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Paul Celan und Günter Grass: »kommunizierende Gefäße«

Paul Celan and Günter Grass: »communicating vases«

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

»Das Wissen des Dichters Gedichts ist ein – tiefenpsychologisch wohl kaum zu erlotendes Mitwissen mit einem andern; es gibt unsichtbar kommunizierende Gefäße. –«

Paul Celan, Notiz zu Der Meridian

Zusammenfassung

Günter Grass entschied sich bereits 1956 unter dem Eindruck von Adornos Analyse der Kultur nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz für eine asketische, »graue« Sprache als Maßstab der Dichtung – eine Maxime, die für Paul Celan zu grundlegenden Entscheidungen für die Skelettierung seiner lyrischen Sprache führte. Der Austausch zwischen dem Autodidakten Grass und seinem »Lehrer« Celan hatte andererseits fundamentale Bedeutung für die Konzeption von Hundejahre als episches Korrelat zum Sprachkosmos des Lyrikers. Als »kommunizierende Gefäße« sind sie durch einen gemeinsamen Code miteinander verbunden, den dieses Essay zu entschlüsseln versucht.

Abstract

Already in 1956 Günter Grass opted – under the impression of Adornos analysis of the culture after Auschwitz – for an ascetic, »grey« language as standard of poetry – a maxim, which led also for Paul Celan in confrontation with Adorno to fundamental decisions on the reduction of his lyrical language. On the other hand the exchange between the autodidact Grass and his »Lehrer« Celan had a fundamental importance for the concept of Hundejahre as an epic correlate to the verbal cosmos of the poet. As »communicating vases« they are connected by a mutual code, which this essay tries to decrypt.

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Abb. 1
Abb. 2

Notes

  1. Axel Gellhaus u.a. (Hrsg.), »Fremde Nähe«. Celan als Übersetzer, Marbach 1997, 73 f.

  2. Die zweite Gedichtsammlung, an der er gerade arbeitete, sollte ursprünglich mit »Lamento« betitelt sein; auch einige unveröffentlichte Gedichte aus dem Nachlass tragen diesen Titel.

  3. Erika Schellenberger-Diederich, Geopoetik. Studien zur Metaphorik des Gesteins in der Lyrik von Hölderlin bis Celan, Bielefeld 2006, 301 ff.

  4. »Aber er ritt nicht nur sein Steckenpferd: Glimmergneise und Glimmergranit; er betete alle Mineralien herunter: Plutonite und Vulkanite; amorphe und kristalline Gesteinskörper; die Worte: flächenreich, dicktafelig und stengelig hab ich von ihm; […] er lehrte mich zärtliche Worte: Rosenquarz, Mondstein, Lazulith« (NGA VI, 286 f.).

  5. Ohne Rücksicht auf chemische Wahrscheinlichkeit findet Glimmer Verwendung bei der Herstellung der Erkenntnisbrillen, die die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit zu durchschauen helfen (NGA VI, 580, 676 ff.; vgl. Michael Harscheidt, Wort, Zahl und Gott bei Günter Grass. Der ›phantastische Realismus‹ in den »Hundejahren«, [Diss.] Bonn 1976, 166).

  6. So E.T.A. Hoffmann in »Die Bergwerke zu Falun« (Die Serapionsbrüder, hrsg. Wulf Segebrecht, Frankfurt a.M., 2. Aufl. 2015, 220).

  7. Ein Begriff, den der Historiker Dan Diner mit der von ihm herausgegebenen Aufsatzsammlung geprägt hat: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1988. Der Band enthält auch einen Aufsatz von Detlev Claussen über »Nach Auschwitz. Ein Essay über die Aktualität Adornos«.

  8. Abgesehen von seiner missverstandenen kommunikativen Funktion spitzt der Satz den Befund, dass die gesamte traditionelle Kultur heute »Schund« sei, rhetorisch in einer Klimax zu; zuvor heißt es ja: »Als neutralisierte und zugerichtete aber wird heute die gesamte traditionelle Kultur nichtig«; zum anderen richtet sich die Speerspitze der radikalisierten Aussage speziell gegen Adornos notorischen Erbfeind, den kulinarischen Kunstgenuss in der Massenkultur, der einen den Verblendungszusammenhang der Gesellschaft ignorierenden Standpunkt einnimmt; zum dritten verabschiedet er sich von dem späthegelianischen Fortschrittsglauben, dass die Progression des Geistes eine Weiterentwicklung der künstlerischen Mittel, des »Materials«, mit sich bringe. Und schließlich sei diese kritische Erkenntnis selbst, so Adorno, schon ›angefressen‹ und mit in die Aporie der Befangenheit in Schuld und Verdrängung verflochten.

  9. Theodor W. Adorno, Prismen, [1955] Frankfurt a.M. 1977, 26.

  10. »Engagement«, zit. n. Petra Kiedaisch (Hrsg.), Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Stuttgart 1995, 53.

  11. Akzente 6 (1959), 485.

  12. Die in lateinischen Buchstaben und in einem anderen Duktus als das Gedicht geschriebene Datierung scheint (wie bei vergleichbaren Gedichten: GGA Nr. 424 ff.) nachträglich hinzugefügt worden zu sein. Wie der Schriftvergleich des Gedichtcorpus’ mit gleichzeitig entstandenen Autographen und eben auch das zeitlich parallel entstehende Drama zeigen, ist die Zeitangabe aber nicht anzuzweifeln. Die Mischform aus »Sütterlin« und einigen wenigen lateinischen Schriftzeichen, die der Kunstschüler hier noch praktiziert, ist charakteristisch für die frühen Gedicht-Autographen, die in Die Vorzüge der Windhühner (1956) veröffentlicht wurden, während sich gleichzeitig, in den Manuskripten für Die Blechtrommel und für die Lyrik-Sammlung Gleisdreieck (1960), der Schrifttyp wandelt. Nun dominieren lateinische Buchstaben, die mit wenigen deutschen durchsetzt sind.

  13. Ich danke der Günter-Grass-Stiftung Lübeck und der Geschäftsführerin Hilke Ohsoling sowie dem Günter-Grass-Archiv der Akademie der Künste Berlin und seiner Kuratorin Helga Neumann für die Publikationserlaubnis.

  14. In einem undatierten Gedicht aus den Jahren 1956 bis 1958 unter dem Titel »Lebt die schwarze Köchin noch«, das gewissermaßen die Günter Grass’sche Farbenlehre enthält, heißt es über Weiß: »ich tauf dich weiss/ nun sieh dich vor« (abgedruckt in: Werner Frizen, Günter Grass, Gedichte und Kurzprosa. Kommentar und Materialien, Göttingen 2010, 402 f.).

  15. »Es war nun mal die Zeit des Zwinkerns, der Persilscheine und des schönen Scheins«, lautet dazu der spätere Erzählerkommentar in Die Rättin: »Im Jahrzehnt der Unschuldslämmer und weißen Westen, der Mörder in Amt und Würden und christlichen Heuchler auf der Regierungsbank, wollte niemand dies oder das allzu genau wissen, gleich, was geschehen war.« (NGA XII, 369).

  16. https://www.horizont.net/marketing/nachrichten/-Das-Beste-aus-100-Jahren-Persil-Werbung-94655 (11.11.2022).

  17. »Es galt, den absoluten Größen, dem ideologischen Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben Platzverweis zu erteilen und nur noch auf Zweifel zu setzen, der alles und selbst den Regenbogen graustichig werden ließ.« (NGA XXII, 424).

  18. Was hier allerdings fehlt, ist die Ein›färbung‹ der Katze selbst, von der wir vermuten, dass sie – nicht nur bei Nacht – grau ist. So sieht denn auch die Katze aus, die Grass Anfang des Jahrtausends »mit spitzem Blei« gezeichnet, in der Auswahlausgabe Lyrische Beute (Göttingen 2004, 60) neben das Gedicht »Askese« platziert und schlicht »Graue Katze« genannt hat. Hellgrau gestrichelt auf dunkelgrau schraffiertem, schattiertem Hintergrund sind von ihr gerade einmal die Umrisse zu erkennen, und wo ihr Gesicht ihr individuelle raubtierhafte Gefährlichkeit verleihen könnte, deutet ein weißer Fleck an, dass sich der Betrachter »kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen« soll (Ex. 20, 4).

  19. GGA Nr. 31, mit freundlicher Genehmigung der Günter-Grass-Stiftung Lübeck und des Günter-Grass-Archivs der Akademie der Künste Berlin.

  20. Ihm stellt Grass dann 1957 in einem poetologischen Dialog der »Poeten« Pempelfort und Krudewil eine graue »Muse« als Inspirationsquelle an die Seite:.

    PEMPELFORT Wie soll sie denn beschaffen sein?.

    KRUDEWIL Grau, misstrauisch, ohne botanische Himmels- und Todeskenntnisse, fleissig, doch wortarm in der Erotik und völlig traumlos. (NGA XX, 23).

  21. Adorno (Anm. 9), 172–176, meine Hervorh.

  22. Arnold Schönbergs Oratorium A Survivor from Warsaw for Narrator, Men’s Chorus and Orchestra (op. 46) galt Adorno als singuläres Beispiel für eine Kunst, die sich als Ausdruck der Wahrheit nach Auschwitz neu begründet: »So wahr hat nie das Grauen in der Musik geklungen, und indem es laut wird, findet sie ihre lösende Kraft wieder vermöge der Negation.« (Prismen [Anm. 9], 176).

  23. Adornos Minima Moralia kannte er immerhin (NGA XXII, 421), wo zu lesen steht: »Fortschritt und Barbarei sind heute als Massenkultur so verfilzt, daß einzig barbarische Askese gegen diese und den Fortschritt der Mittel das Unbarbarische wieder herzustellen vermöchte.« (Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, [1951] Frankfurt a.M., 20. Aufl. 1991, 58) – Noch in der Poetik-Rede von 1990 fällt auf, dass Adornos Provokation Grass zu einer wechselseitigen Erhellung verschiedener Künste animierte, und darunter nicht bloß, wie zu erwarten, die Kunst des Graphikers, der ohnehin schon mit spitzem Blei die Grau in Grau schraffierte Weltsicht auf die Dichtung übertrug, sondern auch die Musik: »Mit den Mitteln beschädigter Sprache sollte die erbärmliche Schönheit aller Graustufen gefeiert werden. [...] Also raus aus der blaustichigen Innerlichkeit. Weg mit den sich blumig plusternden Genitivmetaphern, Verzicht auf angerilkte Irgendwie-Stimmungen und den gepflegten literarischen Kammerton. Askese, d.h. Mißtrauen allem Klingklang gegenüber, jenen lyrischen Zeitlosigkeiten der Naturmystiker, die in den fünfziger Jahren ihre Kleingärten bestellten und – gereimt wie ungereimt – den Schullesebüchern zu wertneutraler Sinngebung verhalfen.« (NGA XXII, 425; meine Hervorh.) Adornos »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« klingen hier ebenso an wie auch dessen radikale Abwertung der Tonalität, der Euphonie konsonanter Töne, insofern »Askese« synästhetisch als Verzicht auf »Klingklang« definiert wird.

  24. Außer »Kulturkritik und Gesellschaft« zählten dazu die musiktheoretischen Schriften, in deren Zentrum die atonale, wahrhaft polyphone Musik Schönbergs steht, als auch philosophische Werke wie Minima Moralia und Dialektik der Aufklärung (vgl. Joachim Seng, »Von der Musikalität einer ›graueren‹ Sprache. Zu Celans Auseinandersetzung mit Adorno«, GRM 45 [1995], 419–430, hier: 428 f., und Seng in CHb, 272 f.).

  25. Joachim Seng, »›Die wahre Flaschenpost.‹ Zur Beziehung zwischen Theodor W. Adorno und Paul Celan«, Frankfurter Adorno Blätter 8 (2003), 151–176, hier: 153.

  26. Celan liebte barocke Wortkombinationen und ihre Klänge wie »ölgrün (NKG, 111), »zeitrot« (89), »Spätrot« (67), »herzgrau« (103 f.), »taggrau« (122), »Aschgrau« (415). Zu Trakls Farbneologismus »rotversengt« notierte er am Rand der Gedicht-Ausgabe: »feststellen, wie oft Farbworte eine so kühne Ehe eingehen« (Bernhard Böschenstein, »Celan als Leser Trakls«, in: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion 1987, Remy Colombat u. Gerald Stieg [Hrsg.], Innsbruck 1995, 135–148, hier: 139; CHb, 319). – Von Grass’ Palette in Hundejahre stammen Farbverbindungen wie »lauchgrün, luftblau, erbsengelb, silberweiß, nelkenbraun, rauchgrau, eisenschwarz und morgenrot« (NGA VI, 287) oder auch das auf »herzgrau« sich reimende »märzgrau« (NGA VI, 69).

  27. Der nominalistischen Zuordnung der Farbwörter war sich Celan bewusst. Im Anschluss an einen Aufsatz von Walter Killy über »Wandlungen des lyrischen Bilds« bei Trakl und Benn vermerkte er am 21. August 1959: »Die Farbwörter bei Trakl: sie sind nicht ›ursprünglich‹ da und damit herauslösbar und symbolisch wertbar […] im übrigen weiß die Sprachwissenschaft, daß die Farbwörter Derivate sind: albus, etc. (tongrau usw.)« (TCA/M, 93).

  28. Zu gleicher Zeit verfärbt auch Grass in dem schon oben (Anm. 14) zitierten Gedicht »Lebt die Schwarze Köchin noch« aus dem Umkreis der Blechtrommel-Entstehung das lyrische Rot ins »Tintige«. Das Sprecher-Ich, das hier wie in »Askese« ein schreibendes Ich ist, wehrt die Dominanz der Herzfarbe Rot ab und gibt den tintigen (schwarzen? sepiafarbenen?, auf jeden Fall entfärbten) »Herzfarbenton« seiner melancholischen Dichtung zu lesen – ein Neologismus unter den Milliarden Belegen des DWDS, der nicht weniger erstaunen macht als das »Herzgrau« Celans:.

    »Rot will ich nicht, aber.

    Rot will mich, hat schon.

    Ich kaufte mir Tinte.

    und schrieb, andere lasen.

    der tintigen Farbe Herzfarbenton.«.

  29. Peter Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre, Berlin 2022, 109.

  30. In »Mohn« (1943/1948) ist Schwarz und nicht Grau die Farbe der Melancholie und das Herz »schwarz von Schwermut« (NKG, 16). Im Gedicht »Lob der Ferne« (1948 veröffentlicht), auf das »Sprachgitter« in V. 11 ff. explizit reagiert, heißt es: »Hier werf ich,/ ein Herz, das geweilt unter Menschen,/ die Kleider von mir und den Glanz eines Schwures:// Schwärzer im Schwarz, bin ich nackter./ Abtrünnig erst bin ich treu./ Ich bin du, wenn ich ich bin.« (NKG, 43).

  31. Jean Bollack, »Paul Celan über die Sprache. Das Gedicht Sprachgitter und seine Interpretationen«, in: Paul Celan, hrsg. Werner Hamacher u. Winfried Menninghaus, Frankfurt a.M. 1988, 272–308, hier: 279.

  32. TCA/M, 110; BCA XVI, 241. Alle Zitate aus den Meridian-Konvoluten ohne diakritische Zeichen der Herausgeber.

  33. Zu erinnern ist an Grass’ Formulierung im Gedicht »Askese«: »du sollst die graue Farbe lieben,/ unter bewölktem Himmel sein«.

  34. TCA/M, 111, Anstreichung mit Rotstift; BCA XVI, 188; vgl. TCA/M, 152, 201; BCA XVI, 96.

  35. TCA/M, 111, Markierung: Kreis mit Rotstift, Kreuz mit Tinte; BCA XVI, 249.

  36. TCA/M, 55, 170, 70; BCA XVI, 128, 134.

  37. »Vielleicht«, so die Herausgeber, unter dem Datum vom 9.10.1960 (BCA XVI, 175).

  38. Jin-Sok Chong ist der einzige, der diese Analogien in der »Grundüberzeugung« der beiden Dichter gesehen und ausgewertet hat (Offenheit und Hermetik. Zur Möglichkeit des Schreibens nach Auschwitz: Ein Vergleich zwischen Günther Grass’ Lyrik, der Blechtrommel und dem Spätwerk Paul Celans, Frankfurt a.M. 2002, 51–64). Aufgrund eines anderen methodischen Ansatzes verzichtet er freilich auf die Darstellung historisch-genetischer Zusammenhänge. Celans Begriff der Askese führt er auf Adornos Schönberg-Aufsatz zurück (57).

  39. Wer ihm deshalb eine »vom Holocaust unberührte Ästhetik« unterstellt (so Ernestine Schlant, Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust, München 2001, 95), kann Hundejahre nicht gelesen haben.

  40. Klaus Stallbaum, Kunst und Künstlerexistenz im Frühwerk von Günter Grass, Köln 1988, 126.

  41. Die Zeugnisse widersprechen sich: Für Celan bedeutete es einen Vertrauensbruch, dass sein Lektor Rudolf Hirsch die Erzählung Günter Grass zu lesen gegeben hat; dieser hingegen beteuert, Grass habe »Dorf [sic] im Gebirg« (zumindest zum Zeitpunkt ihres Gesprächs) gar nicht gekannt (PC/Hirsch, 98, 101).

  42. Ein »dritter Plan« ist auf den 24.3.1959 datiert (GGA Nr. 135). Ende April ist Grass allerdings noch mit Korrekturen zu Blechtrommel-Fahnen beschäftigt.

  43. Nota bene: den Beginn des Schlussmärchens. Würde er die Märchenfolge am Schluss des zweiten Teils als ganze meinen, so könnte man glauben, er denke an die fugale Form und damit an einen fernen Nachklang der »Todesfuge«. Doch dem ist nicht so; denn des Erzählers Märchen-Variationen und -Repetitionen haben mit der Kompositionsstruktur der Fuge im strengen Sinne noch weniger zu tun als das Kapitel »Glaube Hoffnung Liebe« in der Blechtrommel.

  44. Marek Orski, »Organisation und Ordnungsprinzipien des Lagers Stutthof«, in: Ulrich Herbert, Karin Orth u. Christoph Dieckmann (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Bd. 1, Göttingen 1998, 285–308, hier: 286 f., 293, 303; Danuta Drywa, »Die Ermordung der Juden im Konzentrationslager Stutthof und in seinen Unterlagern«, in: Jacek Andrzej Młynarczyk u. Jochen Böhler (Hrsg.), Der Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten 1939–1945, Osnabrück 2010.

  45. Vgl. die überzeugende Deutung von Uta Werner, Textgräber: Paul Celans geologische Lyrik, München 1998, 118–145.

  46. Vgl. Gerd Eversberg, »Die Schimmelreiter-Sage«, Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 60, 2011, 67–92. Im Danziger Werder war die Schimmelreiter-Sage schon lange vor dem Erscheinen der Novelle unter dem ursprünglichen Titel »Der Deichgeschworne zu Güttland« geläufig. Nach ihrer ersten nachweislichen schriftlichen Fixierung in Carl Greifs unterhaltsamer Sammlung Der Erzähler oder Das Buch für lange Winterabende. Eine Gallerie der interessantesten Erzählungen, der merkwürdigsten historischen Begebenheiten, Empörungen, Verschwörungen, Revolutionen und Kriege aller Zeiten, charakteristische Züge aus dem Leben berühmter Zeitgenossen, vorzüglicher Anekdoten, Witzworte und Epigramme (1838) gelangte sie schnell an eine breitere Öffentlichkeit, weil sie am 14.4.1838 vom Danziger Dampfboot, einer Wochenzeitung »für Geist, Humor, Satire, Poesie, Welt- und Volksleben, Kunst, Literatur und Theater« weitertransportiert wurde. Grass könnte die Sage im Danziger Sagenbuch gefunden haben, das mehrfach aufgelegt und nachgedruckt wurde: Sagen von der Stadt und ihren Umgebungen. In vollständiger Sammlung von Dr. F. A. Brandstäter, Professor am städt. Gymnasium in Danzig. Danzig 1883, 100.

  47. Als Kontrastbild zu dem, was bei Hochwasser wieder hochkommt und durch die den Erzählfluss initiierende und steuernde Weichsel ins Bewusstsein gehoben wird, fungiert später der mit völkischer Ideologie randvoll gefüllte Nibelungenhort (NGA VI, 672 f.), der nach eventueller Bergung im zuständigen »Landesmuseum« archiviert und dem Vergessen überantwortet würde (Sabine Moser, »Dieses Volk, unter dem es zu leiden galt«. Die deutsche Frage bei Günter Grass, Frankfurt a.M. 2002, 115 f.).

  48. Ehrenthal lässt einen Pfarrer rückblickend von der Deichbruchkatastrophe im Jahre 1855 erzählen:

    Hingegen die Todten,

    Die längst unter den Kreuzen des Kirchhofs ruhten, der Strom grub.

    Wühlend sie wieder hervor ans schaudernde Licht, und die Särge.

    Schwammen umhergewirbelt. Ein Grabkreuz, welches die Wogen.

    Stromab sieben Meilen geführt und hangen gelassen.

    Auf der Lubiner Chaussee bei Graudenz hoch in den Zweigen.

    Einer Silberpappel, es hangt noch heutigen Tages [1874].

    Dort in der laubigen Krone der rauschenden Pappel befestigt,.

    Dieses schrecklichen Tages Gedächtniß wahrend den Menschen.

    (Wilhelm Ehrenthal, Deichbeschauliche Epistel von der Weichsel in antiken Versen … Festvortrag für die zweihundertste Sitzung des literarischen Vereins in Marienwerder am 27. November 1874, Graudenz 1875, 23.).

  49. Vgl. Brief an Walter Jens, 19.5.1961, zit. in: NKG, 689.

  50. In der korrespondierenden Ersten Materniade macht Walter Matern, sich an die heimatliche Weichsel erinnernd, diese unterweltliche Lokalisierung als »Totenfluß« explizit (NGA VI, 463).

  51. Vgl. Harscheidt (Anm. 5), 371 f.

  52. Der identische Reim wie die Assonanz des jeweiligen Bestimmungswortes gemahnen an »herzgrau«, das Schlüsselwort in Paul Celans »Sprachgitter«.

  53. Er präsentiert den Freunden die unterweltliche Vereinigung von Aalen und Kühen, die Amsel in ein todbringendes »Medusenhaupt« verwandelt (60), er vermittelt die aus Weichsel-Treibgut, den Relikten der Gewaltgeschichte gebildeten Vogelscheuchen zum Verkauf (51 – 54), versorgt Amsel mit Materialien (60), eine die dreiköpfige, teuflische Weide samt Großmutter abbildende Scheuche mit Mensch und Tier verstörender Wirkung wird auf seinen Rat hin vernichtet (65), er tauft Amsels letzte Scheuche auf den blasphemischen Namen »Großer Vogel Piepmatz« (106), er leitet das Autodafé eben dieser mythischen Vogelscheuche ein (110) etc.

  54. Kriwes quasireligiöse Autorität wird durch die stehende Redewendung »weil Kriwe sagte« unterstrichen (NGA VI, 57, 58, 68), die in den prophetischen Büchern des Alten Testaments der hundertfach verwendeten Botenformel entspricht, mit der sich der Prophet legitimiert: »(Denn) so hat JHWH gesagt:« oder als Schlussformel: »… hat JHWH gesagt«.

  55. Rohdes Psyche erhielt Celan im August 1957 von Hermann Lenz (PC/Lenz, 91).

  56. Der Arbeitsplan findet sich in: Günter Grass, Sechs Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht, hrsg. G. Fritz Margull u. Hilke Ohsoling, Göttingen 2014, 104. Vgl. Volker Neuhaus, Günter Grass – Hundejahre. Kommentar und Materialien, Göttingen 2010, 30, 81; dort auch über Tulla und ihre Nekyia in die Hundehütte. Götterdämmerung und Unterweltfahrt (von Homer über Vergil und Dante bis zum Ring des Nibelungen) sind Stereotypen in der Nachkriegsliteratur.

  57. Grass unterscheidet nicht zwischen dem Höllenhund Kerberos und dem Unterweltgott Pluto, wie es die griechische Mythologie tut. So mag der Leser beide ineins setzen und sich den Herrscher über die Toten als schwarzen Schäferhund oder – noch unzutreffender – als Wolfshund vorstellen (vgl. NGA VI, 197). Geradezu trotzig heißt es am Schluss des Romans über den Schäferhund Pluto: »Wächter soll er hier [am Eingang zum Tartaros des Bergwerks] sein und dennoch nicht Kerberos heißen.« (NGA VI, 722).

  58. Die griechischen Mythographen weisen im übrigen die Pappel auch Aïdes/Pluto persönlich zu. Er, der verhassteste aller Götter, entführt die Nymphe Leuke in die Unterwelt. Um sie vor Vergewaltigung zu schützen, verwandelt Persephone sie in eine Silberpappel.

  59. Im vorangehenden Vers vergleicht der melancholische Doktor seinen verzweifelten Zustand mit dem bekannten Hund, der so nicht länger leben möchte, während für Amsel der Schlüsselreiz zur Erkundung mythologischer Dimensionen vom Schäferhund Pluto ausgeht, womit Mephisto, des Hundes Kern, nicht fern ist: »Es möchte kein Hund so länger leben!/ Drum hab’ ich mich der Magie ergeben« (Faust, V. 377). Kerberos’ mephistophelische Pudelnatur offenbart sich im Vogelscheuchenballett, wo der Unterwelthund »magisch leise Schlingen« zieht (NGA VI, 428; vgl. 24): »Bemerkst du, wie in weitem Schneckenkreise/ Er um uns her und immer näher jagt?/ Und irr’ ich nicht, so zieht ein Feuerstrudel/ Auf seinen Pfaden hinterdrein.« (V. 1152 – 1155, 1158).

  60. Günter Grass muss ein elaborierter Celan-Leser gewesen sein. Wer gleich bei Erscheinen von Sprachgitter in dem Gedicht »Engführung«, an dem bis heute Generationen von Interpreten die Grenzen ihres Könnens erfahren mussten, »ein grosses Gedicht unserer Zeit, womöglich Dein grosses Gedicht erkannt zu haben« glaubt (an Celan am 27.4.1959, PC/GG, 86), der hat sich nicht zuletzt aufgrund des persönlichen Umgangs einen scharfen Blick für Celans poetische Engführungen erworben. Wer wie Grass die Claire-Goll’schen Schmutzkampagnen bis in die allerletzten publizistischen Malicen mitverfolgt hat (vgl. Anm. 97), dem musste das Werk auch als Ganzes vor Augen stehen.

  61. So Barnert in PC/GG, 70; vgl. Wolfgang Emmerich, Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen, Göttingen 2020, 167. Nach Darstellung des unmittelbar beteiligten Psychiaters Walter Georgi reisten die beiden Dichter allerdings gemeinsam aus Paris an: »Mit bei dem kleinen Törn zwischen Zuerich und Küsnacht und Kilchberg war ein anderer deutscher Schriftsteller, mir bis dato unbekannt, der mit Celan aus Paris gekommen war zu einem Stopover in Zürich und der mich jedoch, ich muss es gestehen, zunächst auf dem Boot mehr beeindruckte als Celan, vielleicht ob seiner düster wirkenden Zurückhaltung, die mich, auch von der Physiognomie her, an den jungen Rilke erinnern ließ. Es war Günter Grass, damals mit der ›Blechtrommel‹ im Gepäck.« (zit. n. Gellhaus [Anm. 1], 262) Celan bedankt sich bei Georgi anspielungsreich mit seiner 1958 erschienenen Übersetzung von Rimbauds Bateau ivre. Das trunkene Schiff. Das Schiff verfolgt in seinen ekstatischen Visionen (»ich sah …«) die »Wasserleichen«, die als Treibgut »zur Tiefe gehen«, erblickt Leviathan und Behemoth, die Ungeheuer der Meerestiefe, und findet sich wieder zwischen Leichnamen, die »rücklings schlafwärts« ziehen.

  62. »Blicke umher:/ Sieh, wie’s lebendig wird rings –/ Beim Tode! Lebendig!/ Wahr spricht, wer Schatten spricht.« (»SPRICH ACH DU«, NKG, 89; vgl. Bernd Auerochs, »Katabasis. Zu Paul Celans Gedicht Sprich auch du«, GRM 57 [2007], 333–355, hier: 336–346).

  63. Werner (Anm. 45), 44–52.

  64. Kriwe hat Weiden und Pappeln fest im Blick: »Soeben dreht das Stück Leder, Kriwe genannt, sein Rindsledergesicht aus dem Wind und klappert wimperlos die Deichkrone gegenüber ab: bißchen gehendes Rutenzeug und Pappeln zum Abzählen.« (NGA VI, 15) Auch diese Relation von »am Rain« aufragender Pappel und fixierendem Auge findet sich in Celans Gedicht »Die Felder« präfiguriert: »Immer die eine, die Pappel/ am Saum des Gedankens./ Immer der Finger, der aufragt/ am Rain. […] Immer dies Aug, dessen Blick/ die eine, die Pappel umspinnt.« (NKG, 83) Dementsprechend heißt die besonders ausgezeichnete, singuläre Weide, zu der Kriwe, der mythologische Topograph, Amsel und Matern führt, »die eine Weide«: »und eine Weide – denn selbst unter Weiden gibt es die eine Weide – war hohl hohl hohl, bis drei Tage später Amsel sie ausfüllte« (NGA VI, 57).

  65. »Lautlos trieb Schnee, mal grau mal weiß mal schwarz, von der Großen Düne herüber. Die Chausseepappeln schwebten.« (NGA VI, 83 vgl. 258) – Die Vitalisierung von Dingen ist freilich eine von Grass häufig verwandte Stiltechnik (Thomas Angenendt, »Wenn die Wörter Schatten werfen«. Untersuchungen zum Prosastil von Günter Grass, Frankfurt a.M. u.a.1995, 37–39).

  66. Dieselbe anschauliche Vorstellung der Inversion von oben und unten wie bei Celans auf dem Kopf stehender Pappel schafft der Vogelscheuchen-Künstler Amsel, nachdem er Zeuge der infernalischen Vereinigung der achtzehn sich der Weichsel entwindenden Aale mit den neun Kuheutern wurde – eine perfekte Modell-Situation für eine Scheuche, die durch Inversion von Aalen und Euter ein potenziell tödlich wirkendes »Medusenhaupt« abbildet: »Die geräucherte Haut richtiger Aale wurde mit Stroh und gewundenem Draht ausgestopft, zugenäht und der Schweinsblase angesetzt: verkehrt herum, daß die Aale sich, dicken Haaren gleich, in der Luft schlängelten, kopfstanden auf dem Euter.« (NGA VI, 60).

  67. Es ist auch die wahrheitsverkündende Formel, mit der Johannes, der Seher von Patmos, beharrlich die Offenbarungen vom Weltende einleitet (Off. 5, 1 f. 6. 11 u. ö.).

  68. Merkwürdig und bezeichnend zugleich: Im Gespräch mit Klaus Stallbaum (16. November 1990) kommt Grass sprunghaft und ohne Überleitung von der Freundschaft mit Celan und dessen »Sehnsucht«, »Prosa zu schreiben«, auf die erzähltechnische Unbrauchbarkeit des Kartoffelschälens in Hundejahre zu sprechen: »Dieses Kartoffelschalenmotiv war der Versuch, der Stoffmasse […] eine Erzählposition zu geben. Dem Fall der Kartoffelschale, wie sie abgeschält wird, einen Erzählfluß abzulesen, das war ein Einfall, der auf diese Distanz nicht trug, den mußte ich fallenlassen.« (GG/Stallbaum, 23 f.).

  69. Auch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache nennt das Wort nur einmal, und zwar in dem hier wiedergegebenen Höß-Zitat.

  70. Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, eingeleitet und kommentiert von Martin Broszat, Stuttgart 1958, 167.

  71. Auch Volker Neuhaus schenkt diesem Satz besondere Beachtung und denkt dabei an die »Asche aus den Vernichtungslagern, die nicht nach dem Willen der Mörder in alle Winde verstreut wurde, sondern die die Weichsel mit sich führt [...]« (Neuhaus [Anm. 56], 9). Diese Weichsel »himmlisch« zu nennen (Nathalie Kónya-Jobs, Räume in Günter Grass’ Prosa, Bielefeld 2016, 161) heißt das dichtgelagerte Arsenal der Unterwelt-Signale übersehen. Ob die in die Weichsel mündenden Flüsse in den Himmel wollen oder in die Hölle, wie Matern in der »öffentlichen Diskussion« Brauchsels Satz variiert, läuft auf dasselbe hinaus, nicht nur weil der Orkus oben ist (NGA VI, 722), sondern vor allem weil sie Blut, Lehm und Asche ›zu Grabe tragen‹.

  72. Der Erzähler Brauchsel, der 1961/1962 schreibt, hat dieses Wissen seinem erzählten Ich Eduard Amsel im Jahr 1927 voraus. Wenn er das Weichselwasser als »oft aschgrauen, zumeist lehmgelben Ausfluß der weithingelagerten Republik Polen« (NGA VI, 11) beschreibt, dann denkt er gewiss nicht an Schöpfungsmythen (so Kónya-Jobs [Anm. 71], 163), sondern an deren Gegenteil. Neben »Mündung« bedeutet »Ausfluss« in pejorativer Wendung eine »(meist) krankhafte absonderung«, oder »faulende stoffe« pp. (DWb III, Sp. 1056, Neubearb.).

  73. Über dieses äußerst seltene, der nautischen Sprache entstammende Attribut verfügt auch Günter Grass in der Blechtrommel (NGA IV, 18; vgl. Christine Ivanović, »Windgerecht«, in: SGK 2005, 238).

  74. Das schon im 19. Jh. bekannt war: Katrin Wellnitz, »Zwölf Ritter und zwölf Nonnen tanzen durchs Feuer. Die Bearbeitung einer ostpreußischen Sage in Günter Grass’ Roman Hundejahre«, Freipass 5 (2020), 128–153, hier: 150, Anm. 38.

  75. Die Seele wird zu Mehl gemahlen, das Mehl mit der Asche gleichgesetzt, ›folglich‹ verbrennt die Seele zu Asche.

  76. André Fischer, Inszenierte Naivität. Zur ästhetischen Simulation von Geschichte bei Günter Grass, Albert Drach und Walter Kempowski, München 1992, 191.

  77. Arno Barnert, Mit dem fremden Wort. Poetisches Zitieren bei Paul Celan, Frankfurt a.M. 2007, 165–169.

  78. »Was die ›Kinderreime und Kindergedichte‹ betrifft«, schrieb Günter Grass an Arno Barnert: »Während der Jahre 57 und 58 habe ich etliche Gedichte geschrieben, die in diese Richtung gingen, unter anderem das Gedicht ›Kinderlied‹, das später in den Gedichtband ›Gleisdreieck‹ fand (1960). Paul Celan kannte diese damals entstandenen Verse wie ich auch seine ›Abzählreime‹ [NKG, 125]; wir lasen uns vor« (13. Juni 2003, PC/GG, 71).

  79. Nur zwei Beispiele:

    Grass: »so feiern sie Lichtmeß mit Furz und Geträller«;.

    Celan: »wir trinken sie mittags und morgens wir trinken«.

              »wir schaufeln ein Grab in den Lüften«.

    Grass: »mahlt Seelchen zu Mehl«.

    Celan: »da liegt man nicht eng«.

              »ein Mann wohnt im Haus«.

              »sein Auge ist blau«.

    Auch Celan bediente sich im Frühwerk derartiger »nicht-wortsprachlicher Code- bzw. Formzitate« (Barnert [Anm. 77], 53).

  80. Emmerich (Anm. 61), 83.

  81. Philip Zesens Sprachartistik hält Joachim Rickes für einen Hinweis auf den in der Namensassonanz anklingenden Paul Celan (Celan // Zesen; latinisiert Caesius) und dessen Vortrag vor der Gruppe 47 im Mai 1952 (»Von Emil Staiger zu Günter Grass. Zur Aktualität der ›Kunst der Interpretation‹: ›Das Treffen in Telgte‹«, in: Joachim Rickes u.a. [Hrsg.], 1955–2005: Emil Staiger und Die Kunst der Interpretation heute, Bern u.a. 2005, 205–241, hier: 216–220).

  82. Schopenhauer ist im Roman nicht nur als Danziger präsent, sondern auch über Eduard Heinrich [!] Amsels Geistesverwandten, den dicken, von seinen Mitschülern drangsalierten Heinrich Schaumann, den Wilhelm Raabe in Stopfkuchen (vgl. Neuhaus [Anm. 56], 17 u. ö.) als Schopenhauer’sches (d. h. zur Ideenschau befähigtes) wirklichkeitsfernes, doch die Wirklichkeit durchschauendes Künstler-Genie gestaltet.

  83. Wellnitz (Anm. 74), 133 f.

  84. Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 6: Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof, München 2007.

  85. Nach dieser visionär vermittelten Blutorgie verlieren sich die unerlösten Ritter und Nonnen im Nirgendwo. In der Nachkriegszeit sind ihre Taten zu »Lesebuchgeschichten« degradiert und taugen allenfalls für den Kölner Rosenmontagszug (NGA VI, 676, 571).

  86. Ihre Wanderschaft aus dem Osten verläuft der Abkunft der Wagner-Hündin Senta von einer Litauischen Wölfin parallel, deren erster hundischer Nachkomme, der zugleich Ahnherr in der Deszendenz ist, die zum Hitlerhund führt, nach dem Gott des Feuers, dem prußischen Perkun (lit. Perkūnas), benannt ist (NGA VI, 76). Eben dieser »legendäre« Perkun (NGA VI, 626), den Mahlknecht Pawel aus dem Litauischen mitgebracht hat, ist präsent, wenn 1913 die Mühle in Flammen aufgeht und der Hund wie der Pudel, der Faust zuläuft, um die Brandstätte »immer engere Kreise« (24) zieht. Vom Höllenhund Pluto gedeckt, wirft Perkuns, des Feuergottes, Nachwuchs Senta ebendort unter der Mühle die Nachkommenschaft, von der der Hitlerhund abstammt (75 f.), worauf sie nach dem Brand der Mühle im Jahre 1927 ins Mörderisch-Wölfische zurückmutiert und erschossen werden muss (90). Um die Zugehörigkeit von Mühle und Hölle/Hund auch in der Nachkriegszeit passend zu machen, zimmert Matern für Pluto/Prinz unter dem Bock der funktionsuntüchtigen Bockwindmühle des Vaters eine Hütte (536).

  87. Nickelswalde wird auch vom Erzähler Liebenau ausdrücklich »nahe Stutthof« lokalisiert (NGA VI, 346), obwohl ca. 15 km zwischen den beiden Ortschaften liegen.

  88. Alle Bezüge zu Lichtmess, zur Passion und zur Transsubstantiation sind nachträglich in den Kontext interpoliert, haben also besondere Relevanz. Die von Kathrin Wellnitz ([Anm. 74] 145) veröffentlichte Frühfassung vom 13. April 1960 zitiert lediglich eine Zeile aus dem Ave Maria/der Geburtsankündigung durch den Engel Gabriel (»Jungfrau Maria, du bist gebenedeit unter den Weibern«).

  89. Der parodierte Kindervers und die trochäische sakrilegische Sequenz über die Vernichtung in der Todesmühle korrespondieren den Trochäen über den »Knochenberg« (s.u.). – Die zahlreichen Verse in der »diskussion mit unserer vergangenheit« (NGA VI, 596, 604 – 649), von denen Grass einige in seine Gedichtsammlungen aufgenommen hat, gehorchen als Elemente eines in den Roman integrierten Schauspiels eigenen Gesetzen.

  90. Ein Grass’ Lichtmess-Parodie (als Vorwegnahme des Karfreitags) besonders affines Gedicht Celans in Sprachgitter ist »Tenebrae«, eine die katholische Liturgie während des Triduum Paschale durchkreuzende Jeremiade über die Vergasung der Juden, die die religiösen Riten und Wahrheiten, das Gebet, die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die Eucharistie, das Corpus Christi Mysticum mit der Ausrottung der Juden in den Gaskammern konfrontiert und ver-kehrt. Dem Rückwärtsbeten der Nonnen und Ritter vergleichbar kehren die Sprecher des Gedichts die reguläre und ritualisierte Richtung des traditionellen Gebets um und fordern vom Herrn, dass er zu ihnen betet: »Bete, Herr,/ bete zu uns,/ wir sind nah.« Als Sprecher sind die auf dem Weg in die Gaskammern befindlichen Juden vorzustellen, die an Jesu Statt den Karfreitagstod erleiden und statt des Abendmahlweins das auf seine physische Natur reduzierte Blut trinken: »Windschief gingen wir hin […]/ Zur Tränke gingen wir, Herr. // Es war Blut, es war,/ was du vergossen, Herr.« Umgekehrt wird in der Gaskammer auch die Lehre vom Corpus Christi Mysticum, die die Kirche als mystischen Leib Christi versteht, der vor allem in der Eucharistie alle Gläubigen mit Christus verbindet: »Gegriffen schon, Herr,/ ineinander verkrallt, als wär/ der Leib eines jeden von uns/ dein Leib, Herr.« Vor Augen stehen die ineinander verkrallten Leichen, die in letzter Hoffnung, dem Gas zu entkommen, übereinander hinweg eine Todespyramide bildend, einem Oberlicht zustreben. Sie sind es, die die wahre Passion erleiden und den Leib des Herrn, jeder einzelne Vergaste für sich, repräsentieren. Die Verkehrung der religiösen Wahrheiten gipfelt in einem naheliegenden Resümee, mit dem die Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen. 1, 27) in ihr Gegenteil entstellt wird: als »Bild« des Herrn, das sich in den starrenden Augen der Toten spiegelt: »Wir haben getrunken, Herr/ Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.« (NKG, 101).

  91. Vgl. den Kommentar von Barbara Wiedemann in NKG, 686 und Cinematographie des Holocaust des Fritz Bauer Instituts: https://web.archive.org/web/20110612043535/http://www.cine-holocaust.de/cgi-bin/gdq?dfw00fbw000061.gd (11.11.2022).

  92. Helmut Böttiger, Orte Paul Celans, Wien 1996, 128.

  93. Hans Egon Holthusen, »Fünf junge Lyriker II«, Merkur 8 (1954), 378–390, hier: 386.

  94. »Das verzweifelte Gedicht. Paul Celan«, in F.A.Z. 2. Mai 1964, zit. n. CHb, 88.

  95. Zit. nach GG/Goll, 25 f.

  96. Diese Formulierung muss sich in Grass’ Gedächtnis eingefräst haben, denn noch 1990 erinnert er an die »Inflationierung der Genetivmetapher und der entsprechenden Beliebigkeit dieser Metapher«, der er sich als junger Lyriker konfrontiert sah (GG/Stallbaum, 14). Seitdem scheint das Reizwort der »Genitiv-Metapher« ebenfalls in den Code der beiden aufgenommen zu sein. In den Briefen und Notizen Celans entwickelt es sich zu einer Obsession, in der sich die literaturkritisch maskierten antisemitischen Angriffe paradigmatisch konzentrierten: »schwarze Milch der Frühe: Das ist keine jener Genitivmetaphern […]; das ist keine Redefigur und kein Oxymoron mehr, das ist Wirklichkeit. Genitivmetapher = Nein, ein unter Herzensnot Zueinander-Geboren-Werden der Worte« (BCA XVI, 157). Wenn also Günter Grass in seiner Rede »Schreiben nach Auschwitz« seinen Entschluss zur lyrischen »Askese« als Abwendung von der Rilke-Nachfolge und Verzicht auf Genitiv-Metaphern umreißt (NGA XXII, 425), dann spricht er auch über eine sprachhygienische Entscheidung, die er mit Paul Celan teilt.

  97. Barbara Wiedemann (GG/Goll, 22) schwankt zwischen 1956/1957 und Herbst 1960; nach Auskunft von Günter Grass ist das Typoskript zwischen 1956 und 1958 entstanden (GGA Nr. 1524).

  98. GG/Goll, 5. Golls Gedicht »Le moulin de la mort« (1951) stellt den Tod als schöne Müllerin (»belle meunière«) dar – eine Entdeckung, die Richard Exner für sich reklamierte (an Alfred Andersch, 13.10.1956; abgedruckt in PC/Hirsch, 140 – 143).

  99. Gemäß dem Nachweis von Barbara Wiedemann (GG/Goll, 21 f.) mindestens 11 Titel aus den Jahren 1956/1957, bei Spätdatierung möglicherweise auch weitere Artikel und Bücher aus den Jahren 1959/1960.

  100. Vgl. Klaus Schenk, »Treffen in Paris. Intertextuelle Lektüre zum Kontakt von Paul Celan und Günter Grass«, in: Natalia Blum-Barth u. Christine Waldschmidt (Hrsg.), Celan-Referenzen. Prozesse einer Traditionsbildung in der Moderne, Göttingen 2016, 101–122, hier: 107.

  101. Die Celan auch ironisch auf sich selbst appliziert, indem er mit »Dein Itzig« unterschreibt (Emmerich [Anm. 61], 186).

  102. Gleich emphatisch betonte Bedeutung haben Namen für Paul Celan; sie sind die magischen Wörter, die überleben: »Mit Namen, getränkt/ von jedem Exil. Mit Namen und Samen/ mit Namen, getaucht/ in alle/ Kelche« (NKG, 158).

  103. Diese Paronomasien, Assonanzen und orthographischen Camouflagen hat Günter Grass sekundär zusammen mit der Umstrukturierung der Erzählsituation eingefügt.

  104. Celan hat selbst (in Analogie zu Kafka = Dohle?; vgl. Emmerich [Anm. 61], 220) in einem Briefentwurf an Klaus Wagenbach seinen Namen etymologisch abgeleitet: »›Amschel‹ […], das ist die ursprüngliche Form meines Zunamens Antschel und ist im Grunde die mittelhochdeutsche Form von Amsel« (mitgeteilt von Barbara Wiedemann in NKG, 890).

  105. »Paul, Sohn des Leo, Celan. Russischer Dichter in Gebieten deutscher Ungläubiger« (CHb, 81).

  106. Das bedeutet keineswegs, dass die Kunstfigur Amsel deckungsgleich mit dem Namengeber ist. – Auch Versuche, die Figur des Sigismund Markus in nähere Beziehung zu Paul Celan zu setzen (CHb, 400; Schenk [Anm. 100], 106; Julian Preece, »Sartre’s Reflexions sur la Question Juive [1946] as Blueprint for Grass’ Jewish Figures: from Hundejahre (1963) to Im Krebsgang (2002)«, OGS 48 [2019], 391–403, hier: 392), können nicht überzeugen. Selbst wenn man den Spielzeughändler nicht mit Ruth Angress als »typische[n] Juden der Nazipresse« abqualifiziert (zit. n. Schlant [Anm. 39], 94), käme ein Vergleich des schlichten, kleinbürgerlichen, »mauschelnden«, zum christlichen Glauben konvertierten Assimilationsjuden mit dem hochgebildeten, souveränen, unbeugsamen Dichter der »Todesfuge« einer Beleidigung gleich. Wenn Celan, wie Grass sich erinnert, ihm Mut gemacht hat, »fiktive Gestalten wie Fajngold, Sigismund Markus und Eddi Amsel, keine edlen, sondern gewöhnliche und exzentrische Juden in meine kleinbürgerliche Romanwelt zu fügen« (NGA XXII, 432), dann vermutlich um zu verhindern, dass er in Reaktion auf den Antisemitismus in eine philosemitische Idealisierung des Juden à la »Nathan der Weise« verfällt – eine Problematik, die Celan zur Zeit seiner Bekanntschaft mit Grass besonders beschäftigte (vgl. Emmerich [Anm. 61], 189–205).

  107. Walter Matern, auf der Suche nach dem Verbleib des wieder auferstandenen Amsel, stellt sich die hintergründige Frage: »Paris, da paßt er hin?« (NGA VI, 306).

  108. Vgl. Schenk (Anm. 100), 107.

  109. Stallbaum (Anm. 40), 126.

  110. Amsel/Haseloff tritt das Erbe seines eigenen in Stutthof ermordeten Mentors Oswald Brunies an, der als Deutsch- und Geschichtslehrer der drei Autoren, als Sammler, Erzähler und die Phantasie seiner Schüler stimulierender Erzieher letztlich den spiritus rector der Festschrift und ihres Erinnerungswerkes verkörpert (Stallbaum [Anm. 40], 128).

  111. Sheridan Burnside, »›Niemand sprach von dem Knochenberg‹. Die Darstellung des Konzentrationslagers Stutthof in Günter Grass’ Roman Hundejahre«, in: Wojciech Lenarczyk u.a. (Hrsg.), KZ-Verbrechen: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager und ihrer Erinnerung, Berlin 2007, 191–204, hier: 193. Der junge Liebenau seinerseits, lange bevor ihn Amsel/Haseloff nötigt, das Kenotaph des Knochenbergs literarisch aufzutürmen, versucht mit großem ideologischem Aufwand, die Judenvernichtung zu mythisieren und dadurch, statt zu türmen, zuzuschütten: »Mit Hilfe dieser Vorbilder [Savonarola, Luther, Heidegger etc.] gelang es ihm, einen tatsächlichen, aus menschlichen Knochen erstellten Berg mit mittelalterlichen Allegorien zuzuschütten. Er erwähnte den Knochenberg, der in Wirklichkeit zwischen dem Troyl und dem Kaiserhafen gen Himmel schrie, in seinem Tagebuch als Opferstätte, errichtet, damit das Reine sich im Lichten ereigne, indem es das Reine umlichte und so das Licht stifte.« (NGA VI, 398).

  112. Michael Paaß, Kulturelles Gedächtnis als epische Reflexion. Zum Werk von Günter Grass, Bielefeld 2009, 103.

  113. Vgl. oben Anm. 102.

  114. Vgl. oben Anm. 28.

  115. Die Frage, ob deutsche Reimkunst mit der »Nähe der Gräber« vereinbar ist, hatte Celan schon 1944 im Gedenken an die ermordete Mutter gestellt: »Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim,/ den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?« (NKG, 17).

  116. Nicht anders verfährt Grass in der Blechtrommel, wenn er den Kampf der polnischen Kavallerie im September 1939 gegen die deutschen Panzer in episch-homerischen Hexametern ad absurdum führt und zum Abschluss des Poems einen einzigen Reim auf »ein« und »Schein« bildet, statt, wie Oskar selbstkritisch bemerkt, die Verlustzahlen der Husaren zu benennen (NGA IV, 310 f.).

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Frizen, W. Paul Celan und Günter Grass: »kommunizierende Gefäße«. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 98, 105–152 (2024). https://doi.org/10.1007/s41245-023-00153-5

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