I.

In Karl Kraus’ 1912 veröffentlichtem Aphorismenband Pro domo et mundo findet sich die Umschrift einer berühmten Zahmen Xenie Goethes. Die Pointe besteht in der Umstellung eines einzigen Wortes. »Nach Goethe: Wer Kunst und Religion besitzt, der hat auch Wissenschaft. Wer diese beiden nicht besitzt, der habe Wissenschaft.«Footnote 1

Kraus’ Vertauschung von Wissenschaft und Religion war nicht ironisch gemeint. Sie richtete sich kulturkritisch »nach Goethe« – und zwar auf Seiten einer mit der Religion solidarischen Kunst – gegen eine freisinnig-liberale Fortschritts- und Wissenschaftskultur, die Kraus bereits vor 1914 für eine brutalisierende Barbarei hielt und deren Unwesen er mit dem ebenso hellsichtigen wie ungeheuerlichen Satz beschrieb: »Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut.«Footnote 2 Die »Letzten Tage der Menschheit« werden dann Szene für Szene, Extraausgabe nach Extraausgabe das Grauen des industriellen Kriegs, die verlogenen Phrasen des »Manifests der 93«, die moralische Blamage der Wissenschaft, nicht zuletzt aber auch den politisch säkularen Missbrauch der Religion durch ihre offiziellen kirchlichen Vertreter satirisch bloßstellen.

Mit der Verknüpfung von Kunst und Religion versucht Kraus, einer ebenso geschäftig wie heillos voranschreitenden, wissenschaftlichen Moderne entgegenzutreten,Footnote 3 die ihre Bestimmung in der permanenten Erfindung von Maschinen findet, sich sämtlichen geschichtlichen Kulturen und Religionen der Erde überlegen, deswegen auch zu allen Kolonialverbrechen legitimiert glaubtFootnote 4 und ihre technisch-wissenschaftliche, post-metaphysische Vernunft für das nec plus ultra der Weltgeschichte hält. Im Glauben, Metaphysik durch Physik, das Jenseits durch artifizielle Paradiese, religiöse Vorstellungen durch positive, wissenschaftliche Erkenntnis ersetzen zu können, entgeht ihr die Einsicht, dass Metaphysik noch nie identisch mit Physik war und Religion noch nie in praktisch-technischem Alltagswissen aufging.

Mit seinen polemischen Spitzen steht Kraus bekanntlich nicht allein. Er zeichnet sich damit jener artistischen Wissenschafts- und Fortschrittskritik ein, die – von Baudelaire bis zu Flaubert, von Chamisso bis zu Benn – die ›Kollateralschäden‹ der techno-wissenschaftlichen Industrie- und Handelsgesellschaften in den Blick nimmt, wie sie im bürgerlichen 19. Jahrhundert entstanden waren. Zur kulturell gängigen Verdrängung und fatalen Akzeptanz dieser Schäden merkt Kraus an: »Es wäre mehr Unschuld in der Welt, wenn die Menschen für all das verantwortlich wären, wofür sie nicht können.«Footnote 5

In der geistesgeschichtlichen Sache artikuliert Kraus’ Umschrift der Goethe’schen Xenie am Vorabend des Ersten Weltkriegs einen doppelten Einspruch gegen das »Projekt der Moderne«,Footnote 6 das im Deutschland des 19. Jahrhunderts unter anderem von naturalistischen Wissenschaftsverfechtern wie Ernst Haeckel, David Friedrich Strauß, Wilhelm Bölsche, aber auch von der »Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur«, dem Pendant der englischen, liberalen »secular society«, propagiert worden war:Footnote 7 zum einen gegen dessen, wie Walter Benjamin formulieren wird, »gewissenlosen Optimismus«Footnote 8, der nur um den Preis willentlicher Blindheit gegenüber den damit einhergehenden Verelendungs- und Ausbeutungsprozessen, Räubereien und Genoziden zu haben ist, zum anderen gegen die darin vorgesehene Rolle der Religion, die Kraus – im Gegensatz zu den »Männern der Wissenschaft«Footnote 9 – gerade nicht am privaten, neurotischen Ende sieht und deren Vokabeln, Liturgien und Rituale er nicht für bloße Metaphern rein menschlicher Wirklichkeiten hält. Nicht zufällig hat Georg Trakl Karl Kraus im Bild des Hohen Priesters portraitiert:

Verse

Verse Weißer Hoherpriester der Wahrheit, Kristallne Stimme, in der Gottes eisiger Odem wohnt, Zürnender Magier, Dem unter flammendem Mantel der blaue Panzer des Kriegers klirrt.Footnote

Georg Trakl, Dichtungen, Salzburg, Leipzig 1938, 132.

Trakls »Hoherpriester« ist kein pompöses, anderes Wort für »Literaturkritiker«, »Gottes eisiger Odem« kein Ausdruck für »außergewöhnliche analytische Intelligenz«. Die Begriffe sind ernst gemeint. Karl Kraus versteht Sprach- und Literaturkritik in der Tat als priesterlichen Dienst an der Sprache und der künstlerischen Schöpfung, die für ihn – nicht anders übrigens als für Walter Benjamin – religiös fundiert sind.Footnote 11 Man würde folglich die polemischen Einsätze verkennen, die sowohl Kraus als auch Trakl gegen die Wissenschaftsmoderne und ihre Prosa ausspielen, wenn man sie einfach – allen Texten und Kontexten zum Trotz – als lediglich »figürliche«, aus der Sphäre des Religiösen in die Literatur (oder die »Wertsphäre des Ästhetischen«) übertragene, uneigentliche Rede lesen würde. Die angebliche Übertragung setzte – und zwar als petitio principii – die Trennung genau jener »Wertsphären« voraus,Footnote 12 zwischen denen dann übertragen werden kann, die als getrennte aber weder für Kraus noch für Trakl existieren. Im Gegenteil: Beide widersprechen ganz explizit dieser Trennung. Verdrängt bliebe darüber hinaus die Tatsache, dass ein entscheidender Teil der (welt-)literarischen Moderne seit dem 19. Jahrhundert – ob Agnon, Baudelaire, Brentano, Claudel, Dostojewski, Droste-Hülshoff, T.S. Eliot, Heym, Huysmans, Joyce, Kafka, Lasker-Schüler, Rilke, Roth, Tolstoi oder Verlaine (um nur einige der religiös Musikalischen unter den Poeten zu nennen) – gerade nicht Teil jener kulturpolitischen bürgerlichen Bewegung war, die sich in Begriffen wie »Säkularisierung«, »wissenschaftlicher Fortschritt«, »moderne Welt«, »kantische Vernunft«, »Ausdifferenzierung der Wertsphären«, »Modernisierung«, »Rationalisierung« usw. wiedererkannt hat. Literaturgeschichtlich verhält es sich eher umgekehrt: In ihren prominentesten Teilen war die literarische Moderne entschiedener Gegner des Fortschritts – und zwar nicht im Modus einer reaktionären Verneinung, sondern im Modus einer konstruktiven Gestaltung derselben Moderne, als deren aktiven, um nicht zu sagen revolutionären Teil sie sich begriffen hat. Dass Moderne und Religion, Moderne und Theologie, Moderne und Metaphysik sich historisch nach und nach ganz von selbst ausschließen, ist evident nur vor dem Hintergrund der deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, wie Karl Löwith sie in seiner Studie Von Hegel zu Nietzsche nachgezeichnet hat.Footnote 13 Jenseits dieser spezifischen Geschichte des Geistes besitzt die geschichtsphilosophisch konzipierte Exklusion weitaus weniger Evidenz.Footnote 14

Für die Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung heißt das aber, dass man den sogenannten Säkularisierungsprozess, der insbesondere in den bundesrepublikanischen Geisteswissenschaften dann noch einmal die Rolle eines historischen, ja eines politisch normativen Ordnungsprinzips gespielt hat,Footnote 15 nicht länger a priori generalisieren und die Texte, Autoren, Epochen entsprechend subsummieren kann – unter anderem auch nicht stillschweigend dadurch, dass man literarische und religiöse Rede von vornherein kategorial voneinander trennt. Und es heißt weiter, dass der Begriff der »Moderne« nicht das impliziert, was ihm noch bis in die jüngste Vergangenheit – als spätestes Verfallsdatum eines naiven Moderne-Begriffs müsste man vermutlich den 9. September 2001 nennen – an Wesensmerkmalen attribuiert wurde, nämlich säkular, post-metaphysisch, fortschrittlich, religionsfern oder -neutral zu sein.Footnote 16 Weder der Begriff der »Moderne« noch der Begriff der »Säkularisierung« – das haben die Studien von Daniel Weidner,Footnote 17 aber auch der Band von Christiane Frey, Uwe Hebekus und David Martyn zur »Säkularisierung«Footnote 18 gezeigt – taugen als geschichtsphilosophisch substantialistische Beschreibungskategorien. Sinnvoll sind nur dann, wenn die mit diesen Begriffen jeweils verbundenen historischen kulturellen, sozialen, politischen, aber auch epistemologischen Konflikte rekonstruiert werden, in denen sie ihre spezifische Bedeutung gewonnen haben.

Wenn im Folgenden, ausgehend von einer Bemerkung Jacob Taubes zur »Allegorie«, zwei Texte von Simone Weil und Charles Baudelaire gelesen werden, dann um exemplarisch zu zeigen, dass Moderne und Religion im 19. und 20. Jahrhundert sowohl auf Seiten der poetischen als auch auf Seiten der politischen Avantgarde korreliert sind und dass deswegen die »Allegorie« – als jene Wahrnehmungs- und Redefigur, die seit Philo von Alexandrien mit der Erkenntnis transzendenter Wahrheiten verknüpft istFootnote 19 – auch in der Moderne »nach Goethe«, über den weltimmanenten Sinn des Symbols hinaus, nicht einfach nur im technisch-rhetorischen Sinn als »figürliche Rede« zu lesen ist, sondern nach wie vor Anspruch auf ontologische und metaphysische Wahrheit erhebt.

II.

In seinen »Noten zum Surrealismus« hat Jacob Taubes 1964 das Problem der Allegorie in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts als das Problem der zunehmenden Unverbindlichkeit der literarischen Phantasie, der weltlosen Subjektivität und der Arbitrarität ihrer Bilder beschrieben. Taubes ging es zunächst – im Kontext der dem Begriff der Moderne programmatisch verpflichteten Forschergruppe »Poetik und Hermeneutik«Footnote 20 – noch einmal darum, an den unterschiedlichen Status allegorischer Figuren im religions- und theologiegeschichtlichen Kontext zu erinnern, noch genauer: an die religionsgeschichtliche Signatur des Allegorie-Begriffs.

Die Aufwertung der Phantasie zum Organ der Poesie, wie sie seit der Romantik gängig ist, geschieht um den Preis des Verlusts der Welthaftigkeit ihrer Symbolik, was der okkasionelle, oft auch unverbindliche Charakter romantischer Allegorie indiziert. Die mittelalterliche Ontologie ist ›symbolisch‹ strukturiert. Natur und Heilige Schrift sind beide, in je verschiedener Weise, Offenbarungen des ungeschöpflichen und darum unausschöpflichen verbum divinum. Vom dreifachen, vierfachen oder vielfachen Sinn der Schrift ließ sich nur sprechen, weil Dinge und Ereignisse auf verschiedenen Ebenen Abbilder eines exemplarischen Urbildes sind. Die Interpretation bleibt daher in der mittelalterlichen Exegese eine unendliche Aufgabe, denn der Grund, das verbum divinum, bleibt unausschöpflich. Die hierarchische chain of being erlaubt, ja fordert die Analogie und den Komparativ zwischen Unten und Oben heraus. Seit dem Vordringen der modernen naturwissenschaftlichen Methode, die seit Bacon, Descartes und Spinoza den Leitfaden zur Interpretation der Wirklichkeit liefert, wird die mittelalterliche Interpretation von Natur und Heiliger Schrift ihres Fundaments beraubt.Footnote 21

Die Unverbindlichkeit poetischer Bilder in der Moderne hat für Taubes insofern mit dem neuzeitlichen Säkularisierungsprozess zu tun – im Sinn der »fortschreitenden Emanzipation der modernen Kultur aus den geistlichen Bindungen des Glaubens religiöser Gebundenheit und Bevormundung«Footnote 22 –, als die symbolische Weltdeutung, in der die sinnlich wahrnehmbare Welt stets auch auf geistig-übersinnliche, religiöse Wahrheiten verwiesen hatte,Footnote 23 in der Neuzeit zugunsten naturwissenschaftlicher Immanenz und Eindeutigkeit einkassiert worden ist. Seit dem Siegeszug des sensus literalis, der theologisch mit der reformatorischen Zurückweisung der scholastischen, am vierfachen Schriftsinn orientierten Schrift-Exegese einsetzt,Footnote 24 und schließlich der weltimmanenten Seinsbestimmung der Dinge, leidet die Poesie zunehmend an der metaphysischen Haltlosigkeit ihrer Bilder und symbolischen Korrespondenzen. Als rhetorische Figuren uneigentlicher Rede können sie keinerlei ontologische Wahrheit mehr beanspruchen und finden Halt allein noch in der Subjektivität, die sich durch sie ausdrückt.Footnote 25

Taubes’ Befund lässt sich schwerlich bestreiten. In der techno-wissenschaftlichen Welt haben wahre Sätze und Erkenntnisse in der Tat nicht mehr die Form poetischer Vergleiche und Entsprechungen, auch nicht die von Fragen, prophetischen Visionen oder aphoristischen Pointen. Sie verlangen vielmehr die Form eindeutiger, feststellender Aussagesätze, deren Idealfall mathematische Funktionsgleichungen darstellen.Footnote 26 Dem entsprechend können Sätze wie »La Nature est un temple où de vivants piliers, / Laissent parfois sortir de confuses paroles«Footnote 27 keinerlei Wahrheitsgehalt ›an sich‹ in Anspruch nehmen. Sie fallen, was ihre, wie Hegel formulierte, »echte Wahrheit«Footnote 28 angeht, ihrerseits in den Deutungsbereich der Wissenschaften, ob Philosophie, Psychologie, Soziologie oder Literaturwissenschaft, die Eindeutigkeit und Klarheit dort herstellen, wo die poetischen Wendungen metaphorisch, mehrdeutig, dunkel, phantastisch, womöglich konfus und deswegen – in einer prosaisch gewordenen Welt – ›an sich‹ auch nicht wahrheitsfähig sind. Dass die Verse als poetische Bilder noch eine Erkenntnis der realen Dinge formulieren könnten, dass aus »lebendigen Pfeilern [des Tempels der Natur] zuweilen wirren Worte dringen«, bleibt epistemologisch ausgeschlossen und in den Bereich poetischer Subjektivismen beziehungsweise der ornamentalen, figürlichen Rede verbannt.Footnote 29 Das Sprachverständnis der Wissenschaft umreißt Heidegger deswegen mit den lapidaren Sätzen: »Das Sagen der Sprache [wird] aus dem Hinblick auf die feststellende Aussage bestimmt. Alles, was sprachlich über den logischen Satzinhalt hinausgeht, [gilt] als bloßer Redeschmuck, als nachgetragene Umschreibung, als Übertragung (Metapher).«Footnote 30

Trotz dieses Triumphs des sensus literalis, der more geometrico verfahrenden Wissenschaften und der Hegelschen Diagnose vom Ende der Kunst, die in der aufgeklärten Gegenwart nur noch zum unterhaltsamen Schmuck der »Geschäfte des Lebens« taugt,Footnote 31 hat die Poesie als Versuch, die Wahrheit der wirklichen Welt in (und nicht einfach: mittels) Metaphern, in allegorischen Szenen und Analogien zu sagen, aber nicht aufgehört. Sie hat – von der Romantik bis zum Surrealismus, vom Dadaismus bis zum Cyber-Punk – weitergemacht und sich damit, wie ohnmächtig auch immer, gegen das Verdikt des illusionär spielerischen Als-ob, der Uneigentlichkeit, der exaltierten Ideale oder der subjektivistischen Phantasterei gewehrt.Footnote 32 Dabei hat sie sich stets auch gegen ihre Abschiebung ins ästhetisch-spielerische Reservat schön-geistiger, vom geschäftigen Leben und den »echten Wahrheiten« abgetrennter Kunst gewehrt. »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst« – für die literarischen Avantgarden mündet die klassische Sentenz zuletzt nur in jenen Zustand der bürgerlichen Gesellschaft, den Alfred Döblin 1929 wie folgt charakterisiert hat:

Der Künstler ist ein Idiot, man lasse ihn ruhig reden. […] Die Herren und Damen Künstler können ja schreiben und malen, was sie wollen; wir lassen es in Leder binden, lesen es uns durch oder hängen es an die Wand, darunter rauchen wir Zigaretten, die Bilder sind eventuell auch im Kunsthandel brauchbar. […] Die Künstler sind ja zufrieden mit der literarisch-ästhetischen Rolle, die sie spielen, besser: mit dem Halsbändchen und der Schlummerrolle, die man unseren lieben Schoßhündchen gegeben hat.Footnote 33

Seit der Romantik und dem Realismus des frühen 19. Jahrhunderts haben die literarischen Avantgarden diesem ästhetischen Schoßhündchen-Dasein, das heißt, der ontologischen Neutralisierung ihrer Wirklichkeitsdarstellung in der Welt widersprochen. Mehr oder weniger offen haben sie sich in diesem Widerspruch – mit Jacob Taubes müsste man fast sagen: logischerweise – dem ›welt-entzaubernden‘ Säkularisierungsprozess und dem damit verbundenen Wahrheitsbegriff entgegengestellt, der sie zu diesem Dasein verdammte.Footnote 34 Inmitten der fortschrittlichen Wissenschafts-Moderne haben sie auf der verdrängten metaphysischen und ›religiösen‹ Bedeutung der erscheinenden Dinge insistiert, das heißt, auf der überwirklichen Bedeutung der Realität und auf dem fortgesetzten Rätsel dessen, was erscheint.Footnote 35 Die Dinge sind nicht einfach das, wofür der gemeine Menschenverstand sie hält und als die er sie behandelt, wenn er mit ihnen handelt.

Baudelaires Notes nouvelles sur Edgar Poe von 1857 sind in diesem Zusammenhang exemplarisch. Sie entstammen keiner geschichtlich überwundenen Vormoderne, sondern antworten mit Poe dem prosaischen Naturalismus des 19. Jahrhunderts, den sie an das erinnern, was er verdrängt.

C’est cet admirable, cet immortel instinct du Beau qui nous fait considérer la Terre et ses spectacles comme un aperçu, comme une correspondance du ciel. La soif insatiable de tout ce qui est au-delà, et que révèle la vie, est la preuve la plus évidente de notre immortalité. C’est à la fois par la poésie et à travers la poésie, et par et à travers la musique que l’âme entreveoit les splendeurs situées derrière le tombeau.Footnote 36

Die religiösen Analogien sind kein Zufall. Sie sind strukturlogisch bedingt, nämlich von jenem Status her, den die Wissenschafts- und Fortschrittskultur der poetischen Rede zuweist. Wenn religiöse Referenzen in der modernen Literatur – in den Motiven, Figuren, narrativen Strukturen, generischen Bezügen, performativen Formen der Rede (Anruf, Gebet, Bitte, Klage, Jubel, Prophetie, Schrei)Footnote 37 – hartnäckig wiederkehren und wenn die Poesie dabei nicht aufhört, auf Formen des religiösen Sprechens zurückzugreifen, dann weil sie damit der Entwertung ihres anderen Wahr-Sagens entgegentritt, das die erscheinende Welt nicht als Deponie von Dingen resp. Waren, sondern als Sinn-Rätsel für Subjekte begreift. In der poetischen Sprache behauptet sich das, was die moderne Wissenschaft strukturell ausschließt: das Sprechen der Dinge zu Subjekten, die davon affiziert werden.Footnote 38 Die erscheinende Welt als Rätsel wahrzunehmen, als aenigma, heißt aber, ihr allegorisch zu begegnen.Footnote 39

Aus diesem Grund meinen die religiösen Zitate in der modernen Literatur nicht einfach je schon – das hieße, ihren Einspruch zu ignorieren – die säkulare Reduktion ehemals religiöser Gehalte, die in der Literatur kurzerhand um ihren sensus mysticus gebracht würden – was sich für die Gedichte Mallarmés oder Heyms, um zwei prominente Beispiel zu nennen, nur schwerlich behaupten lässt –, sondern sie sind genau umgekehrt, ungeachtet aller darin jeweils mitformulierten Theologie- und Kirchenkritik, die verstockte Behauptung der ›religiösen‹, sinnlich-übersinnlichen Welt inmitten der wissenschaftlich-säkularen. Alfred Döblin formulierte in diesem Sinne:

Wir haben die Kunstwerke aus der Realität in das Reich der Illusion […] gestoßen. Wir nennen das ›Leben‹ ernst und haben für die Kunst eine sehr dürftige und komische Heiterkeit reserviert. Wir lassen als ernste beschäftigte Menschen die Kunst gelten in unseren schwachen Stunden von 8‑10 Uhr abends, im Theater, oder bei Tag zwischendurch im Autobus. So haben wir es ja auch mit den religiösen Dingen gemacht. Für sie haben wir Sonntage und Feiertage eingerichtet und eine Anzahl Beamte zu ihrer Verwaltung angestellt. Nur steht es so, dass wie in der Religion so in der Kunst einige Leute die Situation durchschauen, und zwar ganz anders als die offiziellen Zeitgenossen Wie der fromme Sonntag nicht das letzte Wort der Religion ist, so ist der alte Vaihinger nicht das letzte Wort der Kunst.Footnote 40

Bei den religiösen Zitaten, Motiven, Allusionen und Bildern, wie sie in der literarischen Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts ebenso konstant wie poetologisch reflektiert auftauchen, handelt sich also nicht einfach – jedenfalls nicht per definitionem, wie eine substantialistische Moderne-Theorie glauben machen wollteFootnote 41 – um Metaphern und Periphrasen für rein innerweltliche, diesseitige Befindlichkeiten und Zusammenhänge, sondern um das Beharren auf deren überwirklicher, religiöser Bedeutung. Der Befund gilt für Kafkas Parabeln ebenso sehr wie für die Gedichte Elsa Lasker-Schülers, für Hugo Balls dadaistische Krippenspiele so sehr wir für Joseph Roths Legende vom Heiligen Trinker. Und noch pointierter gesagt: Die religiösen Zitate sind auch in der Moderne nicht einfach per se uneigentliche, sondern nach wie vor am Überwirklichen orientierte Rede. Rilkes Engel meinen nicht ›den Menschen‹, sondern – so steht es da – Engel. Brechts »sieben Todsünden« sind keine Metapher für falsche Verhaltensweisen unter anderen, sondern – so steht es da – sieben Todsünden, und zwar auch dann, wenn es Todsünden der kapitalistischen Religion oder des Kapitalismus als Religion sind. Celans Psalm ist kein uneigentliches Wort für freirhythmische Oden, sondern es ist ein Psalm mitsamt Gottesanrufung. Und was die Allegorie in der literarischen Moderne angeht, so bewahrt sie – von Eichendorff bis zu Aragon oder Celan – durchgängig ihren Bezug auf die Dimension des Überwirklichen. Sie hat gerade nicht, wie Baudelaire 1855 sagte, die Vorstellung dessen verloren, »was die Erscheinungen der physischen Welt von denen der geistigen, was das Natürliche von dem Übernatürlichen unterscheidet«.Footnote 42

Wenn es ein Problem gibt, dann stellt es sich jedenfalls nicht als Problem des irreversiblen Verdämmerns der sinnlich-übersinnlichen Welt, welche die allegorischen Sinnbilder – die Passionen, Grablegungen, Kreuzigungen, Wüstendurchquerungen, Legenden, Psalmen, Liturgien – nach wie vor in Szene setzen. Die »andere« Welt verschwindet nicht. Das Problem liegt vielmehr in der Frage nach der sozialen Garantieinstanz und nach der Legitimität des Bezugs zwischen Bild und Bedeutung, der in der Moderne – und genau hier greift der Begriff Säkularisierung in seinem konkreten historisch-politischen Sinn, nämlich als Prozess der Emanzipation von kirchlicher Herrschaft – nicht mehr hegemonial von den institutionalisierten Kirchen und ihrem exegetisch-theologischen Monopol verwaltet, kontrolliert und garantiert wird. Der Bezug zwischen Bild und Bedeutung erscheint deswegen individuell willkürlich, als ob man es mit lauter kleinen Privat-Theologien zu tun hätte, mit einem individualisierten Sammelsurium übernatürlicher Welten. So viele Autoren, so viele Theologien, so viele Über-Realitäten. Die Allegorie – als poetische Darstellung und als Wahrnehmung der Wirklichkeit, welche die Prosa der Wirklichkeit transfiguriert – wird in der Neuzeit deswegen in der Tat zunehmend okkasionell und fungibel, wie Taubes sagt. Die Bemühungen der modernen Poesie zielen deswegen immer wieder darauf ab, die Ökonomie der allegorischen Bilder verbindlich zu machen, und das heißt, sie erneut in einer ontologischen Wirklichkeit zu verankern. Sie setzt dabei in der Tat am »Anderen« der Vernunft an, als das Jürgen Habermas ein »kosmisch umgreifendes Bewusstsein«, die »Hoffnung auf das historische Ereignis einer erlösenden Botschaft« und die »Solidarität mit den Erniedrigten und Beleidigten« namhaft macht.Footnote 43

Ausgehend von diesen – zugegeben: schematischen und pointierten – Überlegungen lassen sich zunächst zwei komplementäre Thesen formulieren, die noch einmal an Jacob Taubes’ religionsgeschichtliche Kontextualisierung poetischer Bilder anknüpfen. Erstens, die Allegorie – sowohl als allegorische Wahrnehmung wie als Redefigur – verliert auch in der Moderne nicht ihren geschichtlichen Bezug zur Religion, jedenfalls nicht zwangsläufig. Im Gegenteil. Ihr erneuter Gebrauch in den literarischen Avantgarden – der Romantik, des Symbolismus, des Dadaismus, des Surrealismus – nach ihrer Abwertung in der klassischen Ästhetik zugunsten des anschaulicheren »Symbols« richtet sich vielmehr gegen die Reduktion der Welt aufs Säkulare. Zweitens, die Allegorie zielt damit in der Moderne auf eine Erneuerung des theologisch-metaphysischen Weltverständnisses und steht im (Traditions‑)Zusammenhang einer bis in die Spätantike zurückreichenden religiösen und theologischen Tradition, die sie nicht negiert, sondern kontinuierlich fortschreibt.Footnote 44

III.

Die bislang skizzierte Frage nach der Funktion der Allegorie in der Moderne beziehungsweise die beiden Thesen lassen sich exemplarisch von einer ebenso kuriosen wie schroffen Überlegung Simone Weils aus genauer fassen. Die Überlegung stammt aus einem Ende März, Anfang April 1942 entstandenen Aufsatz, der den Titel trägt: »Condition première d’un travail non servile«, »Grundbedingung einer nicht knechtischen Arbeit«. Simone Weil schreibt dort:

Das Universum, in dem die Arbeiter leben, verweigert in sich selbst jede Finalität. Es ist unmöglich, dass Zwecke in sie eindringen – es sei denn für kurze Perioden, die allerdings stets Ausnahmesituationen sind. […] Die Leere [proletarischer Arbeit, in der keine Finalität auftaucht und in der das Leben selbst zum Produktionsmittel wird] erzeugt Leiden. Man stirbt zwar nicht daran, aber dieses Leiden ist vielleicht ebenso schmerzlich wie der Hunger. Und vielleicht sogar noch mehr. Es ist wahrscheinlich buchstäblich wahr, wenn man sagt, dass das Brot für die Arbeiter weniger notwendig sei als ein Mittel gegen jenen Schmerz. Was die Gegenmittel angeht, so gibt es keine Wahl. Es gibt nur ein einziges. Eine einzige Sache macht die Monotonie erträglich, nämlich ein Licht aus der Ewigkeit, und dieses Licht ist die Schönheit.

Es gibt nur einen einzigen Fall, in dem die menschliche Natur es erträgt, dass der Wunsch der Seele sich nicht auf etwas richtet, was sein könnte oder sein wird, sondern auf das, was man schon hat. Und dieser Fall ist die Schönheit. Jedes Schöne ist Gegenstand des Wunsches. Aber man wünscht im Fall des Schönen gerade nicht, dass es anders sei, als es ist, und dass es sich ändert. Man wünscht nur das, was ist. Wünschend betrachtet man den Sternenhimmel in einer klaren Nacht, und das, was man sich wünscht, ist allein dieses Schauspiel, das man besitzt. Weil das Volk dazu gezwungen ist, all sein Wünschen auf das zu richten, was es hat, ist die Schönheit für das Volk und das Volk für die Schönheit gemacht. Für alle anderen sozialen Schichten ist die Poesie ein bloßer Luxus. Das Volk hingegen braucht die Poesie wie das tägliche Brot; nicht die in Worte eigeschlossene Poesie, mit denen es nichts anfangen kann. Dass die Substanz seines Alltags selbst Poesie sei, darin besteht das Bedürfnis des Volkes. Eine solche Poesie kann nur eine einzige Quelle haben, und diese Quelle ist Gott. Diese Poesie kann nur Religion sein. Durch keine einzige List, durch keine Maßnahme, durch keine Reform und durch keine Revolution kann die Finalität in die Welt der Arbeiter eindringen. Aber diese Welt kann sich an einem einzigen wahren Ziel festmachen, an Gott selbst. Das Sein der Arbeiter besteht darin, dass der Hunger nach Finalität, der die menschliche Natur bestimmt, in ihrer Welt nicht gestillt werden kann – es sein denn durch Gott.Footnote 45

Wie alle Texte Simone Weils, hat auch der gerade zitierte den Vorteil, unmittelbar zur Sache zu kommen, nämlich die Notwendigkeit von Poesie und Schönheit in technisch effizient lärmenden, ohne jeden poetischen Gedanken hergerichteten Fabrikhallen.

Weils Überlegung leuchtet unmittelbar ein. Die Arbeiter leben in einem Universum, in dem es materiell unmöglich ist, auf ein Ziel hin zu arbeiten, sich Zwecke zu setzen und das eigene Handeln dementsprechend zu orientieren. Sie haben über ihre bloße Existenz hinaus – in der man arbeiten muss, um zu essen, und essen, um wieder zu arbeiten – keinerlei Möglichkeit, etwas zu wünschen, obwohl der Wunsch [le désir] die einzige Energiequelle des Menschen ist, aus der er die Kraft für seine Anstrengungen bezieht.

Wenn die Existenz durch kein einziges Gut [auf das hin man arbeiten kann] mehr geschmückt wird, wenn sie völlig nackt ist, dann hat sie überhaupt keinen Bezug mehr zu einem erstrebenswerten Gut; sie wird zu einem Übel. Sie setzt sich dann an die Stelle jedes erstrebenswerten Gutes und wird sich selbst […] zum einzigen Gegenstand des Wunsches. Der Wunsch der Seele ist damit an ein Übel gebunden, und die Seele befindet sich im Zustand des reinen Horrors. […] [Wie früher die Sklaven, denen man nichts als das nackte Leben, im Tausch gegen ihre absolute Verfügbarkeit, ließ], kann man nach keinem anderen Gut mehr streben als nach dem der schieren Existenz.Footnote 46

Das Einzige, worauf die Arbeiter ihren Wunsch folglich richten können, ist das, was da ist. Was da ist, kann man sich aber nur dann wünschen, wenn man es als Gegenstand der Schönheit betrachtet. Der Vorschlag zur Verwandlung der industriellen Sklaverei in nicht-servile Arbeit lautet folgerichtig: Das Leiden an der sinn- und zwecklosen Existenz lässt sich nur durch eines heilen, nämlich durch die Schönheit der in der Welt sichtbar werdenden Transzendenz. Allein die Schönheit – als Inbegriff der in Gott vollendeten und erlösten Welt – vermag das innerweltliche Gefängnis aufzusprengen und es in seiner Monotonie erträglich zu machen.

Die Frage nun, wie die Poesie des Übernatürlichen in der alltäglichen Arbeitswelt entdeckt und betrachtet werden kann, beantwortet Weil mit einem konkreten Vorschlag. Und zwar schlägt sie ein umfassendes Programm zur Allegorese der Arbeitswelt vor – einer Allegorese, die den gestirnten Himmel an die Werkbänke, Fräsen und Lastenaufzüge versetzt.

Man kann natürlich keine religiösen Bilder in den Fabriken aufhängen und den Arbeitern sagen, sie sollten sie betrachten. Man kann ihnen auch nicht empfehlen, beim Arbeiten zu beten. Die einzigen wahrnehmbaren Gegenstände, auf die sie ihre Aufmerksamkeit richten können, sind die Stoffe, Werkzeuge, Maschinen und ihre eigenen Handgriffe. Wenn diese Gegenstände sich nicht in Spiegel des ewigen Lichts verwandeln lassen, ist es völlig unmöglich, dass bei der Arbeit sich die Aufmerksamkeit auf den Quell jeden Lichts richten kann. Nichts ist dringlicher und notwendiger als diese Verwandlung. Sie ist nur dann möglich, wenn sich in der Materie, so wie sie sich der menschlichen Arbeit darstellt, eine spiegelnde Eigenschaft findet. Denn es geht nicht darum, Fiktionen oder willkürliche Symbole zu fabrizieren. Fiktion, Imagination, Träumereien sind nirgendwo weniger am Platz als dort, wo es um die Wahrheit geht. Zu unserem Glück aber besitzt die Materie eine spiegelnde Eigenschaft.Footnote 47

[…] Die Gesetze der Mechanik, die sich aus der Geometrie ableiten und unsere Maschinen regieren, enthalten [solche] übernatürlichen Wahrheiten. Die Oszillation einer Wechselbewegung ist das Bild des irdischen Lebens. […] In den Geschöpfen […] gibt es nur Bewegungen, die auf ein Äußeres hin ausgerichtet sind, die aber durch ihre Begrenztheit dazu gezwungen sind zu oszillieren; diese Oszillation ist ein abgeschwächtes Abbild der Orientierung hin auf sich selbst, die Gott vorbehalten ist. Diese Verbindung nimmt in unseren Maschinen das Bild der Verbindung zwischen kreisförmiger Bewegung und Wechselbewegung an [wie zwischen einer Rotationsscheibe und einem Kolben]. Und der Kreis ist zugleich auch der Ort eines geometrischen Mittels. Um auf exakte Weise die mittlere Proportionale zwischen einer Größe oder einer Einheit und einer Zahl zu finden (die keine Quadratzahl ist), gibt es keine andere Methode, als einen Kreis zu zeichnen.Footnote 48 Die Zahlen, für die es keine natürliche Vermittlung zur Einheit gibt sind die Bilder unseres Elends; und der Kreis, der von außen, auf transzendente Weise bezüglich des Bereichs der Zahlen, eine Vermittlung bewirkt, ist das Bild des einzigen Gegenmittels gegen dieses Elend. Diese Wahrheit und noch viele andere sind dem einfachen Schauspiel einer rotierenden Scheibe, die in eine geradlinige Wechselbewegung umgesetzt wird, eingezeichnet. Sie können mittels elementarer geometrischer Kenntnisse gelesen werden. […] Und man könnte [durch die aufmerksame Betrachtung solcher Symbole] erreichen, dass die Frauen und Männer des Volkes ständig in einer Atmosphäre übernatürlicher Poesie leben, wie im Mittelalter, ja noch viel mehr als im Mittelalter.Footnote 49

Das Programm einer proletarischen Allegorese, das Weil 1942 kurz vor ihrer Flucht in die USA entwirft, mutet ebenso radikal wie verrückt und weltfremd an. Es antwortet allerdings einer historischen Situation, in der die Verzweiflung ebenso groß wie allgegenwärtig ist und die nach außergewöhnlichen Antworten verlangt. In seiner Radikalität und intellektuellen Aufrichtigkeit lässt es sich vermutlich nur dann angemessen begreifen, wenn man es auf jene radikale desillusionierende Erfahrung bezieht, die Simone Weil seit Beginn der 1930er Jahre – wie andere Linksintellektuelle auch – zu machen gezwungen war: nämlich die Erfahrung des anhaltenden, ausweglosen Scheiterns beziehungsweise der fortgesetzten Perversion der Revolution in der stalinistisch formierten Sowjetunion und die himmelschreiende Passivität der KPD beziehungsweise der deutschen Arbeiterbewegung gegenüber dem Nationalsozialismus, der seinerseits die monotone Welt des Proletariats im mörderischen Abenteuer des großen Krieges vergessen zu machen sucht. Für Simone Weil – dasselbe lässt sich auch für Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen behaupten – ist das realpolitische Experiment des revolutionären Sozialismus mit dem stalinistischen Terror, endgültig dann mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und dem Hitler-Stalin-Pakt am Ende.Footnote 50 Die Fragen der sozialen Misere der Arbeiter, der Revolution, einer gerechteren Gesellschaft müssen aus dem Abgrund der Katastrophe neu gestellt werden.

Bereits im Sommer 1932 hatte sich Simone Weil in Berlin vor Ort über die nationalsozialistische Bedrohung und das in ihren Augen skandalöse Versagen der deutschen Arbeiterbewegung informiert.Footnote 51 Durch ihre Freundschaft mit Boris Souvarine und intensive Gespräche mit Trotzki war sie ab Anfang der 1930er Jahre über die desaströsen Entwicklungen in der Sowjetunion unterrichtet. Auf die sich abzeichnende Niederlage des sozialistischen Projekts reagiert sie mit einer kritischen Analyse der Theoreme und Mythen der Arbeiterbewegung und nimmt dabei – insbesondere in ihren »Überlegungen über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung« von 1934 – einen Großteil jener Themen vorweg, welche die »New Left« der 1960er und 1970er Jahre dann erneut für sich entdecken wirdFootnote 52: die Entmystifizierung der Revolution, in deren Erwartung Weil vor allem ein Betäubungsmittel der Arbeiterschaft sieht; die Infragestellung des Technizismus beziehungsweise des Taylorismus; die Zurückweisung des Produktivismus sowie die Kritik des marxistischen Geschichtsbegriffs, in dem Weil eine sich selbst verkennende Fortschrittsreligion am Werk sieht, die dem idolatrischen Popanz der Produktivkräfte huldigt.Footnote 53 Ausgehend von ihrer Analyse der produktivistischen Repression kann Weil 1933 schreiben, dass Stalinismus und Nationalsozialismus starke Affinitäten besitzen und dass es keineswegs Zufall sei, wenn die deutschen Ökonomen aus dem Umkreis der den Nazis nahestehenden jungkonservativen Zeitschrift »Die Tat« die UdSSR als nachahmenswertes politisches Modell propagierten.Footnote 54 Weil schließt daraus 1933: »Noch nie hat der Sozialismus sich mit weniger Vorzeichen angekündigt.«Footnote 55

Was im Lauf der 1930er Jahre noch analytische Prognose war, ist 1942 Wirklichkeit. Der Sozialismus ist eine verratene Vergangenheit; in Deutschland und in Russland hat er sich in zwei monströse Imperialismen verwandelt.

Das revolutionäre Empfinden ist bei den meisten zunächst eine Revolte gegen die Ungerechtigkeit; bei vielen verwandelt es sich jedoch sehr schnell, wie man historisch sehen kann, in einen Arbeiterimperialismus, der dem nationalen Imperialismus vollkommen entspricht. Er zielt auf die unbegrenzte Herrschaft eines bestimmten Kollektivs über die gesamte Menschheit und über sämtliche Aspekte des menschlichen Lebens. Die Absurdität dieses Traums besteht darin, dass die Herrschaft in den Händen genau derer liegen soll, die stets nur Dinge auszuführen haben und die folglich – als Arbeiter – gerade nicht herrschen können. Als Revolte gegen die soziale Ungerechtigkeit ist die revolutionäre Idee vollkommen gerechtfertigt. Als Revolte gegen das substanzielle Unglück der proletarischen Existenz ist sie eine Lüge.Footnote 56

Es ist dieses politisch-historische, zugleich konzeptuelle Scheitern des Sozialismus in seiner marxistisch-leninistischen sowie stalinistischen Variante, ganz zu schweigen vom National-Sozialismus, vor dessen Hintergrund Simone Weil das Programm einer Allegorese beziehungsweise einer Poetisierung der proletarischen Existenz entwickelt – einschließlich der Bildung von Studienzirkeln und Theatergruppen für Arbeiter und Bauern, in denen das heilige und profane Wissen erworben werden kann, das für die allegorische Lektüre von Spulen und Kolben notwendig ist.Footnote 57

Verabschiedet werden dabei bislang maßgebliche theoretische Positionen: im Hinblick auf die christliche Religion, die Weil gegen jede Spielart von Religionskritik und Säkularismus rückhaltlos affirmiert, um sie zum Dreh- und Angelpunkt der Befreiung zu machen; sodann im Hinblick auf die Kunst, die Weil gegen jede Spielart von ästhetischem Subjektivismus als Allegorese der göttlichen Schöpfung begreift, schließlich im Hinblick auf die revolutionäre Utopie eines befreiten, menschenwürdigen Lebens, das nicht mehr geschichtsimmanent, sondern von der Transzendenz Christi und seinem Leiden um der Liebe willen her gedacht wird. Kunst und revolutionäre Befreiung werden aus dem konzeptuellen Rahmen einer Fortschrittsgeschichte herausgelöst und religiös re-fundiert.

Das Projekt mutet, wie gesagt, verrückt und weltfremd an. Aber das ist vollkommen beabsichtigt. Bei Weils Vorschlägen handelt es sich um ein genau durchdachtes Programm zur Herstellung von Weltfremdheit und Welt-Verrücktheit, das die proletarische Existenz mittels allegorisch-kontemplativer Lektüre in eine mönchisch-spirituelle, auf die Transzendenz des ewigen Lebens ausgerichtete verwandeln soll. »Die Gesellschaft insgesamt«, so Weil abschließend,

sollte derart umgestaltet werden, dass die Arbeit niemals diejenigen nach unten zieht, die sie ausführen. Es geht nicht nur darum, dass man den Arbeitern das Leiden erspart, sondern darum, dass man ihre Freude will. Nicht billige Vergnügungen und Zerstreuungen, sondern eine Freude, die den Geist der Armut unangetastet lässt. Das gesamte Leben der Arbeiter sollte in übernatürliche Poesie getaucht sein.Footnote 58

Die Arbeit industrieller Sklaven wäre damit eine Art exercitium spirituale, und das Proletariat Teil der communio sanctorum. Nicht geht es um den infantilen Wunsch nach der Beseitigung der Arbeit in einem utopisch-festiven Konsumenten-Schlaraffenland – das war die große Lüge des bisherigen Sozialismus –, sondern um deren spirituelle Transfiguration und Bejahung.

Insgesamt verweisen Weils Überlegungen zur proletarischen Allegorese noch einmal mit Nachdruck auf den befreiungstheologischen Kern des sozialistischen Kampfes für Gerechtigkeit – ein Kern, der sich bekanntlich auch in Brechts Lehrstücken und in der Lehre vom großen Einverständnis finden lässt, das die eigene Auslöschung und die Bejahung dieser Auslöschung fordert, also eine Art materialistischer Maximalaskese. Die eine Askese gibt der anderen höchstens insofern etwas nach, als die Brecht’sche in erster Linie als ars moriendi konzipiert ist, während es Weil eher um ein gutes christliches Leben geht. Zugleich lassen Weils Überlegungen sich aber auch im Kontext der Diskussionen um Wesen und Funktion der Kunst in der Moderne lesen, in die Weil ein christlich-mittelalterliches Allegorese-Modell als sozial-politisches Zukunftsprojekt wieder einführt, das poetische Schönheit und Religion substanziell wieder miteinander verknüpfen soll.

Die systematische Frage, die sich für die Kunsttheorie damit stellt, ist die nach dem Zusammenhang zwischen diesem affirmativen Bezug auf die Allegorie beziehungsweise die Allegorese mitsamt ihren religiösen Voraussetzungen und dem historischen Auftauchen des Proletariats, das Weil als das Subjekt einer neuen, nach-bürgerlichen Kunst anspricht. Es scheint kein Zufall zu sein, dass Simone Weil die religiöse Allegorese als Poesie des Volkes in Anspruch nimmt, und zwar im offenen Gegensatz zum institutionalisierten bürgerlichen Kunstbetrieb, den Weil kurzerhand ins Reich des unbrauchbaren Unwahren und Überflüssigen stößt. »Es geht nicht darum, Fiktionen oder willkürliche Symbole zu fabrizieren. Fiktion, Imagination, Träumereien sind nirgendwo weniger am Platz als dort, wo es um die Wahrheit geht.«Footnote 59 Poesie – heißt das im Umkehrschluss – bezieht sich entweder auf die Wahrheit der geknechteten Welt, oder sie bleibt das, wozu sie in der bürgerlichen Welt verdammt ist: willkürliches, illusionierendes Spiel subjektiver Imagination und belangloses ästhetisches Vergnügen.

Weils christliches Allegorese- und Poesie-Projekt ist in der Tat nur denkbar unter der Bedingung, dass man an der ungebrochenen Wahrheit der Religion und ihren übernatürlichen Zusammenhängen festhält, dass man also festhält an der Formel »ens et unum et verum et bonum et pulchrum convertuntur.« Die Insistenz auf der Religion in Sachen der Kunst und die Zurückweisung der Säkularisierung – im Sinn einer rein innerweltlich gedachten Welt – steht dabei offenkundig in einem substanziellen Zusammenhang mit der Tatsache des Proletariats, das heißt, mit der Tatsache, dass es eine Klasse von Menschen gibt, die nach wie vor eminent erlösungsbedürftig sind: unfrei, leidend, geknechtet, gezwungen zu arbeiten für andere, ausgeschlossen aus der Welt der Finalität. Das Proletariat, so könnte man zugespitzt vielleicht sagen, ist der lebendige Beweis dafür, dass es Bedürfnisse und ein Leiden jenseits des nackten Lebens und seiner Reproduktion gibt; Bedürfnisse, die in der gegebenen Welt nicht und nie gestillt sind und die sich deswegen auch auf eine andere, kommende Welt richten.Footnote 60 Kurzum, das Proletariat ist Symptom des Ungenügens der Welt, wie sie ist, und ein natürlicher Komplize nicht nur radikaler revolutionärer Bewegungen, sondern zugleich auch der Poesie und der Religion, jedenfalls dann, wenn man Religion und Poesie in dem – romantischen – Sinn fasst, den Joseph von Eichendorff ihnen in seiner Literaturgeschichte von 1857 gegeben hat. Eichendorff schrieb:

Es geht durch alle Völker und Zeiten ein unabweisbares Gefühl von der Ungenüge des irdischen Daseins und daher das tiefe Bedürfnis, dasselbe an ein Höheres über diesem Leben, das Diesseits an ein Jenseits anzuknüpfen, Vergangenheit und Gegenwart beständig mit der geheimnisvollen Zukunft zu vermitteln. Und dieses Streben […] ist eben das Wesen der Religion. Wo aber dieses religiöse Gefühl wahrhaft lebendig ist, wird es sich nicht mit müßiger Sehnsucht begnügen, sondern in allen bedeutenderen Erscheinungen des Lebens sich abspiegeln; am entschiedensten in der Poesie, deren Aufgabe, wenngleich auf anderem Gebiet und mit anderen Mitteln, offenbar mit jenem Grundwesen der Religion zusammenfällt, also in ihrem Kern selbst religiös ist.Footnote 61

Dass das Proletariat – als handfestes Symptom des irdischen Ungenügens – unmittelbare Affinitäten zu Religion und Poesie besitzt, leuchtet von Eichendorffs Bestimmungen her ein. Wogegen es sich durch seine schiere Existenz als Proletariat sperrt und was es massiv behindert, ist das behagliche Sich-Einrichten in der Welt, von der man nicht behaupten kann, dass sie von sich aus schon gut und vernünftig, menschlich und wunschlos glücklich sei. Gegen die Welt, wie sie ist, behauptet die hässliche Tatsache des Proletariats deren Imperfektion und deren Elend.

Das größte Leiden der Arbeiter, das Simone Weil namhaft macht, und zwar ausgehend von ihrem Fabriktagebuch beziehungsweise ihrer Arbeitserfahrung der Jahre 1934 und 1935, und das – neben der Verweigerung jeden Besitzes und der ständigen Demütigung – auch den größten Einspruch gegen die Unerträglichkeit der Welt bildet, ist aber nicht die Ausbeutung und die erpresste Mehr-Arbeit, sondern es ist: l’Ennui, also die Lustlosigkeit, der Verdruss, die monotone Langeweile, die Sehnsucht nach einem Anderen. In einem Diskussionsbeitrag aus dem Jahr 1937 zum Projekt einer unpolitischen Einheitsgewerkschaft – die sie ablehnt – schreibt Weil:

Welche moralischen Leiden, über die konkreten Lohninteressen hinaus, haben die Arbeiter eigentlich zu den [gewerkschaftlichen] Aktionen getrieben, die wir in den letzten Jahren gesehen haben? Das Leiden, das hier an allererster Stelle steht, ist l’Ennui, die Langeweile, der Verdruss, die Unlust; die Arbeiter langweilen sich. […] Die Arbeiter sind nicht mehr in der Lage, etwas zu wünschen, sie erleiden eine Art von moralischem Tod. […] Sie hassen ihren Arbeitsplatz, an dem sie täglich zu stehen haben, genau so, wie ein Gefangener die Mauern seiner Zelle hasst.Footnote 62

Das moralische Leiden des entmenschlichenden Ennui ist es, das vom sinn- und ausweglosen Gefängnis der monotonen, aufgezwungenen Arbeit hervorgebracht wird. Das Leben wird darin reduziert auf ein stumpfes, angewidertes Vegetieren ohne Ziele und Entwürfe. Genau dieses Leiden am Ennui aber ist, so Weil, die größte Triebfeder des gewerkschaftspolitischen Engagements. Den Arbeitern gehe es weniger um Lohnzuschläge und Arbeitszeitverkürzungen, auch wenn sie konkret darum kämpfen, als um die andere, »mehr oder weniger ferne, stets vage Perspektive eines vollständigen Umsturzes, der ein völlig neues, frischeres und lebendigeres Leben voller Enthusiasmus herbeiführte«Footnote 63. Anders gesagt, die Idee der Revolution, die vor allem die sehr unbestimmte und vage Vorstellung eines neuen Lebens und einer neuen Welt beinhaltet, nährt sich vom Leiden am Ennui. Und die Arbeiter haben, allen politischen und ökonomischen Vernünfteleien zum Trotz, alles Recht der Welt, sich dem horrenden, unmenschlichen Ennui zu widersetzen, und zwar, wie Weil formuliert, mit Bildern der Gewalt, »à l’aide d’images violentes«Footnote 64.

IV.

Der proletarische Ennui, der gewalttätige Bilder oder Vorstellungen destruktiver Gewalt erzeugt, ist nicht nur das größte Leiden der Arbeiter, sondern der Ennui steht auch am Beginn der avantgardistischen Poesie, nämlich am Beginn der Fleurs du Mal. Im Widmungsgedicht »Au Lecteur«, das die Sammlung, eröffnet, heißt es:

Verse

Verse Dans la ménagerie infâme de nos vices, Il en est un plus laid, plus méchant, plus immonde ! Quoiqu’il ne pousse ni grands gestes ni grands cris, Il ferait volontiers de la terre un débris Et dans un bâillement avalerait le monde; C’est l’Ennui – l’œil chargé d’un pleur involontaire, Il rêve d’échafauds en fumant son houka, Tu le connais, lecteur, ce monstre délicat, – Hypocrite lecteur, – mon semblable, – mon frère !Footnote

Charles Baudelaire, »Au Lecteur«, in: Ders., Die Blumen des Bösen / Les Fleurs du Mal (Anm. 28), 10.

Baudelaires Ennui ist zwar ein raffiniert luxuriöses, blasiertes Monster, das an exotischen Wasserpfeifen und im lässigen Nichtstun entsteht, nicht in schmutzigen Fabrikhallen; er geht nicht unmittelbar hervor aus der dumpfen Monotonie der Fabrikarbeit. Aber er nährt sich – und das geht über eine zufällige Homonymie hinaus – vom Leiden an derselben Welt der industriellen Warenproduktion, dessen hässliches, körperliches Symptom das Proletariat ist und dessen Arbeit, nicht anders als die des Müßiggängers, gekennzeichnet ist – Walter Benjamin hat es in seiner Studie »Über einige Motive bei Baudelaire« herausgestellt – von der »Vergeblichkeit, der Leere, dem Nicht-vollenden-dürfen«.Footnote 66 Und der Ennui der gelangweilten Haschischraucher oder -esser bringt nicht weniger gewalttätige, die Schreckensszenen der Revolution evozierende Bilder hervor als der Ennui der Arbeiter. »Il ferait volontiers de la terre un débris / […] Il rêve d’échafauds.« Anders gesagt, der Ennui der Baudelaire’schen Lüstlinge, der soziologisch in die Bohème und nicht ins Arbeitsproletariat gehört, entspringt gleichwohl derselben Welt, die sowohl die Arbeit als auch die Kunst in abstrakte Waren verwandelt und beide dabei entwertet.Footnote 67 Es ist der Ennui der Warenwelt, der sich wie Mehltau über das Bewusstsein all jener legt, die nicht ans Glück der bürgerlichen, liberalen Moderne glauben können – sei es, weil sie, wie die in die Fabriken gezwungenen Proleten, darin den schreienden Mangel und die Misere inkarnieren müssen, sei es, weil sie, wie die Poeten, als Mittler einer anderen Welt in der Welt überflüssig werden. Ihre poetischen Elevationen werden linkisch und lächerlich. Und derjenige, der, wie es in Baudelaires »Erhebung« heißt, »über dem Leben schwebt und mühelos die Sprache der Blumen und der stummen Dinge versteht«Footnote 68 wird zum Gespött aller vernünftigen Leute, für die es nämlich als ausgemacht gilt, dass die stummen Dinge nicht sprechen können und dass ein allegorisches Weltverständnis heillos zurückgebliebenes Mittelalter ist – oder eben nostalgische Romantik.

Dass und wie Baudelaire mit seiner Insistenz auf der völligen Unbrauchbarkeit und Unberührbarkeit des Kunstwerks auf den Triumph des Kapitalismus und die Ankunft der ubiquitären Warenwelt reagiert hat, hat Giorgio Agamben ausgehend von Baudelaires Artikeln über die Weltausstellung von 1855 gezeigt.

Die Größe Baudelaires angesichts des unaufhaltsamen Vordringens der Ware besteht darin, auf diese Invasion geantwortet zu haben mit der Verwandlung des Kunstwerks selbst in eine Ware und in einen Fetisch. Anders gesagt, Baudelaire hat bis ins Kunstwerk hinein den Gebrauchswert vom Tauschwert getrennt und dessen traditionelle Autorität von seiner Authentizität geschieden. Von hier aus wird die Polemik Baudelaires gegen jede utilitaristische Interpretation des Kunstwerks und die Hartnäckigkeit verständlich, mit der er verkündet, dass die Poesie keinen anderen Zweck als sich selbst habe. Von hier aus auch die Insistenz auf dem völlig Unbegreiflichen der ästhetischen Erfahrung und seine Theorie des Schönen als einer augenblicklichen, unerforschlichen Epiphanie. Die Aura kalter Unberührbarkeit, die das Kunstwerk seither umgibt, ist das Äquivalent des Fetischcharakters, welcher der Ware durch ihren Tauschwert zukommt. Was indes Baudelaires Entdeckung wahrhaft revolutionär macht, ist die Tatsache, dass er sich nicht damit begnügt, im Kunstwerk die Spaltung zwischen Tauschwert und Gebrauchswert zu reproduzieren. Baudelaire unternahm es, eine Ware zu kreieren, deren Tauschwert sich vollkommen mit ihrem Gebrauchswert deckt, eine gewissermaßen absolute Ware, in welcher der Prozess der Fetischisierung bis an jenen Punkt getrieben ist, wo er die Realität der Ware als solcher annulliert. Denn eine Ware, in welcher der Gebrauchswert und der Tauschwert sich gegenseitig annullieren, eine Ware, deren Wert einzig darin besteht, zu absolut keinem Gebrauch gut zu sein, und deren Gebrauch allein in ihrer vollkommenen Unberührbarkeit besteht, ist keine Ware mehr. Die Verwandlung des Kunstwerks in eine absolute Ware bedeutet zugleich auch die radikalste Abschaffung der Ware.Footnote 69

Die Verwandlung des Kunstwerks in eine absolute, sich selbst annullierende Ware betrifft zunächst dessen gewollt a‑sozialen Status, der in der hochmütig bejahten, lasterhaften und sündigen Zurückweisung jeder sozialen Funktion besteht, in der Ablehnung jeder Teilhabe am Menschenverkehr und an dessen Ökonomie. Auf der Ebene der poetischen Form und der Gehalte des lyrischen Kunstwerks entspricht dieser rebellischen Asozialität zum einen die artistische Perfektion und Makellosigkeit in der Handhabung des Metrums, der Reime, der Strophenform, der rhetorischen Figuren, der Stilistik, das heißt eine Sprache, deren Gestalt von nachgerade göttlicher, ebenso unerreichbarer wie unberührbarer Vollkommenheit ist und die den Dichter zur Apotheose verführt. Zum anderen entspricht ihr – auf der Ebene der Gehalte – der Rückgriff auf das sozial Verpönte, Ausgeschlossene und vollkommen Nutzlose: das Sakrale, das Kriminelle, das Widerliche, das Sündige. Baudelaire bejaht letzteres bekanntlich im doppelten Sinn: als tatsächliche Sünde, die Gewissenbisse erzeugt, zugleich aber auch als das, dem alle – Leser und Autor – auf ihrem Weg in die Hölle völlig willenlos und ohne jede mögliche Alternative ergeben sind, aus lauter Ennui auf dem weichen Kissen des Bösen, auf dem Satan Trismegistos sie wiegt. »Nos repentirs sont lâches«. Etwas anderes ist deswegen nicht möglich, weil in der gefängnisartigen Geschlossenheit und ständigen Zirkulation der Warenwelt einzig die vollendete Nutzlosigkeit noch auf den Fehl einer Finalität der Dinge aufmerksam machen kann.

Entscheidend ist die Motivation des hochmütigen artistischen Einspruchs und der asozialen Rebellion gegen die utilitaristische Welt, die alles in verwertbare Ware verwandelt. Sie ist leicht auszumachen und einigermaßen fromm. Das Baudelaire’sche »l’art pour l’art« lehnt sich auf – und zwar im satanischen Hass – gegen genau jene unaufhaltsame, alles in sich ziehende Decodierungs‑, Destruktions- und Umkehrungslogik, wie das Kommunistische Manifest sie 1847 beschrieben hat.

Die Bourgeoisie […] hat […] kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‘. Sie […] hat alle bisher […] mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. […] Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. […] Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.Footnote 70

Die nüchternen Augen, die Marx und Engels als Sendboten der materialistischen Wahrheit begrüßen und als historische Notwendigkeit gutheißen, bleiben in den Fleurs du Mal aber gerade nicht nüchtern. Sie verwandeln sich, wenn sie das immense Zerstörungswerk des höllischen Fortschritts betrachten,Footnote 71 in böse, blutunterlaufene Augen, die das Hässliche, Gemeine, Lasterhafte und Schamlose der Gegenwart sehen – um es als Böses zu affirmieren, das heißt, um es explizit als blendendes Satanswerk zu feiern und damit ex negativo, nämlich im funkelnden Reflex des Bösen, ans verschwundene Gute zu erinnern.Footnote 72 Das Böse ist das Böse dieser Welt, das seinen Namen stets verneint, um es unter anderen Ehrentiteln fleißig zu propagieren: Fortschritt, Verbesserung der Menschheit, Zivilisation, Wohlstand, Kultur, Wissenschaft, Rationalität, Demokratie, Moderne. Und deren Kehrseite heißen: Prostitution, Ausbeutung, Egoismus, Elend, Versklavung, Raub, Krieg, Verbrechen, Gier – oder auch, so die erste Zeile der Fleurs du Mal: »La sottise, l’erreur, le péché, la lésine.«

Das größte Laster unter allen, welche die Warenwelt hervorbringt, ist, wie gesagt aber: l’Ennui, der blasierte, träumende Ekel an der Welt, der sich dem Fürsten derselben Welt ergibt, um sich, willenlos an seinen Fäden hängend, von den widerlichsten Dingen ködern zu lassen.

Verse

Verse Sur l’oreiller du mal c’est Satan Trismégiste Qui berce longuement notre esprit enchanté, Et le riche métal de notre volonté Est tout vaporisé par ce savant chimiste. C’est le Diable qui tient les fils qui nous remuent ! Aux objets répugnants nous trouvons des appas; Chaque jour vers l’Enfer nous descendons d’un pas, Sans horreur, à travers des ténèbres qui puent.Footnote

Baudelaire, »Au Lecteur« (Anm. 66), 8.

Die Logik der alchimistischen Umkehrung oder Perversion, die gerade aus dem Bösen das Schöne herausdestilliert, antwortet dem Verschwinden des Guten und Schönen aus einer Welt, die kein Jenseits und keinen metaphysischen Himmel mehr kennt beziehungsweise die beide nur noch im Modus des zynisch Profanierten kennt. Die Geste Baudelaires besteht darin, die metaphysische Schließung oder, anders gesagt, die ungeheuerliche Korruption Gottes im Dienst der Verhältnisse zur Kenntnis zu nehmen, ihr allerdings den Titel des Guten zu entziehen, um stattdessen Satan als Herrscher an- und auszurufen. Wenn die Himmlischen sich nicht mehr erweichen lassen, muss man die Hölle und ihren Fürsten in Bewegung setzen. Archeronta movebo.

V.

So unterschiedlich die Weil’schen Allegorien der Arbeitswelt und Baudelaires satanische Bilder auch sind – der ascensus hier, der descensus dort, die Überwindung des Ennui durch Allegorese auf der einen Seite, die satanische Hingabe an die bösen Blumen, die aus dem Ennui erwachsen, auf der anderen –, so kommen doch beide darin überein, der Welt der frenetisch zirkulierenden Waren religiöse Sinn-Bilder entgegenzustellen, welche die Welt, wie sie ist, auf eine andere beziehen, um sie – als Gefängnis des Säkularen – aufzusprengen. Jedenfalls widersprechen sie nicht den beiden vorläufig formulierten Thesen: Erstens, die Allegorie verliert auch in der Moderne ihren Bezug zur Religion nicht, sie richtet sich vielmehr gegen die Reduktion der Welt aufs Säkulare; zweitens, die Allegorie zielt in der Moderne auf eine Erneuerung des metaphysischen Weltverständnisses.

Und man kann noch eine dritte These hinzufügen: Diese Erneuerung heftet sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts an genau das, was in der Welt hässlich, gemein, böse und widerlich ist und das genau deswegen – als Hässliches und Gemeines – auf eine andere Welt verwiesen bleibt. Ein anderer Name für dieses Hässliche, welches das Ungenügen der Welt, wie sie ist, inkarniert, ist in der industriellen Moderne das Proletariat. Es ist das Symptom der unschönen, hässlichen, elenden, unfertigen und – vor allem – der unerlösten Welt. Ihr antwortet zum einen das Beharren der Poesie auf der Allegorie, die jedes Wort und Ding über sich selbst hinaus noch auf ein anderes seiner selbst verweist. Zum anderen antwortet ihr die Allianz der Poesie mit dem Proletariat, dessen revolutionäre Hoffnung auf das Ende der gegebenen Welt sie gerade im Ennui teilt. Diese Hoffnung zeichnet sich einer Dialektik der Säkularisierung ein: Nicht das Religiöse verdampft ins säkulare Kunst-Schöne, sondern das Schöne behauptet im Säkularen die fortwährende Gegenwart des Religiösen. Aus der hässlichen Welt macht sie satanisch leuchtende Blumen, fleurs du Mal.

Walter Benjamin hat in seiner Studie »Über einige Motive bei Baudelaire« von 1939 diese Dialektik wie folgt beschrieben: »Was Baudelaire mit den correspondances im Sinn hatte, kann als eine Erfahrung bezeichnet werden, die sich krisensicher zu etablieren versucht. Möglich ist sie nur im Bereich des Kultischen. Dringt sie über diesen Bereich hinaus, so stellt sie sich als ›das Schöne‹ dar. Im Schönen erscheint der Kultwert als Wert der Kunst.«Footnote 74