I. Faktenwissen und Scheinwissen

Woher weiß Alfred Döblin, dass das Tor des Tegeler Gefängnisses, aus dem Franz Biberkopf zu Beginn von Berlin Alexanderplatz (1929) nicht passend mit einem Sommermantel bekleidet an einem kühlen Tag in die ihm bevorstehende schwierige Freiheit tritt, zwei schwarze eiserne Torflügel besitzt?Footnote 1 Er ist dort gewesen und hat sie gesehen. Man kann sie noch auf alten Photos vom Tor 1 der Justizvollzugsanstalt Tegel an der Seidelstraße sehen. Biberkopf fährt dann mit der Elektrischen (Straßenbahn) in die Stadt, drückt sich durch Stimmengewirr und Menschengewimmel an Geschäften entlang, passiert das Kaufhaus Wertheim in der Rosenthaler Straße, flüchtet sich in die Sophienstraße und stößt dort eine Haustür auf, um ins Warme zu kommen. Aus der Tür zum Hinterhof kommt ihm im Hausflur ein Mann – ein kleiner Jude mit rotem Vollbart – entgegen. Woher ›weiß‹ Döblin nun, wie es in dem Haus in der Berliner Sophienstraße aussieht und wer dort verkehrt? Wenn er dort nicht auch war und es gesehen hat, gibt er zumindest vor, es zu wissen. Die Hoftür lässt auf ein gewöhnliches Berliner Mietshaus schließen und der rotbärtige Jude auf Menschen, wie sie dort einmal gewohnt haben.

Es kommen hier drei Arten von Wissen zum Einsatz: 1. konkretes Wissen über Einzeldinge in der wirklichen Welt, das als Faktenwissen gelten kann, also Wissen über die eisernen Flügel vom Tor 1 der JVA Tegel, über das Kaufhaus Wertheim, die Sophienstraße oder auch Berlin – dies als ein komplexes Einzelding. Sodann 2. ein Konzept- oder Universalienwissen über Menschen und Häuser, das als allgemeines Weltwissen gelten kann. Schließlich 3. ein besonderes Weltwissen über Menschen, wie man ihnen auf Berliner Straßen begegnen konnte, und Häuser wie Berliner Mietshäuser; dies stellt wiederum Faktenwissen dar. Dazu gehört auch das Wissen darüber, dass in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts in der Umgebung der Sophienstraße viele osteuropäische Juden lebten. Allgemeines Weltwissen (= 2.) erwirbt man mit dem Erlernen einer Sprache, Faktenwissen im Sinne eines Wissens über reale Einzeldinge (= 1.) sowie im Sinne besonderen Weltwissens (= 3.) über ein Kennenlernen der Welt. Im Gegensatz zu allgemeinem Weltwissen (= 2.), das in einer Sprechergemeinschaft allgemein geteilt wird, ist Faktenwissen (= 1. und 3.) verbreitet oder weniger verbreitet. Dass es Berlin gibt, kann noch jedermann wissen, dass es ein Kaufhaus Wertheim in der Rosenthaler Straße gab (= 1.) und in der Nähe osteuropäische Juden lebten (= 3.), wird nur jemand wissen, der mit dem historischen Berlin vertraut war/ist, und dass das Haupttor des Tegeler Gefängnisses zwei eiserne Torflügel besaß (= 1.), muss man schon recherchieren, um festzustellen, dass Döblin genaue Ortskenntnis besaß.

Kommen in einem Roman fiktive Dinge vor, dann stellt sich die weitergehende Frage, ob und in welcher Form sie ›gewusst‹ werden können, da sie nicht in den eben genannten Wissensarten untergebracht werden können. Da sich in Döblins narrativen Sätzen kein Unterschied zwischen dem Erzählen von Faktischem und von Fiktivem feststellen lässt und da beides aber nicht denselben Status besitzt, scheint er vorgeben zu wollen, dass er über eine Kenntnis/ein Wissen der fiktiven Dinge verfüge. Im Erzählen verschwimmt der Unterschied, und die Nahtstelle zwischen Faktischem und Fiktivem wird nivelliert oder verschwindet. Hierzu kann man sich unterschiedlich positionieren: Man kann sagen, dass Döblin das, was er erzählt, nur wissen kann, soweit es Fakten- und Weltwissen darstellt. Dann behält man den Wissensbegriff nur diesen Wissensinhalten vor, und der verbleibende Rest, also sämtliche fiktiven Inhalte, stellte kein Wissen dar. Döblin würde also an zahllosen Stellen seines Romans zu phantasieren beginnen, wobei man als Leser nicht immer klar absehen kann, an welchen Stellen genau, weil man Döblins Faktenwissen nicht genau umreißen kann. Ich führe hierzu eine Sprachregelung ein, die als Meinongianism bekannt und umstritten ist. Sie besagt, dass man auch von Dingen ein Wissen haben kann, die es nicht gibt und zu denen u.a. Dinge gehören, die bloß fiktiv sindFootnote 2 – was Döblin nach meiner Sprachregelung tut. Solches Wissen lässt sich also als Wissen von Fiktivem und – wenn man seine verunklarte Einbringung in einen Roman mit berücksichtigt – als Scheinwissen bezeichnen, und dieses Scheinwissen würde 4. eine weitere Art des Wissens darstellen.

Zahllose Romane beginnen seit dem 19. Jahrhundert so oder so ähnlich wie Berlin Alexanderplatz mit einer Lokalisierung und Einbettung der fiktiven Handlung in die wirkliche Welt, auch wenn sie nicht immer so weitgehend durchgeführt wird wie hier. Es ruft einen besonders starken Illusionseindruck hervor, wenn Scheinwissen durch Faktenwissen ergänzt und ein fiktiver Plot entsprechend gerahmt und in die wirkliche Welt eingebettet wird. Dazu mache ich eine weitere Voraussetzung: Ich gehe davon aus, dass eine hinreichend große virtuelle Gemeinschaft von Autoren und Lesern auf die eine oder andere Weise mit der Unterscheidung von Fakten- und Scheinwissen vertraut ist. Ich kenne jedenfalls niemanden, der nicht wissen würde, dass es Romanfiguren wie Franz Biberkopf nicht gab, sodass er denn auch gar nicht aus jenen zwei schwarzen Torflügeln heraustreten konnte – auch wenn es diese Torflügel gab.

Faktenwissen lässt sich noch auf eine andere Weise in eine Erzählung einbringen: Man hat herausgefunden, dass Lage, Umgebung und Ansicht der Stadt Bearosche, die Gawan im VII. Buch von Wolframs von Eschenbach Parzival (ca. 1205) erreicht, auf auffällige Weise den Gegebenheiten der Stadt Erfurt entsprechen, die Wolfram gut gekannt haben dürfte und die er offenbar bei der Beschreibung von Bearosche abschildert.Footnote 3 Damit gibt er Bearosche eine individualisierte Form, die er aus der Wirklichkeit kennt. Es i s t bei Wolfram aber nicht Erfurt, sondern Bearosche. Bearosche als Ort im Parzival ist in der Wirklichkeit nicht anzutreffen, auch wenn Bearosche so aussieht wie Erfurt. Dies wäre ein Beispiel dafür, dass Faktenwissen über wirkliche Einzeldinge auf fiktive Einzeldinge umgesetzt werden kann. So geschieht es in Romanen unablässig. Wolfram erweckt den Eindruck, Bearosche zu kennen, und benutzt dazu seine genaue Kenntnis von Erfurt mit Umgebung, um forciert den Eindruck von Wirklichkeit herzustellen.

Diese Art von autorgebundenem Faktenwissen, das ebenfalls konkretes Wissen über Einzeldinge darstellt (= 1.), hat allerdings in der Erzähltheorie oder Narratologie nichts zu suchen. Sie gehört zum Schöpfungsvorgang durch den Autor und verschwindet hinter dem einmal hergestellten Romantext. Auch zur Analyse von Döblins Berlin Alexanderplatz trägt es nichts bei, einen Berliner Kriminellen aus den 1920er-Jahren zu identifizieren, den Döblin in seiner Arztpraxis behandelt und dann als Vorlage für die Darstellung von Franz Biberkopf verwendet hat – auch wenn es im weiteren Sinne von Interesse sein mag, eine solche Person ausfindig zu machen.Footnote 4 Klammert man derartiges Wissen aus der Romananalyse aus, so ist aber fraglich, ob man Döblins Kenntnis der eisernen Torflügel, des Kaufhauses Wertheim, der Sophienstraße wie auch Berlins usw. gleichermaßen vernachlässigen kann, denn dies alles steht im Text.

Mithilfe der Anwendung der Theorie möglicher Welten auf Romantexte haben Erzähltheoretiker versucht, Romanwelten einheitlich als mögliche Welten zu bestimmen, und sie haben auf diese Weise die Rolle der drei erstgenannten, in Romane eingehenden Wissensarten im Text verunklart. Ein solcher Versuch muss scheitern, denn Berlin ist in Berlin Alexanderplatz einfach Berlin – oder es soll Berlin sein –, und die eisernen Torflügel sind die von Tor 1 der JVA Tegel usw. Es geht nicht um das Berlin und dieselben Torflügel in einer möglichen Welt oder in einer Parallelwelt.Footnote 5

Nur selten kommt es in der mittelalterlichen Literatur dazu, dass wirkliche Einzeldinge wie die eisernen Torflügel Aufnahme in einer Erzählung finden. Das liegt auch daran, dass es hier – anders als schon in wenigen antiken Romanen – noch keine Romananfänge und Romanwelten gibt, die von bekannten Örtlichkeiten mit ihrer ganz konkreten Einrichtung oder Ausstattung und den dort lebenden Menschen ausgehen oder hier eingebettet werden. Zwar kennt der Dichter des Nibelungenliedes (ca. 1200) Worms am Rhein, wo die Erzählhandlung beginnt, und er nennt später Ortschaften an der und Zuflüsse in die Donau, sogar eine Stelle, wo der Inn in Passau mit der Bildung von Strömungsstrudeln in die Donau fließt (»mit vluzze«; 1295,4Footnote 6), die man heute noch sehen kann: Die Gewässerfarben heben sich beim Blick auf die Stelle bis zu den Strudeln voneinander ab. Aber dies wird hier ebenso wenig wie die Nennung von Worms mit der Absicht einer Illusionsbildung eingebracht. Die Gattung (Heldendichtung) wie auch der Auffassungsrahmen der Hörer sind vielmehr darauf ausgerichtet, die Handlung als historische Wirklichkeit zu verstehen, obwohl mit Ausnahme einer vernichtenden Niederlage der Burgunden und des Untergangs ihrer Königssippe Mitte des fünften Jahrhunderts – wohl in der Gegend um Worms – alles an der erzählten Handlung fiktiv ist und nichts historisch.

Dass nahezu das gesamte Erzählwissen einen Täuschungsstatus besitzt, ist aber vermutlich nur wenigen Hörern auf- und eingefallen, obwohl es hätte klar sein können, dass die letzten einsamen Augenblicke vor dem Tod burgundischer Krieger nebst vielen Details des erzählten Geschehens als historischer Faktenbestand kaum und sicher nicht so anschaulich den Weg in die Nachwelt hätten finden können. Schon in der Konkretheit der Schilderung hätte so etwas in der Tradierung durch Lieder nicht noch Jahrhunderte überlebt. Also fingieren es die Lieder. Auch wenn es im Nibelungenlied nicht um eine Illusionsbildung geht, die über eine nivellierte Mixtur fiktiver Dinge mit wirklichen Dingen erzeugt wird, sondern fiktive Dinge a l s wirkliche Dinge erzählt werden, ist der Effekt doch derselbe: Der Eindruck erzählter Wirklichkeit wird verstärkt. Rezeptionsseitig entspricht der Unterschied dem zwischen einer Illusion, die man als solche weiß, und einer Täuschung, die man als solche nicht erkennt.Footnote 7 Die Strudel am Zusammenfluss von Inn und Donau sind deshalb nicht anders zu verstehen als z. B. die von den vielen berittenen Leuten Etzels bei der Abholung Kriemhilds aus Passau tagelang wie durch einen Brand aufgewirbelte Staubwolke (»[si stoup] alsam ez brünne«; 1336,3) – auch wenn man die Wolke danach nicht mehr sehen kann und abgesehen davon, dass es sie gar nicht gab. Eine illusionssteigernde Mixtur muss dazu nicht ausgeprägt werden, sondern täuschendes und wirkliches Wissen firmieren vereint als e i n Wissen. Der Täuschung erliegen auch die Dichter, da sie Textteile immer schon aus vorhandenen Fassungen von Liedern übernehmen, die solch täuschendes Wissen ihrerseits schon enthalten, und sie reihen ihre (fiktiven) Textzusätze hier einfach ein und wissen und glauben vielleicht selbst nicht, dass sie einer Täuschung aufsitzen und diese weiterhin lancieren.

Es läge also keine Illusion vor, nicht einmal eine beabsichtigte Täuschung, sondern eine Kollusion.Footnote 8 Eine Vereinbarung von wirklichem und vermeintlichem Wissen zu einem (kollusionären) Wissen mit ungeklärtem Status dürfte sich u.a. für den Parzival und für den Artusroman nicht völlig anders darstellen, auch wenn dies in der Forschung strittig ist. Wissen dient dem Erzählen von Welt, einer Welt, die nicht sauber zwischen einer wirklichen und einer bloß erzählten, fiktiven Welt unterscheiden lässt. Den Unterschied kennt nach meiner Annahme ein kompetenter Leser von Döblins Roman allerdings sehr wohl. Hierzu wäre im Sinne einer Evolution der Literatur und des Erzählens allererst ein sich über Jahrhunderte erstreckender Übergang von Techniken der Kollusion zu solchen der Illusion zu beschreiben.

II. Probleme eines narratologischen Wissensbegriffs

Wenn Döblin über ein Scheinwissen darüber verfügt, wie es im Hausflur des Hauses in der Sophienstraße aussieht, und dies übergangslos in Faktenwissen einbettet, ist die Erzähltheorie gefordert. Gérard Genette hat sich hierzu so beholfen, dass ein Autor (Genettes Beispiel ist Balzacs Père Goriot mit der [fiktiven] Pension Vauquer in der einstigen Rue Neuve-Saint-Geneviève, heute die [1864 umbenannte] Rue Tournefort in Paris) das, was er zu wissen vorgibt, in der Tat gar nicht weiß, sondern nur imaginiert. Nach meiner Sprachregelung kann man allerdings problemlos wissen, was man imaginiert oder erfindet; doch man muss einer solchen Regelung auch nicht folgen. Wenn Döblin oder Balzac es nach Genette nicht wissen (sondern nur imaginieren) sollen, dann ›wissen‹ es – so Genette – doch die Erzähler: Sie ›kennen‹ die Handlungsumstände vor Ort.Footnote 9 Ich nehme an, dass Genette die Anführungsstriche zu ›Wissen‹ und ›Kennen‹ hier verwendet, um zu konzedieren, dass ein Leser beim Lesen den Eindruck gewinnt, es kenne jemand – wenn nicht der Autor, dann doch der Erzähler – das Mietshaus in der Sophienstraße bzw. die Pension Vauquer, da beides sich sonst weder nennen noch beschreiben ließe. Ein Wissen oder Kennen auf Seiten des Erzählers ist aber nicht selbstverständlich, und Genette macht andererseits und an anderer Stelle auch klar, dass ein Erzähler nichts weiß oder kennt, vielmehr erzählt er nur.Footnote 10 Hierzu tauchen nun einige Probleme auf.

Zunächst: Einen Erzähler unter dem Rubrum der narrativen Instanz oder Erzählinstanz in Analogie zur Diskurs- oder Äußerungsinstanz des Sprechers/Sprechenden einer Sprache als einheitliche Größe bestimmen zu wollen, kann nicht gelingenFootnote 11: historisch nicht, über Erzählformen und -gattungen hinweg nicht und auch schon über viele Einzeltexte hinweg nicht – es sei denn, man wollte es einfach dekretieren.Footnote 12 Erzähler und ebenso fiktionales Erzählen sind Gegenstände historischer Entfaltung – wie auf andere Weise auch politische Repräsentation, staatliche Souveränität und parlamentarische Demokratie –, und Literatur ist eine Art von Institution, die sich wandelt und entwickelt. Sodann: Verstünde man ›den‹ Erzähler als eine Art Automat mit einprogrammierter Grammatik und Sprachausgabe, wobei die Sprachausgabe einen Romantext (formal als Stimme) spricht, dann trennt man ihn von allem, was beim Erzählen mitläuft: etwa dass man immer intentional weiß, was man sagt oder erzählt.Footnote 13 Die Abtrennung erscheint zumindest ungewöhnlich – abgesehen natürlich davon, dass es manchmal vorkommt, dass Menschen nicht wissen, was sie sagen. Lässt man den Erzähler andererseits wissen, was er erzählt, dann scheint es aber auch seltsam, ihm etwa für das Tor des Tegeler Gefängnisses ein Wissen zuzuschreiben, das nur jemand wie Döblin besitzen kann, der vor Ort war; es sei denn, der Erzähler wäre wie ein zweiter Döblin seinerseits in der wirklichen Welt unterwegs gewesen, hätte das Tegeler Gefängnistor gesehen, den Berliner Stadtplan studiert und jede Menge weiteren Faktenwissens aus den 1920er-Jahren gesammelt. So würde man wohl den Autor verdoppeln.Footnote 14 Deswegen hat Genette sich im Rahmen seiner Fokalisierungssystematik mit gutem Grund davor gehütet, dem Erzähler ein Wissen und etwa auch noch die Unterscheidung von Fakten- und Scheinwissen zuzuschreiben.

Die Unterscheidung ist aber doch konstitutiv für die Herstellung und Lektüre moderner Romanfiktionen, da auch Leser das, was sie lesen, problemlos als fiktiv wissen. Sie gehen unausgesprochen sogar so weit mit, dass sie es als wahr-in-der-erzählten-Welt aufnehmen,Footnote 15 und sie unterscheiden damit zwei Wahrheitsbegriffe, weil sie zugleich wissen, dass es in der wirklichen Welt nicht wahr ist.Footnote 16 Wissen an sich muss nun freilich auch nicht zwingend einer Person oder Figur zugeschrieben werden; es ist oft einfach als Erfahrungs- und Lernwissen in der Welt. Dass Wasser bei Frost zu Eis gefriert, weiß jedermann im Sinn besonderen Weltwissens – auch wenn man nicht in gleicher Weise über die Details einer Erzählhandlung verfügt, da hier weitere, andersartige Wissensarten in differenzierter und spezifizierter Form eingehen. Man könnte aber auch für Erzählwissen darauf verzichten, es zuzuschreiben, und es als herrenloses Wissen auffassen. Man kann auch ganz auf den Wissensbegriff verzichten und von narrativen Inhalten erzählter Fiktionen sprechen.Footnote 17 Dann geht zwar der Unterschied zwischen Fakten- und Scheinwissen verloren, er taucht aber auf andere Weise zwischen faktischen und fiktiven Inhalten wieder auf. Auch dieser Unterschied geht noch in die Herstellung von Romanfiktionen ein, wird von Lesern erkannt und kann dem Autor angelastet werden; für den Erzähler würde sich der Unterschied nach Genette verbieten – faktische und fiktive Inhalte könnte er nicht unterscheiden. Die Unterscheidung bliebe Autor und Lesern vorbehalten.Footnote 18

Dem Autor und nur ihm dürfte aber eine andere charakteristische Eigenschaft von Romanfiktionen zuzurechnen sein: die von ihm verfügte Anordnung ihrer Inhalte, also die Reihenfolge der Sätze, Erzählabschnitte und auch der Erzähleinheiten, hier insbesondere der Einheiten mit Abweichungen von einer zeitlichen Chronologie. Für einen Erzähler ließen sich sämtliche Erzählinhalte als Einträge einheitlichen Charakters (›der Erzähler sagt, dass […]‹) in einer Matrix zusammenstellen, aus der ihre lineare narrative Kombination erst noch operational abzuleiten wäre. Diese Matrix bildete die Menge der Aussagen des Erzählers ab. Soweit er nichts weiß, kann er auch für ihre lineare Kombination nicht verantwortlich sein. Dann könnte man die zu bestimmenden Operationen für die Elemente der Matrix auch einem Zufallsgenerator überlassen und die Aussagen mit ihren Inhalten wie Lottokugeln aus der Trommel herausrollen lassen. Ich lasse die Frage offen, ob und inwieweit dabei verschiedene Erzählungen und Plots zustande kämen. Tatsächlich werden die Operationen aber im Zuge des Erzählens immer intendiert, und ihre Folge ist niemals zufällig. Sie werden uneinheitlich vorgenommen,Footnote 19 weil sie auch von den Inhalten abhängig und deshalb nicht von vornherein operational festgelegt sind. Eine Erzählerstimme könnte dafür schwerlich verantwortlich sein – sie müsste vielmehr den vollständigen festgelegten Romantext in einem Stück heruntersprechen. In Bezug auf die Anordnung seiner Teile kommt Intentionalität dabei aber unweigerlich ins Spiel. Versteht man als Leser einen Roman, dann den so vom Autor geschaffenen Text. Weil der Autor über alle narrativen Inhalte als Wissen – von Faktischem und Fiktivem, wozu ich meine Sprachregelung entsprechend weiter heranziehe – verfügt, verfügt er in Bezug auf die Anordnung seiner Erzählung über eine Art Allwissen, das er nach Bedarf in sie einbringt. Diese Verfügung über alle Inhalte einer Erzählung in ihrer Folge und Reihung ist eine Vor- und Grundbedingung von Allwissenheit. In diesem Allwissen mischen sich allerdings Fakten- und Scheinwissen.

Es gibt ein weiteres Zurechnungsproblem, mit dem sich die Frage nach einer Art von Allwissenheit auch weitergehend stellt. Ist in der Erzähltheorie von Allwissenheit die Rede, so kann es nicht darum gehen, eine götter- oder gottgleiche Allwissenheit zu imputieren, auch wenn eine solche schon in den homerischen Dichtungen oder in der Bibel zum Thema und Gegenstand des Erzählens geworden ist.Footnote 20 Erzählte Allwissenheit von Göttern oder Gott betrifft oder beseitigt aber nicht die Frage nach der Allwissenheit von Erzählenden, da sie ihrerseits schon wissen müssen, was die Götter oder Gott wissen, wenn sie es erzählen. Vielmehr bleibt Allwissenheit in Erzählungen allein auf die Erzählinhalte, zu denen das Wissen von Göttern oder Gott gehören kann, und ihre Einbringung beschränkt. Diese Inhalte machen aber fast immer den Eindruck, als wisse der Träger des Erzählwissens auffallend viel und sogar mehr, als er erzählt: so als hätte er das Erzählte aus einem größeren Wissensfundus ausgewählt. Bei den faktischen Inhalten, die Döblin in seinen Roman einbringt, ist das auf Anhieb klar, denn hier dürfte er über sehr viel mehr Wissen verfügt haben, als er tatsächlich einbringt, da er sich in Berlin und zu den dort lebenden Menschengruppen gut auskannte.

Es geht aber primär um die fiktiven Inhalte, die beim Romanerzählen in einem Ausmaß eingebracht werden, wie man es vom Alltagserzählen her nicht kennt. Zwar weiß man oft, was jemand denkt, aber man kann es doch nicht so präzise angeben, ja in Anführungsstriche setzen und zitieren, wie Romane dies immer schon tun (s. dazu Abschnitt VI). Man würde Fremddenken in einer Alltagserzählung wohl allenfalls in der Form einer unterstellten Gedanken-Paraphrase formulieren (›Er hat sich eingebildet, dass […]‹). Auch andere fiktive Inhalte reichen in Umfang und Form weit über das hinaus, was in Alltagserzählungen möglich ist. Dies liegt auch daran, dass Romanautoren, die sich fiktiver Inhalte bedienen, sie grundsätzlich nach Belieben ausdenken können. Hier trifft Genettes Charakterisierung der Autortätigkeit (s. oben) die Umstände des Romanerzählens genau. Dem Ausdenken sind nur Grenzen gesetzt, die die ausdenkende Phantasie selbst schon an sich hat. Zum Ausdenken gesellt sich die Anordnung und Menge fiktiver Inhalte, die zuvor schon auch das Ausdenken lenkt. Muss Flaubert die Schuhgröße oder Augenfarbe Emma Bovarys kennen, und ist beides von Bedeutung für seinen Roman? Der Leser geht, geleitet von seinem Konzept- und Universalienwissen (s. oben zu 2.), davon aus, dass Emma Bovary eine Schuhgröße oder Augenfarbe besitzen muss. Ein Träger von Erzählwissen kann so etwas erzählen oder, wenn es keine Bedeutung für sein Erzählen besitzt, auch nicht. Vielleicht kommt beim Leser die Annahme auf, dass Flaubert sie zumindest nennen können müsste – dann wüsste er mehr, als er erzählt. Doch dies entspräche einem Fehlschluss. Im Erzählen nennen könnte er sie, ›nennen können‹ im Sinne der Verfügung über Faktenwissen entspricht aber keiner adäquaten Beschreibung seines Wissens. Es handelt sich um einen fiktiven Inhalt, der unbestimmt sein und bleiben kann, solange er nicht im Romantext steht. Emma Bovary gibt/gab es nicht, insofern gibt oder gab es auch nicht die Möglichkeit, Fakten über sie zu ermitteln. Scheinwissen bleibt systematisch unterfüllt und ungefüllt.

Romane bieten in umgekehrter Sicht gleichwohl oft ein Detailwissen auf, das den einen oder anderen Leser überrascht, wenn es weit in die Privatheit einer erzählten Figur bis hin zu ihren Gedanken eindringt – und wer kennt auch schon etwa die Schuhgröße von irgendjemandem. Das wirft anders noch die Frage auf, woher der Autor so etwas ›weiß‹, wenn er es erzählt – auch das entspricht keiner adäquaten Beschreibung, denn der Autor weiß es nur im Sinn eines Wissens von Fiktivem oder eines Scheinwissens. Es zu wissen oder wissen zu wollen, erfüllt nur Wünsche der Vorstellung und Phantasie. Beides also – die Lücken einer Erzählung ebenso wie auch ihre Füllung durch Erzählwissen (als Scheinwissen) – lässt einen Anfangseindruck von (scheinbarer) Allwissenheit entstehen, auch wenn solche Allwissenheit hierbei über Fehlschlüsse unterstellt wird.

Träger von Erzählwissen sind allerdings Anlaufpunkte für Fragen, wenn sie etwas auf nicht-natürliche Weise zu wissen scheinen. An Scheinwissen denkt man dabei nicht gleich, nur an den meist ungewöhnlichen Umfang und die relative Unwahrscheinlichkeit eines präsentierten Wissensfundus. Was allerdings der Autor imaginiert oder erfindet, muss genauso wenig begrenzt und vollständig bestimmt sein wie etwas, das man sich vorstellt.Footnote 21 Wird es im Präteritum erzählt, als habe es existiert, erweckt es freilich den Eindruck, als sei es – sei es auch nur in seiner erzählten Welt – vollständig bestimmt gewesen. Der Autor wird mit seinem Schöpfungsprozess zum Opfer einer globalen Scheinimplikatur seines Textes, das Erzählte habe stattgefunden, sowie vielen undurchsichtigen Detailimplikaturen, nach denen er mehr wissen müsste, als er erzählt, und nach denen er andererseits mehr erzählt, als er überhaupt wissen könnte – soweit es mit rechten Dingen zugeht. Einiges kann er, geht es mit rechten Dingen zu, eigentlich auch gar nicht wissen, wenn es allzu unwahrscheinlich erscheint, so etwas zu wissen. Eine Romanfiktion ist zwar wie eine nicht vollständig bestimmte Vorstellung,Footnote 22 doch dadurch, dass sie (meist) ins Präteritum gesetzt wird und aufgeschrieben begegnet, kommen für den Leser Implikaturen ins Spiel, die eine größere Vollständigkeit der erzählten Welt zumindest suggerieren.Footnote 23

Franz Stanzels Begriff des – sich allwissend gebenden – auktorialen Erzählers scheint zusammen mit der virtuellen Erzählsituation, aus der heraus er erzählt, unverwüstlich.Footnote 24 Es hat sich allerdings eine Umkehr der Beweislast ergeben: Danach wäre nicht nachzuweisen, dass eine Identität von Erzähler und Autor besteht – so StanzelFootnote 25 –, sondern dass eine Nicht-Identität zwischen ihnen besteht und Autor und Erzähler zu differenzieren sind.Footnote 26 Für den Begriff der Allwissenheit ist das zweitrangig. Sie kann als Pose des Autors ebenso gut durchgehen wie als Konstitutionsbedingung des auktorialen Erzählers, der dann freilich über ein Wissen verfügen müsste – so die Implikatur des Romantextes. Man kann den Erzähler generell als Größe auffassen, die der Autor mittels einer Erzählfunktion bedient,Footnote 27 oder als Größe, die seinem Text formal eingeschrieben ist, oder die er – was man seinem Text allerdings entnehmen können muss – gar aktiv fingiert und sogar figuriert (oder noch anders), aber auch als eine unvermeidlich angestoßene Projektion des Lesers beim Lesen: Der Leser stellt sich den Erzählenden als jemanden vor, der wie etwa Döblin Wissen über die Wirklichkeit besitzt (sowohl über reale Einzeldinge wie als allgemeines und besonderes Weltwissen) und zudem Wissen über all das, was er sonst noch erzählt. Anders als der Erzähltheoretiker hat der Leser wohl kein Problem damit, dass dieser Erzählende wirkliche Dinge kennt, die der Leser auch kennt oder kennen kann (Berlin, Paris usw.), und daneben jede Menge fiktiver Dinge, von denen er die für sein Erzählen entscheidenden und bedeutsamen Dinge – so dem Leseeindruck nach – auswählt. Die Institution Literatur hat dem Erzählenden solche Möglichkeiten eröffnet. Der habituelle, sozialisierte Leser kennt die oben genannte Mixtur aus vielen Erzählanfängen und der hier oft gleich zu Beginn vorgenommenen Einbettung des Erzählten in die wirkliche Welt.Footnote 28 Ein solcher ›Erzähler‹ wäre ›auktorial‹, dem Autor ähnlich oder gleich und weder eine bloß sprechende agency oder ein Sprechautomat noch ein theoretischer Homunkulus, sondern eine Art Autorphantasma oder eine Autorimago des Lesers, mit der zu rechnen der Leser sich angewöhnt hat. Der Erzähler erzählte dann aus einer virtuellen Erzählsituation heraus, an der die Leser teilhaben, wenn sie ihren Leseakt vollziehen. Dieser Erzähler – Kippfigur des Autors, aber nicht ein anderer – weiß etwas, wie denn auch der Leser weiß, was er erzählt bekommt, da er es als Wissen über das Erzählte mit eigenen Worten wiedergeben kann: als wahr-in-der-erzählten-Welt.

III. Wissen ohne Herleitung

Mittelalterliches volkssprachliches Erzählen ist noch nicht fiktionssicher,Footnote 29 und narrative Techniken der Illusionsbildung sind noch nicht weitergehend ausgeprägt. Deshalb trifft man auch noch nicht auf Romananfänge wie in Berlin Alexanderplatz. Hörer und Leser sind nicht hinreichend sozialisiert in eine fiktionsbewusste Auffassung des ErzähltenFootnote 30 und dürften sich vielfach im Unklaren darüber befinden, inwieweit es als fiktiv oder wirklich aufzufassen ist. Fiktionsrahmen haben sich noch nicht fest um ganze Erzählungen gelegt; vielmehr spricht hier noch Wirkliches für die Wirklichkeit und Fiktives für die Fiktivität des jeweils an Ort und Stelle Erzählten. Schon Folkloreerzählungen besitzen diesen ungeklärten Status,Footnote 31 und auch in mittelalterlichen Erzählungen kann noch beides nebeneinander vorkommen, während in einer modernen Romanfiktion Wirkliches und Fiktives zu einer geschlossenen Fiktion vernäht werden. Bei den mittelalterlichen Autoren stellt man dieselbe Unsicherheit fest, wie man sie dann auch mittelalterlichen Hörern und Lesern unterstellen kann.

Hartmann von Aue bringt in seinem Iwein (um 1200) ein aufschlussreiches Gedankenspiel zur Herkunft eines bestimmten einzelnen Erzählinhalts. Er erzählt den Iwein im Anschluss an Chrétiens von Troyes Yvain (um 1180) und engagiert sich nicht, ihn eindeutig als faktisch oder fiktiv auszuweisen. Einmal stolpert er aber über das Problem der Herkunft des Erzählwissens, als er im Rahmen der Initial-âventiure den Kampf zwischen Iwein und Ascalon erzählen will. Es gibt – so Hartmann – niemanden, der diesen Kampf beobachtet hat, und von den beiden Kämpfenden ist Ascalon am Ende tot, während Iwein danach nicht viel Aufhebens von seinem Sieg machen will und deshalb niemandem etwas vom Kampf weitererzählt (V. 1029–1044). Es kann also niemand sonst noch in der Welt wissen, wie der Kampf ablief. Die Problematik spielt eine Rolle schon auf der Handlungsebene: Wenn kein Beweis für den Ausgang des Kampfs – mit dem toten Körper des besiegten Ascalon – vorliegt, kann nicht sichergestellt werden, dass Iwein gesiegt hat, und der größte Spötter am Artushof, Keie, würde sich über ihn lustig machen. So die Überlegung Iweins noch während des Kampfs, weshalb er Ascalon dann unritterlich erschlägt.

Hartmann unterstellt hierzu (sicher spielerisch), der Kampf habe wirklich stattgefunden, und er problematisiert dazu die Herkunft des Wissens über seinen Verlauf. Er fordert – dem Schein nach – als Voraussetzung für ein glaubwürdiges Erzählen Augenzeugenschaft. Das entspräche einer natürlichen Herleitung des Erzählwissens und ist im Mittelalter zudem wie auch heute noch die für Rechtsverfahren geforderte Form des Nachweises, dass etwas wirklich stattgefunden hat. Auch Geschichtsschreiber halten etwas darauf, sich ggf. auf Augenzeugen oder zumindest zuverlässige Quellen berichteter Ereignisse stützen zu können, wenn sie nicht sogar aus eigener Anschauung erzählen können.Footnote 32 Noch fabulierte Quellenberufungen für literarische Texte wollen sich auf das Zeugnis von Quellen (Büchern) verlassen, denen historische Wahrheit zugesprochen wird.Footnote 33 Nach der in den Handschriften des Nibelungenliedes meist angeschlossenen Nibelungenklage soll der vollständige Untergang aller Burgunden am Hof Etzels durch zwei Augenzeugen in den Westen gebracht und in Passau aufgezeichnet worden sein – nur deshalb kann man überhaupt etwas davon wissen. Öfter finden sich vergleichbare Ketten von Wissensträgern gerade in der Heldendichtung konstruiert.Footnote 34 Deshalb befindet sich Hartmann in einem literarischen Kontext, in dem seine Überlegung einer naheliegenden Erwartung an einen Erzählinhalt entspricht. Wie und woher könnte dann aber jemand den Verlauf des Kampfs zwischen Iwein und Ascalon kennen?

Für die moderne Erzähltheorie stellt sich mit vergleichbaren, wenn auch fehlorientierten Fragen an eine Romanfiktion ein systematisches Problem: Wenn ein Wissen über den Verlauf erzählter Situationen nicht auf natürliche Weise erworben worden sein kann, da die Teilnehmer tot sind oder nichts darüber weitererzählen können oder es auch nicht wollen, weil etwa die Situationen einen hohen Grad an Privatheit oder Intimität aufweisen, dann muss ein Wissen darüber, wenn man ihm überhaupt nachfragt, auf nicht natürliche Weise zustande gekommen sein.Footnote 35 Es muss sich um eine Art von Allwissenheit handeln. Hartmann ist dies nur eine halbironische Volte wert, die den Umstand reflektiert, dass Dichter immer schon Dinge wissen, die man normalerweise nicht wissen kann.Footnote 36 Das ist auch für die Erzähltheorie klar; sie bemisst nur die Frage nach einer Allwissenheit im Erzählen an einer hypothetischen Herkunft solchen Wissens. Wenn es eine solche Herkunft nicht besitzt und nicht hergeleitet werden kann, wäre es einer Allwissenheit zuzurechnen, die allerdings nur als Allwissenheit erscheint und in den Bereich narrativen Scheinwissens gehört.

In der mittelalterlichen Erzähldichtung werden Hunderte unbeobachteter Kämpfe erzählt, ohne dass das Problem eines Augenzeugen hierfür virulent wird.Footnote 37 Es werden auch andere Dinge erzählt, für die es Augenzeugen gar nicht geben kann: etwa Träume, die einer Figur nicht einmal wie Gedanken in einem Handlungskontext kommen, sondern jenseits eines solchen Kontextes nur zufallen. Sie zu erzählen verbindet sich im mittelalterlichen Erzählen nirgendwo mit der Frage nach der Wahrscheinlichkeit einer Verfügung über solche Träume durch den Erzähler/Autor; dieser weist ihnen sogar immer schon weitergehend eine narrative Funktion zu – sei es für die Handlungslogik oder die Figurendarstellung. So weiß dann Hartmann auch allemal, wie der Kampf zwischen Iwein und Ascalon ablief, und er weiß sogar, was Iwein sich dachte, als er den flüchtenden Ascalon unritterlich von hinten erschlug: ›Da dachte Herr Iwein, wenn er ihn [Ascalon] nicht erschlüge oder finge […], würde er [Keie] ihm seine Ehre absprechen‹ (V. 1062 f. und V. 1071).

Mittelalterliches Erzählen verfügt umso unbedenklicher über die damit einhergehende Allwissenheit, weil es in der Regel vorhandene Stoffe und Texte wiedererzählt. Träume etwa übernimmt es jeweils schon aus den Vorlagen, die sie ihrerseits irgendwann aus der Erzählfolklore abgeschöpft und literarisiert haben. Für moderne Romanfiktionen wäre Hartmanns Gedankenspiel absurd, denn es ist klar, dass sich seine Fragen zu einem Roman nicht stellen lassen; deshalb lässt es auch eine latente Unsicherheit hinsichtlich des Umgangs mit einem Fiktionsstatus erschließen. Romanautoren erfinden einfach, was sie zu wissen scheinen/vorgeben, und ihr Faktenwissen haben sie wiederum auf natürliche Weise erworben. Ihre Erzähler scheinen auf die Seite der Fiktion zu gehören, hier allerdings nicht gleich in die Fiktion, sondern in eine Art Zwischenwelt, in der sie weder autorgleich über Fakten- und Scheinwissen verfügen noch ihr zu unterstellendes Wissen in der fiktiven Welt als homodiegetische Erzähler auf natürliche Weise erworben haben können. Sie scheinen einfach zu wissen, was passiert ist oder was vor Ort wie aussiehtFootnote 38 – was allerdings erklärungsbedürftig ist.

Hätte Hartmann sein Gedankenspiel weitergetrieben, so hätte er es auf den ganzen erzählten Plot des Iwein beziehen müssen, für den es auch sonst nicht immer Augenzeugen gibt. Zwar hätte Iwein selbst später vieles noch erzählen können, wenn man ihn einmal am Konzept- oder allgemeinen Weltwissen zu Menschen (s. oben zu 2.) misst, die ihrerseits Fakten- und besonderes Weltwissen besitzen (s. oben zu 1. und 3.). Doch einiges hätte auch für ihn umständlicher und kaum noch leistbarer Recherchen bedurft, um es zusammenzubringen. Das Gesamtwissen zu einer Erzählung lässt sich überhaupt kaum je einmal auf natürliche Weise zusammentragen.Footnote 39 Dies führt schnell zu dem Schluss, dass keine Erzählung in der 3. Person jemals auf natürliche Weise gewusst wird, sondern immer schon einer nicht-natürlichen Divination bedarf, um dann allwissend zu einem auserzählten Plot gerundet werden zu können.

Das gilt für heutige Alltagserzählungen ebenso wie schon für die vielleicht ältesten Erzählungen der Menschheit: Tiererzählungen.Footnote 40 Woher soll ein Erzähler der Steinzeit gewusst haben, was der Fuchs (oder Kojote usw.) zum Wolf (oder Bären usw.) sagte und was er ihm dann antat? Schlagfertigkeit, Sprachwitz und Handlungslist runden sich schon hier zu einem Plot, der hier allerdings in einer anderen Welt, der Welt der (sprechenden) Tiere, spielt. Seit Äsop ist die zugehörige Allwissenheit Grundkonstante des Fabelerzählens. Eine Suggestion des oder der Erzähler, sie seien dabei gewesen oder hätten es glaubhaft gehört, wäre hier von vornherein absurd, absurd dann aber auch für Zaubermärchen ohne Tierprotagonisten.

Alltagserzählungen sind dagegen fast immer Ich-Erzählungen, die der Bedingung, dabei gewesen zu sein, leicht entsprechen können oder die zumindest eine Kette von Personen konstruieren, die Augenzeugenwissen transportieren. In dem Maße aber, in dem Alltagserzählungen das Ausmaß der Beteiligung des Ichs zurückfahren, erlauben sie, frei herbeigezogenes Mehr- oder Überschusswissen einzubringen, dies in Form einer freien Ergänzung oder einer Ausschmückung. Wenn wir schon in Erzählungen von Selbsterlebtem zu wissen glauben, was jemand dachte oder beabsichtigte, als er uns dieses oder jenes sagte oder antat,Footnote 41 dann machen wir bei einer zur Homodiegese zurückgebildeten Autodiegese von einer zugewonnenen Lizenz Gebrauch, die als anthropologische Universalie des homo narrans gelten kann. Denn dann arrondieren wir eine Erzählung und füllen dabei selbstständig Lücken, die keineswegs immer durch einen empirisch erworbenen Kenntnisstand gedeckt sind.Footnote 42 Dazu ›wissen‹ wir Dinge, die wir allenfalls erschließen oder glauben unterstellen zu können. Das zeigt schon die Häufigkeit, mit der wir im Alltag mit Ex-Silentio-Schlussfolgerungen operieren. Sie erklären auch, wie schnell man mit erstaunlichem Mehrwissen ausgestattete Reportagen in Magazinen für wahr zu halten geneigt ist, die solche Schlussfolgerungen und daneben auch unerkannte Vorurteile literaturmäßig aufzubereiten und zu bedienen verstehen.Footnote 43 Man nimmt so etwas hin, weil es einem vertraut ist. Auf bestürzende Weise zeigen es dann auch Verschwörungsnarrative, die Setzungen zu einer narrativen Ganzheit fügen können, welche die unbezweifelbare Kenntnis der Intentionen des oder der Akteure einer Verschwörung immer schon voraussetzt. Dabei werden Scheinwissen und Faktenwissen dann auch nicht mehr unterschieden. Hierzu liegt eine Kollusion in einer begrenzten Trägergemeinschaft vor.

Für Folkloreerzählungen und auch noch Romane bedarf es darüber hinaus zusätzlich einer Prägnanz,Footnote 44 die immer erwartet wird und die allemal das von alltäglichen Bindungen und Zwecken befreite Erzählen in eine pointierte narrative Form zu bringen nötigt. Alle Maßnahmen, die von einem supponierten Geschehen zu einer konkreten Erzählung führen,Footnote 45 werden dazu von einer ebenso nicht-natürlichen wie handwerklich unverzichtbaren Allwissenheit verantwortet. Weil das so ist, fragen wir auch nicht, wie ein auktorialer oder ein nach Genette so genannter heterodiegetischer Erzähler zu seinem Wissen gelangt ist. Er hat es einfach und man folgt ihm,Footnote 46 weil Allwissenheit mehr oder weniger immer schon mit einer Erzählung verbunden wird, soweit sie sich von einer Ich-Erzählung entfernt oder unterscheidet.

Am Anfang steht der Plot. In ihm wird nur Universalienwissen verarbeitet: Nur einer von zwei Brüdern hat Erfolg, ein Schneider macht sich zum Spott seiner Mitmenschen oder eine pikierte Prinzessin muss sich einem Frosch gegenüber dankbar zeigen usw.Footnote 47 Irgendwer hat den Plot geprägt, und seine Gestalt ist prägnant genug, um sich in der Tradierung durch viele Erzähler zu erhalten und ggf. auch ›von selbst‹ wiederherzustellen.Footnote 48 Dabei ist der Plot sich selbst genug. Um ihn auszugestalten, bedarf es eines frei herbeigezogenen Wissens über alles, was ihn dann als Erzählung ausmacht. Diesem Allwissen fragt – von der Erzähltheorie abgesehen – niemand groß nach; es ist da. So ist es bis heute.

IV. Zum Begriff der Allwissenheit

Allwissenheit ist leicht zu fassen: Zunächst lässt sich darunter in Allaussagen formuliertes Wissen und Gesetzeswissen verstehen, das grundsätzlich nicht an bestimmte Träger gebunden ist. Eine Seite dieses Wissens betrifft die Aussagenform (Allsätze, Gesetzesaussagen, Gebote und Verbote), die andere den Inhalt (natürliche Sachverhalte, Naturgesetze, aber auch von Menschen gemachte Gesetze). Es ist denkbar, dass es eine Gesamtmenge all solcher All- und Gesetzesaussagen gibt. In Erzählungen geht es aber nur um ein Wissen, das auf Menschen und Menschenähnliche zutrifft und das ihre Handlungen, ihnen zustoßende Ereignisse, ihr Innenleben u.a.m. beinhaltet. Hier werden Raum und Zeit als Umstände des Handelns, der Ereignishaftigkeit und der Innenwelten entscheidend. Dafür braucht es Träger des Wissens, und dieses Wissen hat nicht nur die Form von Allsätzen (z. B. ›Alle Menschen einer bestimmten Profession, Herkunft usw. besitzen dieselben Grundeigenschaften‹ [= besonderes Weltwissen, s. oben zu 3.]), sondern hält vielmehr Antworten auf Fragen der Art bereit, wer irgendwann irgendwo war und etwas wie getan oder wie erlitten hat. Träger solchen Wissens treffen auf natürliche Begrenzungen ihres Wissens. Von zwei gleichzeitigen Handlungen oder Ereignissen an zwei Orten außerhalb von Hör- und Sichtweite kann man ohne technische Hilfsmittel oder Zuträger nichts wissen. Ein Wissen hierzu ist ohne Hilfsmittel und Zuträger nur denkbar, wenn es auf eine übergeordnete Wissensinstanz bezogen wird, die es auch schon für das eben genannte Allwissen mit vollständig versammelten Allsätzen und Gesetzesaussagen bräuchte. Tatsächlich haben aber Erzähler sich wohl kaum je darum geschert, das Wissen von gleichzeitigen, räumlich distanzierten Handlungen/Ereignissen plausibel herzuleiten. Das mag indes den Eindruck von Allwissenheit erklären, den ein Hörer/Leser empfängt.

Niemand kennt aber abgesehen von allgemeinen Prognosen und statistischen Extrapolationen die Zukunft, und auch hier bräuchte es eine höhere Wissensinstanz für ein Allwissen. Aber selbst für historische Erzählungen erweist sich weder das Wissen über räumlich wie dann auch zeitlich auseinanderliegende Ereignisse als problematisch, noch spielt das Nichtwissen der Zukunft eine Rolle, denn im Rahmen eines erzählten Zeitraums ist sie schon eingetreten.Footnote 49 Das gilt auch für Romane, wo sie – vom Leseprozess aus gesehen – ggf. im Lauf der erzählten Handlung noch eintritt, wenn sie so erzählt werden, dass man nicht absehen kann, was geschehen wird. Man kann hier deshalb im Prinzip alles wissen, was irgend wichtig oder bedeutsam erscheint. Ein Problem ist allenfalls noch das Innenleben von Akteuren/Figuren (s. dazu Abschnitt VI).

In Erzählungen kann zumindest der Eindruck von Allwissenheit dadurch verstärkt werden, dass Wissen über die noch zu erzählende Zukunft der Handlung im Vorhinein ausgespielt wird, auch wenn dies schon deshalb kein Problem darstellt, als Erzählungen im Nachhinein erzählt werden und der Erzählende den Ausgang kennt. Zu Beginn der Odyssee lassen die Musen den Sänger wissen, dass Odysseus nach Ithaka zurückkehren wird, der Dichter des Nibelungenliedes weiß gleich zu Beginn, dass die Schönheit Kriemhilds den Untergang der Burgunden nach sich ziehen wird, und Döblin stellt in vergleichbarer epischer Einstellung eine kurzgefasste Voranzeige vor seinen Roman: »Wir sehen am Schluß den Mann [Franz Biberkopf, H. H.] wieder am Alexanderplatz stehen, sehr verändert, ramponiert, aber zurechtgebogen.« (9) Noch markanter wird Allwissenheit konturiert, wenn zukunftsgewisses Erzählwissen gegen beschränktes Figurenwissen gestellt wird. Im ›Beowulf‹ wissen nach dem Sieg Beowulfs über Grendel die Teilnehmer eines großen Fests noch nicht, welches tödliche Schicksal ihnen unmittelbar bevorsteht (V. 1232–1237), wenn nämlich Grendels Mutter bald über sie herfallen wird; aber der Dichter/Sänger lässt es die Hörer wissen, und er weiß damit markant mehr als die von ihm erzählten Figuren. Markant ist auch, wenn ein Erzähler wie Wolfram seinen Hörern einen wählbaren Fortlauf oder eine offene Zukunft der Erzählung suggeriert: ›Was wollt ihr, dass Gawan jetzt tun soll?‹ (349,28), um diese Zukunft dann durch sein Erzählen doch lieber selbst einzulösen, bevor ein Hörer noch Wünsche äußert: Gawan greift also in den Kampf vor Bearosche ein, anstatt sich anders zu entscheiden und weiterzuziehen. Erst im frühmodernen Roman – und hier noch eher tastend – wird allerdings die Unabsehbarkeit und Offenheit erlebter Zukunft so erzählt, dass sie auch unabsehbar erscheint: So etwa schon in einem seitwärts angesetzten Erzählstrang des Fortunatus (1509), der sog. Andrean-Episode,Footnote 50 wo ein Geschehen aus der Londoner Unterwelt erzählt wird, für das man nicht absehen kann, was es für die Haupthandlung bedeuten wird. Im Resultat verwickelt es den Protagonisten Fortunatus in ein ebenso unabsehbares wie unberechenbares Weltgeschehen. Die Gattung des Picaro-Romans widmet sich dann, als Erzählen in der 1. Person, einem vergleichbaren Leseeindruck, der in einem Roman in der 3. Person allerdings größere Kunstfertigkeit erfordert. Nacherlebbare Zukunftsoffenheit des Erzählens wie auch Zukunftsvorwegnahme spielen je auf ihre Weise den Eindruck von Allwissenheit aus.

Mit Allwissenheit in einem oft mitgedachten, wörtlichen Sinn einer Allwissenheit Gottes hat das alles nicht viel zu tun.Footnote 51 Zu einer solchen Allwissenheit sind vielmehr Überlegungen relevant, die wiederum für das Erzählen irrelevant sind, wenn man dazu nicht sehr ausgefallene narrative Experimentalformen entwickeln wollte. Im philosophisch-theologischen Diskurs geht es um eine Allwissenheit Gottes (omniscientia), der immer und überall ist. Sicher erinnert das an einen Erzähler, der räumlich und zeitlich springen kann. Aber für Gott ist das Problem radikaler zu stellen: Wüsste er nämlich alles voraus, dann bestünde für niemanden die Freiheit, sich zu einem Handeln zu entscheiden, denn es erschiene notwendig festgelegt, was er tun wird (weil Gott es schon weiß) – andernfalls dürfte/könnte Gott es nicht vorauswissen. Derartiges Vorauswissen erscheint aber kontraintuitiv, und ein Roman könnte unter solchen Umständen gar nicht erzählt werden, da er auf freien Handlungsentscheidungen der Figuren aufbaut (siehe etwa Gawan im Parzival). Er müsste solche Freiheit der Handelnden sonst als Illusion erzählen. Dass aber ein Autor/Erzähler eine erzählte Zukunft vorausweiß, liegt daran, dass er eine schon vergangene Zukunft erzählt, selbst wenn er im Präsens erzählen sollte; deshalb löscht sein Vorauswissen nicht freie Entscheidungen der erzählten Handlungsträger. Gott aber ist nun gar nicht nur immer und überall, sondern – so etwa schon Boethius präziser – außerhalb von Zeit und Raum und mit einem für dieses Außerhalb zu denkenden Wissen ausgestattet.Footnote 52 Es gibt für ihn gar keine Zukunft, vielmehr verfügt er über ein Allwissen, das sich in der Raumzeit nicht abbilden lässt.Footnote 53 Deshalb ist auch die Handlungsfreiheit nicht betroffen (so will Boethius es zumindest denken).Footnote 54

Andererseits könnte Gott in der Lage sein, alle möglichen Zeitverläufe zu kennen, wie sie sich unablässig bis ins Unendliche voneinander abzweigen. Zu denken ist dabei weniger an eine vorausgewusste Stochastik von Teilchenprozessen als vielmehr an Handlungssubjekte, die sich unablässig anders entscheiden und abzweigende Zukünfte heraufbeschwören könnten. Nach Duns Scotus gehört Gott selbst zu ihnen, er kennt aber anders als die Menschen alle möglichen Fortverläufe von Ereignissen nach allen möglichen Entscheidungen. Da er selbst zu den Handlungssubjekten gehört, kennt er solche unendlich vielen Verläufe auch für sein eigenes mögliches Handeln (soweit sie sich nicht direkt widersprechenFootnote 55), er weiß aber noch nicht, welches Handeln er tatsächlich realisieren wird. Das weiß er erst, wenn er es tut.Footnote 56 Narrative Experimentalformen, die solche Allwissenheit zur Geltung bringen wollten, sind überhaupt nur sehr ansatzweise zu realisieren und eher für den Film mit seinen Montagetechniken als für den Roman entfaltet worden. Es wäre für Wolfram höchst unpraktisch und für seine Hörer wenig unterhaltsam geworden, auch nur die zwei möglichen Fortverläufe von Gawans bevorstehender Entscheidung – in den Kampf vor Bearosche entweder einzugreifen oder nicht einzugreifen – zu erzählen. Deshalb entscheidet Wolfram gewissermaßen für ihn. Probleme einer Allwissenheit Gottes oder höherer Instanzen – wie sie nämlich zu denken ist – tragen denn auch zur Analyse von Romanen und Erzählungen nur wenig bei, und Erzähler haben andere Probleme.

V. Die Aufdeckung von Allwissenheit (Erzählungen in der 3. Person)

Allwissenheit des Erzählens bzw. des Autors/Erzählers fällt historisch erst in dem Augenblick auf, als in der Frühmoderne spezifische neue narrative Gattungen und Verfahren entstehen. Vorher spielt Allwissenheit eine Nebenrolle. Zwar sieht schon Aristoteles beim Dichter im Gegensatz zum Geschichtsschreiber die Nötigung zu einer vollständig durchgeführten und in sich geschlossenen Handlung, also einem mit Gestaltschließungsanspruch hergestellten Plot (mythos), wobei er primär an die Bedürfnisse des Theaters denkt.Footnote 57 Um einen Plot schließen zu können, bedarf es gelenkten Mehr- oder Überschusswissens, über das Dichter verfügen, nicht aber Geschichtsschreiber. Solch Verfügungswissen erweckt nicht unmittelbar den Eindruck von Allwissenheit, aber hier wird doch der Boden bereitet für ihre Entstehung und Wahrnehmung.

Eine frühe, passionierte Stellungnahme zum Unterschied von Geschichtsschreiber und Dichter findet sich auch in der Vorrede des deutschen Amadis-Übersetzers, der für die plotmäßig strukturierte Aufnahme des Weltgeschehens in einem möglichst umfassenden Sinn die erdichte Narration für entschieden geeigneter hält als eine wahrhaffte History mit ihren natürlichen Beschränkungen.Footnote 58 Denn – so auch hier die Implikation – der Dichter ist frei, sein Material nach Bedarf aufzunehmen und zu gestalten, und er kann über herbeigezogenes Wissen frei verfügen sowie Mehrwissen selbstständig einführen und formen. Danach greifen die Poetiken des Barock das Thema weiter auf.

Im Jahr 1804 beobachtet aber Anna Laetitia Barbauld anhand zweier neuer Untergattungen des Romans – dem fiktiven Ich-Roman (sie nennt u.a. Roderich Random von Tobias Smollett) und dem Briefroman (ihr Beispiel sind die Briefromane Richardsons) –, dass in diesen Gattungen der Autor sein Wissen auf einen Radius beschränkt sieht, den allein der fiktive Ich-Erzähler (imaginary narrator) oder die fiktiven Briefeschreiber besetzen und ausfüllen. Der Autor weiß abgesehen von dem, was er vielleicht noch im Vorwort und in Zwischentexten anführt, nichts zusätzlich. Im Unterschied dazu gehört es allerdings zur herkömmlichen Erzählweise von Romanautoren – Barbauld nennt Cervantes und Fielding –, dass sie alles wissen, was sie erzählen: »The author, like the muse, is supposed to know every thing; he can reveal the secret springs of actions, and let us into events in his own time and manner.«Footnote 59 Dass der Autor eines Romans als Schöpfer der Figuren ihr Inneres kennt und ihre Welt dementsprechend modelliert, sieht u.a. auch schon Friedrich von Blanckenburg, denn die Figuren »leben in einer Welt, die er geordnet hat«.Footnote 60 Aber Blanckenburg bindet dies noch an die Erfindungsgabe des Dichters, der Ursache und Wirkung des Figurenhandelns bis in das Innere der Figuren hinein- und aus ihnen wieder herausführen muss – dies meint die ›Ordnung ihrer Welt‹, die er schafft –, während Barbauld allein den Wissensradius thematisiert, der mit verschiedenen Gattungen des Romans einhergeht. Sie trennt damit die Erfindungsgabe als Frage nach der Herkunft des Wissens von der Frage nach seinem Radius oder Umfang ab, und sie lässt implizit auch einen Konsistenzgesichtspunkt zur Geltung kommen: Es wäre nämlich inkonsistent, wenn ein Autor von fiktiven Ich- oder Briefromanen Wissensbestände einspielte, über die seine erzählenden oder schreibenden Figuren gar nicht verfügen können. Der Autor eines Romans in der 3. Person ist daran nicht gebunden. Gegenüber Blanckenburg stellt dies eine weitergehende Einsicht und einen Differenzierungsgewinn dar.

Friedrich Spielhagen wiederholt im Jahr 1883 mehr oder weniger Barbaulds Beschreibung: Wenn der Dichter seine Figuren nach seinem Belieben in den Vordergrund bringt und dabei ihre tiefsten Geheimnisse offenbart, »so finden wir das in Ordnung, denn er ist allgegenwärtig und allwissend wie die Muse, welche der homerische Sänger anruft, ihm die Abenteuer und Leidenschaften seiner Helden zu sagen und singen. Es ist das eine Fiktion, aber eine völlig berechtigte, durch den Kunstgebrauch geheiligte, ja durch das Wesen der Kunst erforderte.«Footnote 61 Spielhagen qualifiziert das allwissende ›Wissen der Kunst‹ als eine Fiktion, also (vielleicht korrekter:) als Scheinwissen. Das grenzt den Begriff von anderer Seite ein: Allwissenheit in diesem Sinne meint natürlich kein faktisches Wissen, sondern Wissen, wie es als höhere Instanz zuvor die Musen besitzen: Wissen über die erzählten Ereignisse und Innenwelten der Figuren. Der homerische Dichter muss es sich – auch wenn der Musenanruf sich wohl eher auf seinen flüssigen Vortrag beziehen dürfte – noch erbitten und ausleihen, später kommen Dichter allein damit zurecht.

Als man dann Anfang des 20. Jahrhunderts das längst nicht mehr neue Verfahren der erlebten Rede einer grammatischen und zugleich literaturwissenschaftlichen Beschreibung unterwirft, zeigt sich, dass hierbei ähnlich wie, aber zugleich doch auch ganz anders als in den von Barbauld genannten neuen Gattungen des fiktiven Ich-Erzählens Allwissenheit auch innerhalb einer Erzählung in der 3. Person eingeschränkt wird: »[Der Autor] thront keineswegs wie der liebe Gott über seinen Geschöpfen, er ist keineswegs klüger als sie, er ist keineswegs allwissend.«Footnote 62 Er verschwindet vielmehr ebenfalls, wenn auch auf andere Weise als in fiktiven Ich-Erzählungen und Briefromanen. Das Verfahren der erlebten Rede erlaubt ihm nach Eugen Lerch, das Heft an erzählte Figuren abzugeben. Spätestens hieran zeigt sich, dass der Begriff der Allwissenheit als analytische Größe fruchtbar und erhellend sein kann, denn Allwissenheit lässt sich – anders als die Erfindungsgabe eines Dichters! – kunstvoll einschränken; so will Lerch es verstehen. Blanckenburg wäre diese Formulierung noch nicht zugänglich gewesen, da er Allwissenheit nicht von der Erfindungsgabe differenziert, auch wenn sie natürlich aus ihr hervorgeht. Die Erfindung ist aber nicht betroffen, wenn über den Gebrauch der erlebten Rede eine Erzählperspektive eingespielt wird, wohl aber die Allwissenheit: Ein Autor begrenzt sie, wenn er Figuren einen nennenswerten, autonom erscheinenden Wissensbestand zuspielt. Tzvetan Todorov hat später ähnlich wie implizit schon Barbauld darauf hingewiesen, dass der Autor von seinen Figuren eingebrachte Wissensinhalte selbst auch erst dann für sein Erzählen beanspruchen darf, nachdem die Figuren sie in der Welt der Erzählung etabliert habenFootnote 63 – das hebt den Konsistenzgesichtspunkt bei der Entfaltung einer Figurenperspektive noch einmal hervor.

VI. Exemtes Figurenbewusstsein

Unter exemtem FigurenbewusstseinFootnote 64 verstehe ich eine Darstellung von Figurenbewusstsein und -gedanken – bewusste oder gedachte Gefühle eingeschlossen –, für die die von Franz Stanzel betonte Mittelbarkeit des ErzählensFootnote 65 in Erzählungen in der 3. Person außer Kraft gesetzt erscheint. Erreicht wird dies durch das Abfallen von sprachlichen Rahmungen, die das Erzählen von Bewusstsein und Gedanken bis dahin immer begleiten. Unter solchen Rahmungen sind neben vorbereitenden narrativen Partien vor allem sprachliche Ausdrücke und Formeln zu verstehen, die ankündigen, dass Bewusstsein und Gedanken erzählt oder Gedanken direkt zitiert werden. Der Wegfall solcher Rahmungen folgt einer Entwicklungslogik des Erzählens von Subjektivität.Footnote 66 Davon ist auch Allwissenheit betroffen.

Werden Bewusstsein, Gedanken oder Gefühle in Form eines Berichts oder einer Psychonarration erzählt, so oft in Form der indirekten Rede mit dem Verb im Konjunktiv und nach einem Verb des Denkens, Meinens, Fühlens o. ä. (›Er wusste nicht, ob […]‹; ›Er dachte [daran], dass […]‹; ›Er fühlte [dass …]‹ usw.). Alternativ dazu wird auch die Form der direkten Rede gebraucht und als heimliches Sprechen zu sich selbstFootnote 67 oder auch als Anrufung höherer Instanzen oder Rede an Nicht-Anwesende/Verstorbene wiedergegeben.Footnote 68 Die Rahmung erfolgt in beiden Fällen mit dem Präteritum der gebrauchten verba cogitandi, credendi oder sentiendi, die parallel zu einer Inquit-Formel (›XY sagte […]‹) gebraucht werden. Es heißt also zum Beispiel: ›Er dachte, es würde ihn niemand verstehen‹ oder ›Er dachte: Niemand versteht mich!‹Footnote 69 Beide Male tritt die Mittelbarkeit des Erzählens über die rahmende Formel deutlich hervor.

Über Jahrhunderte, ja Jahrtausende ist diese Praxis vorherrschend, bis – in einem Kontext geeigneter narrativer Vorbereitung – die rahmende Formel abfallen und die indirekte Rede einfach und im Erzähltext ungerahmt ›Es würde ihn niemand verstehen‹ lauten kann. Es hieße also zusammen mit dem Kontext: ›Er hatte sich verrannt. Es würde ihn niemand verstehen.‹ Im Zuge eines etwas komplexeren sprachlichen Umbaus kann die direkte Rede (›Niemand versteht mich‹) ohne Verwendung des Konjunktivs auch ›Niemand verstand ihn!‹ lauten und frei für sich stehen: ›Er hatte sich verrannt. Niemand verstand ihn!‹Footnote 70 Der Abfall der Rahmungen in diesen beiden konstruierten Beispielen erlebter Rede ist ein lesehistorisch einschneidender Vorgang, weil er mit dem Verschwinden der Mittelbarkeit die aktive Mitarbeit des Lesers verlangt und evoziert, in der die erzählten Bewusstseinsvorgänge vergegenwärtigt erscheinen.Footnote 71 Für mein Beispiel bedeutet das, dass der Satz ›Niemand verstand ihn!‹ bei geeigneter narrativer Einbettung nicht als Aussage des Erzählers über ein objektives Faktum aufgefasst, sondern vom Leser dechiffriert und in den Satz ›Niemand versteht mich‹ zurückübersetzt wird. Das kommt der kognitiven Auflösung einer sprachlichen Implikatur gleich,Footnote 72 und dazu gehört ein historischer Vorlauf des Erzählens von Romanen. Die beiden genannten Formen ungerahmten Figurenbewusstseins begegnen im Mittelalter mit nur wenigen Einzelbeispielen, die in ihrer Bedeutung und Funktion strittig sind.Footnote 73 In der Frühen Neuzeit mehren sich eindeutige Beispiele,Footnote 74 um im Roman des 19. Jahrhunderts und allemal mit der Wende zum 20. Jahrhundert die Führung in der Figurendarstellung zu übernehmen.

Noch einmal ganz anders stellt sich aber eine unmittelbare Repräsentation von Figurenbewusstsein dar, wenn sie direkt und übergangslos in eine Erzählung eingespielt wird, wie es z. B. in Berlin Alexanderplatz geschieht. Döblin setzt die Gedanken Biberkopfs bei dessen Heraustreten aus dem Gefängnistor nach vierjähriger Haft im ersten Absatz als Einschub in Klammern: »Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um.« (13) Meist kommen Biberkopfs Gedanken und Wahrnehmungen aber in der Graphie unvermittelt und stehen mitten im Fließtext,Footnote 75 so gleich nach der Fahrt mit der Elektrischen in die Innenstadt: »Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich zusammen, kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel. […].« (13 f.).Footnote 76 Hier ist nur noch ein frei- und alleingestelltes, wenn auch in erzählende Sätze eingeschobenes exemtes Bewusstsein Biberkopfs zu beobachten. Rahmungen kommen in Berlin Alexanderplatz ggf. noch mittels der Graphie (Klammern o.ä.) zum Zuge, können aber auch in dieser Form noch abfallen.

Zwar ist exemtes Figurenbewusstsein der Form nach in allwissendes Erzählen eingebettet, aber seinerseits nicht mehr als Erzähltext ausgezeichnet. Mittelbarkeit des Erzählens scheint aufgehoben. Während bei der erlebten Rede der Erzähltext mit dem Präteritum (Konjunktiv oder Indikativ) noch mitläuft, ist das bei exemtem Figurenbewusstsein nicht mehr der Fall. Die Literaturanalyse hat schon für den Beginn forcierten Erzählens von Subjektivität, etwa bei Stendhal, auf eine Alleinstellung langer Passagen des Erzähltextes hingewiesen, die die Subjektivität einer Figur so in den Vordergrund bringen, dass der Erzähltext davon durchweg infiziert und dominiert erscheint. Auch wenn Stendhal freie indirekte und erlebte Rede noch gar nicht verwendet, rotiert doch das Erzählen in Le Rouge et le Noir (1830) um das abgekartete psychologische Kalkül und die bornierte Weltsicht Julien Sorels, während weiterreichendes (All‑)Wissen über andere Begleitumstände kaum zur Geltung gebracht wird.Footnote 77 Der Erzähler kennt dagegen auch Antriebe des Handelns Juliens, von denen Julien selbst gar nichts weiß.Footnote 78

Sehr viel weitergetrieben ist das Erzählen und auch die psycho-analytische Präsentation einer Figur, wenn wie in den Bewusstseinsprozessen Biberkopfs auf der Rosenthaler Straße psychische Instanzen zur Geltung gebracht werden: »Oh, krampfte sich sein Leib zusammen, ich kriege es nicht weg, wo soll ich hin? Es antwortete: Die Strafe.« (14) Die gewonnene Freiheit nach seiner Gefängnisstrafe erscheint Biberkopf als eine Strafe in neuer Form. Für Döblin wird – wie auf einfachere Weise schon für Stendhal – Subjektivität weit über die Selbstbeobachtung einer Figur hinaus ausleuchtbar. Die abgegliederte innere Stimme, die Biberkopf hier hört, wird konventionell mit einer Inquit-Formel (»Es antwortete […]«) gerahmt, sonst könnte sie vom umgebenden Bewusstseinstext nicht unterschieden werden. Es ist der allwissende Erzähler, der die Abgliederung vornimmt. Hierzu gelangt aber – deutlicher noch an anderen Stellen des Romans – Fachwissen (= besonderes Weltwissen) über komplexe psychische Abläufe, bezogen aus der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur, ins Spiel.Footnote 79 In Hinsicht auf die Präsentation bzw. ›Präsentifikation‹ des Bewusstseins Biberkopfs erweckt dies noch einmal forciert den Eindruck von Allwissenheit, da der Erzähler tief in das Bewusstsein und seine Struktur eindringt.

Dies stellt sich der Erzähltheorie wiederum als ein Stolperstein dar,Footnote 80 denn man kann den Befund auf zweierlei Weise deuten und behandeln: als Einschränkung oder als Ausdehnung von Allwissenheit. Dazu gleich. Zunächst aber noch ein Hinweis zu weiteren Wissensarten in Döblins Roman: Hineinmontiert finden sich hier Piktogramme der Berliner Stadtverwaltung, ein Anschreiben des Berliner Polizeipräsidenten, Streckenpläne der Straßenbahnen, Wetterberichte, Krankheitsbilder aus medizinischen Lehrbüchern, Formeln zu Newtons Bewegungsgesetzen u.a.m. Man kann solche Materialien als herbeigezogene und inserierte Fremdinhalte kategorisieren, deren wortwörtliche oder sogar zeichenidentische Herkunft in der Regel belegbar ist.Footnote 81 Sie sind auf die Lebenswelt und den Handlungsradius von Biberkopf im Jahr 1928 bezogen und dazu gezielt eingebracht. Dem stehen Eigenangaben gegenüber, die auf den Roman selbst und seinen Inhalt bezogen sind und oft paratextuell den Inhalt von Kapiteln und Büchern im Vorhinein wiedergeben, aber auch im Erzähltext selbst öfter zur Geltung kommen.Footnote 82 Fremdinhalte und Eigenangaben sind meist durch Bildung von Absätzen und/oder paratextuellen Partien markiert, während das Figurenbewusstsein vielfach auch unmittelbar nach Kommata oder parenthetisch in Sätze eingespielt wird; es dringt gleichsam durch alle Poren des Erzähltextes, zumal es, da es nicht laut gesprochen wird, auch nicht in Anführungszeichen steht.

Es ist nun eine Frage des analytischen Zugriffs, wie man mit der Allwissenheit verfahren will: In der Erzähltheorie ist die oben schon für Eugen Lerch festgestellte Intuition vielfach geteilt worden, wonach bereits Partien mit erlebter Rede nicht mehr dem (allwissenden) Erzählen zuzurechnen sind. Von hier ausgehend haben sich die Begriffe der Perspektive, des Point of View oder auch der Fokalisierung als Begriffe eingebürgert, die die Einschränkung der Allwissenheit eines Erzählers implizieren, weil es den Anschein macht, als wisse der Erzähler dasjenige, was den Figuren überlassen ist, nicht und als käme das Figurenbewusstsein ohne Zutun des Erzählers zum Zuge.Footnote 83 Im Fall von exemtem Figurenbewusstsein würde dieses dann sogar erzählerlos dastehenFootnote 84 und nicht eigentlich erzählt, sondern mimetisch repräsentiert werden.Footnote 85 Es ist zwar sonderbar, dass man in Berlin Alexanderplatz mitten in einem erzählenden Satz mit einer Parenthese von wenigen Wörtern auf einmal ohne Erzähler dastehen soll, aber der Autor hätte es so verfügt. Noch befremdlicher scheint eine Ausschaltung des Erzählers, wenn er sich noch in die Bewusstseinsprozesse einmischt und hierzu mehr weiß als die Figur selbst (s. »Es antwortete […]«). Immerhin blieben einem allwissenden Erzähler weiterhin alle umgebenden Textteile vorbehalten – wenn man paratextuelle Partien mit Eigenangaben (am ehesten wohl des Autors) und Textteile mit Fremdinhalten ausklammert. Man muss sogar auch noch anderen, nach Genettes Typologie nicht intern, sondern extern fokalisierten Text abziehen, wie er etwa in Dos Passos’ verwandtem Roman Manhattan Transfer (1925) öfter zum Einsatz kommt. Nicht eigentlich erzählende Partien – Listen, Kataloge, Beschreibungen u.a.m. – gibt es in Erzählungen immer schon, aber solche Partien können den Erzähltext auch weit an den Rand drängen. Allemal für exemtes Figurenbewusstsein verschwände das Erzählen und mit ihm Allwissenheit.

Ich möchte das so zusammenfassen, dass über Mittelbarkeit erfolgendes Erzählen mit Allwissenheit einhergeht, während ein mit der Aufgabe von Mittelbarkeit verbundenes Erzählen Allwissenheit zumindest in Bezug auf das Figurenbewusstsein (wohl aber auch für andere genannte Wissensarten und Inhalte) preisgäbe. Wenn ein Erzähler nun aber wissen soll, was eine Figur dachte, sofern es in seinem Text heißt ›Er [d. h. die Figur] dachte, es würde ihn niemand verstehen‹, und dies nicht mehr wissen soll, wenn es ohne sprachliche Rahmung heißt ›Es würde ihn niemand verstehen‹ oder ›Niemand verstand ihn!‹ oder wenn dies mehr noch parenthetisch als Gedankenfetzen eingefügt würde: ›Er hatte sich verrannt (warum versteht mich eigentlich niemand?) und blieb doch bei seiner Haltung‹, dann kann das als eine angestrengte Unterscheidung erscheinen. Deshalb könnte man die analytische Alternative wählen wollen, auch für exemtes Figurenbewusstsein dem Erzähler noch ein Wissen zuzuschreiben, selbst wenn er es nicht eigentlich erzählt, sondern nur präsentifiziert – es gehörte dennoch zum Bestand seines Allwissens. Dies entspräche einer alternativen Begriffsstrategie.

Es ist deutlich, dass man dem Autor auf diese Weise naherückt und der Erzähler Konturen des Autors annimmt. Ich möchte indes den schon wiederholt gebrauchten Begriff der Verfügung über Erzählinhalte zu einer Allverfügung (über alle montierten Textbestandteile) hochstufen und diese der Allwissenheit verschwisterte Allverfügung der Autortätigkeit zurechnen, während ich die Allwissenheit der Lesephänomenologie vorbehalte. Auch wenn exemtes Figurenbewusstsein in Form von Gedankenfetzen unmittelbar in narrative Sätze inseriert wird, bleibt doch der Eindruck einer eigenen Ebene im Erzählen erhalten, selbst wo der Erzähler gliedernd und strukturierend in die Bewusstseinsprozesse eingreift. So lässt sich die Rede von einem allwissenden Erzähler – als Kippfigur des Autors (s. oben) – zumindest im Sinne einer Sprachregelung aufrechterhalten. Zu einigen/vielen Partien seines Textes hat er kein Wissen mehr, hier verfügt der Autor über ihre Platzierung.