Wie die Herausgeberinnen und Herausgeber in ihrer Einladung zur Teilnahme an den Überlegungen dieses Sonderhefts betonen, gehört der im Titel der DVjs verewigte Methodenbegriff der Geistesgeschichte zu den von Patina überzogenen Exemplaren seiner Klasse und insofern wohl wirklich zu »einer anachronistischen Semantik«.Footnote 1 Anders als die Disziplinbezeichnung »Literaturwissenschaft«, mit deren Gebrauch es angesichts weit auseinanderdriftender, gar in »postdisziplinären« Verhältnissen versäulter Aufgabenverständnisse und Textumgangspraktiken inzwischen freilich auch seine liebe Not hatFootnote 2, steht »Geistesgeschichte« für eine selbst historisch gewordene und längst auch historisierte Formation der Literaturgeschichtsforschung: »Literaturwissenschaftliche Richtung im ersten Drittel des 20. Jhs.« – so heißt es bündig und einschränkungslos retrospektiv in dem entsprechenden, von Klaus Weimar verfassten Artikel des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft.Footnote 3 In der Wortgebrauchsexplikation, die sich an die zitierte Begriffsbestimmung anschließt, unterscheidet Weimar dann allerdings zwischen Geistesgeschichte als Label jener literaturwissenschaftlichen Schule, »die in den letzten Jahren vor dem 1. Weltkrieg in Erscheinung getreten ist und vor allem in den 1920er Jahren die fachinterne Diskussion beherrscht hat«, und Geistesgeschichte als Bezeichnung eines in vielen Disziplinen, nicht nur der Literaturwissenschaft, in vielerlei Konkretion nützlichen Aspekts historischer Wissensbildung: »Im allgemeinen Sprachgebrauch steht Geistesgeschichte zusammen mit politische Geschichte oder Wirtschaftsgeschichte in der Reihe der Bezeichnungen für partielle Bereiche oder Aspekte der Geschichte bzw. für deren Darstellung.«Footnote 4

In der Tat tut man gut daran, diese Unterscheidung nicht aus den Augen zu verlieren. Denn so wenig man heute noch sein Genügen an den der Kritik verfallenen Begriffsbildungen, Textexegesen und Geschichtserzählungen eines Rudolf Unger, Hermann August Korff oder Fritz Strich finden kannFootnote 5, und so wenig man es unterm postnationalen Apriori der Gegenwart wünscht oder wagt, sich auf eine Neuauflage des au fond nationalhermeneutischen Selbstverständnisses der DVjs-Gründungsherausgeber Paul Kluckhohn und Erich Rothacker einzulassenFootnote 6, so sehr bleibt die Doppelaufgabe der geistesgeschichtlichen Erhellung von Literatur und der Erhellung geistesgeschichtlicher Lagen und Prozesse durch Literatur eine Daueraufgabe der Literaturwissenschaft.

Die Gründe liegen auf der Hand: Literarische Texte und die sie seit alters begleitenden Diskurse der Poetik, der Rhetorik, seit dem 18. Jahrhundert auch der Ästhetik sind auf vielfältige Weise durch Vorgaben bedingt und auf Vorgaben bezogen, die sich mit der elastisch aggregierenden Sammelbezeichnung im Titel der DVjs als geistesgeschichtlich identifizieren und so von andersartigen, sagen wir sprachgeschichtlichen, sozialgeschichtlichen, politikgeschichtlichen oder mediengeschichtlichen Vorgaben und Faktorenkomplexen abheben lassen, die mit ihnen freilich wiederum auf mancherlei Weise verschränkt sein können. Wer nun die betreffenden Bestände, ihre Herkunft, semiotische Repräsentanz und semantische Komplexion, nicht oder nur unzureichend kennt, läuft in der Beschäftigung mit Versepen, Dramen, lyrischen Gedichten, poetologischen Traktaten, Novellen, Romanen, Hörspielen, Reiseberichten, Briefen, Tagebüchern, Weblogs und Essays, kurzum: mit allen Formen literaturwissenschaftlich relevanter Literatur auf Sand – im Kleinen wie im Großen. Sei es, dass Anspielungen nicht verstanden werden, sei es, dass Hintergründe oder Umgebungen opak bleiben, zu denen sich die jeweils thematischen Texte als intentional verantwortete Produkte der Schreibhandlungen ihrer Autorinnen oder Autoren ins Verhältnis setzen – hier affirmativ, dort kritisch, in wieder anderen Fällen ambivalentisierend, spielerisch entlastet oder sonst wie.

Weil das so ist, weil literaturwissenschaftlich relevante Literatur repetitives Tradiergut von mancherlei Art und Größenordnung verarbeitet – theoretisch oder lebenspraktisch orientierende Begriffe und Urteilsmuster zum Beispiel, ebenso Moralen und deren Reflexionstheorien, Philosopheme, Weltanschauungen und weltanschauungsbasierte Wertordnungen, Mentalitäten und Lebensgefühle, Religionen, Konfessionen und vieles mehr –, ist es schlicht und einfach unerlässlich, sich der entsprechenden Einheiten in ihrer geschichtlichen Dynamik zu versichern, um dieses seinerseits dynamische, auf Expansion und Vertiefung angelegte Bezugswissen, das man in anderen Sprachen freilich nicht »geistesgeschichtlich« nennt, sondern in variabler Akzentuierung den Forschungstraditionen der intellectual history, histoire des idées oder storia delle idee zurechnet, in gehöriger Dosierung in die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur und ihren Begleitdiskursen einfließen zu lassen. Wechselwirkungen investigativer Dialektik stellen sich dabei schon insoweit ein, als Literatur, die sich angemessen nur im Lichte geistesgeschichtlicher Kenntnisse verstehen lässt, welche aus anderen, untersuchungspraktisch vorgeordneten Quellen zu schöpfen sind, ihrerseits zur Quelle für weitergreifende Untersuchungen geistesgeschichtlich ergiebiger Forschung wird – selbstverständlich nicht nur innerhalb der Literaturwissenschaft.Footnote 7

Pseudoexplanatorische Hypostasen wie die des »Gesamtgeistes« einer Zeit oder Epoche, mit denen Vertreter der Geistesgeschichte im Schulsinne bekanntlich rasch bei der Hand warenFootnote 8, spielen in solchen Untersuchungen, die inzwischen standardmäßig der chronologischen Gleichzeitigkeit des intellektuell Ungleichzeitigen wie überhaupt der Nicht-Homogenität historischer Zeiträume eingedenk sindFootnote 9, keine Rolle mehr; ebenso wenig die allemal unproduktive Abschottung spezifisch geistesgeschichtlicher Untersuchungs- und Auslegungsmodalitäten gegen andersartige Zugriffsweisen, formgeschichtliche etwa oder sozialgeschichtliche oder, neuerdings gern erprobt, praxeologische. Stattdessen herrscht ein forschungspragmatisch flexibler, in seinen besten Versionen – nicht alles ist gleich fruchtbar oder unfruchtbar – kritischer Pluralismus der Aspektbildungen und Methodenallianzen.

Dass die Kultivierung unterschiedlicher Forschungsperspektiven der Literaturwissenschaft förderlich ist, dass sie gesteigerte Umsicht und aus gesteigerter Umsicht erwachsende Formen intra- oder interdisziplinärer Zusammenarbeit zwar nicht garantiert, wohl aber auf institutionalisierten Wegen erreichbar macht, hat man freilich auch schon vor hundert Jahren gesehen. Die Absage an eine monopolistische Überspannung just des von ihnen selbst vertretenen Paradigmas der Geistesgeschichte, die Kluckhohn und Rothacker im Geleitwort zur ersten Nummer der DVjs formuliert haben, bleibt in diesem Zusammenhang ein denkwürdiges Zeugnis: »Neben der geistesgeschichtlichen Richtung, vornehmlich Diltheyscher Schule, soll besonders die form- und stilanalytische gepflegt werden. Gerade eine Vereinigung dieser beiden Methoden scheint fruchtversprechend und wegweisend. Auch andere Richtungen, so die literatursoziologische, sollen zu Worte kommen und Untersuchungen zur Poetik und methodologische Erörterungen die Selbstbesinnung der Wissenschaft fördern. Für Arbeiten aller Methoden aber wird philologische Strenge und Gewissenhaftigkeit selbstverständliche Voraussetzung bleiben müssen.«Footnote 10

Ob unsere universitären Ausbildungssysteme genug dafür tun, die demnächst nachrückende Generation von Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern in den Stand zu versetzen, den von Kluckhohn/Rothacker in einem völlig überzeugenden, mittlerweile natürlich auf mancherlei weitere Paradigmeneinsetzungen auszudehnenden Orientierungsschema umrissenen Optionen und Obligationen literaturwissenschaftlicher Arbeit zu entsprechen? Kleinteilig parzellierte, mit geringen und, wie ich zu beobachten glaube, immer geringeren Lesemengen kalkulierende Studiengänge dürften im Verein mit der vielerorts auffälligen Absenz kritisch-komparativer Lehrveranstaltungen zur Vermessung der respektiven Leistungsvermögen in der Literaturwissenschaft selbst generierter oder aus anderen Disziplinen übernommener Theorie- und MethodenangeboteFootnote 11 wenig geeignet sein, die geschichtliche Weite und sachliche Komplexität des Phänomens Literatur und die ihm gegenüber unbestreitbare Ergänzungsbedürftigkeit aller, also allemal auch der eigenen, typischerweise entlang kontingenter Schul- oder Institutstraditionen verfolgten Fragestellungen und Vorgehensweisen ins Bewusstsein zu heben. So oder so: Navigationssicher lässt sich an dem Netzwerk der Interpretationen, dessen Unabdingbarkeit Siegfried Kracauer in der dieser Stellungnahme als Motto dienenden Überlegung so eindringlich und mit einer markanten Verbeugung vor Diltheys hermeneutischem Holismus der Methodenkomplementarität unterstreicht, nur auf der Basis weit ausgreifender Text‑, Theorie- und Methodenkenntnisse mitwirken. Suggestionen des Gegenteils indizieren Parochialismen, und sei es den Parochialismus des jeweils allerjüngsten Turns.

Das eigentlich Missliche der in den Selbstverständigungsdiskursen (nicht nur) der Literaturwissenschaft grassierenden Turn-Rhetorik besteht ja darin, dass sie die nüchterne Frage nach der unausweichlichen Aspekthaftigkeit, nach den sachlichen und epistemischen Grenzen der jeweils empfohlenen Zugriffsweisen gar nicht erst aufkommen lässt oder doch jedenfalls als eine theoretisch und wissenschaftspraktisch nachrangige Frage behandelt. Wir wären aber gewiss besser beraten, wenn man entsprechende Reflexionen in die Programmatik der neu aufkommenden oder unter neuem Namen reaktivierten Positionen selbst einschalten würde. Wohin Interpretationsparadigmen reichen und wohin nicht, sollte man füglich wissen, um sich ihrer, anstatt mit blindem Eifer, mit Augenmaß, dem Arbeitsmodus reflektierter PartialitätFootnote 12, bedienen zu können.

Was nun die Begriffsgeschichte als eine innerhalb des Methodenpools der Literaturwissenschaft seit Jahrzehnten bewährte Form historischer Semantik angeht, so stand und steht sie glücklicherweise nicht in der Gefahr zu einem Turn, einer vermeintlich spielverändernden Leitorientierung in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur hochgejubelt zu werden. Eine Eigenentwicklung des Fachs ist die in vielen Disziplinen relevante Begriffshistorie ja ohnehin nicht, so sehr selbstverständlich bedeutende Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler bedeutende Beiträge zur Begriffsgeschichtsschreibung geleistet haben.Footnote 13 Theoretisch-methodologisch und wissenschaftsorganisatorisch ging die maßgebliche Förderung begriffshistorischer Forschung vielmehr von der Philosophie und der Geschichtswissenschaft aus. Und so sind es denn auch prominente Philosophen und Historiker, an die das Stichwort zu allererst denken lässt: an Erich Rothacker als Gründungsherausgeber des Archivs für Begriffsgeschichte, an Joachim Ritter als Gründungsherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, an Hans-Georg Gadamer, der zwar nur beinahe zum Mitherausgeber dieses Wörterbuchs wurdeFootnote 14, als eine weit über philosophische Fachkreise hinaus einflussreiche Figur jedoch seinerseits viel für die wissenschaftskulturelle Verankerung und Verbreitung der Begriffshistorie getan hatFootnote 15, ebenso freilich an Hermann Lübbe, dem eine methodisch wegweisende Monographie und unerreicht scharfsinnige Reflexionen zur Bestimmung der epistemischen Zwecke begriffsgeschichtlicher Forschung zu verdanken sindFootnote 16, sowie an Reinhart Koselleck, den nach Wirkmacht überragenden Mitherausgeber und spiritus rector der Geschichtlichen Grundbegriffe, des im Zeichen der Koselleck’schen Sattelzeit-Hypothese zum historiographischen Monument einer methodisch doppelt innovativen Verbindung von Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, Begriffsgeschichte und geschichtswissenschaftlicher Moderne-Forschung avancierten Historischen Lexikons der politisch-sozialen Sprache in Deutschland.Footnote 17

Noch einmal also: Was die theoretische Begründung und methodische Normierung begriffshistorischer Praxis angeht, war und ist die Literaturwissenschaft keine exportierende, vielmehr eine importierende, eine übernehmende und lernende Disziplin. Die Resultate dieses Imports können sich freilich sehen lassen – sowohl quantitativ als auch qualitativ. Man könnte das auf breiter Basis belegen. Ich will mich hier jedoch auf einen einzigen Hinweis von gleichsam fachoffizieller Repräsentativität beschränken. Er gilt dem schon eingangs mit Klaus Weimars Artikel »Geistesgeschichte« zitierten Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, der zwischen 1997 und 2003 in vorbildlich zügiger Frist publizierten Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bekanntlich haben Weimar und seine Mitherausgeber für alle Artikel des RLL eine begriffsgeschichtlich informierende Rubrik obligat gemacht, und zwar in Verbindung mit den ihrerseits obligaten Rubriken ›Wortgeschichte‹, ›Sachgeschichte‹ und ›Forschungsgeschichte‹.Footnote 18 Welch enormer Zuwachs an Übersichtlichkeit und Differenzierung dank dieser Herausgeberentscheidung erreicht worden ist, wird jeder Lexikonbenutzer beim Vergleich mit den Artikeln des Vorgängerwerks dankbar notieren. Viele Einträge belegen überdies mit schöner Prägnanz den Gewinn, den die zum Standard erhobene begriffsgeschichtliche Exploration literaturwissenschaftlicher ›Realien‹ auch und gerade für deren sach- und fachgeschichtliche Erörterung einträgt; gehe es dabei nun um Epochen, Gattungen oder Dichtarten, um Stil oder Stile, Tropen, Interpretationskategorien oder Schulrichtungen.

Das Beispiel zeigt: Wer aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nach den hermeneutischen Potenzialen der Begriffshistorie fragt, betritt heute keineswegs mehr Neuland. Er sieht sich vielmehr auf routinierte Formen der Nutzung begriffshistorischer Untersuchungsverfahren und Forschungserträge verwiesen, die ich im Rahmen dieses Statements denn auch keineswegs zu bemängeln oder gar mit Reformvorschlägen auf eigene Hand zu konfrontieren beabsichtige. Ich möchte den verstehensdienlichen Gebrauch der Begriffshistorie auf literaturwissenschaftlichem Gebiet lediglich in zustimmender Absicht vergegenwärtigen, und dabei zweierlei deutlich machen:

  1. 1.

    Begriffshistorisches Wissen ist im Kleinen wie im Großen, in der Erarbeitung punktueller Erkenntnisse wie im Gewinn weiträumiger Einsichten in semantische oder begriffspragmatische Prozesse, ein gegenstandsbedingt unersetzliches Instrument, sich der Historizität literarischer Gegenstände zu versichern und auf diese Weise Missverstand (oder Nichtverstehen) zu vermeiden.

  2. 2.

    Obschon die Begriffshistorie nicht nur ein Hilfsmittel, nicht nur subsidiäre Methodik, sondern eines der wichtigen Geschäfte der Literaturwissenschaft ist, hängt ihr hermeneutisch ertragreicher Einsatz von höherstufigen, semantisches Wissen transzendierenden Fähigkeiten ab, nicht zuletzt von unserer Fähigkeit, literarische Texte oder Textreihen ästhetisch sensibel und mit Sinn für ihre komplexe Kompositionalität zu interpretieren.

Hierzu einige Erläuterungen. Sie beginnen im Kleinen: mit dem Hinweis auf eine hermeneutisch elementare und immer erneut fällig werdende Leistung. Die Rede ist von der semantischen Erläuterung unverständlich oder missverständnisträchtig gewordenen Wortgebrauchs durch die punktgenaue Nutzung begriffsgeschichtlichen Wissens. Dabei geht es je und je um die Bedeutung, die ein begriffstragender Ausdruck, typischerweise ein Lexem oder eine Kombination von Lexemen, in einem bestimmten Text hat, aus diesem Text aber nicht mehr ohne die Vermittlungsleistung der Begriffshistorie verstanden werden kann. Man denke hier zum einen an diejenigen Teile der wortgebrauchsinduzierten Begrifflichkeit literarischer Werke, die infolge von Prozessen des Sprach- und Bedeutungswandels zu einer uns semantisch entfremdeten Begrifflichkeit geworden und deshalb der Gefahr ausgesetzt sind, nur mehr unzureichend, überhaupt nicht oder falsch, anachronistisch nämlich, verstanden zu werden. Man denke zum anderen an die Poetik, Rhetorik und Ästhetik umspannende Begriffssprache des literaturtheoretischen Diskurses in seiner geschichtlichen Tiefenerstreckung, an jene große Vertikale also, aus der die Terminologie der Literaturwissenschaft zu großen Teilen hervorgegangen ist und auf die sie – sei es dem einzelnen nun bewusst oder nicht – über nicht selten einschneidende und hermeneutisch allemal intrikate Transformationen hinweg zurückverweist. Auch hier sorgt die Begriffshistorie gegenüber dem punktuellen oder partienweisen Altern einschlägiger Texte – vom epigrammtheoretischen Epigramm bis zum poetologischen Traktat, Gedicht oder Essay – im Wege der Feststellung, Vermessung und explanatorischen Erhellung des Abstands zwischen heute gängigen und ehedem intendierten Bedeutungen von Termini für hermeneutisch elementare Klärungen.

In beiden Formen seiner Nutzung sorgt das Wissen der Begriffshistorie nicht nur für die Überwindung störenden Nichtverstehens, vielmehr auch für die Korrektur jener heimtückischen Form des Missverstehens, die in der unwillkürlichen Projektion des uns Bekannten und Geläufigen aufs Unbekannte und Ungeläufige besteht und sich mit Friedrich Schlegels 25. Lyceums-Fragment auf den zweiten der dort ironisierten »Hauptgrundsätze der sogenannten historischen Kritik«, auf das »Axiom der Gewöhnlichkeit« nämlich zurückführen lässt: »Wie es bei uns und um uns ist,« – so lautet dieses Axiom in seiner sarkastischen Schlegel’schen Fassung – »so muß es überall gewesen sein, denn das ist ja alles so natürlich.«Footnote 19 Dass und warum es sich in literarischen oder literaturtheoretischen Texten der Vergangenheit begriffssprachlich oft nicht wie »bei uns und um uns«, sondern anders verhält, darüber belehrt uns die Begriffsgeschichte durch erklärungshaltige Differenzbefunde, wie wir sie zumal in Gestalt der gelehrten Anmerkungsapparate unserer großen Klassiker-Ausgaben kennen und schätzen.

Ich gebe ein Beispiel, und zwar wiederum aus Friedrich Schlegel. Wenn Schlegel in einer Notiz seiner Philosophie der PhilologieFootnote 20 Gattungsbegriffe der Poetik auf die Philologie überträgt und in diesem Zusammenhang philologische Miszellaneen und Lexika »φλ [philologische] Satiren« nenntFootnote 21, so meint er damit nicht, wie dies dem gegenwärtig innerhalb wie außerhalb der Literaturwissenschaft herrschenden Satire-Begriff entspräche, Polemiken, Spottgedichte und sonstige Formen »literarisch sozialisierter Aggression« (Jürgen Brummack), er meint vielmehr das Vielfältige und Zusammengesetzte, den mixtum compositum-Charakter der in Rede stehenden Gattungen.Footnote 22 Dass Schlegel insoweit keineswegs idiosynkratischen Wortgebrauch treibt, dass er nicht aus der Begriffsgeschichte von ›Satire‹ ausschert, vielmehr im Rückgriff auf die antike Begriffstradition und das für sie maßgebliche Paradigma der römischen Satire als eines (nicht notwendigerweise in unserem Sinne satirischen) Mischgedichts einen mittlerweile in den Hintergrund getretenen Bedeutungsstreifen abruft – eben darüber klärt uns begriffshistorische Arbeit in diesem Fall auf. Indem sie Schlegels ›Sprungrezeption‹Footnote 23 innerhalb der Begriffsgeschichte von ›Satire‹ transparent macht, löst sie den vom Wortkörper einerseits, vom assimilatorischen Drall unseres Vorverständnisses anderseits ausgehenden Schein von Begriffskonstanz auf. Die Auflösung dieses Scheins ist freilich nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung des in Frage stehenden Verstehens. Hinzuzutreten hat in diesem wie in unzähligen analogen Fällen vielmehr auch die behutsame Rekonstruktion des theoretischen Sinns der Schlegel’schen Begriffsbildung, der Nachvollzug von Gedanken also, die allemal komplexer sind als die für sie konstitutiven Begriffe.

Das lässt sich verallgemeinern: Wie alle in Theoriezusammenhängen gebrauchten oder allererst gebildeten Begriffe sind literaturtheoretische Begriffe je und je Elemente diskursiv strukturierter Begriffszusammenhänge. Sie sind – nochmals mit einer Netz-Metapher – Knotenpunkte in Konfigurationen aus Ober‑, Unter‑, Korrelativ‑, Komplementär‑, Oppositions‑, Folge- oder Begleitbegriffen, die in wechselseitiger Bestimmung und Beleuchtung aufeinander bezogen sind.Footnote 24 Und diese komplexen wie überdies – es geht ja um Geschichte und deren Erkenntnis – historisch variablen, durch eine Vielzahl veränderlicher Relationen verknüpften Begriffsnetze sind ihrerseits Funktionen von Gedankenreihen: jener mehr oder minder komplexen Aussagensysteme, die es nachzuvollziehen gilt, wenn anders die von ihnen artikulierten Theorien und die für sie konstitutiven Begriffe unverkürzt erfasst und unterscheidungstauglich beschrieben werden sollen. Das hermeneutische Potenzial der Begriffshistorie entfaltet sich also allererst in der hermeneutisch höherstufigen Leistung der historisch-systematischen Theorierekonstruktion – und sei es in der Rekonstruktion von Theorien, die ihre genaue Form im ordo neglectus der Aphoristik gefunden haben.

Mutatis mutandis gilt dies auch für das hermeneutische Potenzial der Begriffshistorie im Umgang mit literarischen Werken. Deren Interpretation verlangt gewiss mehr als intensive Versenkung, in der Versenkung nämlich die Nutzung des Wissens um intrinsische oder relationale Eigenschaften, die zu übersehen assimilatorische Gewalt oder anachronistische Irrläufe nach sich zöge. Wer etwa – um ein letztes Beispiel aus dem hier interessierenden Bezugsfeld von Literaturwissenschaft, Geistes- und Begriffsgeschichte zu bemühen – Justus Lipsius nicht gelesen und daher keine oder keine zureichenden Kenntnisse der Anthropologie und Moralphilosophie des frühneuzeitlichen Stoizismus hat, wer nicht um die Zentralstellung des Begriffs der constantia in der neostoischen Lebenslehre weiß, der gerät in der Beschäftigung mit Andreas Gryphius und anderen Autoren des schlesischen Literaturbarock in – sei’s merkliche, sei’s unbemerkt bleibende – Schwierigkeiten. Schon den Doppeltitel von Gryphius’ zweitem, um 1648/49 entstandenem Trauerspiel Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit wird ein begriffsgeschichtlich unterinformierter Leser nicht richtig lesen. Ihm oder ihr wird der Bezug und a fortiori der initiale Signalwert des Bezugs auf die Idee einer – so die Definition in der 1599 erschienenen deutschen Übersetzung von Lipsius’ Traktat De Constantia aus dem Jahre 1584 – »rechtmeßige[n] und unbewegliche[n] stercke des gemüts / die von keinem eusserlichen oder zufelligen dinge erhebt oder untergedrückt wird«Footnote 25, entgehen. Andererseits gilt, dass das hier erforderliche Wissen der Begriffsgeschichte zwar eine unabdingbare Voraussetzung, nicht aber auch schon die Garantie einer sach-, nämlich werkadäquaten Interpretation des Gryph’schen Trauerspiels bildet, das sich eben nicht in der szenischen Illustration neostoischer Begriffsvorgaben erschöpft, diese Vorgaben vielmehr auf seine Weise integriert und qua Integration auch transformiert, indem es die Erbaulichkeit der constantia-Lehre in die Austerität eines christlichen Märtyrerdramas übersetzt und zu dessen Bedingungen providenz- und gnadentheologisch wendet.Footnote 26 Dies zu erkennen, muss man freilich Literaturwissenschaftlerin oder Literaturwissenschaftler sein: privilegiert und in der Lage, die hermeneutischen Potenziale der Begriffshistorie im Verstehen literarischer Form zu entbinden.