen sich dann als averroistisch bezeichnen, während andere (etwa jene, die überzeitliche, von materiellen Dingen unabhängige intelligible Gegenstände postulieren) als platonisch kategorisiert werden können.Footnote 7 Die Verwendung unterschiedlicher Klassifikationskriterien führt unweigerlich zur Bildung unterschiedlicher Gruppen von Texten. Je nach Kriterium kann sogar ein und derselbe Text verschiedenen Gruppen zugeordnet werden. Auf jeden Fall ist es entscheidend, dass immer einzelne Texte den Ausgangspunkt bilden und dass dargelegt wird, in welcher Hinsicht sie mit anderen Texten verglichen und klassifiziert werden. Erst dann lässt sich sinnvollerweise von allgemeinen Kategorien wie »aristotelisch« oder »platonisch« sprechen. Oder allgemein ausgedrückt: Einzelne Texte und ihre individuellen Merkmale müssen die Grundlage für variable Kategorisierungen bilden.

III.

Es reicht freilich nicht aus, einzelne Texte in den Blick zu nehmen und sie hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Thesen und Argumente zu analysieren. Bei der Auswertung dieser Texte ist eine weitere These zu beachten:

(2):

Relationismus-These: Philosophische Texte sind nicht isoliert, sondern in ihrer Relation zu anderen Texten in ihrem historischen Kontext zu interpretieren.

Auch diese These mag auf den ersten Blick vielleicht selbstverständlich oder gar trivial erscheinen. Ist es nicht offensichtlich, dass man einzelne Texte kontextualisieren und deshalb Bezüge zu anderen Texten herstellen muss? In der Tat ist dies offensichtlich, sofern man philosophische Texte als Produkte einer bestimmten Debatte versteht. In der älteren analytischen Forschung ist aber immer wieder versucht worden, Texte weitgehend immanent zu interpretieren, d.h. ausschließlich mit Blick auf die in ihnen enthaltenen Thesen und Argumente, ohne auf den historischen Kontext zu achten. Dadurch ist es zwar gelungen, die jeweiligen Thesen und Argumente genau zu rekonstruieren. Es ist auch möglich geworden, Bezüge zu Thesen oder ganzen Theorien herzustellen, die heute noch vertreten werden, und dadurch eine Aktualität mittelalterlicher Theorien aufzuzeigen. Gleichzeitig ist aber verkannt worden, welche Bedeutung diese Theorien in ihrem Kontext hatten und welche Ziele mit ihnen verfolgt wurden. Ein Beispiel möge dies wiederum verdeutlichen.

Im späten 20. Jahrhundert sind zahlreiche Studien zu Ockhams Theorie der Mentalsprache entstanden. Gemäß dieser Theorie gibt es eine universale Sprache, die aus rein geistigen Begriffen besteht, bei allen Menschen gleich ist und jeder gesprochenen oder geschriebenen Sprache vorausgeht. Ockham zufolge muss stets diese Sprache in den Blick genommen werden, wenn die sprachliche Grundstruktur untersucht werden soll. Genau diese These hat das Interesse von Philosophiehistorikern in der analytischen Tradition geweckt. Dies ist kein Zufall, denn im späten 20. Jahrhundert sind auch in der analytischen Philosophie Theorien der Mentalsprache diskutiert worden, so etwa Jerry Fodors einflussreiche Theorie einer »language of thought«.Footnote 8 Mit Blick auf diese Theorie sind einzelne Thesen und Argumente, die Ockham in seinen sprachphilosophischen Texten vorstellt, rekonstruiert und ausgewertet worden.

Die systematisch ausgerichteten Studien zu Ockhams Theorie haben zweifellos deren Aktualität deutlich gemacht. Sie haben es auch ermöglicht, einige Kernthesen genau zu rekonstruieren.Footnote 9 Gleichzeitig haben sie Ockhams Theorie aber aus dem historischen Kontext herausgelöst und missachtet, welche Bedeutung sie im 14. Jahrhundert hatte. Teilweise haben sie durch die Betonung der Aktualität sogar jene Elemente unterschlagen, die Ockhams Theorie auszeichnen und von jener Fodors unterscheiden. So haben sie ausgeblendet, dass Ockham die Immaterialität der Mentalsprache betonte und nicht nur die Sprache der Menschen, sondern auch jene der Engel erklären wollte – ein Projekt, das Fodor vollkommen fremd ist.Footnote 10 Erst der Vergleich Ockhams mit anderen Autoren seiner Zeit und mit Vorgängern zeigt, welche Ziele er mit seiner Theorie der Mentalsprache verfolgte, wie er an bereits bestehende Theorien anknüpfte und wie er dabei neue Akzente setzte.Footnote 11 Daher ist es unabdingbar, seine Texte in Relation zu anderen mittelalterlichen Texten zu setzen und dadurch die Besonderheit seiner Theorie aufzuzeigen.

Heißt dies, dass mittelalterliche Texte ausschließlich in ihrem historischen Kontext zu situieren sind? Keineswegs. Es ist durchaus zulässig, zur Verdeutlichung einiger zentraler Punkte (z.B. der Priorität der Mentalsprache gegenüber konventionellen Sprachen) eine Verbindung zwischen mittelalterlichen und modernen Texten herzustellen. Es ist aber methodisch fragwürdig, scholastische Texte aus ihrem historischen Kontext herauszulösen und sie wie Steinbrüche zu behandeln, aus denen dann einzelne Brocken herausgeschlagen werden.Footnote 12 Dadurch werden nicht nur einzelne Thesen verzerrt oder vorschnell modernisiert, sondern es werden auch jene Thesen unterschlagen, die heute eine Herausforderung darstellen und gerade deshalb besonders reizvoll sind. So kann man etwa mit Blick auf Ockhams Theorie der Mentalsprache fragen, warum er die Immaterialität dieser Sprache betonte, wie er sie begründete und welche Auffassung des Geistes in seiner Immaterialitätsthese zum Ausdruck kommt. Diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn seine sprachphilosophischen Texte zunächst in Relation zu seinen eigenen metaphysischen Texten gesetzt werden, dann aber auch zu Texten anderer Autoren seiner Zeit, in denen für oder gegen die Immaterialität argumentiert wurde. Erst dann zeigt sich, wie er für seine Theorie argumentierte, wie er sie von konkurrierenden Theorien abgrenzte und was für ein philosophisches (und teilweise auch theologisches) Programm sich hinter seiner Immaterialitätsthese verbirgt. Kurz gesagt: In der relationalen Betrachtung wird der besondere systematische Gehalt seiner Theorie sichtbar.

Diesen Punkt gilt es zu betonen, um Missverständnisse zu vermeiden. Eine relationale Betrachtung dient nicht dazu, einen Text vollständig zu historisieren und von einer systematischen Betrachtungsweise abzusehen. Sie kann auch – und sogar in besonderem Maße – dazu beitragen, dass die spezifischen Thesen, die ein Text enthält, deutlich hervortreten. Wenn er nämlich mit anderen Texten seiner Zeit verglichen wird, lässt sich einerseits bestimmen, welche Thesen in allen diesen Texten vertreten werden. Es lässt sich also so etwas wie eine Hintergrundfolie bestimmen, die für eine bestimmte Debatte verbindlich war. Andererseits lässt sich aber auch bestimmen, welche Thesen nicht in allen Texten formuliert werden und wie sich dadurch ein Text von anderen Texten abhebt. Genau diese Thesen geben ihm sein besonderes Profil und zeichnen ihn als innovativen Text aus. Es wäre daher falsch anzunehmen, nur durch einen Vergleich mit heutigen Texten lasse sich der besondere systematische Gehalt eines Textes bestimmen. Ganz im Gegenteil: Dieser Gehalt lässt sich häufig erst erkennen, wenn ein Text in einem bestimmten Diskussionskontext mit anderen Texten verglichen wird. Dann zeigt sich, welche provokativen Thesen er enthält – Thesen, die gerade dann systematisch interessant sind, wenn sie nicht mit jenen übereinstimmen, die auch in der heutigen Debatte vertreten werden. Sie fordern nämlich dazu heraus, über die Begründung dieser Thesen nachzudenken und die theoretischen Annahmen, die ihnen zugrunde liegen, genauer in den Blick zu nehmen.Footnote 13 Kurz gesagt: Gerade die Fremdheit mittelalterlicher Texte ist systematisch relevant.

IV.

Die Forderung, einen Text mit anderen Texten zu vergleichen, wirft sogleich die Frage auf, wie denn das relevante Textcorpus bestimmt werden soll. Welche Texte sollen aus einer Vielzahl von möglichen Texten herausgegriffen und für einen Vergleich herangezogen werden? Zur Beantwortung dieser Frage ist eine weitere These zu beachten:

(3):

Multiperspektivismus-These: Ein philosophischer Text ist mit anderen Texten in verschiedenen Kontexten in Relation zu setzen, sodass er aus verschiedener Perspektive evaluiert werden kann.

Wie bereits die beiden ersten Thesen erscheint auch diese These auf den ersten Blick nicht besonders aufregend. Ist es nicht selbstverständlich, dass stets ein reichhaltiges Textcorpus in den Blick genommen werden muss, damit zahlreiche Vergleiche möglich werden und sich ein differenziertes Bild ergibt? Es ist in der Tat selbstverständlich, dass für eine reichhaltige Interpretation auch eine reichhaltige Menge von Texten in den Blick genommen werden muss. Fraglich ist aber, welche Texte ausgewählt werden sollen und in welchem Kontext ein bestimmter Text dann auszuwerten ist. Genau hier wird die Multiperspektivismus-These relevant, denn sie zielt nicht einfach auf eine möglichst große Menge von vergleichenden Texten ab, sondern betont, dass Texte in verschiedenen Kontexten zu beachten sind, sodass ein zu untersuchender Text in verschiedenen Perspektiven ausgewertet werden kann. Dieser Punkt soll wiederum anhand eines Beispiels veranschaulicht werden.

Wie bereits erwähnt, spielten die Aristoteles-Kommentare in den philosophischen Debatten des 13. bis 16. Jhs. eine zentrale Rolle. Wie sollte nun ein konkreter Kommentar, etwa der Kommentar Thomas von Aquins zu De anima (1267-1268 entstanden) ausgewertet werden? Diese Frage ist häufig gar nicht gestellt worden, weil die Antwort selbstverständlich schien. Dieser Text, so wurde angenommen, sollte im Vergleich zur Vorlage des Aristoteles sowie zu anderen Kommentaren im unmittelbaren Pariser Umfeld (z.B. zu jenen von Albertus Magnus und Siger von Brabant) gelesen und interpretiert werden. Diese Texte kannte Thomas nämlich, und auf diese Texte bezog er sich. Wenn man seinen Kommentar mit ihnen vergleicht, zeigt sich, wo er an sie anknüpfte, wo er sie kritisierte und wo er über sie hinausging. Der Vergleichsrahmen lässt sich also leicht bestimmen, weil er durch den intellektuellen Kontext gegeben ist, in dem sich Thomas an der Pariser Universität befand.

Ein solches Vorgehen führt sicherlich zu interessanten Resultaten, weil sich dann untersuchen lässt, wie sich Thomas gegenüber Aristoteles und seinen Zeitgenossen in Paris positionierte. Es führt gleichzeitig aber zu einseitigen Resultaten, weil immer nur eine Perspektive gewählt wird: der Pariser Aristotelismus. Thomas’ Text wird dann nur mit Blick auf diesen Kontext gelesen, sodass auch nur das deutlich wird, was für diesen Kontext relevant ist. Vollständig ausgeblendet werden dabei andere Kontexte, die ebenso wichtig sind. Dies ist zum einen der Kontext der arabischen Philosophie (vor allem Avicenna und Averroes), auf den sich Thomas explizit bezog und der für die Ausarbeitung einiger seiner Hauptthesen (z.B. zum Status und zur Funktion des Intellekts) von zentraler Bedeutung war.Footnote 14 Zum anderen ist dies auch der Kontext der Optik, der in der Mitte des 13. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte und Thomas vor allem in seiner Wahrnehmungstheorie prägte.Footnote 15 Stellt man seinen Kommentar zu De anima in Relation zu Averroes oder zu Roger Bacon, der sich intensiv mit Optik beschäftigte, ergibt sich plötzlich ein ganz anderes Bild. Thomas erscheint dann nicht mehr als ein Philosoph, der sich unmittelbar mit Aristoteles und Pariser Aristotelikern auseinandersetzte, sondern als ein Denker, der Elemente aus verschiedenen Traditionen zu einer umfassenden Wahrnehmungs- und Intellekttheorie zusammenfasste – zu einer Theorie, die nur teilweise aristotelisch war. Es ist daher entscheidend, dass man seinen Text nicht von vornherein auf einen einzigen Kontext bezieht, sondern zahlreiche Kontexte berücksichtigt, auch außerhalb der Pariser Universität. Erst dann lässt sich eine eindimensionale Lektüre vermeiden, und erst dann werden ganz unterschiedliche Themen und Argumentationsstränge in seinem Text sichtbar.

Es reicht freilich nicht aus, nur jene Kontexte zu beachten, die für die Entstehung von Thomas’ eigenem Text relevant waren. Ebenso wichtig ist es, auch andere kulturelle Kontexte zu berücksichtigen, in denen Texte zu gleichen Themen entstanden, und so gleichsam von außen auf Thomas’ Text zu blicken. Erst dann wird nämlich deutlich, von welchen besonderen Voraussetzungen er ausging, welche Probleme ihm aufgrund dieser Voraussetzungen besonders dringlich erschienen und welche nicht. So kann man sich etwa Hillel von Verona zuwenden, einem jüdischen Denker des späten 13. Jhs., der genau wie Thomas mit den Pariser Aristoteles-Kommentaren vertraut war und genau wie Thomas ein umfassendes Werk über die Seele schrieb, das Buch Über die Vollendung der Seele (1291 entstanden).Footnote 16 Er vertrat aufgrund seines neuplatonischen Hintergrunds aber teilweise ganz andere Thesen als Thomas (z.B. dass der menschliche Intellekt durch Emanation entsteht) und war als jüdischer Autor von Maimonides sowie von rabbinischen Quellen beeinflusst. Dadurch entwickelte er eine andere Seelentheorie als Thomas. Wenn man nun Thomas’ Text in Relation zu Hillels Text stellt, fallen bestimmte Aussagen bei Thomas auf, die nur am Rande beachtet würden, wenn man sich nur auf den Pariser Kontext konzentrierte, so etwa die in diesem Kontext selbstverständliche These, dass die Seele vom Körper abgetrennt und am Tag der Auferstehung wieder mit ihm verbunden wird. Erst die Kontrastierung des christlichen Kontexts mit dem jüdischen lässt diese These besonders deutlich hervortreten und vielleicht sogar als Fremdkörper in einer aristotelischen Theorie erscheinen.

Entscheidend ist also, dass unterschiedliche Kontexte in den Blick genommen werden und dass dadurch unterschiedliche Bezugspunkte für die Einordnung und Evaluierung eines Textes geschaffen werden. Dies ermöglicht es, Thesen und Argumente in einem Text freizulegen, die gar nicht sichtbar werden, wenn ein einziger Kontext wie selbstverständlich als der einzig relevante Kontext betrachtet wird. Ein solches Vorgehen schafft zudem die Möglichkeit, mehrere Kulturräume – arabisch-islamische und jüdische ebenso wie christliche – in den Blick zu nehmen und Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Texte des lateinischen Mittelalters zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie nicht in einem kulturell geschlossenen Raum entstanden sind. Ganz im Gegenteil: Sie beruhen auf der Rezeption und Weiterentwicklung zahlreicher Theorien aus verschiedenen Kultur- und Sprachräumen. Daher sind sie in gewisser Weise immer offene Texte, d.h. philosophische Dokumente, die auf vielfältige Quellen hinweisen und mit Bezug auf unterschiedliche Referenzpunkte gelesen werden können. Diese Offenheit wird erkennbar, wenn Relationen zu anderen Texten geschaffen werden, und zwar weit über den lateinisch-christlichen Kontext hinaus. Dann lässt sich auch die Rede von einer »europäischen Geistesgeschichte« relativieren, denn auch wenn die lateinischen Texte in Europa entstanden sind, weisen sie durch ihre Bezüge auf außereuropäische (vor allem arabisch-islamische) Quellen weit über Europa hinaus.Footnote 17 Der multiperspektivische Blick legt diese Bezüge offen.

V.

Bislang schien es, als könne man gleichsam direkt auf die philosophischen Texte zugreifen und sie analysieren, indem man sie in Relation zu anderen Texten setzt. Dabei ist unbeachtet geblieben, dass der Zugang zu einzelnen Texten stets durch historiographische Traditionen bestimmt ist. Diese Traditionen legen nicht nur fest, welche Texte überhaupt als untersuchungswürdig aufgefasst werden, sondern sie liefern auch Interpretationsmuster, die auf die Texte angewendet werden. Genau diese Prägung durch bestimmte Schemata gilt es kritisch zu prüfen. Deshalb muss eine vierte These beachtet werden:

(4):

Historiographie-These: Die in der Forschungsgeschichte entstandenen Schemata, die sowohl die Auswahl als auch die Interpretation von philosophischen Texten prägen, müssen offengelegt und gegebenenfalls durch neue Schemata ersetzt werden.

Diese These erscheint vielleicht weniger selbstverständlich als die drei Thesen, die bereits vorgestellt wurden. Warum, so könnte man sogleich fragen, ist es notwendig, sich mit der Forschungsgeschichte zu beschäftigen, die bis in das frühe 19. Jh. zurückreicht? Lenkt eine solche Beschäftigung mit der Historiographie nicht von der eigentlichen Aufgabe ab, nämlich der philosophischen Rekonstruktion und Auswertung von Texten?

Auf den ersten Blick mag die Beschäftigung mit der Historiographie in der Tat entbehrlich erscheinen, und in zahlreichen Studien zur mittelalterlichen Philosophie findet sich daher keine Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte. Vor allem in analytisch ausgerichteten Arbeiten fehlt sie häufig, da dort die argumentative Beschäftigung mit Primärtexten – nicht mit Sekundärtexten und deren Entstehungsgeschichte – im Vordergrund steht.Footnote 18 Ein solches Vorgehen birgt aber die Gefahr in sich, dass unkritisch bestimmte Auswahl- und Bewertungskriterien verwendet werden, die sich in einer bestimmten Forschungstradition etabliert haben. Teilweise werden auch Vorurteile übernommen, die sich im Verlauf der Forschungsgeschichte festgesetzt haben. Erst wenn diese Vorurteile in den Blick genommen werden, lassen sich scheinbar selbstverständliche Schemata überwinden und neue Perspektiven gewinnen. Ein Beispiel möge dies veranschaulichen.

Zu Beginn der philosophischen Mediävistik im frühen 19. Jh. etablierte sich eine Opposition zwischen zwei philosophischen Traditionen, nämlich der scholastischen und der mystischen.Footnote 19 Mit dem Etikett »Scholastik« wurde dabei meistens ein rationaler, argumentativer Zugang zu philosophischen Problemen bezeichnet, häufig auch ein Zugang, der sich an bestimmten Textformen (z.B. der »quaestio disputata«) mit klaren Argumentationsmustern orientierte. Unter »Mystik« hingegen wurde ein spekulativer, auf spiritueller Erfahrung beruhender Zugang verstanden, der sich mit anderen Textformen (z.B. Predigten) befasste. Je nach Standpunkt wurde dann die eine oder die andere dieser beiden Traditionen höher bewertet. So betonten die Vertreter der deutschen Romantik vor allem die Bedeutung der Mystik, während die Protagonisten des französischen Rationalismus der Scholastik eine besondere Rolle zusprachen. Die jeweilige Bewertung änderte sich, aber über zwei Jahrhunderte hinweg hielt sich die Opposition zwischen den beiden Traditionen und bestimmte die Geschichtsschreibung. Wer sich für »rationale Philosophie« interessierte, widmete sich der Scholastik (und damit Autoren wie Thomas von Aquin oder Wilhelm von Ockham), wer sich hingegen mit »spekulativer Philosophie« beschäftigen wollte, konzentrierte sich auf die Mystik (und damit auf Autoren wie Meister Eckhart oder Johannes Tauler).

Entscheidend ist nun, dass sich diese Opposition in der Historiographie so sehr festsetzte, dass sie gar nicht mehr thematisiert oder begründet wurde. Es schien selbstverständlich, dass man die beiden Traditionen auseinanderhalten und sich auf die eine oder die andere konzentrierten sollte.Footnote 20 Genau an diesem Punkt wird nun die Historiographie-These relevant. Sie stellt nämlich die Opposition infrage, indem sie danach fragt, wie es überhaupt zur Etablierung der beiden Traditionen gekommen ist. Welche Vorannahmen und ideologischen Interessen der Interpreten im 19. und 20. Jh. – nicht etwa der interpretierten Autoren im Mittelalter – führten dazu, dass hier eine Opposition geschaffen wurde? Welche Textevidenz gibt es überhaupt für diese Opposition? Und wie lässt sie sich durch eine sorgfältige Textanalyse relativieren oder sogar überwinden? Sobald man diese Fragen stellt, wird es möglich, neue Verbindungen zwischen Texten herzustellen und sie frei von starren Interpretationsschemata zu lesen. So kann man eine Linie von Albertus Magnus (einem scheinbar rein scholastischen Denker) über Dietrich von Freiberg bis zu Meister Eckhart (einem scheinbar rein mystischen Denker) ziehen und Gemeinsamkeiten feststellen, etwa hinsichtlich der Intellekttheorie.Footnote 21 Man kann auch Problemstellungen erkennen, die in beiden Traditionen eine zentrale Rolle spielten, etwa die Frage nach Gottes- und Selbsterkenntnis, und sogar ähnliche Strategien im Umgang mit dieser Frage aufdecken.Footnote 22 Es ist somit keineswegs klar, dass hier tatsächlich eine Opposition besteht. Oder genauer gesagt: Es ist fraglich, ob hier eine historisch gegebene oder eine historiographisch konstruierte Opposition besteht.

Wie dieses Beispiel hoffentlich verdeutlicht, lenkt der Blick auf die Historiographie und die dadurch entstandenen Interpretationsschemata keineswegs von einer philosophischen Beschäftigung mit den Primärtexten ab. Er ermöglicht es vielmehr, Texte zu untersuchen, die ausgeblendet wurden, weil sie einer anderen Tradition zugeordnet und aus dem relevanten Textcorpus ausgeschlossen wurden. Er erlaubt es zudem, neue Relationen zwischen einzelnen Texten herzustellen, etwa zwischen Albertus Magnus’ (oder auch Thomas von Aquins) und Meister Eckharts Texten zur Intellekttheorie. Allgemein ausgedrückt: Nimmt man die Historiographie-These ernst, erweitert sich der Anwendungsbereich für die Relationismus-These.

Auf jeden Fall ist es entscheidend, dass die Interpretationsschemata, die bei der Auswahl mittelalterlicher Texte zur Anwendung kommen, selbst als historische Phänomene thematisiert werden, d.h. als Phänomene, die zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten intellektuellen Kontext entstanden sind. Ein sorgfältiger Umgang mit einzelnen Texten erfordert daher ein zweifaches Vorgehen: Einerseits müssen die Texte selbst genau gelesen und mit Blick auf die in ihnen enthaltenen Thesen und Argumente ausgewertet werden. Andererseits müssen auch die Kriterien, die bei der Auswahl und Auswertung der Texte zur Anwendung kommen, sorgfältig geprüft werden. Dies kennzeichnet einen historiographisch reflektierten Ansatz, der nach den besonderen Bedingungen für den eigenen Interpretationsrahmen fragt.

VI.

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass eine analytische Geistesgeschichte durchaus möglich ist. Sie ist genau dann möglich, wenn mit Bezug auf einzelne Texte konkrete Thesen und Argumente rekonstruiert werden. Dies zeichnet einen analytischen Ansatz aus, der von der vorschnellen Annahme allgemeiner Strömungen und Schulen absieht. Gleichzeitig muss aber auch die Verankerung der Texte in spezifischen Kontexten beachtet werden. Dies kennzeichnet einen geistesgeschichtlichen Ansatz, der historische Dokumente in einem größeren kulturellen Rahmen situiert und nach ihrer Funktion in diesem Rahmen fragt. Der besondere Gewinn des kontextuellen Zugangs liegt nicht zuletzt darin, dass er den Charakter philosophischer Thesen und Argumente deutlich werden lässt: Sie stellen sich als historisch kontingente Entitäten heraus, die nur in ihrem jeweiligen Rahmen angemessen verstanden werden können.

Es gibt noch einen weiteren Gewinn, vor allem wenn die Historiographie-These berücksichtigt wird. Nicht nur die einzelnen Thesen und Argumente, sondern auch deren Auswahl und gegenseitige Zuordnung stellen sich dann als etwas Kontingentes heraus. Welche Thesen als relevant betrachtet werden und wie sie in Beziehung zu anderen Thesen gesetzt werden, hängt ja immer von den historisch bedingten Interpretationsschemata ab. Und diese Schemata müssen genauso untersucht werden wie die in den Texten formulierten Thesen: Sie sind ebenfalls historisch kontingente Entitäten, die in ihrem jeweiligen Rahmen zu verorten sind.

Wählt man diese Perspektive einer kritischen Historiographie, wird auch die analytische Philosophiegeschichtsschreibung zu einem wichtigen Gegenstand der Forschung. Es stellt sich dann nämlich heraus, dass sie von einem Interpretationsrahmen ausgeht, der ganz bestimmte Thesen in den Vordergrund stellt und andere ausblendet. Ebenso zeigt sich dann, dass dieser Interpretationsrahmen selber einem historischen Wandel unterworfen ist.Footnote 23 Wer die historische Kontingenz ernst nimmt, kommt nicht darum herum, auch die analytische Philosophiegeschichtsschreibung in den Blick zu nehmen und über die neuere Geschichte der Geschichte der mittelalterlichen Philosophie zu reflektieren.