In seinem bekannten Essay The historiography of philosophy: four genres (1984) hat Richard Rorty der Geistesgeschichte die Funktion der »canon-formation« zugewiesen.Footnote 1Geistesgeschichte ist eine Sorte des story-telling, die es in verwandten Geschichten der Naturwissenschaften nicht gibt. Es geht in der Philosophiegeschichtsschreibung nämlich um rationale und historische Rekonstruktionen anderer Epochen und ihrer philosophischen Probleme (im Sinne Skinners), wie auch um Verfahren der Selbstlegitimierung. Im Rahmen einer geistesgeschichtlichen Darstellung, beispielsweise der Entwicklung der Philosophie um 1800, wollen wir verstehen, warum bestimmte Personen im Rahmen bestimmter institutioneller Bindungen (oder in Ablehnung derselben) Texte verfasst haben, die sich zu einem Werk auswachsen und einen Denkraum eröffnen, in dem bestimmte methodische Vorgaben, bestimmte Praktiken, bestimmte Denk- und Publikationsstrategien plausibel erschienen. In einer historisch-systematischen Rekonstruktion sollen diese trotz aller Fremdheit plausibel und gerechtfertigt erscheinen. Und erst diese, auf dem Umweg historiographischer Rekonstruktion erzeugte Plausibilität macht wertvolle und tendenziell bedeutungslose philosophische Methoden, Denkstrategien und Praktiken unterscheidbar. Mithilfe dieser Plausibilität zweiter Ordnung arbeitet die Geisteshistorikerin an der Formierung des Kanons der Philosophie.

Die Grundgedanken Rortys sind eingängig und pointiert. Ich möchte sie zum Ausgangspunkt meiner weiteren Überlegungen machen, weil sie einen wichtigen Punkt treffen, aber in ihrer Argumentationsweise unterkomplex sind. Wichtig (und eventuell auch richtig) erscheint mir der Gedanke, dass wir einen Kanon der Philosophie entweder implizit voraussetzen (wie es viele Akteure im Feld der analytischen Philosophie tun) oder explizit an ihm arbeiten. Wer explizit an einem Kanon arbeitet, der (re)konstruiert Verbindungslinien zwischen philosophischen Problemfeldern, sortiert methodische Zugänge, reiht Personen und ihre Schriften auf und behauptet zwischen den Punkten in einem Ereignisfeld – nehmen wir das fundamentale Problem von Sein und Werden, wobei wir noch Epochen, Personengruppen, disziplinäre Ordnungen usw. zu Gliederungskriterien machen können – Verknüpfungen über Zeiten, Räume und soziale Schichtungen hinweg. In diesem Sinne sprechen wir bspw. vom Aristotelismus in der Logik, vom Cartesianismus in der Methodenlehre, von Einfluss- respektive Rezeptionslinien. Wir legitimieren unsere Lektüren der Texte antiker Philosophie, wir erklären die Kenntnis der kritischen Schriften Kants für unverzichtbar und so weiter. So findet in der Philosophiegeschichtsschreibung canon-formation statt. Geistesgeschichte ist hier der Name für einen einheitlichen Zusammenhang der historischen und systematischen Rück- und Querverweise, mit denen ein Kanon der Philosophie operiert.Footnote 2

In einer anderen Hinsicht jedoch sind die Thesen Rortys unterkomplex. Das betrifft die Frage der Legitimation historiographischer Arbeit im Bereich der Geistesgeschichte. Legitimationsstrategien sind tatsächlich an Begründungsversuche geknüpft, die simpel oder ideologisch gestrickt, aber in sich auch vielschichtig und wohldurchdacht sein können. Für den Versuch, komplexe Legitimationsstrategien für die Einheit der Geistesgeschichte und die Formation eines Kanons der Philosophie aufzustellen, steht der Name Wilhelm Dilthey. Dilthey hat es als seine Aufgabe angesehen, im Schatten seines Vorgängers Hegel die Einheit der geistigen Welt durch die (Re)Konstruktion der Geistesgeschichte abzusichern, ohne dem Hegelschen Methodenzwang verpflichtet zu sein. Mit seinem Namen verbunden ist die Einführung des Methodenpluralismus in die Erforschung der Geistesgeschichte. Ich möchte daher vom Dilthey-Projekt sprechen. Es geht um logische und psychologische Legimitationsmuster im Bereich der Erkenntnistheorie, um anthropologisch-psychologische im Feld der Geschichtsforschung, um hermeneutische im Bereich der Traditionsbearbeitung, um lebensphilosophische und ästhetische für die Lebensführung, und um genuin philosophische – Stichwort: Kritik der historischen Vernunft – im Hinblick auf Bildungsprozesse und Kanonbildungen in der Philosophie.

Dilthey ist im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert der komplexeste Denker, der im Schatten Hegels das Vorhaben bearbeitet, Zusammenhänge in den Bereichen der Wahrnehmung, der Erfahrung, des Erkennens, des Verstehens und des sozialen Handelns zu denken. Anlässlich des fünfzigsten Jubiläums seiner Promotion hat Dilthey in einer Art Prophezeiung an die immerwährende Aktualität Hegels gemahnt, wenn er behauptet, dass auch im 20. Jahrhundert »die Zeit [heran]kommt […], in welcher auch sein [d. i. Hegels] Versuch, einen Zusammenhang von Begriffen zu bilden, der den unablässigen Strom der Geschichte bewältigen kann, gewürdigt und verwertet werden wird.«Footnote 3

Ich werde diesen Gedanken aufnehmen und aus dem großen Tableau von Diltheys Denkansätzen nur diejenigen Aspekte herausgreifen, die mit unserem Thema zu tun haben. Geschichte wie auch Philosophiegeschichte ist nach Diltheys Auffassung nicht ein bloßes Summenverhältnis von Einzelereignissen. Alle philosophischen Denker arbeiten sich an dem Welt- und Lebensrätsel ab und erzeugen in ihren Versuchen einer begrifflichen Objektivation der metaphysischen Grundfragen – bspw. dem Sein der Welt und dem Grund des Lebens – ein Kontinuum, in das sich jede neue Position einschreiben muss. »So bilden alle Stellungen des philosophischen Bewußtseins, alle Begriffsbestimmungen der Philosophie, in denen diese Stellungen zum Ausdruck gelangen, einen historischen Zusammenhang.«Footnote 4 Wohlgemerkt: An die Stelle einer Behauptung der Einheit einer Geistesgeschichte tritt die Analyse des historischen Zusammenhangs, der das Ergebnis von Stellungnahmen und Begriffsbildungen ist. Dilthey möchte untersuchen, wie wir Menschen – und zwar in universalgeschichtlicher Perspektive – daran arbeiten, Verbindungen zwischen Wahrnehmungsdaten zu knüpfen, soziale und historische Ereignisse in ihrer Verkettung zu sehen und damit aktiv Geschichte zur Darstellung zu bringen.

Programmatisch fasst Dilthey seine Reflexionen zur Historiographie der Philosophie und anderer Textsorten in der Studie Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie (1889) zusammen. Hier geht er zu einer Korrektur der Hegel’schen Theorie der Philosophiegeschichtsschreibung über: »Die philosophischen Systeme sind aus dem Ganzen der Kultur entstanden und haben auf dasselbe zurückgewirkt. Das erkannte auch Hegel. Aber nun gilt es, den Kausalzusammenhang nach seinen Gliedern zu erkennen, in welchem sich dieser Vorgang vollzog. Diese Aufgabe hat sich Hegel noch nicht gestellt. Und ihre Lösung, die Versetzung der philosophischen Denker in den lebendigen Zusammenhang, dem sie angehören, macht dann sofort eine literarische Behandlung erforderlich.«Footnote 5 Diese Abhandlung Diltheys ist eines der Gründungsdokumente, aus dem sich Jahrzehnte später unter Kluckhohn und Rothacker der philosophisch-literarische Anspruch der Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (seit 1923) abgeleitet hat.

Bei Dilthey läuft eine literarische Behandlung der Philosophie auf eine philosophische Begründung und ein Verfahren der sozialen, politischen und kulturellen Kontextualisierung hinaus. Im Sinne der Hermeneutik Schleiermachers kann die Individualität eines philosophischen Standpunkts nur über den Umweg einer annähernd vollständigen Erforschung seiner komplexen Kontextbedingungen bestimmt werden. Aus diesem hermeneutischen Grundsatz folgen bei Dilthey eine ganze Reihe von Entwürfen zur Philosophiegeschichtsschreibung, denn er war in seiner Verbundenheit mit Hegel der Überzeugung, dass sich im Feld der Philosophie(geschichte) entscheiden wird, ob wir gerechtfertigter Weise von einer Einheit der Geistesgeschichte sprechen können.

So bemüht Dilthey in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) am Leitfaden einer Analyse des Begriffs Metaphysik die gesamte Philosophiegeschichte von ihren Anfängen in der griechischen Kultur bis in seine Gegenwart, um den Standpunkt der »Unmöglichkeit der metaphysischen Stellung des Erkennens«Footnote 6 und damit die Unmöglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft als Vorbedingung einer zu entwerfenden Theorie der Geisteswissenschaften, die von den Einzelwissenschaften und den individuellen, soziokulturell variablen Perspektiven ausgeht, zu rechtfertigen. In ergänzenden Studien zu diesem Projekt analysiert Dilthey daher eine geschichtliche Konstellation, die er die Entdeckung der Natur des Menschen in der Frühen Neuzeit nennt, um den Perspektivenwechsel herauszuarbeiten, der einem von ihm diagnostizierten Umbruch im System der Wissenschaften korreliert. Dilthey ist der tiefen Überzeugung, die einhundert Jahre später von Odo Marquard auf die Formel von der Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften gebracht wird, dass die Geistesgeschichte die Naturgeschichte integrieren muss (weil wir auch verstehen sollten, was wir erklären können) und dass die Geisteswissenschaften nach Antworten suchen müssen für die Herausforderung unseres Selbstbildes durch die Naturwissenschaften (challenge and response).

Parallel zu diesen Großentwürfen, die unvollendet blieben, hat Dilthey sich wiederholt um die Suche nach einer angemessenen Form der Philosophiegeschichtsschreibung bemüht, in der strategisch die Betrachtung einzelner Philosophen und ihrer Werke zugunsten der Analyse großer wissenschafts- und kulturgeschichtlicher Bewegungen im Sinne eines integrierenden Zusammenhangs namens Geistesgeschichte zurücktritt. Im Sommersemester 1866 hat Dilthey eine philosophiehistorische Vorlesung unter dem Titel Allgemeine Geschichte der Philosophie gehalten. Ab dem Wintersemester 1897/1898 lautet der Titel Allgemeine Geschichte der Philosophie bis auf die Gegenwart, in ihrem Zusammenhange mit der Kultur. Diese Vorlesung hält Dilthey bis zum Wintersemester 1905/1906. Dilthey beruft sich auf die großen Arbeiten zur Antike (Schleiermacher, Boeckh, Usener u.a.), in denen philologisch-historisch vorbildlich gearbeitet wird, und auf Hegels universalhistorische Perspektive, in der allerdings an die Stelle der philologischen Methode bloß abstrakte Konstruktionen getreten sind. Zeller hat nach Diltheys Ansicht mustergültig beide Optionen miteinander verbunden, während für die Darstellung der neueren Philosophie Fischer, Windelband und Høffding seine Vorbilder sind.

Diltheys erklärtes Ziel ist es, eine universalhistorische Perspektive im Stil Hegels zu entfalten, aber im Gegensatz zu Hegel soll die Entwicklung der Philosophie nicht aus der Bewegung der Begriffe im abstrakten Denken konstruiert, sondern von den Tatsachen der inneren Erfahrung des Menschen ausgehend anhand sich bildender Strukturzusammenhänge dargestellt werden, die sich in geschichtlichen Zeitaltern realisieren und auf diesem Weg die Idee einer Geistesgeschichte rechtfertigen.Footnote 7 Bezeichnend ist, dass Dilthey sich für dieses Projekt auf die philosophiehistorischen Überblickswerke von Ueberweg, Erdmann und Windelband bezieht und nicht auf die Quellentexte selbst zurückgeht. Er ist nicht an Quellenkritik oder Erweiterung der Quellenbasis interessiert, sondern an einer besonderen Darstellungsform. Hier artikuliert sich sein Anspruch, Philosophie in Form der universalen Philosophiegeschichte zu präsentieren, auf die der Singular Geistesgeschichte zutrifft, wobei dieser erst durch die Darstellungsform in philosophie- und literarhistorischer Hinsicht legitimiert werden soll. Dieser Anspruch wird sowohl in dem Werk Biographisch-literarischer Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie (2000) als auch in der Berliner Vorlesung Allgemeine Geschichte der Philosophie bis auf die Gegenwart, in ihrem Zusammenhang mit der Kultur, gehalten von 1900 bis ca. 1903 – die ediert auf Grundlage der Mitschriften von Hermann Julius Nohl und Eduard Spranger vorliegt –, deutlich erkennbar. Dabei geht es Dilthey vor allem um die Einlösung der programmatischen Forderung, Zusammenhänge zwischen Philosophie und Religion, Politik, Literatur, Kunst, Recht usw. herzustellen und zum Gesamtbild der einen Geistesgeschichte zu formen.

Angesichts dieses ungeheuerlichen Projekts einer Universalgeschichte der Philosophie ausgehend von ihren europäischen Grundlagen, ist es nicht verwunderlich, dass Dilthey an der Durchdringung der überwältigenden Materialfülle scheitert. Daher behauptet er, dass der Zweck dieses Unterfangens auch nicht in der Häufung der Daten, sondern in ihrer Deutung liegt, also in einer Bewusstwerdung der Philosophie als universal-geschichtlicher Tatsache. »Die Philosophie muß sich, als menschlich-geschichtliche Tatsache, selber gegenständlich werden. Dies fordert, daß sie den Zusammenhang, in welchem sie als geschichtliche Tatsache steht, in die Breite und in die Tiefe sich zum Bewußtsein bringe«.Footnote 8 Dilthey unterstreicht konsequenterweise, dass sein Programm einer hermeneutischen Profilierung der Philosophiegeschichtsschreibung in der Konsequenz bedeutet, dass sowohl für die Analyse der psychischen Lebendigkeit, die sich in einer Vielfalt von Ausdrucksleistungen artikuliert, sowie für die systematisch-psychische Analyse ihres Zusammenhangs (Sprache, Religion, Kunst, Wissenschaft, Philosophie usw.) als auch für die universalhistorisch-vergleichenden Betrachtungen der kollektiven Formen (Sprach- und Literatursysteme, Religions- und Moralsysteme, Wissenschaftsformationen, Philosophien usw.) kein Abschluss möglich ist, wenngleich die Idee der einen Geistesgeschichte in der Bearbeitung der Daten zusehends als Formeinheit der sich selbst beschreibenden und verstehenden Menschheit, d.h. als deren eine Geistesgeschichte, hervortritt.

In seinen nachgelassenen Aufzeichnungen zum Thema Das geschichtliche Bewusstsein und die Weltanschauungen (1931) spricht Dilthey daher auch von der Auflösung bisher etablierter idealistischer oder materialistischer Konzepte über den Zusammenhang von Wahrheit, Welt, System und Mensch. Mit dem Entwicklungsdenken ist seiner Ansicht nach in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts alles in Bewegung gekommen, sodass die einzelnen Korrelationen, bspw. zwischen Welt und Mensch-Sein, Gesellschaft und Individuum, neu verknüpft werden müssen. Diltheys radikalisierte These zur Historiographie der Philosophie lautet: Der Variabilität der menschlichen Daseinsformen entspricht eine Vielfalt der Denkweisen und philosophischen Systeme.Footnote 9 Wie dieses Verfahren methodologisch gefasst werden kann, hat Dilthey unablässig, die Konzepte modellierend, experimentell erprobt. Zu diesen Konzepten gehören seine Arbeiten an den Textkorpora der Naturwissenschaften, bspw. zur Anthropologie und Psychologie der Frühen Neuzeit, zur Gestalt des deutschen Geistes im 18. Jahrhundert und seine Darstellungen zu Leben und Werk Hegels und Schleiermachers. Der Versuch des späten Dilthey, Ordnung im unübersichtlichen Gelände der Geistesgeschichte zu schaffen, stellt seine Abhandlung Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911) dar. Einzelne Argumentationsbausteine verwendend, die sich im Nachlass befinden oder bereits unter dem Titel Das Wesen der Philosophie (1907) erschienen sind, gibt Dilthey hier in einem ersten Teil eine psychologisch-hermeneutische Grundlegung des Konzepts Weltanschauung.

Weltanschauungen sind Einheiten des sich selbst beschreibenden und verstehenden Lebens der Menschheit, in denen die Variabilität und Vielfalt der menschlichen Lebensformen aus der Einheit des individuellen Lebens in eine stabile Allgemeinheit transformiert wird, die jedoch keinen sich abschließenden Charakter radikaler Heterogenität haben, sondern über sich auf die Einheit der Geistesgeschichte hinausweisen. Die Stufen des Aufbaus einer Weltanschauung lauten: Leben, Lebenserfahrung, Rätsel des Lebens, Bildungsgesetz der Weltanschauungen, Struktur der Weltanschauung und Mannigfaltigkeit der Weltanschauungen; hierauf folgt eine Typenbildung der Weltanschauungen in Religion, Poesie und Metaphysik. Die abschließende Skizze der drei Typen der Weltanschauung – Naturalismus, Idealismus der Freiheit und objektiver Idealismus – ist von Dilthey lediglich als heuristisches Mittel gedacht, um »tiefer in die Geschichte zu sehen, und zwar vom Leben aus«Footnote 10 und weiter im Blick auf ihre fundamentale Einheit. Nach seinen eigenen Maßgaben muss die Typenlehre daher als ein völlig unzureichender Versuch angesehen werden, Breite und Tiefe der zu behandelnden Phänomene zu erfassen.

In handschriftlichen Zusätzen unter der Überschrift Die Versuche, die Gliederung der Geschichte der Philosophie aufzufinden (1931), die der Typenlehre zugeordnet sind, sucht Dilthey nach einer Rechtfertigung dieser Konzeption und wendet sich dem problemgeschichtlichen Modell Windelbands zu. Auf die Frage, was uns berechtigt, bspw. Demokrit und Claude-Adrien Helvetius über die Jahrhunderte, Sprach- und Kulturgrenzen hinweg ein und derselben Partei oder Weltanschauung zuzurechnen, muss eine Antwort gegeben werden. Einen neuen Ansatz hierzu findet er in der Hypothese, dass »die Geschichte der Philosophie […] sonach der Kampfplatz dieser einander ausschließenden Theorien [ist], welche auf die Lösung der Probleme gerichtet sind«.Footnote 11 Wie das Leben im Kreislauf zwischen Geburt und Tod, in dem eine interne Notwendigkeit des Verlaufs waltet, die sich zur Einheit schließt, so dreht auch die Philosophie sich ebenfalls im Kreis, wobei einzelne Philosophen immer wieder auf die gleiche »Problemverschlingung«Footnote 12 zurückkommen und mit einer begrenzten Zahl von Antwortmöglichkeiten auskommen müssen. Der Vorteil dieser Hypothese ist, dass wir davon sprechen können, dass wie im Leben so auch »sachliche und notwendige Zusammenhänge innerhalb der Geschichte der Philosophie«Footnote 13 walten. Die Anzahl der Möglichkeiten philosophischer Argumentation sind begrenzt durch die geschichtlich bedingten Schranken des Erfahrungswissens. Daher ist auch ein Vergleich über historische, soziale und kulturelle Grenzen hinweg möglich, weil die Anzahl der philosophischen Rätselfragen begrenzt ist. Auch die Folge der Probleme kann nach Diltheys Auffassung nicht willkürlich sein, womit für die Philosophiegeschichtsschreibung die Aufgabe entsteht, in dem beschränkten Kreis von Möglichkeiten philosophischen Argumentierens eine logische Folgerichtigkeit der Problemfolge zur Darstellung zu bringen. »So liegt in der Art, wie die Probleme einander bedingen, alsdann darin, wie jedes verschiedene Möglichkeiten der Lösung in sich einschließt, ein bestimmter Umkreis von Möglichkeiten, in welchem die Geschichte der Philosophie verlaufen muß«.Footnote 14

An diesen Überlegungen entlangschreitend kommt Dilthey abschließend zu der Denkmöglichkeit, dass die Geschichte der Philosophie als eine »rationale Ordnung […], nach welcher philosophische Gedanken einander folgen«Footnote 15, angesehen werden könnte. Wenn das möglich ist, dann sind alle Zeiten, alle Länder, eine unbegrenzt große Zahl von denkenden Menschen und ihre variierenden Lebensformen als Teilgeschehen eines universalen Zusammenhangs des kulturellen Lebens aufzufassen, der den Namen Geistesgeschichte trägt. Tatsächlich wird bei Dilthey auf diese Weise die Historiographie der Philosophie zur Grundlagendisziplin, weil sie für die Hypothese einer folgerichtigen, alle Einzelbefunde in den einen Zusammenhang der Geistesgeschichte stellenden Sozial‑, Literatur- und Kulturgeschichten in ihrem Bereich, der Philosophiegeschichte, die systematisch-historische Grundlage, den Entwurf einer rationalen Ordnung der Denk- und Lebensformen, gibt.

Das Dilthey-Projekt kommt einer Zusammenschau von Methoden und Perspektiven gleich, die anhand einer großen Quantität von Textkorpora überprüft werden soll. Würden wir heute noch einmal, dann aber wohl nicht als Einzelperson, sondern im Rahmen einer Forschergruppe, dieses Projekt aufgreifen, dann würden wir auf die Digitalisierung der Textkorpora und deren Auswertung in herkömmlichen und technisierten Verfahren des distant readings setzen. Auch Dilthey hat das Lesen auf Distanz bereits beherrscht, denn ohne diese Technik der beschleunigten Informationsverarbeitung hätte er seine Forschungsergebnisse nicht vorlegen können.

Abgesehen von diesen Überlegungen zu den neuen Herausforderungen an Textkritik und Hermeneutik muss ich aber noch auf zwei Punkte hinweisen, die auf das Dilthey-Projekt ein kritisches Schlaglicht werfen.

Erstens ist das Konzept Geistesgeschichte nicht zu Unrecht vehement kritisiert worden. Das Problem tritt dort zu Tage, wo weiterhin von der einen Geistesgeschichte die Rede ist, deren Ursprünge im europäischen Denkraum liegen und die von hier ausgehend alle geistigen und soziokulturellen Differenzen sukzessive in sich aufnimmt und aufhebt. In diesem Sinne steht das Konzept Geistesgeschichte in der geschichtsphilosophischen Tradition der großen Entwürfe um 1800 (Herder, Hegel, Ritter). Schon in den 1920er Jahren hat Max Scheler Kritik an einer falschen Globalisierung im Modus einer Europäisierung der Welt geübt und die außereuropäischen Kulturen zum Widerstand aufgerufen. Aber in den 1930er Jahren hat Edmund Husserl in seiner Analyse einer Krisis der Wissenschaften die Vorstellung der einen, in Europa gedachten Vernunft und der einen, von Europa sich ausbreitenden Geistesgeschichte rehabilitiert. In neueren Entwürfen, die sich zurückhaltend auch eine Geschichte der Philosophie nennen, bleibt die eurozentrische Perspektive virulent. Und diese Haltung wird zunehmend als Problem erkannt, insofern hier nicht das Gespräch zwischen den Kulturen eröffnet, sondern zugleich auch die Zielperspektive jeder Geschichtsschreibung von Philosophie mitgeliefert wird.Footnote 16

Zweitens zeigt das Konzept der Geistesgeschichte bei genauem Hinsehen, und dafür war eine kurze Darstellung von Diltheys Bemühungen hilfreich, dass wir nicht einfach von ihm loskommen. Gerade die Beobachtung und Erfassung geistig-kultureller Differenzen, der Denk- und Lebensformen, und die Eröffnung des Gesprächs über diese Differenzen (und eventuell auch Gemeinsamkeiten) bedarf einer heuristischen Folie. Für Dilthey war es selbstverständlich, dass Verständigung ein Bemühen um wechselseitiges Verstehen voraussetzt; dieses wiederum setzt kleine Rationalitäten der Kommunikation und die Möglichkeiten einer Ordnung des Gemeinsamen voraus: »Immer umgibt uns diese große äußere Wirklichkeit des Geistes. Sie ist eine Realisierung des Geistes in der Sinnenwelt vom flüchtigen Ausdruck bis zur jahrhundertelangen Herrschaft einer Verfassung oder eines Rechtsbuchs. Jede einzelne Lebensäußerung repräsentiert im Reich des objektiven Geistes ein Gemeinsames.«Footnote 17 Was hier als Einheit bezeichnet wird, ist jedoch kein Gegebenes, sondern ein erlebter Zusammenhang, also auch das strukturelle Moment und das Ergebnis von individueller und kollektiver Tätigkeit. Wenn wir diesen Grundgedanken ernstnehmen, dann gibt es zwei Hinsichten auf das Dilthey-Projekt: Nämlich einmal die von Dilthey selbst realisierte, zumindest in den Grundzügen skizzierte, Fassung einer Geistesgeschichte, deren Anfangs- und Zielpunkt in einer europäischen Rationalität liegt. Und ein andermal die von Dilthey erdachte Einheit einer Geistesgeschichte im Sinne einer Akkumulation individueller und kollektiver Denk- und Lebensformen, die in ihren Differenzen und Gemeinsamkeiten beobachtet und reflektiert werden, um so am Aufbau einer Geistesgeschichte der globalen Welt zu arbeiten. Dieser zweite Aspekt der Dilthey’schen Theorie der Geistesgeschichte ist brandaktuell.