Nicht erst heute gehört »das Lexem ›Geistesgeschichte‹ […] einer anachronistischen Semantik«Footnote 1 an. Als der vom DVjs-Mitbegründer Paul Kluckhohn im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (1958) auf Diltheys Tod im Jahr 1911 datierte Siegeszug der Geistesgeschichte begannFootnote 2, hatte der heute als Held der ›ersten‹ Kulturwissenschaften gefeierte Heinrich Rickert den Begriff des Geistes in all seinen philosophischen Spielarten bereits für obsolet und wissenschaftstheoretisch unbrauchbar erklärtFootnote 3. Sonderlich lange hat ›die Epoche der Geistesgeschichte‹ auch nicht gewährt, Ende der 20er-Jahre sei sie »mit dem Erscheinen literaturgeschichtlicher Epochendarstellungen in das Stadium der ›Handbuchwissenschaft‹ eingetreten«Footnote 4. Und zu Beginn der 30er-Jahre störte sich nicht nur die erstarkende nationalsozialistische Wissenschaft an der Geistesgeschichte als »Erlebniswissenschaft«Footnote 5 »philosophische[r] Hochstapler« und »Pseudokünstler«Footnote 6. 1947 heißt es bei Kurt May: »Ein neuer Anschluss an die geistes-, ideen-, problemgeschichtliche Linie von den zwanziger Jahren wäre heute unmöglich und bedenklich.«Footnote 7

Beerdigt wurde die Geistesgeschichte also mehr als einmal, übrigens auch in der DVjsFootnote 8. Im Jubiläumsheft zum 50. Geburtstag merkte Klaus Weimar 1976 in seinem damals bahnbrechenden Aufsatz zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft über das Kapitel der Geistesgeschichte an: »Die Geistesgeschichtler haben es in der Tat bisweilen wunderlich getrieben und so manchen geärgert; als Strafe müssen sie immer noch als wesenlose Schatten umgehen und ahnungslose Leute erschrecken.«Footnote 9 Obwohl der kurze Sonderweg der deutschen Geistesgeschichte inzwischen zu den am besten erforschten Gebieten der seit Beginn der 90er-Jahre institutionell enorm gestärkten Fachgeschichte der Germanistik gehörtFootnote 10, ist der notorisch unübersetzbare Begriff ein ziemlich konturloses und wohl auch deshalb nicht tot zu kriegendes Schreckgespenst geblieben. Dabei hätte man von Kittler lernen können, dass die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« ein Bewegungs- und Selbsterhaltungsgesetz ihrer Geschichte ist: Keine Austreibung war bisher von bleibendem Erfolg gekrönt; eine jede produzierte Abfälle, denen man sich so oder anders widmen konnte.Footnote 11 Auch Klaus Weimar begann seinen Aufsatz 1976 mit der Warnung, dass die heroischen Neueinsätze häufig so neu nicht waren. Er hat auch moniert, dass die nach der legendären Intervention Eberhard Lämmerts auf dem Germanistentag 1966 einsetzende germanistische Fachgeschichte vor allem als Genealogie der eigenen Position betrieben wurde.Footnote 12 Als Feindbild sind Gespenster besonders tauglich. Los wird man sie auf diese Weise jedoch nicht.

Im vorgelegten Exposé wird das Gespenst ›der Geistesgeschichte‹ im Zeichen von »Philosophie und Philosophiegeschichte« dingfest gemacht. Diesem Primat sei gedankt oder geschuldet, dass sich ›Geistesgeschichte‹ als ein »einheitlicher Diskursraum« habe entfalten können.Footnote 13 Während die ersten Nummern der Zeitschrift diesen Eindruck zu bestätigen scheinen, fehlt eine entsprechende Akzentsetzung in den Ausführungen zum Lemma Geistesgeschichte in den zwei Ausgaben des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft (Paul Kluckhohn 1958, Klaus Weimar 2007), obwohl (oder auch weil) dieses Handbuch ein Projekt der Geistesgeschichte war: In seiner ersten Ausgabe (Merker/Stammler 1925-31) kommt das Lemma nicht vor, und erst bei der jüngsten Ausgabe von 2007 rückte man vom ursprünglichen Titel Reallexikon der Literaturgeschichte ab. Kluckhohns knappe Beispielliste in der Ausgabe von 1958 umfasst neben seinen eigenen Büchern (z.B. Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und der Romantik [1922]) noch Ungers Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert (1911), Korffs Geist der Goethezeit (1923-57) und Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist (1927).Footnote 14 Zwar rufen alle Titel einen Geist herbei, aber wes Geistes Kind der ist, erfährt man nicht. Philosophie findet bei Kluckhohn, Unger und Korff denn auch nicht aus methodologischen oder theoretischen Überlegungen, sondern vor allem aus Sachgründen Berücksichtigung. Mit dem Konzept der Konstellationsforschung hat Dieter Henrich später auf den bleibenden Umstand reagiert, dass eine Geschichte des deutschen Idealismus einschließlich Romantik nun einmal weder als reine Literatur- noch als reine Philosophiegeschichte geschrieben werden kann.Footnote 15 Um die Geschichtsschreibung dieser ›jüngeren‹ Epochen und Gegenstände ging es den ›wunderlichen Geistesgeschichtlern‹ aber vor allem. Ihr Ziel war die literarhistorische Bearbeitung und damit auch Aufwertung älterer Epochen wie Barock, aber auch der Romantik, die als literaturgeschichtsfähige Gegenstände erst erschlossen werden mussten.Footnote 16 Mit diesem literaturgeschichtlichen Programm traten die Vertreter der Geistesgeschichte gegen die noch dominante und überwiegend positivistische Philologie-Tradition und ihre Vertreter an. Die wehrten sich nach Kräften.Footnote 17 Dass es dabei auf Seiten der Geistesgeschichte auch um nationalistische Interessen ging, steht außer Frage, aber ihre Einheit gewinnt die Geistesgeschichte nicht über den Begriff eines deutschen Geistes, sondern aus ihrem Konflikt mit einer akademischen Philologie, die Barock, Idealismus und Romantik kategorisch exkludierteFootnote 18. Rainer Rosenberg hat schon 1981 nüchtern und detailreich aufgezeigt, wie groß die Differenzen zwischen dem jeglicher ›Prinzipienwissenschaft‹ abholden Dilthey, aber auch zwischen Oskar Walzel, Rudolph Unger, Fritz Strich und Joseph Nadler waren, dass sich z.B. sowohl Unger wie Walzel um Absetzung von Gundolf als Mitglied des George-Kreises bemühten und beider Verhältnis zu Nadlers literarhistorischer Stammesgeschichte ebenfalls konfliktträchtig war.Footnote 19 Unter dem nominellen Dach der Geistesgeschichte herrschte nicht die Philosophie, sondern »Methodenpluralismus«Footnote 20 und entsprechender Streit.

Klaus Weimar hat 1976 den Finger in die Wunde der sich historisierenden Germanistik und ihrer fachgeschichtlichen Selbstreflexion gelegt. Deren ideologiekritische Schlagseite (die, es sei gesagt, beim überzeugten Marxisten Rosenberg fehlt) hatte er scharf im Blick. Die Geistesgeschichte sei »durchaus nicht die letzte Stufe vor dem Nationalsozialismus«; überdies hielt er fest, dass »eine fundamentale Auseinandersetzung mit der geistesgeschichtlichen Methode immer noch aussteht«.Footnote 21 Dass das bis heute trotz üppiger Forschung ein Desiderat geblieben ist, bedeutet wohl, dass es eine einheitliche geistesgeschichtliche Methode gar nicht gegeben hat, sondern bloß einen eklektischen und spannungsreichen Methoden-Mix, der Ideen- und Begriffsgeschichte ebenso einschloss wie stiltypologische und biologistische Ansätze. Niedrigschwelligere Darstellungsmuster und gewisse Stillagen kaschieren allenfalls faktische Heterogenität im Methodischen. Die zahlreichen seit den 90er-Jahren vorgelegten Einzelstudien zur Geistesgeschichte konnten die Abwesenheit einer einheitlichen Methode auch mit der mangelnden akademischen Beheimatung und entsprechender Präferenzen für das Feuilleton und die Essayform begründen, was wiederum über den Vorwurf des ›Schöngeistigen‹ mit antisemitischen Ressentiments gegen die Geistesgeschichte zusammenhängtFootnote 22. Sie spielten z.B. eine entscheidende Rolle bei der Nachbesetzung des Berliner Lehrstuhls von Erich Schmidt.Footnote 23

In dieser Perspektive auf Geistesgeschichte als unübersichtliche Gemengelage kann man mit ihrer Fortführung im Namen der Zeitschrift einigermaßen entspannt umgehen. Die damals innovativen Ansätze, etwa die Begriffs- und Ideengeschichte, aber auch die Stilanalyse, haben sich weiterentwickelt und gehören heute so selbstverständlich zum literaturwissenschaftlichen Instrumentarium wie jüngere, etwa mediengeschichtliche oder praxeologische Ansätze. Der raunende Ton, der heute monolithisch wirkende Höhenkamm-Kanon, das ist alles Schnee von gestern. Man könnte meinen, dass das Gespenst der Geistesgeschichte mit dem offenen Bekenntnis zum Methodenpluralismus und der Selbstverpflichtung auf methodologisch-theoretische ReflexionFootnote 24 endgültig befriedet worden sei.

Man kann es aber auch anders sehen und gegenläufig behaupten, wir befänden uns derzeit in einer Situation, die sich (wieder) durch das Bedürfnis nach übergreifenden »Synthesen« auszeichnet. Es könnte sein, dass uns derzeit als solche nicht erkannte revenants der Geistesgeschichte heimsuchen. Da wäre zum Beispiel die geistesgeschichtliche Obsession mit den Epochen. Nicht gemeint sind damit unverzichtbare PeriodisierungstechnikenFootnote 25, sondern der Umstand, dass wir in der neuen Epoche des Anthropozän leben, der alle geisteswissenschaftlichen Fächer ziemlich unmittelbar betrifft. Chakrabarty hat mit seinem inzwischen kanonischen Text The Climate of History die Konsequenzen gezogen.Footnote 26 Und es dürfte auch kein Zufall sein, dass nach Jahrzehnten der Mikrohistorie nun ›Big History‹ reüssiert und sich das Problem der Tiefenzeit in viel beforschter climate fiction großer Beliebtheit erfreut.Footnote 27 Ecocriticism ist nicht mehr nur ein Feld unter anderen, sondern in manchen Augen im Anthropozän zu einer regulativen Idee für eine Neuorientierung aller Geistes- und Kulturwissenschaften geworden.Footnote 28 An Großbegriffen mit maximaler Reichweite, aber unscharfen Konturen ist auch sonst kein Mangel: Ökologie und WeltliteraturFootnote 29 gehören ebenso dazu wie die ubiquitäre Diversität und ihr omnipräsenter Gegenspieler, der Neoliberalismus. Von der Habermas’schen »Unübersichtlichkeit«Footnote 30 ist kaum noch etwas zu spüren. Neue Formen eines Ganzen, funktionale Äquivalente des Geistbegriffs, drängen, mal mit und mal ohne Metaphysik, derzeit auf breiter Front in den Vordergrund.Footnote 31

So gesehen wäre die Frage nach unserem Verhältnis zur Geistesgeschichte heute doch noch einmal anders aufzurollen. Dabei kann es nicht einfach darum gehen, den aktuellen Entwicklungen geistesgeschichtliche Rückstände oder Rückständigkeiten zu unterstellen: Wir sind noch (oder wieder) geistesgeschichtlicher als wir glauben. Aber bemerkenswert bleibt die Ähnlichkeit des schillernden und absorptionsfähigen Geistbegriffs, der ganz unterschiedliche Methoden hegte, mit unseren jüngeren Großbegriffen, die auch ganz unterschiedliche Methoden versammeln. Interessant und fruchtbar dürfte ein Vergleich der jeweiligen Synthetisierungsbedürfnisse sein, was in diesem Rahmen aber nicht zu leisten ist. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sie sich heute wie vor 100 Jahren Umbrüchen, Kriegen und Krisen verdanken. Die in der Zwischenkriegszeit so prominente und nach 1945 für Jahrzehnte abgetauchte Geopolitik ist seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ja auch wieder zurück. Darüber hinausgehende Vergleiche dieser und jener 20er-Jahre sind jedoch, wie alle historischen Vergleiche, wenig sinnvoll.

Aber im Anschluss an die mehr oder weniger anti-oder extra-akademischen Aktivitäten vieler Geistesgeschichtler sei noch ein aktueller Trend angeführt, der uns heute teils mit der alten Geistesgeschichte verbindet, teils aber auch von ihr trennt. Wir schicken uns nämlich an, eine angewandte Wissenschaft zu werden. Das betrifft weniger die Digital Humanities, bei denen Anwendung, etwa in der Kunstgeschichte und im Editionsgeschäft, vor allem Verfügbarmachung von untersuchbaren Materialien meint. Diese Form der Anwendung deutet eher in die Richtung einer Re-Philologisierung und spielt so der von der Geistesgeschichte ehemals befehdeten Philologie in die Hände. Nein, es geht um einen dem Synthesebedürfnis verschwisterten und vielleicht sich aus ihm mit einiger Zwangsläufigkeit ergebenden Zug zur Intervention. David Kim ist nicht der Einzige, der angesichts fraglos akuter Bedrohungen eine »aktivistische Wissenschaft« fordertFootnote 32. Das ist nun wahrlich nichts Neues. Wissenschaft hat spätestens seit der Aufklärung immer auch politisch agiert und sich gesellschaftspolitisch positioniert, auch die Geistesgeschichtler haben es getan. Neu scheint jedoch zu sein, dass die Wissenschafts- und Förderorganisationen, die Geldgeber und also letztlich (in Deutschland und der EU) die Politik, die oft Zielscheibe aktivistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren, nun ihrerseits einen solchen Aktivismus einfordern: Kein DFG-Antrag, in dem nicht die Frage zu beantworten ist, was das Projekt zum Problem der Geschlechterungleichheit beiträgt (oder nicht). Transfer, third mission, Wissenschaftskommunikation, outreach, public humanities, engaged scholarship und impact lauten die entsprechenden Schlagworte. Die VolkswagenStiftung hat nach einer externen Evaluierung ihr Förderportfolio kürzlich umstrukturiert und thematisch ausgerichtet: Wer nicht über die Pandemie, soziale Ungleichheit, den Klimawandel oder Digitalisierung forscht, braucht sich gar nicht erst zu bewerben. Auch das jüngst mit viel Geld gegründete New Institute in Hamburg hat sich den praktischen Anwendungsbezug geisteswissenschaftlicher Forschung auf die Thinktank-Fahnen geschrieben.Footnote 33 Man muss kein Anhänger von Max Weber sein, um angesichts der befremdlichen Allianz eines sowohl von ›unten‹, zumal in der jüngsten Generation zunehmend eingeforderten, und von ›oben‹ gleichzeitig eingeklagten Aktivismus etwas unruhig zu werden. Was könnte denn bei diesen synchronen Entwicklungen unter Umständen auf der Strecke bleiben? Bloß ›Schöngeistiges‹?

Verlieren könnte man eine Frage, die zuerst von Dilthey und dann in den vielen Facetten der deutschen Geistesgeschichte als ein methodisches und theoretisches Problem von Rang überhaupt erst identifiziert worden war: die Literaturgeschichte. Der Geistesgeschichte ist zu danken oder geschuldet, dass Literaturgeschichte zu einer »Provokation«Footnote 34 werden konnte und geblieben ist. Wenn das Philosophische, das Geist-Geraune, aber auch die methodischen Innovationen (wie Begriffs- und Ideengeschichte) tatsächlich primär einen Ausdruck geistesgeschichtlicher Bemühungen um die Möglichkeiten einer (neueren und neusten) Literaturgeschichte darstellten, dann sehe ich nicht, dass dieses Problem bisher gelöst worden wäre. Zu fürchten steht vielmehr, dass es als Problem und Frage ganz verschwindet. Der New HistoricismFootnote 35 war theoriegeschichtlich gesehen vielleicht die letzte satisfaktionsfähige Auseinandersetzung mit ihr. Hinter dem Anspruch, dass die Literaturgeschichte eine Geschichtsschreibung verdient, die weder solipsistisch in sich selber kreist noch auch nur Reflex der sie je mitbedingenden historischen (sozialen, medialen, materialen, ökonomischen, praxeologischen) Verhältnisse (einschließlich Kolonialismus und Rassismus) ist, dahinter steckte, wie auch immer ideologisch verbrämt und instrumentalisierbar, oft verirrt und methodisch unbeholfen, ein Anspruch auf die Relevanz von Literatur tout court und sui generis.

Literaturwissenschaft kann heute auf sehr viel mehr Weisen betrieben werden als in den 20er-Jahren, in denen eine Geistesgeschichte kurzfristig Sturm lief gegen eine ältere Philologen-Zunft. Und das ist gut so. Als Literaturwissenschaft, nicht als Philosophie oder Philologie, hat die sogenannte Geistesgeschichte einen emphatischen Literaturbegriff in die Welt gesetzt. Seine Ansprüche sind weder abgegolten noch durchdacht, weder obsolet noch durchgearbeitet. Ich kann mir unser Fach ohne diesen anachronistisch insistierenden Rest-Geist nicht vorstellen.