Die Bühne ist traditionell kein Ort, an dem man über Übersetzungen nachdenkt. Übersetzungen spielen zwar eine Schlüsselrolle in der deutschsprachigen Dramen- und Theatergeschichte, aber Auseinandersetzungen damit finden zumeist an anderer Stelle statt: in Vorworten, Abhandlungen oder in Gesprächen. Diesen Eindruck bestärken unsere Vorstellungen vom geschlossenen Drama. Peter Szondi ist der Ansicht, das Drama der Neuzeit setze sich selbst absolut, es präsentiere sich nie als »(sekundäre) Darstellung von etwas (Primärem)«Footnote 1, schon gar nicht als Übersetzung eines Originals. Um sich in dieser Geschlossenheit zu konstituieren, entledigt sich das Drama nach Szondi verschiedener Textelemente. Eines dieser Elemente ist der Prolog, der es nun umgekehrt erlaubt, die Rolle von Übersetzungen im Theater genauer zu beleuchten. Denn Prologe fungieren häufig als Reflexionsmedien des Kulturtransfers, die unter anderem Übersetzungspraktiken thematisieren, loben, kritisieren, literarisch gestalten und so zu einem Teil des dramatischen Spiels machen. Die nachfolgenden Überlegungen widmen sich dem aufschlussreichen, zunächst kurios anmutenden Fall der Übersetzungspolemik im Prolog, also polemischen Expositionen von übersetzten Dramen, die agonale Aspekte des Kulturtransfers sichtbar machen.

Polemiken und Selbstthematisierungen von Übersetzungen sind in Prologen seit der römischen Antike bekannt. Die Figur der Luxuria im Prolog zu Plautus’ Trinummus stellt etwa das nachfolgende Stück als Übersetzung aus dem Griechischen vor: »huic Graece nomen est Thensauro fabulae: / Philemo scripsit, Plautus vertit barbare, / nomen Trinummo fecit«Footnote 2. Die Polemik ist der Form sogar noch enger verbunden, denn sie ist bereits in der ältesten erhaltenen Prolog-Typologie von Aelius Donatus verankert. Er nennt den zweiten von vier Funktionstypen: »ἐπιτιμητιϰός relativus, quo aut adversario maledictum aut populo gratiae referuntur«Footnote 3 – Eva López Marqués wählt im Historischen Wörterbuch der Rhetorik dafür die Bezeichnung polemischer Prolog. Polemiken und Selbstthematisierungen von Übersetzungen können also auf eine lange Tradition im Prolog zurückblicken. Die Übersetzungspolemik im Prolog ist dagegen noch nicht erforscht.

In der deutschsprachigen Dramen- und Theatergeschichte scheint das siecle de voltaire, das 18. Jahrhundert, für die Analyse von Übersetzungspolemiken geradezu prädestiniert. Denn es gibt keine zweite Periode, in der das Verlangen nach und die Vorbehalte gegen Übersetzungen gleichermaßen groß waren. Die intensiven Bemühungen um ein deutsches Nationaltheater führen dazu, dass man über ein halbes Jahrhundert hinweg Übersetzungen – insbesondere aus dem Französischen – als nützliche Provisorien und notwendige Übel betrachtet.

Das können drei Zitate veranschaulichen, die den Weg der weiteren Überlegungen vorzeichnen. Johann Christoph Gottsched schreibt im zweiten Band seiner Deutschen Schaubühne (1741), der ausschließlich Übersetzungen enthält, darunter Johann Joachim Schwabes Alexandriner-Übersetzung von Voltaires Zaïre: »Es ist wahr, daß man die heutige Verbesserung unsrer Schaubühne von etlichen Uebersetzungen und Nachahmungen angefangen: Allein dieß war ja der beste Weg, erst einigen Geschmack unter die Zuschauer und jungen Poeten zu bringen.«Footnote 4 Johann Friedrich Löwen, der Direktor der Hamburgischen Entreprise, dessen Mahomet die erste Übersetzung eines Voltaire-Dramas in Blankversen war, hält in seiner Geschichte des deutschen Theaters (1766) fest: »Was das heiße, ein eigenes Theater haben? So bald wir erst, statt der ewigen Uebersetzungen aus fremden Sprachen, eine Menge Originalschauspiele aufstellen können, die keiner andern als der deutschen Nation anpassend sind […].«Footnote 5 In Friedrich Schillers Prolog An Göthe als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte (1800), der hier exemplarisch analysiert wird, verschärft sich der Ton weiter: »Einheim’scher Kunst ist dieser Schauplatz eigen, / Hier wird nicht fremden Götzen mehr gedient«, heißt es zu Beginn, doch am Ende räumt der Text, ähnlich wie Gottscheds Schaubühne, ein: »Nicht Muster zwar darf uns der Franke werden, […] Ein Führer nur zum Bessern soll er werden«Footnote 6.

Die Spannung zwischen Affirmation und Distanzierung, die man in den Zitaten beobachten kann, schafft eine günstige Voraussetzung für Übersetzungspolemiken im Prolog. Die weiteren Ausführungen werden sich auf Prologe zu Dramen Voltaires konzentrieren, die sich für die Fragestellung in mehrerlei Hinsicht eignen. Das »Polemische ist sehr stark in Voltaireschem Schaffen«Footnote 7, hält der Romanist Leo Spitzer pointiert fest, und so scheint es naheliegend, dass dieses Schaffen selbst wieder Gegenpolemiken provoziert. Entscheidender für die Wahl ist aber Voltaires – heute beinahe vergessene – Stellung als einflussreichster Tragödiendichter des 18. Jahrhunderts, der zu den meistgespielten und zugleich meistübersetzten Dramatikern in Europa zählt.Footnote 8 Dabei nimmt man ihn als zeitgenössischen Vertreter der tragédie classique wahr, der Shakespeare produktiv rezipiert hat.Footnote 9 Diese Stellung lässt schließlich ein Charakteristikum der deutschen Nationaltheaterdebatte hervortreten: den omnipräsenten Antagonismus zwischen englischer und französischer Dramatik, der der nationalen Selbstständigkeit den Weg weisen soll. »Das ist gewiß«, meinen etwa Lessing und Mylius in einer vielzitierten Passage aus den Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters, »wollte der Deutsche in der dramatischen Poesie seinem eignen Naturelle folgen, so würde unsre Schaubühne mehr der englischen als französischen gleichen.«Footnote 10

Die Nationaltheaterdebatte verbindet mit dem Nachdenken über Übersetzungen, dass man sie vorrangig als Reflexionsprozess wahrnimmt, der abseits der Bühne stattfindet: in Vorworten, Abhandlungen oder in Gesprächen. Prologe können aber auch in dieser Hinsicht zeitgenössische Debatten aufgreifen, gestalten und an das Spiel heranführen, sodass unmittelbare Verbindungslinien zwischen der Kulturtheorie und der Theaterpraxis erkennbar werden. Mehr noch bietet eine Zusammenschau der Reflexionen über das Nationaltheater und das Übersetzen eine Erklärung für die Entwicklung und die Funktion von Übersetzungspolemiken im Prolog. Im Zeitalter des aufkeimenden Nationalismus, so meine These, bleibt die literarische Polemik nicht auf die individuelle Gegnerschaft von Autorinnen und Autoren beschränkt, sondern nimmt vermehrt kollektive Züge an. Die Übersetzungspolemik im Prolog fungiert dabei als Medium der nationalen Identitätsbildung, das der deutschen Dramatik wie mittelbar auch der deutschen Nation charakteristische Züge verleihen soll.

Wie gelingt das der Form konkret? Eine Nation ist, in der konstruktivistischen Minimaldefinition von Benedict Anderson, »eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän.«Footnote 11 Prologe können ein Publikum im performativen Sinn als Nationalpublikum ansprechen. Sie machen aus einzelnen Rezipientinnen und Rezipienten ein Kollektiv, das sich vorstellt, Teil eines größeren politischen Kollektivs zu sein. Der Hinweis, dass einem nachfolgenden Drama ein anderssprachiger Ausgangstext zugrunde liegt, führt die Begrenztheit des adressierten Kollektivs zu Bewusstsein. Als gezielte Verfremdung, die das Eigene vom Fremden abhebt, unterstützt er zugleich den politischen Formierungsprozess, den man als nation-building oder Nationenbildung bezeichnen kann.Footnote 12 Dabei ist schon die Tatsache, dass man es überhaupt für notwendig erachtet, ein Publikum zu Beginn auf eine Übersetzung aufmerksam zu machen, ein auffälliges Indiz für die veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen, die mit dem Aufkommen des Nationalismus einhergehen.

Die Polemik der Prologe verstärkt die Abgrenzung, sie hat aber vor allem die Funktion, Souveränität zu behaupten, die von der Übersetzung infrage gestellt wird, weil sie Abhängigkeit suggeriert. In den kulturellen Begegnungen, die zur Konfrontation führen, kann man mit Caspar Hirschi ein typisch nationalistisches Muster erkennen: »Der Nationalismus sucht den Wettkampf mit Nationen, deren Überlegenheit er – bei ihrer gleichzeitigen, mehr oder weniger heimlichen Bewunderung – fürchtet und gegen die er sich behaupten muß.«Footnote 13 Die polemischen Prologe imaginieren so ein Kollektiv (Adressierung), das als begrenzt (Übersetzung) und souverän (Polemik) vorgestellt wird, und sie weisen das Theater als Bühne des kollektiven Wettkampfs aus.

Diese Überlegungen können an die literaturhistorischen Forschungsergebnisse von Conrad Wiedemann anschließen, der die Identitätspolitik der deutschen Klassik und Vorklassik wiederholt im Spannungsfeld von Nationalismus und Kosmopolitismus untersucht hat. In seinem Aufsatz Deutsche Klassik und nationale Identität hält Wiedemann zunächst generell fest, »daß der patriotische Impetus der meisten klassischen Werke eher schwach, der kosmopolitische dagegen umso stärker ausgeprägt ist«Footnote 14; allerdings »zeigt sich die deutsche Klassik, gewissermaßen gegen den Anschein«, so schreibt Wiedemann am Ende seiner detaillierten Analyse, »in fast allen Belangen in die nationale Identitätsproblematik verstrickt«Footnote 15.

Die Übersetzungspolemiken in Prologen sind ein Phänomen, das das angesprochene Spannungsverhältnis von Nationalismus und Kosmopolitismus und mehr noch die Verstrickungen weiter erhellen kann. Das Übersetzen gilt traditionell als kosmopolitische Tätigkeit, die man im Falle der Klassiker geneigt ist, den Bemühungen um die später so genannte Weltliteratur zuzurechnen. Jüngere Ansätze der Translationswissenschaft betonen dagegen stärker agonale Aspekte des Übersetzens. Dilek Dizdar und Andreas Gipper schreiben im Vorwort ihres Sammelbandes Nationenbildung und Übersetzung: »Übersetzungen schaffen […] oftmals erst die Grenzen, die sie zu überbrücken scheinen oder zu transzendieren vorgeben«Footnote 16. Der programmatische Titel des Bandes weist die Nationenbildung als möglichen Effekt von Übersetzungen aus: »Sie folgen«, so Dizdar und Gipper weiter, »nationalkulturellen Grenzziehungen in diesem Sinne nicht einfach nur nach, sondern können ihnen auch als deren Ermöglichungsbedingung vorausgehen.«Footnote 17 In den Übersetzungspolemiken zeigt sich meines Erachtens besonders deutlich, dass hier nicht nur ins Deutsche übersetzt wird, sondern dass das, was das Deutsche sein soll, agonal geformt wird.

Die These, dass sich Prologe im 18. Jahrhundert zu dramatischen Textelementen des nation-building entwickeln, möchte ich in drei Schritten entfalten. Prologe werden zunächst als Medien des Kulturtransfers vorgestellt: am Beispiel von Voltaires eigenen Tragödien sowie von frühen Adaptionen deutschsprachiger Wanderbühnen – wobei die Grenzen zwischen Übersetzungen und Adaptionen stets fließend sind. Die Traditionsbildungsprozesse, die man in diesen Prologen beobachten kann, öffnen einen Raum für Polemiken, die sich bei den Gottsched verpflichteten Schauspielgesellschaften vor allem gegen die deutsche Vergangenheit richten, nicht gegen die französische Dramatik. Die polemische Aufladung der Form verdankt sich einem rezeptionsgeschichtlichen Umweg, der über England zurück in den deutschsprachigen Raum führt und hier zu den prestigeträchtigen Theaterprojekten in Hamburg und Weimar. Daher sollen im Anschluss englisch- und deutschsprachige Adaptionen von zwei Tragödien Voltaires vergleichend untersucht werden: zunächst von Zaïre (1733), dann von Le Fanatisme, ou Mahomet le prophète (1743). Der zweite Abschnitt widmet sich Aaron Hills englischer Zara (1736) und zeigt anhand von Rezeptionsspuren in Gotthold Ephraim Lessings Hamburgischer Dramaturgie, wie solche polemischen Prologe im deutschsprachigen Raum wahrgenommen und für eigene Polemiken genutzt werden. Im dritten und letzten Abschnitt steht nach einem Seitenblick auf James Millers Mahomet (1744) Schillers Mahomet-Prolog im Mittelpunkt, über den der Autor im Briefwechsel mit Goethe schreibt, er sei dazu da, »damit wir das Publikum mit geladener Flinte bei dem Mahomet erwarten können.«Footnote 18

I. Kulturtransfer im Prolog (Voltaires Ériphyle)

Voltaires Dramen sind in der Regel mit einer ganzen Fülle von Paratexten umgeben, die wenigsten davon sind Prologe im engeren Sinn. Dennoch nutzt Voltaire vereinzelt die Form für kulturübergreifende Traditionsbildungsprozesse. An den Prologen zu Ériphyle (1732) oder Oreste (1750) ist die Funktion besonders deutlich abzulesen. Es handelt sich um Hinführungen auf griechische Stoffbearbeitungen, die im Anschluss an die Querelle des Anciens et des Modernes die Frage diskutieren, wie man sich als Moderner zur Antike positioniert. Schon der erste Satz des Ériphyle-Prologs spricht das Publikum implizit als Nationalpublikum an und erhebt es über das griechische: »Juges plus éclairés que ceux […] dans Athène«Footnote 19. Etwas später werden die Zuschauenden direkt als Franzosen adressiert, die in ihrer historischen Gegenwart eine Wiederauferstehung der griechischen Tragödie erleben:

Français, c’est dans ces lieux qu’on vous peint tour à tour

La grandeur des héros, les dangers de l’amour.

Souffrez que la terreur aujourd’hui reparaisse;

Que d’Eschyle au tombeau l’audace ici renaisse.Footnote 20

Der Prolog weckt Gattungserwartungen durch die Nennung von Themen, Figuren, Emotionen und Autoren der Tragödie, distanziert sich aber von der Imitation der griechischen Modelle. Schiller wird diese Bewegung später auf die Formel ›nicht Muster, sondern Führer‹ bringen. Bei Voltaire heißt es weiter:

Aux sublimes accents des chantres de la Grèce

On s’attendrit en homme, on pleure sans faiblesse;

Mais pour suivre les pas de ces premiers auteurs,

De ce spectacle utile, illustres inventeurs,

Il faudrait pouvoir joindre en sa fougue tragique,

L’élégance moderne avec la force antique.Footnote 21

Der Prolog rückt das Stück so in eine prestigeträchtige Tradition ein, motiviert aber zugleich die Aktualisierung. Das Drama präsentiert sich nicht als Kopie, sondern als eigene Bewegung in einer gebahnten Spur, auf einem geebneten Weg – »suivre les pas« ist dafür die topische Metapher. Die Alexandriner können diese Bewegung gestalten. In den beiden letzten zitierten Vershälften, den Hemistichien, verbindet sich die »L’élégance moderne / avec la force antique«, der vorangegangene Vers hebt das Verbinden und das Verknüpfen im »joindre« vor der Zäsur als entscheidende Leistung hervor. Die veredelte Form, die einem aufgeklärten Publikum dargeboten wird, schaut so auf eine unvollständige, verbesserungsbedürftige Kulturtradition zurück, und hier öffnet sich ein Raum für Polemik.

In den deutschsprachigen Gebieten wurde Voltaire früh ins Repertoire der aufklärerischen Schauspielgesellschaften aufgenommen und er zählte bald zu einem der meistgespielten Autoren. »Wir bauen hoffnungsvoll auf Verse von Voltairen, / Und bitten Euren Schutz uns ferner zu gewähren«Footnote 22, heißt es in einer Theaterrede der Koch’schen Gesellschaft aus dem Jahr 1758, und diese Stellung spiegelt sich auch in den Aufführungszahlen wider. Herbert Eichhorn hat 1357 Aufführungen der Ackermann’schen Gesellschaft nach Verfasserinnen und Verfassern geordnet und kommt zu dem Ergebnis, dass Voltaire mit 95 Darbietungen unangefochten an der Spitze steht – vor Joseph Anton von Destouches und Christian Felix Weiße mit jeweils 69.Footnote 23 Trotz insgesamt lückenhafter Quellenlage sind von den bekanntesten Schauspielgesellschaften Vorspiele und Theaterreden, also Prologe und Epiloge, zu übersetzten Dramen Voltaires überliefert. Die Schönemann’sche Gesellschaft schloss schon im Jahr 1740 eine Aufführung der Alzire mit einem Epilog aus der Feder Johann Elias Schlegels,Footnote 24 also kaum vier Jahre nachdem das Stück in Paris seine Premiere gefeiert hatte. Bis zum bekannten Nationaltheaterprojekt der Hamburgischen Entreprise stößt man durchgehend auf solche Rahmungen von zunehmend programmatischem Gehalt. Von der Ackermann’schen Gesellschaft wurde zum Beispiel am 28. November 1764 in Hamburg das Vorspiel Die Freyheit, eine Schutzgöttinn der schönen Künste gegeben, dem Voltaires Alzire folgte. Die Koch’sche Gesellschaft eröffnete kaum ein halbes Jahr später, am 10. April 1765, ihren Aufenthalt in Leipzig mit einem Prolog zur Aufführung der Zaïre.Footnote 25

Diese Theaterreden und Vorspiele sind nicht nur lückenhaft überliefert, vielfach ist auch nicht zu ermitteln, mit welchem Drama sie zusammen aufgeführt wurden. Diese Unsicherheit weist auf eine eigentümliche Struktur der Wanderbühnen-Prologe hin, die sie vom Ériphyle-Prolog sowie den bekannten Prologen von Euripides, Plautus oder Shakespeare unterscheiden. Es handelt sich größtenteils nicht um Expositionen, die auf ein nachfolgendes Stück hinführen. In der Regel bewerben die genannten Schauspielgesellschaften vielmehr die kulturelle Institution des Theaters, das als Schauplatz der Aufklärung zu Tugendhaftigkeit und Weisheit anleite.

Die Wanderbühnen-Prologe weisen also insgesamt eine größere Distanz zum Dramentext auf. Gleichwohl stößt man immer wieder auf Traditionsbildungsprozesse, die denen im Ériphyle-Prolog ähnlich sind. Die Polemik richtet sich darin gegen die deutschsprachige Theatervergangenheit, während der französischen Dramatik eine Vorbildfunktion zukommt, wie man einem Prolog der Koch’schen Gesellschaft aus dem Jahr 1754 prägnant entnehmen kann:

Euch ist nicht unbekannt, wie schlecht vor wenig Jahren

und wie barbarisch noch die deutschen Bühnen waren.

[…]

Man las die Muster Roms, allein mit Unverstand,

das Schöne fand man nicht, so wie es Frankreich fand.

Der Alten großer Geist belebte Molieren,

der mußte Frankreich erst, dann Frankreich Deutschland lehren.Footnote 26

Die Traditionsbildung beginnt bei der Übernahme der französischen Verssprache. Die Alexandriner setzen zunächst die Perioden »wie barbarisch« und »deutschen Bühnen« in den beiden Hemistichien gleich, gestalten dann über einen Parallelismus die gescheiterte deutsche Orientierung an den antiken Vorbildern, die nicht den Umweg über die französischen Klassiker nimmt, und betonen schließlich eine kulturelle Abhängigkeit von Frankreich durch die Zäsur zwischen »erst« und »dann« im letzten zitierten Vers.

Die Erhebung über die Vorbilder spielt in den Prologen der Wanderbühnen keine Rolle.Footnote 27 Diese Zurückhaltung zeigt sich selbst noch in Situationen unmittelbarer Konkurrenz, die die materiellen Grundlagen der Schauspielerinnen und Schauspieler berühren. In der ersten Saison der Hamburgischen Entreprise musste zum Beispiel das Ensemble einer französischen Schauspielgesellschaft weichen und im Dezember 1767 nach Hannover übersiedeln. Die erneute Wanderschaft veranlasste die Schauspielerin Eleonore Luise Dorothea Löwen nach der letzten Aufführung von Voltaires Mahomet (in der Blankvers-Übersetzung ihres Ehemannes Johann Friedrich Löwen) dazu, sich mit folgenden Worten vom Hamburger Publikum zu verabschieden:

Seyd, was Ihr immer wart: der Vorurtheile Feinde,

Seyd Patrioten, Menschenfreunde,

Seyd unsre Freunde! Voll Empfindung spricht

Dies Herz: Lebt wohl! – Und Dank, Dank heischet unsre Pflicht!

Ihr Deutschen, noch ein Wort: Vergeßt uns Deutsche nicht!Footnote 28

Löwen stellt hier eine nationale Verbindung zwischen den Schauspielenden und dem Publikum her (»Ihr Deutschen«, »uns Deutsche«) und appelliert in dezidiert nichtchauvinistischer Weise an das Nationalgefühl. In der Anrede rahmen Vorurteilsfreiheit und Philanthropie den Patriotismus und dabei kehrt dieser Epilog, nach den Blankversen Löwens, sogar wieder zur Verssprache Voltaires zurück. Die aktuelle Notsituation ändert sichtlich nichts an einer grundlegenden Wertschätzung, die die Anaphern (»Seyd«) und Alliterationen (»Ihr immer«, »Vorurtheile Feinde«) gestalten. Das zeigt, dass sich Lessings Polemik in der Hamburgischen Dramaturgie aus einer anderen Quelle speist, die uns nach England führt.

II. Polemik im Prolog (Voltaires Zaïre)

Zara ist die erste Voltaire-Adaption von Aaron Hill (1736), der später noch drei weitere folgten. Allen diesen Stücken wurden Prologe vorangestellt, auf der Bühne wie im Druck, die entweder von Hill selbst stammten oder wie im Falle der Zara von dem Schauspieler Colley Cibber verfasst und vorgetragen wurden. Die Prologe stellen nationale Rahmungen dar, die u.a. die Frage der hegemonialen Vormachtstellung Englands diskutieren.Footnote 29 Anders als im deutschsprachigen Raum, wo zur selben Zeit die Klage über den Mangel an Originalstücken die Debatte beherrscht,Footnote 30 beruft man sich in England selbstbewusst auf die eigene Theatertradition. Der Kulturimport bedurfte hier einer aufwändigeren Rechtfertigung. Nationalistische Vorurteile wurden dabei relativiert, aber auch bedient, wie man dem Anfang des Zara-Prologs entnehmen kann:

The French, howe’er Mercurial they may seem,

Extinguish half their Fire, by Critic Phlegm:

While English Writers Nature’s Freedom claim,

And warm their Scenes with an ungovern’d Flame:

’Tis strange, that Nature never should inspire

A Racine’s Judgment, with a Shakespeare’s Fire!

Howe’er, to-night – (to promise much we’re loth)

But – you’ve a Chance, to have a Taste of Both.

From English Plays, Zara’s French Author fir’d,

Confess’d his Muse, beyond herself, inspir’d;

From rack’d Othello’s Rage, he rais’d his Style,

And snatch’d the Brand, that lights this Tragick Pile:Footnote 31

Der nationale Antagonismus bestimmt den Prolog bis in kleinste Details. Das beginnt bei der Syntax des ersten Reimpaars: »The French« wird gleich von einem Einschub unterbrochen, »by Critic Phlegm« nachgesetzt, sodass chiastisch die klangliche Nähe von »French« und »Phlegm« (mit Alliteration und Assonanz) herausgestrichen wird und im Kontrast zur englischen, »ungovern’d Flame« steht. Die englische Natürlichkeit, die der Prolog reklamiert, kommt auch im Satzbau zum Ausdruck. Es gibt im dritten und vierten Vers keine syntaktischen Verrenkungen, die beiden Sätze entsprechen je einem Vers.

Metrisch nimmt der Prolog eine Zwischenstellung ein: zwischen den paargereimten Alexandrinern des Originals und den Blankversen der englischen Adaption. Er besteht aus fünf gereimten Jamben. Die nicht auf Augenhöhe erfolgende Gegenüberstellung von Franzosen und Engländern setzt sich in der rhythmischen Struktur fort. Die fünf Jamben des Prologs gestalten immer wieder ein metrisches Ungleichgewicht. In »A Racine’s judgment, with a Shakespeare’s Fire!« oder »From rack’d Othello’s Rage, he rais’d his Style« zieht der ungenannte Voltaire jeweils den Kürzeren gegenüber Shakespeare, der mit drei statt mit zwei Versfüßen bedacht wird. Zudem weist der Musenanruf, der typisch für Prologe ist, auf die Fremdinspiration hin. Und metaphorisch unterstützt schließlich das Bild vom zündenden Funken die Abhängigkeit Voltaires. Es stellt einen Franzosen in englischem Gewand vor und befeuert so das nationalistische Überlegenheitsgefühl weiter.

Voltaire kannte Colley Cibber persönlich aus London und er hat Aaron Hill in einem Paratext der Zaïre ausdrücklich als Theaterexperten und Übersetzer gelobt.Footnote 32 Auf die polemischen Prologe, mit denen Stücke in England eingeführt wurden, reagierte Voltaire später besonders ablehnend, möglicherweise aufgrund eigener Erfahrungen. In seinen Anmerkungen zu Pierre Corneilles Trois Discours sur le poème dramatique – die übrigens in den Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters (1750) erstmals ins Deutsche übersetzt wurdenFootnote 33 – schreibt Voltaire: »Les prologues de Térence sont dans un goût qui est encore imité par les Anglais. […] Térence employa presque toujours ces prologues à se plaindre de ses envieux, qui se servaient contre lui des mêmes armes. Une telle guerre est honteuse pour les beaux-arts.«Footnote 34 Die polemischen Prologe verletzen also die klassizistische bienséance, was sie aus Sicht von Voltaires Kritikern umso attraktiver macht.

Im deutschsprachigen Raum hat Cibbers Prolog, wie erwähnt, einen sehr prominenten Rezipienten gefunden: Gotthold Ephraim Lessing, der die vier letzten zitierten Verse im Funfzehnten Stück der Hamburgischen Dramaturgie aufgreift. Lessing bespricht in diesem Abschnitt die Aufführung der Zayre vom 19. Juni 1767 in Hamburg, die Schwabes Alexandriner-Übersetzung zur Grundlage hatte. Die Kritik geht, wie an vielen anderen Stellen, rasch ins Grundsätzliche und wird zu einer polemischen Abrechnung mit Voltaire:

Voltaire verstehet, wenn ich so sagen darf, den Kanzleistil der Liebe vortrefflich; das ist, diejenige Sprache, denjenigen Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn sie sich auf das behutsamste und gemessenste ausdrücken will, wenn sie nichts sagen will, als was sie bei der spröden Sophistin und bei dem kalten Kunstrichter verantworten kann. […]

Von der Eifersucht läßt sich ohngefehr eben das sagen. Der eifersüchtige Orosmann spielt, gegen den eifersüchtigen Othello des Shakespear, eine sehr kahle Figur. Und doch ist Othello offenbar das Vorbild des Orosmann gewesen. Cibber sagt, Voltaire habe sich des Brandes bemächtiget, der den tragischen Scheiterhaufen des Shakespear in Glut gesetzt. Ich hätte gesagt: eines Brandes aus diesem flammenden Scheiterhaufen; und noch dazu eines, der mehr dampft, als leuchtet und wärmet.Footnote 35

Die Stelle zeigt, dass Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie die Polemik Cibbers aufgreift und weiterführt. »Kanzleistil der Liebe« ist eine ungemein gelungene Formulierung, die nicht nur Voltaire, sondern den »Critic Phlegm« der französischen Dramatik im Allgemeinen attackiert. Daneben treibt Lessing die Metaphorik in Cibbers Vergleich polemisch weiter und unterstellt Voltaire eine Literatur aus zweiter Hand. Der Franzose habe sich nicht unmittelbar von der Leidenschaft der Eifersucht inspirieren lassen (von dem Brand), sondern von Shakespeare und habe dabei nicht das Beste erwischt.

Lessing übernimmt so das nationale Dispositiv aus Cibbers Prolog, der das fremde Französische unbedingt auf das eigene Englische zurückführen will. Es ist dabei nicht frei von Ironie, dass dieses forcierte kulturelle Entweder-oder in Voltaires Stück gerade der Konflikt ist, an dem die Protagonistin zugrunde geht. In ihrem Monolog aus dem dritten Akt, fünfte Szene, fragt sich Zaïre:

Hélas! suis-je en effet, française, ou musulmane?

Fille de Lusignan, ou femme d’Orosmane?Footnote 36

Die metrische Struktur hebt den existenziellen Zwiespalt der Figur hervor, sich zwischen zwei Kulturkreisen entscheiden zu müssen, zwischen dem Französischen als dem Ererbten und dem Muslimischen als dem Erlernten. Hills Übersetzung der Stelle schwächt die kulturelle Dimension dieser Tragik bezeichnenderweise ab und macht den Konflikt zu einem Problem zwischen einzelnen Individuen:

What am I? What am I about to be?

Daughter of Lusignan? – or Wife to Osman?Footnote 37

Die erste deutsche Übersetzung in Jamben spart die überpersönliche Dimension der konflikthaften Alternative in ähnlicher Weise aus:

Weiß

Ich doch kaum selbst mehr, was ich bin! – Die Tochter

Von Lusignan? – Die Gattinn Orosman’s? –Footnote 38

Aus Sicht des Originals zeigt sich also zugespitzt, wie sich Cibbers Prolog und Lessings Rezeption über Eigenheiten des Stücks hinwegsetzen. Sie machen Zaïre zum Gegenstand einer kulturantagonistischen Argumentation, deren tragische Logik Voltaire vor Augen führt. Der Vergleich zwischen London und Hamburg zeigt ferner, dass zunächst die Theaterkritik, nicht die Bühne selbst, zum Ort für Polemiken im deutschsprachigen Raum wird. Die Wirkung von Lessings Einschätzung ist indes enorm. Prominente Romanisten wie Leo Spitzer oder Victor Klemperer waren noch im 20. Jahrhundert bemüht, Zaïre aus der erstickenden Umklammerung Othellos zu befreien,Footnote 39 als das Drama jedoch schon längst von den Spielplänen Europas verschwunden war. Im 19. Jahrhundert macht sich der lange Schatten der Polemik auch in Bemühungen bemerkbar, das Drama nach Lessing aufzuführen. Heinrich Carl Friedrich Peucer übersetzte Zaïre 1819, um in der Nachfolge von Goethes Mahomet dem Weimarer Publikum eine weitere Tragödie Voltaires näherzubringen. In seinem knapp über 100-seitigen Vorwort greift Peucer Cibbers Prologzitate erneut auf und versucht Lessings Polemik abzumildern: »Wenn aber Lessing die Julie im Romeo weit über Zairen setzt, und den Othello über Orosman, so mag dies allerdings in mehrfacher Hinsicht wahr seyn; nur wird der Leistung des französischen Tragikers immer das Verdienst bleiben, daß sie unter den gegebenen Verhältnissen als vorzüglich gelungen gelten kann.«Footnote 40

Peucers Vorwort ist ein aufschlussreicher Text, weil er Lessings Einwände zwar relativiert, aber trotzdem die nationalantagonistische Argumentationsweise fortsetzt, indem er sich an einem anderen Modell orientiert, nämlich an Schillers Prolog:

Jeder Gebildete weiß die herrlichen Stanzen auswendig, die aus Schillers Feder flossen, als Mahomet im Jahr 1800 auf dem Weimarischen Hoftheater zum ersten Mal aufgeführt wurde. Wahrheit, Menschlichkeit, Natürlichkeit sind die Grundlagen der Kunst. In dieser Hinsicht ist von den Franzosen wenig zu lernen.Footnote 41

Peucers Vorwort führt auf eine Strategieänderung hin, die mir symptomatisch für die Nationaltheaterdebatte im ausgehenden 18. Jahrhundert scheint. Die bisherigen Prologe haben sich durch einfache Polemiken ausgezeichnet. Das Neue wird gegen das Alte ausgespielt, das Englische gegen das Französische, das Rohe gegen das Edle, das Natürliche gegen das Künstliche. Schiller wendet nun die Perspektiven gegeneinander und macht die deutsche Literatur zur lachenden Dritten einer Doppelpolemik, um sie im Wettkampf der Nationen zu profilieren.

III. Doppelpolemik im Prolog (Voltaires Le Fanatisme)

Die Mahomet-Stanzen entstanden auf Bitten Goethes. Im Briefwechsel spricht Schiller einmal vom »Prolog quaestionis«Footnote 42, also dem verlangten Prolog, der das Publikum mit den Zielen der neuen Mahomet-Übersetzung vertraut machen sollte. Herzog Carl August, der die Aufführung anregte, versprach sich eine Verbesserung des Publikumsgeschmacks, Goethe eine Verbesserung der Schauspielkunst.Footnote 43 Insbesondere das Sprechen in Versen, so liest man in den Tag- und Jahresheften, sollte die Schauspielerinnen und Schauspieler schulen und einen künstlichen Rahmen schaffen, aus dem heraus sich ein natürliches Spiel entfalten könne. Und der Ausgleich zwischen Kunst und Natur wird auch zu einem dominanten Problem in Schillers Prolog.Footnote 44

Als das Mahomet-Stück am 30. Januar 1800 in Weimar Premiere feierte, konnte das Drama auf eine beachtliche Aufführungs- und Übersetzungstradition zurückblicken. Es lagen bereits zwei deutsche Übersetzungen vor, darunter die erwähnte erste deutsche Voltaire-Übersetzung in Blankversen von Löwen. Die englische Uraufführung erfolgte wie im Falle der Zaïre kurz nach der französischen. Die Adaption stammt aus der Feder von James Miller und wurde mit einem Prolog versehen, der das gleiche Muster wie der Prolog von Cibber aufweist. Die kulturelle Übersetzung erfolgt, indem Einfluss unterstellt wird – was im Falle des Mahomet deutlich weniger plausibel ist als bei der Zaïre. Nach einer Tirade gegen »slavish France« rechtfertigt der Prolog die Aufführung in folgender Weise:

Britons, […]

Voltaire hath Strength to shoot in Shakespeare’s Bow

[…]

With your Commission, we’ll our Sails unfold,

And from their Loads of Dross, import some Gold.Footnote 45

Die topische Metapher der Spur ist bei dieser Anrede an das Nationalpublikum in das Bild des Bogenschusses übersetzt und zeigt erneut Voltaire in den Bahnen Shakespeares. Der französisch-englische Kulturtransfer, der im Schiffsverkehr symbolisch verdichtet wird, ist einseitig, das Mahomet-Stück schimmert golden unter einem Haufen Abfall hervor.

Bei Miller führen keine direkten intertextuellen Spuren zu Schiller. Das Muster, das sich in den polemischen Prologen von Cibber und Miller abzeichnet, kann aber verständlich machen, warum diese Form der Rahmung als englisch wahrgenommen wurde. Lessing hält in der Hamburgischen Dramaturgie auch fest: »Bei den Engländern hat jedes neue Stück seinen Prolog und Epilog«Footnote 46. Die national gefärbte Wahrnehmung ist für Schillers Prolog insofern von Bedeutung, als die englische Rahmung des französischen Stücks eine Begegnung und Konfrontation vor Augen führt, die der Prolog thematisiert. In rhythmischer Hinsicht zeigt sich ein ähnliches Bild. Es gibt wie bei Voltaire Reime, aber keine Alexandriner, sondern fünf Jamben wie in Shakespeares Blankversen und Goethes Übersetzung.

Die Zwischenstellung, die der Text einzunehmen bestrebt ist, kommt zudem im zweiteiligen Aufbau zum Ausdruck, der Schillers Text von den bisherigen Prologen unterscheidet. Das Gedicht besteht aus zehn Strophen, von denen die ersten fünf Rückschau halten. Sie beschreiben eine historische Entwicklung, in der sich die deutsche Dramatik allmählich vom Einfluss Frankreichs löst und sich stattdessen an Griechen und Engländern orientiert. Man sei den »Britten« »nachgeschritten«, heißt es im Paarreim. Die fünfte Strophe führt auf die scheinbar ideale Gegenwart hin als Ergebnis dieses kulturellen Verdrängungsprozesses. Doch die sechste Strophe markiert einen Umschlagpunkt, an dem auch »Thespis Wagen«, die Tragödienkunst, metaphorisch »umzuschlagen« droht. Die Vorzüge des neuen Theaters kippen in ihr Gegenteil. Das Wahre wird zum Kunstlosen, das Natürliche verkümmert zum Rohen, das Entfesselte mutiert zum Wilden. Diese Antithesen motivieren in der zehnten Strophe den Rückgriff auf Voltaire, der als »abgeschied’ner Geist« ein »Führer […] zum Bessern« wird. Die pleonastische Unvollkommenheit dieses toten, körperlosen Führers weist darauf hin, dass die Orientierung selbst überwunden und die Gegensätze auf einer höheren Ebene aufgehoben werden müssen.

Diese Aussicht auf harmonischen Ausgleich stellt der Text ganz offensichtlich nicht affirmativ, sondern polemisch her. Die Kritik an der französischen Kultur bleibt bis zur letzten Strophe scharf, der Prolog versammelt alle bisher diskutierten Stereotypen. Die »Aftermuse« erinnert an die »Muse, beyond herself, inspir’d«, der »falsche[] Regelzwange« an den »Kanzleistil der Liebe« und das Land, »wo Sklaven knien«, an Millers »slavish France«. Um zu zeigen, dass die Beziehung zur französischen Dramatik nicht rein negativ bleibt, wie man oft annimmt, lohnt es nachzufragen, an welchem »Regelzwange« sich der Prolog eigentlich stößt. Der Text bezieht sich hier sichtlich auf Stereotypen einer zeitgenössischen Debatte, spezifiziert sie selbst aber nicht. Wenn man in Schillers Briefwechsel mit Goethe nachliest, scheint es vor allem die »zweischenklichte Natur des Alexandriners«, die »Regel des Gegensatzes«, die attackiert wird:

Die Eigenschaft des Alexandriners, sich in zwei gleiche Hälften zu trennen, und die Natur des Reims, aus zwei Alexandrinern ein Couplet zu machen, bestimmen nicht bloß die ganze Sprache, sie bestimmen auch den ganzen inneren Geist dieser Stücke. […] Der Verstand wird ununterbrochen aufgefordert und jedes Gefühl, jeder Gedanke in diese Form wie in das Bette des Prokrustes gezwängt.Footnote 47

Blickt man von der Briefstelle zurück auf den Prolog, sieht man, dass Schiller die »Regel des Gegensatzes« aber nicht verwirft, sondern in seinen Text integriert. Das beginnt auf der Ebene der Verse, die das Strukturprinzip des Alexandriners vielfach übernehmen, um topische Prologantagonismen zu formulieren wie zum Beispiel: »Das Neue kommt, das Alte ist verschwunden« oder »Und siegt Natur, so muß die Kunst entweichen.« Zudem findet die »Regel des Gegensatzes« im skizzierten, zweischenkeligen Aufbau des Prologs eine Fortsetzung, der nationale und konzeptuelle Gegensätze konfrontiert, um sie zu versöhnen.

Das zentrale Übersetzungsproblem, das im Hintergrund dieser Texte steht, ist die Frage, ob man die französischen Alexandriner als Alexandriner, als Blankverse oder in Prosa übersetzen soll. Schillers Prolog kündigt Goethes Blankverse als Mittelweg an, als geformte Natürlichkeit und als Ausgleich zwischen englischer und französischer Kultur, dem im Wettkampf der Nationen strategische Bedeutung zukommt. Inwiefern der Text damit auf eine Übersetzungsstrategie des Mahomet hinführt, möchte ich abschließend an zwei ausgewählten Stellen zeigen.

Le Fanatisme, ou Mahomet le prophète ist, wie der Titel ankündigt, ein Stück über den Fanatismus. Der Protagonist Mahomet ist ein Extremist, gerade keine Figur im Zwiespalt, und deshalb auch nur bedingt tragödienfähig – auf diese Einschätzung deutet auch Goethes Streichung der kaum motivierten Selbstanklage am Schluss hin.Footnote 48 Tragisch ist vielmehr der Konflikt von Seïde, der sich zwischen der Religion Mahomets und seiner Liebe zu Palmire entscheiden muss. Seine Zerrissenheit zwischen der »Sitten falsche[r] Strenge« und der menschlichen »Leidenschaft«, wie es in Schillers Prolog heißt, kann der Übersetzungsvergleich eines Alexandriners aus dem vierten Akt vor Augen führen, der den tragischen Konflikt auf engstem Raum komprimiert. Kurz vor der Katastrophe glaubt Seïde noch einmal, auf sein Herz hören zu können, und sagt:

Vainement mon devoir au meurtre m’appelait;

A mon cœur éperdu l’humanité parlait.Footnote 49

In der ersten deutschen Übersetzung in paargereimten Alexandrinern, die 1748 in der Schönemannschen Schaubühne erschien, findet man die Gegenüberstellung einer Sprache der Pflicht, die zum Mord führt, und einer Sprache der Menschheit, die das Herz berührt, in ähnlicher Gestalt wieder:

Vergebens rief die Pflicht: du sollst ein Mörder seyn,

Die Menschheit redete dem schwachen Herzen ein.Footnote 50

Die Blankvers-Übersetzung von Löwen hebt später die hemistichische Struktur auf und wandelt die Verse in einfache Hauptsätze um:

Umsonst rief meine Pflicht mich zu dem Mord;

Das Mitleid nur sprach laut in meinem Herzen.Footnote 51

Die Macht des Herzens bringt hier das laute, alle anderen Stimmen scheinbar verdrängende Sprechen zum Ausdruck. Zugleich macht die Übersetzung das Mitleid zu einer Privatangelegenheit, die der Pflicht gegenübergestellt wird; von der Menschheit ist nicht mehr die Rede. Diese beiden Aspekte, Herz und Humanität, verknüpft Goethe geradezu programmatisch, in größerem Abstand zum Original:

[…] vergebens rief

Die Pflicht zum Mord mich auf. Gelinde kräftig

Sprach an mein innres Herz die Menschlichkeit.Footnote 52

Die Sprache der Humanität dringt hier ins Innerste des Inneren (»innres Herz«) und bringt die Verssymmetrie durcheinander. Sie schiebt sich förmlich in den Pflicht-Vers, verdrängt und dominiert ihn. Goethes Übersetzungsfreiheit spiegelt sich in der Antithese von Innerlichkeit und Menschlichkeit sowie in dem Oxymoron »Gelinde kräftig«. Es bringt ein besonderes Wirkpotenzial zum Ausdruck, das an Brechts Fügung von der ›sanften Gewalt der Vernunft‹ erinnert. Solche Verdoppelungen und Verschränkungen polarer Gegensätze sind ein generelles Merkmal von Goethes Mahomet-Übersetzung, die Spielräume von Figuren, Handlungen oder Konzepten sichtbar macht, indem sie selbst einen Spielraum des Übersetzens nutzt. Das möchte ich noch an einer letzten Szene zeigen, in der Seïde glaubt, die Stimme der Pflicht nun eindeutig aus dem Mund seiner Geliebten vernommen zu haben, was Palmire stark irritiert:

Palmire

Dieu, quel arrêt farouche!

Que t’ai-je dit?

Seïde

Le ciel vient d’emprunter ta voix;

C’est son dernier oracle, et j’accomplis ses lois.Footnote 53

Goethes Übersetzung der Stelle verrät noch stärker die eigene Handschrift:

Palmire

Welches Wort

War so zu deuten? welcher Wink?

Seide

So ist’s!

Der Himmel gab ein Zeichen mir durch dich,

Und dies Orakel bleibe mein Gesetz.Footnote 54

Im Unterschied zu Voltaire und den anderen deutschen Übersetzern lenkt Goethe den Blick vom physiologischen Akt des Sprechens auf interpretationsbedürftige Zeichen – und das sowohl bei Seïde, der keine Stimme, sondern ein Zeichen vernimmt, als auch bei Palmire, die nach wieder verdoppelten und alliterierenden ›Worten und Winken‹ fragt, die man deuten muss. Innerhalb der Beschränkung der Blankverse eröffnen sich so zahlreiche Spielräume, die von der Wortwahl über die Rhythmik bis hin zu einer hermeneutischen Praxis reichen. Sie markieren die poetologische Relevanz kultureller Zwischenräume für die Übersetzung, auf die Schillers Prolog antagonistisch hinführt und sie nationalkulturell auflädt.

Reaktionen auf den Prolog mussten am 30. Januar 1800 allerdings ausbleiben, weil er nicht wie vorgesehen zur Aufführung kam. Man vermutet nach einer Intervention von Herzog Carl August,Footnote 55 dem der Prolog wohl zu polemisch war. Der Text fand somit nicht Eingang in die Bühnenpraxis und hat in weiterer Folge auch keine formprägende Wirkung wie etwa der Wallenstein-Prolog entfaltet. Die Publikationsgeschichte der Stanzen, die in der Regel getrennt von Goethes Dramenübersetzung als Gedicht veröffentlicht wurden, trug weiter dazu bei, den Text aus seinen pragmatischen Kontexten zu lösen. Die literaturhistorische Episode von der Übersetzungspolemik im Prolog ist deshalb auch eine Geschichte durchtrennter Zusammenhänge und unterbliebener Möglichkeiten. Die deutschsprachige Bühne ist bekanntlich kein Ort geworden, der auf Übersetzungen und interkulturelle Dialoge einstimmt. Der Literaturwissenschaft ist überdies ein prominenter Beitrag zur Nationaltheaterdebatte abhandengekommen, der mit dramatischen Mitteln geführt wird und seine polemisch-patriotische Stoßrichtung offen zur Schau stellt. Im Hinblick auf das Spannungsverhältnis von Nationalismus und Kosmopolitismus regt die Übersetzungspolemik im Prolog zu einem Blickwechsel an: neben dem ›Patriotismus in weltbürgerlicher Absicht‹ auch den ›Kosmopolitismus in nationalistischer Absicht‹ wahrzunehmen.