I.

Kotzebue ist einer derjenigen, die schrieben, »Was die Deutschen lasen während ihre Klassiker schrieben«, um es mit Walter Benjamin zu sagen.Footnote 1 Der Titel gibt eine Figur vor, die gerne und immer wieder auf Kotzebue gemünzt wird, nicht nur um die Distanz der deutschen Klassiker zum erfolgreichsten Bühnendichter der Goethezeit zu markieren, sondern auch um aus der literatur- und kanongeschichtlichen Dimension dieser Distanz ein Argument zu gewinnen, das den Ansatz einer aufs Populäre zielenden Forschung legitimiert. Wesentlich dabei ist die implizite doppelte zeitliche Dimension des berühmten Benjamin-Zitats, der produktive Anachronismus, der im Begriff der ›schreibenden Klassiker‹ steckt. Nicht nur ist Kotzebue derjenige, der rein quantitativ einen großen Teil jener Masse von Veröffentlichungen verantwortet, die »die Deutschen lasen während ihre Klassiker schrieben«, er ist vor allem derjenige, von dem man im Rückblick sagen kann, dass seine Schriften das sind, »was die Deutschen lasen«, während diejenigen schrieben, von denen man jetzt sagen kann, dass sie die Klassiker der Deutschen sind, von denen man unter Umständen sogar sagen kann, warum und auf welchen Wegen sie Klassiker geworden sind als und nachdem sie schrieben, während diejenigen, die schrieben »was die Deutschen lasen« nun keiner mehr kennt.

Verehrt, Verdammt, Vergessen nennt Jörg Meyer seine Studie zu Werk und Wirkung Kotzebues entsprechend und Sven Lachhein begeistert sich gleichfalls »für den berühmtesten deutschen Schriftsteller aller Zeiten: […] Auch wenn den heute niemand mehr kennt«.Footnote 2 Keine Biographie kommt ohne den Hinweis aus, dass Kotzebue »der erfolgreichste Dramatiker seiner Zeit« war, doch drängt sich nach einer kursorischen Durchsicht der Kotzebue gewidmeten Forschung der Eindruck auf, dass dies erst dadurch glaublich wird, dass »Heute« »Kotzebues Schaffen weitgehend vergessen« sei.Footnote 3 Rhetorisch scheint es offenbar allzu verlockend aus dem Antagonismus von »literaturgeschichtlicher Abwertung und Ausgrenzung« und »ungeheure[m] Publikumserfolg« zu schöpfen.Footnote 4

Kotzebue ist also keineswegs vergessen und war es auch nie, wie Simone Winko schon vor zwanzig Jahren in einem wegweisenden Aufsatz zur ›Negativkanonisierung‹ dargelegt hat.Footnote 5 Als multifunktionelles Negativbeispiel gehört er zum Kernbestand des Kanons. Leben und Werk dienten der Oppositionsbildung bei der Etablierung eines nationalen Kanons und der institutionell gestützten Abgrenzung von ›hoher‹ und ›populärer‹ Literatur. Daher gehe auch das »Plädoyer […] Kotzebue und seine Werke gerechter zu behandeln und ausgewogener zu werten« fehl, übersehe es doch die zentrale Funktion, die Kotzebue für die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat. Tatsächlich ist die ironische Kehrseite aller Bemühungen um eine Revision historischer (Vor‑)Urteile durch eine gutmeinende Kotzebue-Forschung, dass sie unter umgekehrten Vorzeichen an der Negativkanonisierung Kotzebues partizipieren und sie so fortschreiben.

Der Zusammenhang von ästhetischer Qualität, schriftstellerischer Quantität und Erfolg stellt sich indes schon im zeitgenössischen Horizont als Problem dar. In der literarischen Öffentlichkeit wird Kotzebue als »fruchtbare[r] dramatische[r] Dichter« gehandelt, »der einst vielleicht, wenn seine oft superfötirende Fruchtbarkeit sich neben dem Erzeugen auch das Erziehen gefallen lassen wollte, klassisch werden könnte«.Footnote 6 Dass und warum »mancher vornehm die Nase über ein fruchtbares Genie« rümpftFootnote 7, treibt ihn daher selbst um: »Wenn man sich ärgert, daß ein Schauspieldichter seit zwanzig Jahren sich den Beyfall des Publikums erworben und e r h a l t e n, so wirft man ihm unter andern sehr höhnisch vor, daß er allzufruchtbar sey; daß er zu schnell und zu viel schreibe«Footnote 8, beschwert sich Kotzebue. Dabei setze »Vielschreiberey […] noch gar nicht die Schlechtschreiberey voraus«, versucht er nicht nur sich, sondern auch eine Literaturkonzeption zu verteidigen, als deren paradigmatischer Vertreter er gesehen wird. Im Freimüthigen geht er der Frage nach, »warum der Titel V i e l s c h r e i b e r eine Art von Beschimpfung geworden?« und führt mit Aeschylus, Sophokles, Euripides und Plautus berühmte polygraphe Gewährsmänner an.Footnote 9

Was Kotzebue trotz Hinweis auf »alle die vortrefflichen Tragödien- und Comödienschreiber des Alterthums«, die »nicht allein gut schrieben, sondern auch viel schrieben«, bei seinem Räsonnement über die Frage nicht umgehen kann, ist die Schwierigkeit, mit immer neuen Worten seinem Ruf nur zu entsprechen: Das Epitheton ›Vielschreiber‹ wird den Namen Kotzebues durch die Literaturgeschichte begleiten. Seine legendäre Vielschreiberei ist inzwischen selbst Gegenstand nicht nur literatursoziologischer oder kanongeschichtlicher Untersuchungen geworden, sondern auch ins Zentrum eines medienhistorischen Forschungsinteresses gerückt, das exzessive Autorschaft an zeitgenössische Schreib- und Druckpraktiken rückbindet.Footnote 10

Doch es ist nicht nur die außerordentliche Produktivität Kotzebues, die zu jener für das ›Phänomen Kotzebue‹ bezeichnenden Diskrepanz von kultureller Omnipräsenz und mangelndem symbolischen Kapital führt, sondern auch, dass ihm als Schriftsteller von seinen Zeitgenossen dezidiert ein Platz in der historischen Gegenwart angewiesen wird. Darin muss nicht zwangsläufig eine Abwertung liegen: Heinrich Zschokke etwa versteht – durchaus apologetisch – Kotzebues Schreiben als im und für den Augenblick:

Man rümpft zuweilen die Nase, wenn man von K o t z e b u e’s zahlreichen dramatischen Arbeiten spricht. Es ist wahr, seine großen und kleinen Lustspiele machen schon eine artige Reihe von Bänden aus, und sind sehr ungleichen Werthes; aber viele dieser Stücke, Geburten eines frohe Augenblicks, sollen auch gewiß keine andere Bestimmung haben, als den Genuß eines Augenblicks zu gewähren.Footnote 11

Überhaupt seien »die Lustspieldichter fast bei allen Nationen und von jeher durch ihre poetische Fruchtbarkeit ausgezeichnet […]. Ohne Zweifel dachten sie nicht daran, sich durch ihre fröhliche Laune […] Unsterblichkeit des Namens zu erobern«.Footnote 12 Erfolg und Nachruhm werden so gattungsspezifisch und temporal codiert: Lustspieldichter taugen aus dieser Perspektive nicht zu Klassikern und ihre Stücke nicht für die Ewigkeit. Anders als die Tragödie, steht die Komödie seit jeher gattungspoetologisch unter Heteronomieverdacht.

Auch jenseits solcher gattungsspezifischen Abwertungen liegt Kotzebues Verhältnis als Schriftsteller zur historischen Gegenwart und deren literarischer Modellierung quer zu den ästhetisch tonangebenden literarischen Programmen, die für die ›Klassiker‹ in Anspruch genommen werden. So lässt sich für Kotzebues populäres Schreiben eine tiefe Durchdringung von dargestelltem Zeithorizont und auf die Gegenwart berechnetem Effekt beobachten, die sich gleichermaßen erklärt aus seiner Tendenz, aktuelle Themen und Motive aufzugreifen und literarisch zu verarbeiten, wie aus seinem expliziten Anspruch, schreibend auf die Gegenwart einzuwirken. Solchen Gegenwartsbezug macht Johannes Franzen als »Irritationsfaktor« aus, der aus autonomieästhetischer Perspektive »eine vemeintliche Gefahr für die ästhetische Reinheit des Textes und seine überzeitliche Geltung« darstellt. Entsprechend erscheine »die zeitgenössische Wirklichkeitsreferenz als eine der heteronomen Oppositionsstellungen in der Geschichte des Autonomieparadigmas«.Footnote 13 Kotzebues »Streben nach Volkstümlichkeit und Aktualität, nach enger Verbindung mit dem Leben der Gegenwart« interessierte forschungsgeschichtlich denn auch in erster Linie eine marxistisch orientierte Literaturwissenschaft, die in Kotzebues Dramen »in seiner Mehrheit das Gegenwartsstück, das Zeitstück der deutschen Literatur der Goethezeit« repräsentiert sah.Footnote 14

»Productionen der Gegenwart« nennt schon Goethe Kotzebues Werke in diesem Sinne, und August Klingemann spricht von Stücken, die »nur in den Augenblick verwebt« sind.Footnote 15 Daraus, dass Kotzebue bloß »für die Gegenwart, nicht für die Zukunft« schrieb, wie die zeitgenössische Kritik ihm vorwirft,Footnote 16 folgt einerseits, dass die Zeitgeschichte selbst genuiner Teil seiner Literatur wird, wodurch Kotzebue am Beginn eines »immer aktueller« werdenden populären Theaters des 19. Jahrhunderts steht, das seinen breiten Publikumserfolg auch dem »Einbruch der vom Tag angebotenen Realität« zu verdanken hatte.Footnote 17 Dieser auf die Gegenwart berechnete, durch literarische Hyperproduktion bediente Erfolg geht andererseits auf Kosten der Kanonisierbarkeit: »Literaturwissenschaftliche Kanonisierungsprozesse orientieren sich […] am Wert der ›Zeitlosigkeit‹. Autonomie der Kunst wird ex negativo erzeugt durch die größtmögliche Abwesenheit von Wirklichkeitsreferenzen. Die Zeitgebundenheit eines Werkes hingegen wirkt wertmindernd.«Footnote 18 Die historische Aktualität von Kotzebues Literatur, ihre Verwobenheit mit einer transitorischen Gegenwart, muss entsprechend als Begründung dafür herhalten, dass Kotzebue – anders als ›die Klassiker‹, die sich in dieser Lesart nie mit der Gegenwart eingelassen haben – nun nicht mehr aktuell ist.Footnote 19 Dass durch diese Tendenz Kotzebues Dramen gewissermaßen ein literaturgeschichtliches Verfallsdatum eingeschrieben wird, mag für die Lage der Kotzebue-Forschung mitverantwortlich zeichnen, die seit nunmehr Jahrzehnten ihren scheinbar widersprüchlichen Ausgangspunkt darin sucht, dass ihr Gegenstand vergessen sei.

Ausgehend von diesen Beobachtungen zum Zusammenhang von literarischer Aktualität und literaturgeschichtlicher Wertung soll im Folgenden der Vorwurf der zeitlichen Begrenzt- und Verwobenheit von Kotzebues Komödiendichtung interessieren. Neben dem exemplarisch untersuchten Lustspiel Der deutsche Mann und die vornehmen Leute wird mit der 1813 in Berlin von Kotzebue herausgegebenen Zeitung Russisch-Deutsches Volks-Blatt auch ein entlegenerer Teil seines Œuvres berücksichtigt, der schon hinsichtlich seines Medienformats in einem direkten Verhältnis zur historischen Gegenwart steht. Aktualität erweist sich so als Effekt einer Überschneidung von gattungspoetologisch begründetem Zeitbezug der Komödie und formatspezifischen Eigenschaften einer weniger auf Tagesaktualität denn auf propagandistische Intervention abstellenden periodischen Presse der Napoleonischen Kriege. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich daher zunächst auf inhaltliche Gegenwartsbezüge, wie sie durch die Verschränkung von Komödie und Journal entstehen (II und III). Im Anschluss daran gehe ich sowohl auf die zeitgenössische Bewertung (IV) als auch die Kanonfähigkeit (V) solcher ›Productionen der Gegenwart‹ ein, wie man Kotzebues zuerst 1817 in Berlin aufgeführtes »Sittengemälde in vier Akten« mit Goethe nennen könnte.Footnote 20

II.

Hinsichtlich Handlung und Figurenkonstellation steht Der deutsche Mann und die vornehmen Leute in einer Linie mit der Aufklärungskomödie des 18. Jahrhunderts und ist damit vorderhand nicht auf Aktualität berechnet: Ein vernünftiges Bürgertum wird gegen den Adel ausgespielt, Laster und moralische Fehler werden lächerlich gemacht. Ganz wie in einer typischen Aufklärungskomödie besucht ein reicher Onkel vom Lande seine verarmte adelige Verwandtschaft in der Stadt, um die Hochzeit seiner Nichte Julie und seines Neffen Eduard zu finanzieren. Ganz wie in einer typischen Aufklärungskomödie haben die Eltern schon Hochzeitskandidaten nach ihrem Geschmack parat und interessieren sich darüber hinaus ausschließlich für ihr ausschweifendes adeliges Sozialleben, anstatt für einen finanziell wie moralisch wohl eingerichteten Haushalt zu sorgen. Die bedeutend vernünftigeren Kinder Julie und Eduard sind ihrerseits, wie es sich für Komödien dieses Typs gehört, heimlich in jemand anderen verliebt; in Eduards Falle in ein bürgerliches Mädchen von nebenan, während Julie den (vorgeblich bürgerlichen) Sekretär der Familie erwählt hat. Die Handlung führt über ein paar Intrigen und Verwechslungen, bis schließlich mithilfe des reichen Onkels der Hochzeit der Kinder mit ihren Wunschkandidaten nichts mehr im Wege steht und die Eltern nicht anders können, als ihre adeligen Vorurteile soweit abzulegen und in die Beziehungen ihrer Kinder einzuwilligen.

Angesichts dieser gattungspoetologisch wenig überraschenden Konstellation wird zeitgenössisch mehrfach registriert, dass das Lustspiel nicht von seiner Handlung lebt. So wird in der Zeitung für die elegante Welt unterstellt, dass Kotzebue »durch die Fabel des Stückes nicht überraschen, sondern bei diesen aus dem Leben genommenen Scenen […] durch treffende Satyre unterhalten« wolle.Footnote 21 Und in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode heißt es lapidar: »Dramatisch betrachtet, so im eigentlichen Sinne des Dramatischen, ist an der Sache ganz und gar nichts.« Dagegen sei »die Komposition der Charaktere […] auf das Lokale, oder auf den lokalen Zeitgeist berechnet« – ein Argument, auf das zurückzukommen sein wird.Footnote 22

Entsprechend nimmt schon eine der frühesten Rezensionen im Gesellschafter das Stück mit dem expliziten Hinweis, »daß der geschätzte Verfasser sein Werk ›Sittengemälde‹ benannte und dadurch eine Nebensache aus der Handlung machte«, gegen den Vorwurf in Schutz, »die Handlung sey sehr gewöhnlich und äußerst karg, in den ersten Akten fast gar nicht zu bemerken«, ja man gewinne den Eindruck, sie sei »schleunig mit Abbreviaturen nieder geschrieben«.Footnote 23 Die Minimalhandlung sei deshalb »Nebensache«, weil Kotzebues eigentliches Verdienst darin bestehe, »so kühn über allgemeine Verhältnisse zu sprechen«. Die Kühnheit über »allgemeine Verhältnisse«, d.h. über die Gegenwart zu sprechen, versteht der Gesellschafter als ein Privileg von Kotzebues Prominenz, die ihn vor Zensur schütze: »Freilich kann es ein Dichter von seinem Rufe eher, als etwa ein Andrer, der eben begänne, denn wer weiß es, wenn von einem solchen etwas unterdrückt wird? – während von Kotzebue’s Gaben gewiß nichts unbekannt bleibt und man also nicht einmal meinen darf: es sey ein Verhehlen möglich.«Footnote 24

Die Kühnheit der dramatischen Verhandlung von Gegenwart liegt darin, dass der Gegenwartsbezug von Der Deutsche Mann und die vornehmen Leute in den Bereich der Politik ausgreift. Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist der titelgebende Patriotismus des Oheims, seine Begeisterung für den jüngst vergangenen Krieg gegen Napoleon, der 1815 endgültig geschlagen worden war. Die verarmte Verwandtschaft dieses Landraths von Borax, als welchen das Personenverzeichnis den Oheim ausweist, weiß also ganz genau, dass dessen »massive Deutschheit der Wächter seines Goldes« (132) ist, er also »Niemanden achtet, der nicht zu Deutschlands Befreiung sein Scherflein beigetragen« (12). Die in Aussicht stehende finanzielle Zuwendung, die die Familie vor dem Bankrott retten soll, wird damit an den Ausweis von Patriotismus geknüpft. Bevor also Erbschaftsfragen geregelt werden oder in irgendeine Hochzeit eingewilligt, d.h. die Komödie ihrem dramaturgischen Ziel zugeführt wird, muss der Onkel von der patriotischen Eignung sowohl der Erben als auch der potenziellen Ehepartner überzeugt werden.

Komplementär zu der Aktualisierung einer aufs überzeitlich moralisch Typische, nicht aufs historisch Spezifische zielenden Aufklärungskomödie unterliegt daher dem so schematischen wie vorhersehbaren Handlungsverlauf eine Dimension aktueller Anspielungen, die auf die Gegenwart unmittelbar nach dem Ende der Napoleonischen Kriege zielt. Der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung ist der Deutsche Mann aus diesem Grunde »[u]nstreitig eines der besten neueren Stücke des Vfs.« Trotz der »Carricaturen und Übertreibungen, von denen es voll ist,« sei das Stück »denn doch, was das Lustspiel seyn soll, eine treue, lebendige Darstellung der Thorheiten der Zeit«.Footnote 25 Die Gattungsbezeichnung auf dem Titelblatt zeigt diesen Übergang schon an: Als »Sittengemälde in vier Akten« wird dort das Stück bezeichnet, d.h. – folgt man der Definition des Deutschen Wörterbuchs der Grimms – als ein »schriftwerk, worin die sitten eines gröszeren kreises von personen, einer landschaft, einer zeit dargestellt sind«.Footnote 26 Sulzer fasst das Sittengemälde in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste als eine Untergattung der Komödie, die zur Absicht habe, »ein wahrhaftes und lebhaftes Gemählde gewisser sich auszeichnender Sitten, vor das Auge der Zuschauer zu bringen«, und geht davon aus, dass nicht zuletzt durch diesen Wirklichkeitsbezug »die Comödie der Sitten die wichtigste Gattung des Drama sey«. Das eher allgemeine Abstraktionsniveau, das Sulzer vermutlich im Sinn hat, wenn er es als Aufgabe dieses Komödientyps bezeichnet, »die Sitten des Hofes, die Sitten der Reichen, die Sitten ganzer Völker«Footnote 27 darzustellen, wird in Kotzebues »Sittengemälde« erfüllt und zugleich transformiert zu einer Darstellung einer höchst spezifischen, politisch kodierten historischen Situation, die in etwa dem Jahr 1817 entspricht, mithin also die unmittelbare Gegenwart des zeitgenössischen Publikums zum Zeitpunkt der Erstaufführung berührt.

Deutlich zeigt sich dieser Übergang von einer auf allgemeine sittliche Fehler zielenden Komödie hin zum gegenwartsbezogenen Sittengemälde in der Darstellung von Adel, Standesbewusstsein und Ehre. Kotzebue greift mit dem satirisch überhöhten Adelsdünkel im Deutschen Mann einen zentralen Topos der Aufklärungskomödie mit ihrem eher zeitlos moralisch-didaktischen Anspruch auf, um ihn auf das frühe post-napoleonische 19. Jahrhundert abzubilden und in der rezenten Patriotismus-Diskussion zu situieren. Die Standesvorurteile der Eltern und ihres Favoriten Baron Schreckhorn werden daher kontextualisiert durch konkrete Anspielungen auf die unmittelbare historische Gegenwart. Die einen haben – gattungstypisch – ihr Geld einem verschwenderischen Lebensstil geopfert, der andere, Baron Schreckhorn, dagegen wurde mediatisiert, d.h. er hat seine vormaligen Adelsrechte im Prozesse der territorialen Restrukturierung Deutschlands unter Napoleons militärischem und diplomatischem Druck verloren. Beide sind überzeugt, dass die »Leichen« der Befreiungskriege in den Jahren 1813 und 1814 »die Kluft nicht ausgefüllt« haben, die den Bürger »auf ewig von dem Adel trennt« (97), und führen Klage darüber, dass nach dem Krieg »der jungen Helden viele in ihren vorigen Stand zurückgetreten« sind und sich einbilden, aus dem Feld »die Ehre mitgenommen« zu haben (96). Ihre Verachtung gegenüber den »gemeinen Menschen […] mit ihren Bänderchen im Knopfloch, mit ihren Medaillen und so weiter« (95), entspringt indes nicht nur allgemeinem Standesdünkel, sondern zielt speziell auf die zeitgenössische militärische Auszeichnungs- und Gedenkkultur in Preußen, in deren Zentrum das Eiserne Kreuz steht, die erste militärische Auszeichnung, die ohne Standesrücksichten und unabhängig vom militärischen Rang oder Dienstgrad vergeben wurde. Auch die Klage der Baronin, im Gegensatz zu ihrer bürgerlichen Nachbarin »kein Kreuz« bekommen zu haben, obwohl sie als »Mitglied des Frauenvereins […] monatlich drei Gulden beigetragen« habe (87), zielt auf eine Diskreditierung standesübergreifender nationaler Ehrvorstellungen, die im Zuge der Ereignisse im Jahre 1813 massiv an kultureller aber auch politischer Relevanz gewinnen.Footnote 28

Anders als der von den Eltern für Julie erwählte Kandidat Baron Schreckhorn, der in guter Lustspieltradition von seinen angeblichen Heldentaten in den Befreiungskriegen bramarbasiert, schweigt sein bescheidener Rivale, der Sekretär Müller, über seine Vergangenheit. Erst im Verlauf des Stücks wird seine wahre Identität aufgedeckt: Der angeblich bürgerliche Sekretär Müller, vormals Graf von Dörenfels, war durch die politische Situation gezwungen, für Napoleon zu kämpfen, konnte aber seinem Land dienen, nicht indem er kämpfte, sondern indem er es auf der anderen Seite davor bewahrte, während der Einquartierung napoleonischer Truppen geplündert zu werden. Er ist es, der – wie sich im vierten Akt herausstellt – seinerzeit die Güter und Bauern des reichen Onkels schützte, bevor er unter falschem Namen Sekretär der Familie wurde, um zunächst durch Verwandte sein »zweideutig[es]« Betragen »dem guten Fürsten in das rechte Licht zu stellen« (162) und sich zu rehabilitieren.

Damit sind der personalen Verknüpfungen im und durch den Krieg noch nicht genug. Auch den vermeintlichen Sekretär Müller (Graf von Dörenfels) und Philippine, Eduards Angebetete, verbindet ein gemeinsames Schicksal: Das bürgerliche Mädchen von nebenan hat einst das Leben des unfreiwillig für Napoleon kämpfenden Grafen gerettet, als dieser »[a]uf dem Schlachtfelde bei Lützen […] schwer verwundet« lag und erwartete, »den Kosaken in die Hände zu fallen und von ihren Piken den Gnadenstoß zu empfangen« (167). Gemeint ist die Schlacht bei Großgörschen am 2. Mai 1813, die erste Schlacht nach dem gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons, bei der die russisch-preußischen Alliierten auf die Napoleonischen Truppen treffen. Durch diese Szene des Wiedererkennens – eine klassische Anagnorisis, ermöglicht durch »einen kleinen Ring […] zum Andenken« (167 f.) – erfahren die Figuren und mit ihnen das Publikum, dass Philippine während der Befreiungskriege ihr Geschlecht verborgen hat, um als freiwilliger Jäger in der Armee zu dienen. »Als der Ruf zu den Waffen erscholl, weinte ich stille in meiner Kammer, daß ich ein Mädchen sey«, berichtet Philippine, der man früh »die feurigste Vaterlands-Liebe und den glühendsten Haß gegen dessen Unterdrücker« eingeflößt hatte. Nachdem sie aber gehört habe, dass auch andere »Schwestern, ihr Geschlecht verleugnend, sich hervorgethan«, überzeugt sie schließlich ihre Eltern, sie gehen zu lassen und hat danach »in mancher Schlacht mitgefochten« (169). Natürlich sind sowohl Philippine als auch Graf von Dörenfels alias Sekretär Müller für den Oheim Landrath von Borax würdige Ehepartner und Erben, und so schreibt das glückliche Ende mit Doppelhochzeit musterhaft die Tradition des populären Komödienschlusses fort. Der Nebenbuhler Baron Schreckhorn dagegen wird, ebenfalls in bekannter Lustspieltradition, als der Hochstapler und napoleonische Spion »Israel Kautzmann« enttarnt und von der Bühne gejagt.

Die handlungslogisch vollkommen unmotivierte Pointe, dass die Bramarbas-Figur Schreckhorn nicht nur auf der politisch falschen Seite steht, sondern auch als Jude symbolisch aus der Gemeinschaft exkommuniziert wird, führt nach der Erstaufführung des Deutschen Mannes am 28. Juli 1817 in Berlin zu antisemitischen Gerüchten und damit zu einem direkten Kurzschluss von Literatur und historischer Gegenwart. Tags darauf brennt nämlich das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt bis auf die Grundmauern aus. »In den ersten Tagen nach dem Brande sprach sich ein häßliches Vorurtheil der Menge aufs neue wieder aus. Die Juden sollten das Feuer angelegt haben, weil in dem am Abend vorher gegebenen Stücke: Der deutsche Mann und die vornehmen Leute, von Kotzebue, viel auf Kosten der Juden, von denen viele zugegen waren, gelacht worden war«, berichtet die Zeitung für die elegante Welt, und fügt hinzu: »Man weiß, was von dergleichen Pöbelsagen zu halten ist.«Footnote 29 Der platte Reflex einer Kopplung der Vorgänge auf dem und mit dem Berliner Theater am 28. und 29. Juli 1817 wird damit als antisemitisches Vorurteil entlarvt; das Verhältnis von dargestellter und zeitgenössischer Gegenwart gestaltet sich komplexer.

III.

Während sich die Handlung des Deutschen Mannes vorderhand gattungsstereotyp entlang der Frage entwickelt, wer wen aus welchen Gründen heiraten darf und woher das Geld dazu kommt, verweist die Lösung des Konflikts auf die historische Gegenwart. Dabei bildet die komödientypische Verstellung mit Philippines Gender-Dissimulation den Knotenpunkt der Handlung, ohne allerdings Teil einer von Figuren gesponnenen Lustspiel-Intrige zu sein – entsprechend wird von ihr auch nur berichtet.Footnote 30 Das ist insofern konsequent, als es sich bei dem weiblich/männlichen Rollenwechsel um die Aktualisierung des komischen Potenzials einer wahren Begebenheit handelt und nicht in erster Linie um ein komisches Handlungselement aus Kotzebues Feder. Es handelt sich nämlich um einen eminent zeitgebundenen Anspielungshorizont, der Überschneidungen der Komödie mit der zeitgenössischen Presse als dem Medium patriotischer Agitation und antinapoleonischer Mobilmachung der Bevölkerung offenbart.

Wenn Philippine berichtet, sie habe vernommen, dass andere »Schwestern, ihr Geschlecht verleugnend, sich hervorgethan« haben (169), indem sie zur Waffe griffen, so kennt das Publikum von 1817 mit hoher Sicherheit die mediale Quelle solcher Informationen sehr genau. Es sind die zahlreichen patriotischen Journale und der Verbreitung von Kriegsnachrichten gewidmeten Zeitungen, die Berichte dieser Art in den Jahren 1813-1815 bringen.Footnote 31 Namentlich die Geschichte von Eleonora Prochaska, der »deutschen Jeanne d’Arc«Footnote 32, erlangt größere publizistische und propagandistische Aufmerksamkeit: Die junge Frau nahm unter dem falschen Namen August Renz in Gefechten des Lützower Freikorps (dem preußischen Freiwilligenverband) teil und fiel im Oktober 1813, wodurch erst ihr Geheimnis gelüftet wurde. Nach ihrem Tod wird ihr, genau wie ihren gefallenen männlichen Kameraden, das Eiserne Kreuz verliehen.Footnote 33 In der patriotischen Presse wird Prochaska in Berichten und Gedichten den »deutschen Männern […] als Muster aufgestellt«Footnote 34, meistens allerdings nicht ohne mahnenden Hinweis auf die Wahrung der ›natürlichen‹ Ordnung.

»Weiblicher Opfermut« war nach Karen Hagemann »in der nationalen Krisensituation eines Krieges gefragt, musste sich aber im Rahmen der hegemonialen Geschlechterordnung bewegen, um öffentliche Anerkennung zu finden. Jeder Versuch, deren Grenzen zu überschreiten, galt als Gefahr für die politische und soziale Ordnung von Staat und Nation.«Footnote 35 So lässt es sich Friedrich Arnold Brockhaus in den Deutschen Blättern nicht nehmen, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass man »allerdings Ursache [habe] mit Lobsprüchen auf Frauen oder Mädchen, die ihren natürlichen Beruf verlassen, behutsam zu seyn, da nur zu oft unweibliche Rohheit, oder Hang zu einem zügellosen Leben, diese Schritte veranlassen.«Footnote 36

In vergleichbarer Weise zwischen patriotischer Agitation und Genderstereotypen schwankend, wird noch vor Bekanntwerden des Prochaska-Falls in Kotzebues Russisch-Deutschem Volks-Blatt eine lebhafte Diskussion über ein »zu errichtende[s] Amazonen Regiment« geführt, die Kotzebue als Herausgeber der zwischen April und Juni 1813 erscheinenden Zeitung moderiert und kommentiert. Sie bildet einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Kotzebues Deutschem Mann und seiner umfangreichen gegen Napoleon gerichteten publizistischen Tätigkeit, die sich über antinapoleonische Journale wie Die Biene (1808–1809) oder Die Grille (1811–1812), Flugblattliteratur wie Der Flußgott Niemen und Noch Jemand (1813) bis zum Russisch-Deutschen Volks-Blatt erstreckt, das er im Auftrag des russischen Generalfeldmarschalls Graf Wittgenstein in Berlin herausgibt.Footnote 37 Die von Kotzebue durchaus komödienaffin inszenierte Diskussion um das ›Amazonen-Regiment‹ ist nicht untypisch für das Blatt, das als politische Zeitung zwar offizieller Natur ist, zugleich aber eine den Behörden durchaus anstößig erscheinende Popularität entfaltet, die sowohl auf Kotzebues unterhaltsamer Art zu schreiben wie dem zeitgenössisch ungewöhnlich lebhaften Austausch mit dem Lesepublikum beruht.

Im Mai 1813, zu einem Zeitpunkt als die Frühjahrsoffensive Preußens und Russlands gerade in Gang kommt und die Presse sowohl die preußische Freiwilligenbewegung feiert als auch über die Bildung und Organisation der Landwehr und des Landsturms berichtetFootnote 38, findet sich also im Russisch-Deutschen Volks-Blatt, »Eingesandt von einer Dame«, ein Schreiben »An edle deutsche Mädchen«, das der Philippine-Handlung im Deutschen Mann zur Vorlage dient. »Die Zeit der Duldung, der Ergebung, der Schwachheit ist vorbey,« heißt es dort, »zu Thaten, zu hohen edlen Thaten, ruft uns jetzt das Vaterland. Wer von Euch fühlt nicht den Drang, für die allgemeine Sache, für Freiheit, König und Vaterland sein theuerstes zu opfern, alles hin zu geben, was er vermag?« In heroischer Sprache ruft die Einsenderin ihre Geschlechtsgenossinnen zum Kampf auf: »Wohlan Schwestern! es giebt einen Weg, dem Vaterland durch Uns Selbst nützlich zu seyn: laßt Uns! den Männern gleich, zu den Waffen greifen; laßt eine eigene Schaar uns bilden, die, von heiligem Muth beseelt, gewiß keinem an Tapferkeit weichen wird.«Footnote 39 Kotzebue »findet den Muth der Einsenderin sehr Achtungswerth« und nimmt diesen Aufruf in seine Zeitung auf, doch nicht ohne sich »die einzige Bemerkung [zu erlauben], daß schwerlich auch nur eine halbe Compagnie solcher Heldinnen in Berlin sich finden mögte«, und wenn doch eine solche »Versammlung von kampflustigen Damen zu Stande kommen sollte, so werde, wenigstens in der ersten, nur von der Uniform die Rede seyn.«Footnote 40 Doch es sind nicht die Einsenderinnen, die im Russisch-Deutschen Volks-Blatt fortwährend über die Kleidsamkeit von Uniformen sprechen, sondern der Herausgeber selbst: Als »Gegenstück« zum Lützower Freikorps nennt er sie mit Bezug auf deren schwarze Uniformen die »w e i ß e L e g i o n«, obwohl er zugeben muss, »daß die weiße Farbe im Felde zu sehr schmuzt, sonst würde diese ohne Zweifel die kleidendste seyn.«Footnote 41

Einige Wochen und viele kontroverse Einsendungen von Männern wie Frauen später, gesteht Kotzebue in der Sache, dass er den Aufruf nur zur Belustigung des Publikums aufgenommen habe: »Als der Herausgeber den ersten ihm zugesandten Aufruf an edle deutsche Mädchen zum Kampfe fürs Vaterland in das Volksblatt einrückte, da glaubte er in der That nur dem Publicum einen Spaß zu machen, indem er die ganze Sache blos für Scherz hielt.«Footnote 42 Tatsächlich mischen sich fortwährend Spott und Beteuerungen der Ernsthaftigkeit »Ueber die jetzige große Angelegenheit der Damen«. So meldet sich ein »Spaßvogel«, der gegen das in Berlin zu errichtende Amazonen-Regiment einwendet, es könne sich »leicht zutragen, daß es einem ganzen Bataillon so erginge, wie der Jungfrau von Orleans mit dem Lionel«.Footnote 43 Auch Kotzebue selbst macht keinen Hehl daraus, dass »dem Herausgeber die Einrichtung einer weiblichen Legion […] nicht recht einleuchten will«, er sich aber »doch aufrichtig über diese ungekünstelten und ungeheuchelten patriotischen Gefühle« freue.Footnote 44 In der Folge der Ereignisse habe er unter anderem Besuch von fünf Damen empfangen, die sich als die ersten Freiwilligen stellen wollten. Obwohl er weiterhin der Meinung sei, dass wenigstens »die Blondine mit einem so sanften Gesichtchen […] gar nicht darnach aus[sehe], als ob sie, ausgenommen durch ihre Augen, im Stande sey Unheil anzurichten«, musste er doch einwilligen, über die Redaktion des Russisch-Deutschen Volks-Blatts alle entsprechenden Briefe und Anfragen an sie weiterzuleiten, um interessierte Frauen zusammenzubringen. »Also werden von nun an die Verhandlungen nicht mehr durch das Volksblatt, sondern privatim unter den jungen Heldinnen betrieben werden […]«.Footnote 45

Ein solches weibliches Freikorps hat nicht existiert, wohl aber sind neben Eleonora Prochaska mehrere Fälle kämpfender Frauen dokumentiert.Footnote 46 Daraus zu folgern, dass es sich um eine fingierte Diskussion handelt, wäre dennoch zu kurz gegriffen. Kotzebue jedenfalls versichert »auf seine Ehre, daß er nicht den kleinsten Umstand dabey erfunden, sondern sich Alles erzähltermaßen zugetragen hat«.Footnote 47 Das Beispiel von Eleonora Prochaska zeigt, dass in den Monaten darauf in Einzelfällen weibliche Kämpferinnen unter Verbergung ihrer Identität tatsächlich an Kampfhandlungen der Napoleonischen Kriege teilgenommen haben und – was hier entscheidender ist – die Frage nach Modi und Legitimität von weiblichem Patriotismus Bestandteil eines öffentlichen Diskurses war, der seinen Ort in der patriotischen Presse hatte.

Anders als bei der propagandistischen Indienstnahme des realgeschichtlichen Falls fokussiert Kotzebue mit dem Crossdressing die komödienaffinen Aspekte der Gender-Dissimulation und betreibt die Diskussion um das ›Amazonen-Regiment‹ schon im Russisch-Deutschen Volks-Blatt weitestgehend als »Spaß« oder »Scherz« zur Erheiterung des Publikums. Der preußische König Wilhelm III. beschwert sich denn auch höchstpersönlich darüber, dass solche Themen in einer Zeitung seiner Hauptstadt gebracht werden: Der »Aufruf zur Errichtung eines Regiments von Weibern« enthalte »eine der heiligen Sache des Vaterlandes unwürdige Spielerei«, schreibt er in einer Kabinettsorder an das Militärgouvernement, in der er fortan eine strengere Zensur der Berliner Zeitungen befiehlt.Footnote 48

Für Wilhelm III. sind heroische Jungfrauen an der Waffe eine »Spielerei«, eine »unwürdige« zwar, aber doch eine »Spielerei«, für Kotzebue sind sie ein »Spaß«, ein »Scherz«.Footnote 49 Und auch die Franzosen »spotteten […] wohl viel über die patriotischen Mädchen, die vor Begierde glühten, persönlich mitzufechten und ich glaube wir spotteten selber mit, was nicht recht war«, wie Kotzebue nach Bekanntwerden der ersten Fälle von weiblichen Kriegsteilnehmerinnen selbstkritisch anmerkt und resümiert: »Doch dem sey, wie ihm wolle, wir lachten, und die Franzosen lachten auch.«Footnote 50 Kurzum, der Stoff empfiehlt sich, wie dem Theaterprofi Kotzebue nicht entgeht, zur Komödie.Footnote 51 Praktisch ist seine Zeit auf der Bühne aber erst gekommen, nachdem Napoleon 1815 endgültig besiegt werden konnte.

IV.

Das Verhältnis von Patriotismus und Geschlecht, das im Rückgriff auf Kotzebues Russisch-Deutsches Volks-Blatt von 1813 das Zentrum des Sittengemäldes Der deutsche Mann und die vornehmen Leute bildet, betrifft im Jahr seiner Erstaufführung die unmittelbare Gegenwart des zeitgenössischen Publikums, insofern nicht die Kriegsereignisse selbst thematisch werden, sondern ihre anschließende kulturelle Deutung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen und politischen Verschiebungen. Napoleon ist besiegt, aber Form und Funktion des Gedenkens an die Überwindung der Fremdherrschaft, d.h. die kulturelle Deutung der Ereignisse um 1813 sind in den Jahren nach dem Wiener Kongress eine so aktuelle wie politisch aufgeladene Frage. Das Schicksal des Deutschen Bundes ist längst nicht entschieden und ›Deutschheit‹, ›Deutschtum‹ und die Frage nach den politischen Implikationen von Patriotismus sind Gegenstand erbitterter ideologischer Auseinandersetzungen zwischen liberalen und restaurativen Kräften. Diese instrumentalisierten das Gedenken an 1813 zur Stärkung von Monarchie und Fürstentum im Sinne eines ›Befreiungskriegs‹, jene stellten die Freiwilligenverbände ins Zentrum der Erinnerungskultur, um den Sieg als vom Volk getragenen ›Freiheitskrieg‹ zu erinnern.Footnote 52 »The controversies of the postwar period were fueled not simply by diverse memories of wartime experience as such but also by the instrumentalization of memory for political ends«, resümiert Christopher Clark.Footnote 53

In dieser Gemengelage positioniert sich Kotzebue – nach wie vor im Russischen DienstFootnote 54 – als treuer royalistischer Staatsdiener und exponiert sich so »grundsätzlich als negative Projektionsfläche für national gesinnte Kreise«.Footnote 55 Spätestens nach dem Wiener Kongress wird der Bruch zwischen der nationalliberalen antinapoleonischen Publizistik Arndts und Kotzebues politisch-literarischem Standpunkt deutlich.Footnote 56 In diesem Sinne ist das Sittengemälde für Kotzebue selbst von einiger Aktualität, insofern es nach der Stellung von Patriotismus in der politisch-sozialen Nachkriegsordnung fragt. Erst vor diesem Hintergrund wird die Stoßrichtung deutlich, aus der die Komödie auf die zeitgenössische Gegenwart zielt.

Sowohl die Inszenierung der weiblichen patriotischen Energien 1813 innerhalb des Russisch-Deutschen Volks-Blatts als auch die Darstellung des handlungsverknüpfenden Patriotismus im Deutschen Mann sind von einer Ambivalenz gekennzeichnet, die erst den Raum für Komik eröffnet. Während der Darstellung von Patriotismus in der propagandistischen Presse von 1813 eine spezifische strategische Funktion der Mobilmachung zukam und sie in diesem Sinne ernsthaft, zielgerichtet und eindeutig zu sein hatte, gewinnt Kotzebue der Diskussion um das ›Amazonen-Regiment‹ eine burleske Komik ab, die zwischen ablehnender Lächerlichkeit und billigender paternalistischer Unterstützung schwankt. Auch in der Komödie sind die Fronten keineswegs klar. Topisch ist die Frankophilie des heruntergekommenen Adels: »Ach! ich weiß wohl, was wir verloren haben!«, beklagt der Baron die postnapoleonische Gegenwart, »Die Zierlichkeit der Sitten, die Leichtigkeit des Umgangs, mit Einem Worte: jene französische Politur […]«. »Alles ist nun wieder deutsch, das heißt: plump!«, stimmt ihm Schreckhorn zu (99). Da aber das monetäre Erbe des ›deutschen Mannes‹ nur mit Patriotismus zu gewinnen ist, wiederholen auch sie, wie ausnahmslos alle Figuren in Gegenwart des patriotischen Onkels in mehr oder weniger durchsichtiger Ostentation: ›Ich bin ein deutscher Mann‹ oder ›Ich bin ein deutsches Mädchen‹.

Gelacht wird indes nicht nur – wie es die Komödientradition des frühen 18. Jahrhunderts vielleicht nahelegen würde – über den französierenden Adelsdünkel, aus dessen Perspektive »das ganze deutsche Unwesen« »eckelhaft« erscheint (95). Die höheren Stände sind, wie ein Theater-Korrespondenzbericht im Österreichischen Sammler bemerkt, im 19. Jahrhundert längst kein ergiebiger Komödienstoff mehr: »Wozu also die satyrische Behandlung eines Gegenstandes, der nicht mehr auffallend, nicht mehr beleidigend«, kurzum nicht mehr aktuell ist?Footnote 57 Die Antwort ergibt sich aus der oben skizzierten Überlagerung der schematischen Komödienhandlung und der Frage nach dem ideellen und monetären Wert von Patriotismus. Denn auch die »massive Deutschheit« (132) des reichen Onkels ist wenigstens ambivalent und damit Gegenstand der Komödie. Sein obsessiver, geradezu tyrannischer Patriotismus trägt durchaus komische Züge, und es ist keineswegs klar, ob das ›Sittengemälde‹ nur dazu einlädt, die vorgeblich ›deutschen Männer‹ zu verlachen, die in Wahrheit den »schönen französischen Zeiten« (101) nachtrauern, oder nicht eigentlich den überzeugten ›deutschen Mann‹ mit seinem monomanischen Patriotismus. Dieser hat nicht nur während der Erhebung gegen Napoleon »den Landsturm commandirt« und »sechs tausend Piken auf eigne Rechnung machen lassen«, sondern liefert auch jetzt noch »am 18. Oktober jedesmal das Holz zum Freudenfeuer und trinkt sich auch richtig an diesem Tage einen Rausch«. Auch wenn er »sonst sehr mäßig« mit dem Alkohol umgeht: Am Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht soll »nach seiner Meinung, jeder ächte Deutsche betrunken seyn« (95 f.).

Diese Ambivalenz in der Darstellung patriotischer Erinnerungskultur entgeht den Zeitgenossen nicht: »Hr. v. K. kitzelt in diesem Stücke seine Gäste durch zwey mächtige Reitzmittel, Patriotismus und Satyre. Beyde sind so in einander gearbeitet, daß man selbst nicht weiß, ob sein Patriotismus Satyre, oder seine Satyre Patriotismus ist.«Footnote 58 Die Freudenfeuer in Erinnerung an die Völkerschlacht von Leipzig, für die der Oheim Holz heranschafft, waren ein wichtiger Bestandteil der deutschen Gedenkkultur in den Jahren nach dem Sieg über Napoleon. Schon im Frühjahr 1814 nahmen Arndt und Jahn die Diskussion um Formen der patriotischen Erinnerungs- und Festkultur auf. Auch Kotzebue war in die Gestaltung des ersten Jahrestages involviert: Am 19. Oktober 1814, direkt im Anschluss an die Feuer, wurde in Berlin seine Komödie Die Rückkehr der Freiwilligen, oder das patriotische Gelübde mit dem Vorspiel Die hundertjährigen Eichen, oder das Jahr 1814 zum ersten Mal gegeben. Doch gerade an diesen Festlichkeiten um das Datum der Völkerschlacht herum zeigt sich schon in dem darauffolgenden Jahr 1815 deutlich der Widerspruch zwischen restaurativer preußisch-monarchischer Indienstnahme und dem Versuch, eine deutsch-nationale Festtradition zu begründen:

Die Umdeutung des Nationalfestes war Teil der politischen Auseinandersetzungen um die historische Interpretation der Kriege von 1813-15 und der daraus abzuleitenden politischen Konsequenzen, die auch auf dem Feld der patriotisch-nationalen Feste und Feuern geführt wurde […]. Nicht zufällt rückte das ›Nationalfest der Teutschen‹ 1815 in das Zentrum dieser Auseinandersetzungen, formulierten doch die deutsch-nationalen Patrioten mit diesem Fest nicht nur explizit die Forderung nach einer gesamtdeutschen Einigung, sie machten dies im Festgeschehen auch noch sinnlich erfahrbar und betonten dabei zugleich die eigenständige Rolle des ›Volkes‹ als politischem Subjekt.Footnote 59

Den Höhe- und Endpunkt dieser Auseinandersetzung bildet schließlich das Wartburgfest im Herbst 1817. Dieses ›Freudenfeuer‹ endete bekanntlich mit einer Bücherverbrennung, dem auch ein Exemplar der Geschichte des deutschen Reichs (1814/15) von Kotzebue zum Opfer fiel. Die Frage nach dem rechten Maß, der rechten Form und dem politischen Ziel von Patriotismus und Erinnerungskultur, die Frage mithin nach der titelgebenden ›Deutschheit‹ des Sittengemäldes ist also nicht zuletzt für Kotzebue selbst von einiger Aktualität und wird für ihn nur wenige Wochen nach der Erstaufführung des Deutschen Mannes zu einem Problem, das schließlich in seiner Ermordung im Frühjahr 1819 kulminiert.

Das komische Potenzial von Patriotismus und Kriegsgedenken zielsicher zu aktivieren und zu nutzen, macht die eigentliche Aktualität des Stückes aus. Gerade die Mehrdeutigkeit, mit der Kotzebue die ›Deutschheit‹ thematisiert, ist nichts weniger als ein politisches Statement, das die Komödie in einem spezifischen politischen Zusammenhang situiert und ihr so einen fest umrissenen Zeithorizont einschreibt. Dieser Umstand ist von wesentlicher Bedeutung für die zeitgenössische Aufnahme des Stückes, und sie ist von wesentlicher Bedeutung für die zeitgenössische Einschätzung seiner Kanonfähigkeit. Auch Johannes Franzen beobachtet als ein wiederkehrendes Muster in der Wirkungsgeschichte literarischer Gegenwartsbezüge, »dass die autonomistische Anschuldigung vor allem den Gegenwartsbezug betrifft, der mit einer politischen Intervention verbunden ist«.Footnote 60 Ein Bremer Korrespondent in der Zeitung für die elegante Welt hält das Thema der Komödie grundsätzlich für literaturgeschichtlich relevant: »Das Stück wird, als offenbar polemisierend, gegen die Sucht zu alterthümeln und zu deutscheln, eine deutliche Spur in unserer Literatur und Geschichte zurücklassen.«Footnote 61 Rückblickend betrachtet ist das nicht der Fall. Die Spur des Deutschen Mannes verläuft sich nach mehreren Aufführungen in den Jahren 1817 und 1818 bald.Footnote 62 »Eine kurze Zeit mag das Stück sich halten« – so ist denn auch der zeitgenössische Tenor – doch werde »dessen Reich unmöglich von langer Dauer seyn«.Footnote 63Der deutsche Mann und die vornehmen Leute ist keineswegs ein erfolgloses Stück, doch wird sehr bald deutlich, dass einer auf Aktualität beruhenden Komödienwirkung enge temporale und lokale Grenzen gesetzt sind.

Die buchstäblich geteilte Aufnahme, die Kotzebues Sittengemälde erfährt, lässt sich konkret für Berlin und Wien nachvollziehen. In Berlin wird das Stück »mit rauschendem, nicht aber mit parteylosem Beyfall aufgeführt«Footnote 64, wie das Wiener Publikum schon Monate bevor das Stück am Burgtheater zur Aufführung kommt dem Unterhaltungsblatt Der Sammler entnehmen kann. Die Erwartungen sind entsprechend groß (»Dieses Stück war schon von der Aufführung in Berlin aus, als ein höchst pikantes Gemählde aller Zeitthorheiten angekündigt«), die Aufnahme in Wien aber enttäuschend: »Einige fanden darin des Pikanten zu viel, andere zu wenig, und so konnte es sich keines bleibenden Beyfalls erfreuen.«Footnote 65

Diese Enttäuschung scheint nicht auf das Konto der schauspielerischen Leistung zu gehen, die in den Rezensionen durchweg gelobt wird, sondern hatte vielmehr damit zu tun, dass die Komödie »in Hinsicht auf Local-Beziehungen mehr auf preußische Länder, als auf Oesterreich« passt.Footnote 66 Entsprechend wird sie in Wien auch nicht als Der deutsche Mann und die vornehmen Leute gegeben, sondern in zensierter Fassung unter dem ›entnationalisierten‹ Titel Der Oheim vom Lande.Footnote 67 Dass die Zensureingriffe gerade auch jene Stellen entschärften, in denen es in Anlehnung an die Diskussion im Russisch-Deutschen Volks-Blatt um kämpfende weibliche Freiwillige geht, zeigt die Zusammenfassung in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, in der lediglich die Rede ist von »heldenmüthigen Jungfrauen, die das Schlachtfeld besucht haben, um Verwundeten beyzustehen«.Footnote 68

Es ist eine naheliegende Vermutung, dass die Zensureingriffe ihren Teil zur enttäuschenden Aufnahme beigetragen haben, doch sind sie letztlich nur ein Ausdruck davon, dass Wien nicht Berlin, die politische Erfahrungswelt der zeitgenössischen Rezipientinnen und Rezipienten mithin eine andere ist: »Es kommt alles auf den Ort der Darstellung und auf die Gesinnungen und Gewohnheiten der Zuseher an, und der Beyfall steigt und fällt, je mehr letztere der Sache sich annähern oder entfremden«.Footnote 69 Wien blickt gewissermaßen von der Peripherie aus auf den Gegenstand der Komödie, deren Wirkung aus diesem Grunde ins Leere läuft: »Die Ursache mag allerdings wohl darin liegen, daß solches Deutsch- und Vornehmthun hier gar nicht an der Tagesordnung ist und daher eine Menge von Anspielungen verloren geht«, berichtet ein Wiener Korrespondent im Morgenblatt für gebildete Stände.Footnote 70 Die Wiener Zeitschrift wird deutlicher:

Die Deutschthuerey ist, wie das Deutschchristlich gesinnt seyn wollen, eine Narrheit, die hin und wieder ganze Klassen ergriffen hat und äußerlich und innerlich durch Kappen, Schellen und biblische Sprüche kund geworden ist. Wer bey gesundem Verstande geblieben, dem ist solch Unwesen ein Gräul oder auch die Gelegenheit erwünscht, Spott und Verachtung darüber an den Tag zu legen. Ähnliches mag wohl dem Verfasser dieses Sittengemäldes vorgeschwebt haben; indeß befinden sich die Originalien zum Glück nicht in unserer Mitte, sondern sind uns nur durch einige wandernde Karikaturen bekannt geworden. […] Nehmen kann ein Jeder, was ihm beliebt; da aber nicht Alles Allen anpaßt, so wird sich auch Niemand wundern, wenn die eine Partey den Ausfall belacht und die andere darüber zischt, folglich sich weder ein allgemeiner Tadel noch ein allgemeines Wohlgefallen ausspricht. Daß lezteres in Berlin der Fall gewesen, hat seine Ursache darin, daß die Charaktere dort dem Schauplatz näher lagen.Footnote 71

Die zitierten Rezensionen zeigen deutlich die lokalen Grenzen auf, innerhalb deren Der Deutsche Mann und die vornehmen Leute seine Wirkung entfaltet. Sie werden überlagert von den temporalen Grenzen, die sich aus der Zeitgebundenheit des politisch konnotierten Stoffes ergibt. Zusammen schränken sie massiv die Kanonfähigkeit von Kotzebues Stück ein. So hält ein zeitgenössischer Korrespondent eine Frankfurter Aufführung schon im Dezember 1818 für nicht mehr zeitgemäß: »Unter manchen Mißgriffen der Direktion ist dieses keiner der geringsten: Stücke, welche für eine frühere Zeit, deren Gegenwart sie berührten, geschrieben waren, erst jetzt zu geben, und so, nach einem bekannten französischen Sprichworte, den Senf nach dem Essen aufzutischen.«Footnote 72 Eineinhalb Jahre nach seiner Erstaufführung ist das Sittengemälde von 1817 die Produktion einer vergangenen Gegenwart. Und aus der Warte des Jahres 1825 ist Kotzebues Stück schließlich vollständig »außer der Zeit«.Footnote 73

V.

Der Zusammenhang von literarischer Aktualität, Vielschreiberei, Erfolg und Kanonisierung muss, wie sich an Der deutsche Mann und die vornehmen Leute exemplarisch zeigen lässt, temporal, lokal und literaturhistorisch differenziert betrachtet werden.Footnote 74 Erst in solch granularer Perspektive lassen sich die diskursiven Verschiebungen nachvollziehen, denen die Bewertung von literarischer Aktualität unterliegt. Mit Blick auf die zeitgenössisch problematisierte und die tatsächlich problematische Kanonfähigkeit von Kotzebues Dramen als ›Produktionen der Gegenwart‹ besteht dabei ein doppeltes Problem: Neben dem autonomieästhetischen Vorbehalt gegenüber einer Literatur, die sich auf die und mit der Gegenwart einlässt, muss man solche Zeitgebundenheit auch in pragmatischem Sinne als kanonisierungshemmenden Faktor in Rechnung stellen, schließlich steht und fällt die Komik aktueller Anspielungen auch damit, ob das Publikum sie als solche überhaupt (noch) erkennt und aus seiner eigenen historischen Warte als komisch goutieren kann. Die Aufführung im Jahr 1825 ist auch deshalb buchstäblich »außer der Zeit«, weil die acht Jahre seit der Berliner Erstaufführung einen grundlegenden Epochenumbruch mit sich gebracht haben. Aus den Fragen nach den politischen Implikationen von kultureller Kriegserinnerung, nach genderspezifischem Patriotismus und der ideologischen Reichweite von Deutschtum, an denen sich Kotzebue 1817 noch mit den Mitteln der Komödie abarbeiten konnte, ist 1825 längst ein Ernst geworden, der sich wenige Jahre zuvor schlechterdings nicht absehen ließ. Auf das »Freudenfeuer«, an dem sich Kotzebues fiktiver ›deutscher Mann‹ einen Rausch trinkt, folgt nur wenige Wochen nach der Erstaufführung das Wartburgfest mit der Verbrennung antiliberaler Schriften, auf die symbolische Vertreibung des Verräters auf der Bühne die Ermordung Kotzebues und auf diese wiederum die Verabschiedung der Karlsbader Beschlüsse, die die Publikationsmöglichkeiten auf lange Jahre drastisch beschnitten. So wird Kotzebues Stück von der Realgeschichte eingeholt; unversehens ist es überholt.

Es hat also auf der Ebene des Einzelwerks gute Gründe, warum die Kotzebue-Forschung rhetorisch an der Vergessenheit ihres Gegenstandes ansetzt, auch wenn der hier problematisierte Zusammenhang von Publikumserfolg und expliziten Gegenwartsbezügen natürlich nicht für alle Stücke in gleichem Maße gilt, wie sein weit ins 19. Jahrhundert hineinreichender Einfluss auf der Bühne zeigt.Footnote 75 Auf der anderen Seite lässt sich aus der exzessiven Schreib- und Publikationstätigkeit Kotzebues ein quantitatives Argument formulieren, an dem keine Literaturgeschichte vorbei kommt – jedenfalls verzichtet, wie Simone Winko recherchiert hat, kaum eine Darstellung auf die (in der Regeln negativ konnotierte) Quantifizierung von Kotzebues dramatischem Werk. Popularität und Quantität sind bei Kotzebue, wie eingangs gezeigt, eng verschränkt, sodass sich schon sehr früh die Notwendigkeit ergibt, das stetig wachsende Œuvre zu organisieren und zu vermarkten. Als ein dafür geeignetes Publikationsformat erweist sich die Reihe Neue Schauspiele von August von Kotzebue beim Leipziger Verleger Paul Gotthelf Kummer: Hier werden in den Jahren 1798 bis 1819 in 23 Bänden insgesamt 78 Schauspiele veröffentlicht. So erscheint Der deutsche Mann 1818 bei Kummer zugleich als Einzelausgabe als auch in den Neuen Schauspielen sowie in der Folge in diversen rechtmäßigen oder unautorisierten Werkausgaben.Footnote 76 Solche Ausgaben organisieren Quantität und sie schaffen den paratextuellen Rahmen für die Deaktualisierung einer auf ihre Gegenwart bezogenen Literatur. Die Sammel- und Werkausgaben bieten einen stabilisierten Rahmen, in dem ein Stück wie Der deutsche Mann und die vornehmen Leute eine Zeit lang in seiner spezifischen historischen Situierung ›vergessen‹ und zugleich aufbewahrt werden kann, sind aber nicht Ausdruck einer dezidierten Werkpolitik.Footnote 77 Letztlich referiert die Rede davon, dass Kotzebue vergessen sei, weder auf die im Einzelnen problematische literarische Aktualität noch darauf, dass die Literaturgeschichte Kotzebue nicht kennt, sondern auf die fehlende Allianz von Kotzebue und seinen Verlegern mit der Philologie und ihren literaturgeschichtlich institutionalisierenden Praktiken, die die transitorische Aktualität des Einzelwerks kontextualisiert und in die Historizität eines Gesamtwerks zu übersetzen vermag.