I.

Ein Brief

Ernst Cassirer sandte seine 1937 im Göteborger Exil publizierte Studie Determinismus und Indeterminismus in der modernen PhysikFootnote 1 an zahlreiche Atomphysiker. Koryphäen wie Max Born, Werner Heisenberg, Niels Bohr sowie dessen ehemaliger Schüler Hendrik Kramers, Max von Laue oder Albert Einstein haben jeweils ein Exemplar erhalten. In den überlieferten Antwortschreiben der Naturwissenschaftler finden sich neben fallweise wenig substanziellen DankesschreibenFootnote 2 auch umfangreiche Kommentare, welche das Interesse der Physiker an der Rezeption ihrer Forschungen jenseits der Fachgrenzen belegen.Footnote 3 Ein Brief sticht aus diesen interdisziplinären Korrespondenzen besonders hervor, verfasst am 09. Mai 1937 vom Nobelpreisträger Erwin Schrödinger,Footnote 4 der nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seinen reputierlichen Berliner Lehrstuhl für theoretische Physik aufgegeben und Deutschland Richtung Oxford verlassen hatte. Schrödinger – in der wissenschaftshistorischen Rückschau oft als einzelgängerischer Querdenker der damals noch überschaubaren Zunft charakterisiertFootnote 5 und wechselweise als Vertreter einer konservativen Anschaulichkeitsphysik, als Ästhet, Dichter und transdisziplinärer Universalist wahrgenommenFootnote 6 – findet gegenüber dem Ordinarius für Philosophie kritischere Worte als seine Fachgenossen. Er selbst könne dessen Studie eigentlich nichts Nennenswertes hinzufügen, oder eher: angesichts der Flut an Beiträgen zur Philosophie der Quantenphysik wolle er das gar nicht. Mit Komplimenten hält Schrödinger sich zurück, ja bewegt sich beinahe an der Grenze zur Unhöflichkeit und scheut sich nicht, mit dem Kollegen harsch ins Gericht zu gehen: Recht unverblümt bringt er etwa seinen Unmut darüber zum Ausdruck, dass »gerade einem Philosophen das unendlich angeschwollene Tam-tam der modernen Quantenphysik« eigentlich offensichtliche Übereinstimmungen bestimmter Deutungsansätze verdecken würde. Der durchwegs raue Ton verwundert umso mehr, als die beiden Wissenschaftler sich während ihres zeitgleichen Exilaufenthalts an der britischen Eliteuniversität persönlich begegnet sind und sich dort kollegial-freundschaftlich über das Sujet ausgetauscht haben dürften.Footnote 7

Im Zentrum des dreiseitigen Typoskripts steht eine polemische Belehrung Schrödingers über die angeblich ablehnende Haltung der modernen Naturwissenschaftler gegenüber den »Kategorientafeln älterer Philosophen, die noch keine Ahnung hatten von dem, was aus der Erkenntnis heute geworden ist«. Dem zeitgenössischen Physiker scheinen solche »feinen Begriffsschemata«, oder, wie er Cassirer gegenüber maliziös spezifiziert, »jedes Zitat z.B. aus Kant«, »fast so veraltet und unnütz wie ein Adressbuch aus den achziger [sic] Jahren«. Zur Veranschaulichung dieser angeblich traditionsskeptischen Haltung bemüht Schrödinger ein recht martialisches Bild: »Wir haben das Gefühl, in der vordersten Linie zu stehen, einen, sagen wir, Tank‑, Flugzeug- und Gaskrieg zu führen, und können nur schwer überzeugt werden, dass wir aus den strategischen Werken jener, die mit Schwert und Speer, mit Helm und Panzer zu Felde zogen, für unsere heutigen Aufgaben viel Nutzen ziehen können.«Footnote 8 Die in der wir-Form, also im Namen der »echte[n] Naturforscher von heute«, bekundete Abneigung gegenüber der »Literatur« und allem, was aus einer »ähnlichen Hexenküche« stamme, wirkt auf den ersten Blick wie ein Zeugnis der nicht einmal zwanzig Jahre später virulent werdenden Kontroverse um die »Two Cultures«.Footnote 9 Der Physiker scheint sich selbst, seine Disziplin und ihre am laufenden Band neues und verwertbares Wissen hervorbringenden Techniken von den langlebigeren, mit hohem kulturellen Kapital ausgestatteten geisteswissenschaftlich-literarischen Wissensformationen abzugrenzen. Entgegen diesem ersten Deutungsimpuls möchten wir das schroffe Dankesschreiben Schrödingers an Cassirer jedoch nicht zum Anlass nehmen, in anachronistischer Weise die modernen »Science Wars« in die 1930er-Jahre zurück zu projizieren. Vielmehr wollen wir hinter die vermeintlich klar gezogenen Frontlinien blicken und am Beispiel Schrödingers gängige Diskursstränge und interdisziplinäre Berührungshorizonte ausleuchten, um so ein differenziertes Bild des Beziehungsgefüges von Physik und Literatur im frühen 20. Jahrhundert zu entwickeln. Nicht zuletzt soll geklärt werden, wie zeit- oder vielleicht auch unzeitgemäß die von Schrödinger so ostentativ postulierte »Verachtung gegen die Literatur« unter den »echten Naturforscher[n] von heute« denn nun wirklich war.

II.

Schrödinger und die Literatur

Wirft man einen auch nur oberflächlichen Blick in die publizierten und nachgelassenen Schriften Erwin Schrödingers und seiner Fachkollegen, so regen sich schnell Zweifel an der behaupteten a‑literarischen Gesinnung der damaligen Physik. Schrödingers pauschalisierende Bemerkungen erstaunen umso mehr, als er selbst seine Arbeiten nicht nur mit damals selbstverständlichem bildungsbürgerlichen Kanonwissen garnierte,Footnote 10 sondern sich immer wieder als Feingeist mit umfassenden literarisch-philosophischen Interessen auswies, der umgekehrt auch von zeitgenössischen Literaten rezipiert wurde – insbesondere was sein etwa ab 1940 entstandenes, eher essayistisch-interdisziplinär angelegtes Spätwerk betrifft.Footnote 11

Berührungspunkte zwischen Physik und Literatur, die von losen Affinitäten über wechselseitige Rezeptionen bis hin zu personell nachverfolgbaren Kontakten reichen, sind in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedenfalls allgegenwärtig.Footnote 12 Oft reichen sie weit über die im Briefwechsel mit Cassirer thematisierten philosophischen und epistemologischen Implikationen der Quantentheorie hinaus. So ist beispielsweise Schrödingers Lektüre der physikalisch recht gehaltvollen Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull verbrieft, aus denen er in seinen Notizbüchern einige Passagen exzerpiert hat.Footnote 13 Thomas Mann wiederum, dessen Bewunderung für zeitgenössische Forscher wie Albert Einstein sogar fotografisch dokumentiert ist,Footnote 14 war nur einer von vielen Schriftstellern, die sich intensiv mit den wissenschaftlichen Revolutionen ihrer Zeit auseinandersetzten und dabei auch in Lektüre-Kontakt mit Schrödinger geraten konnten.Footnote 15 So vermerkte etwa Robert Musil, seinerseits bekanntlich einschlägig vorgebildet, zufrieden in seinem Tagebuch: »Ich lese – nach Abschluß des I Bdes. MoE. – in Der Koralle (Dez. 1929) eine Plauderei von Erwin Schrödinger Mitgl. d. Preuss. Ak. d. Wiss. über ›Das Gesetz der Zufälle‹. Danach ist die Frage Kausal- oder statistisches Gesetz jetzt sehr aktuell.«Footnote 16 Die Notiz sowie die anschließende Abschrift einer Passage des Artikels könnte man als weiteren Beleg für Musils mathematisch-physikalische Neigungen und sein literarisches Gespür für das wissenschaftsphilosophische Klima der 1920er-Jahre lesen. Mit Blick auf die hier diskutierten Fragen ist der Kommentar des Schriftstellers indes in erster Linie als Hinweis auf eine gewisse Stilsicherheit Schrödingers im Umgang mit neuen Formaten wie den reichhaltig bebilderten, populärwissenschaftlichen Illustrierten von Bedeutung:Footnote 17 Die versierte Bespielung moderner medialer Formen erweist sich, gerade bei prominenten, manchmal ikonischen Forscherpersönlichkeiten wie Schrödinger,Footnote 18 als wichtiger Faktor, der das Interesse einer fachfremden Öffentlichkeit an disziplinären Entwicklungen und Debatten positiv beeinflusste. Schrödingers journalistisch-schmissige, in Zeitschriften wie der Koralle, den Naturwissenschaften oder der Uhu-Umschau veröffentlichte Artikel zur Doppelnatur des Lichts, zu Elektrizität oder Kausalität und Zufall in der Physik sind in dieser Hinsicht durchaus wissensvermittelnden Ansätzen der jüngeren Vergangenheit vergleichbar, wie sie sich etwa bei Stephen Hawking, Anton Zeilinger oder, ganz aktuell, dem Virologen Christian Drosten festmachen lassen. Dass Schrödinger dabei gerne die Techniken der Literatur in den Dienst der Didaxe stellte, wurde und wird immer wieder auch von Fachkollegen hervorgehoben, beispielsweise vom Mathematiker Detlef Dürr, der Schrödingers vielzitierten Aufsatz zur »Gegenwärtigen Situation in der Quantenmechanik« als »literarisch« einstuft: »Formeln findet man [dort] nur ab und an«.Footnote 19 Der hinsichtlich seiner Auslegung der neuen Physik als konservativ geltende, mitunter sogar als »regressiv«Footnote 20 abgekanzelte Schrödinger entpuppt sich als moderner Wissenschaftskommunikator, der mit seinen flott geschriebenen, kokettierendenFootnote 21 Zeitschriften-Artikeln auf den Zug der Zeit aufgesprungen ist.

In seinem konkreten Umgang mit literarischen Werken und Formen ist Schrödinger hingegen kaum als Trendsetter zu bezeichnen. Viele der überlieferten Zeugnisse lassen sich einem weit verbreiteten Modell literarisch affizierter naturwissenschaftlicher Selbstdarstellung zuordnen, an das selbst heutige Wissenschaftler/innen fallweise noch anknüpfen.Footnote 22 So verarbeitete Schrödinger in seinen philosophischen Reflexionen, in Briefen und in nachgelassenen Notizen spätestens seit den 1920er-Jahren ein Sammelsurium an geistes- und literaturgeschichtlich bedeutsamen Werken und Formen, das von den indischen Veden über die Schriften kanonisierter Autoren bis hin zu zeitgenössischen Neuerscheinungen reicht: Die bereits 1918 begonnenen Notizen zur indischen Philosophie zeugen von seinen Schopenhauer-inspirierten Lektüren der Upanischaden. Shakespeare und Goethe fanden ebenso selbstverständlich Eingang in seine Briefe und populären Aufsätze wie Grillparzer oder Zola. Ähnlich wie der Goethe-Liebhaber Werner HeisenbergFootnote 23 in seiner dialogisch strukturierten Autobiografie knüpfte Schrödinger in seinem nachgelassenen Entwurf »ΓΕΣΠRΗΧΕ ΥΒΕΡ ΔΕΝ ΤΩΔ« (Transkription in lateinische Buchstaben: »Gespräche über den Tod«) an die traditionsreiche literarische Form des antiken Lehrdialogs an.Footnote 24 Kurz vor seinem Tod griff er das im 20. Jahrhundert gerade unter Naturwissenschaftlern florierende Genre der Autobiografie auf und schrieb einen essayistisch-philosophischen Lebensabriss. Und bereits in den 1940er-Jahren wies er sich auch öffentlich nicht nur als Literaturkenner, sondern als aktiver Poet aus, indem er ein Bändchen mit formal recht traditionellen Gedichten, zumeist Liebeslyrik, oft in Sonettform, veröffentlichte – übrigens im Verlag Helmut Küpper, der in der Nachfolge von Georg Bondi die Verlegung von Stefan Georges Werk weiterbetreute.Footnote 25

III.

Schrödinger und die (Kultur)Wissenschaftskultur der damaligen Zeit

Schrödinger ist in seinem Rückgriff auf Literatur, wie bereits angedeutet, alles andere als ein Einzelfall. Es verwundert daher nicht, dass auch die modernen Literatur- und Kulturwissenschaften die Entwicklung von Quanten- und Relativitätstheorie in den Blick genommen haben und sich für Korrelationen zwischen Wandlungen im Weltbild der Physik und zeitgenössischen literarisch-künstlerischen Innovationen interessieren.Footnote 26 Etwas erstaunlicher ist schon der Umstand, dass sie damit, manchmal ohne es zu wissen, an allgemeine (wissenschafts)kulturanalytische Reflexionen der betreffenden Physiker anschließen. Zumeist essayistisch angelegt, sind solche Texte vor dem Hintergrund der jeweiligen individuellen Lebens- und Leseerfahrung zu verstehen, erreichten fallweise aber auch ein systematisches Erkenntnisniveau. So hatte Erwin Schrödinger in allgemein verständlichen Aufsätzen schon früh eine Interpenetration verschiedener gesellschaftlicher Sphären postuliert, besonders prominent in seinem 1932 in Schriftform veröffentlichten Vortrag »Ist die Naturwissenschaft milieubedingt?«.Footnote 27 Ausgehend von der Beobachtung, dass der Physiker nicht nur als Forscher in seinem universitären Elfenbeinturm, sondern auch als Romane lesendes, Musik oder Kunst rezipierendes, Politik treibendes, gesellschaftlich aktives »Mitglied[] eines Kulturmilieus« agiere und als solches seine wissenschaftlichen Forschungen unter spezifischen, kulturell bedingten Interessenskonstellationen betreibe, diagnostizierte Schrödinger eine milieuspezifische Formatierung wissenschaftlicher Arbeit. Es bedürfe »eine[r] ganz spezielle[n] Interesseneinstellung […], um von den vielen möglichen Fragen, die man an die Natur stellen kann, einige für augenblicklich sehr belangreich und wichtig, andere für belanglos zu halten.«Footnote 28 Diese These an einigen Beispielen exemplifizierend, verschaltet der Aufsatz etwa die bürokratische Verwaltung der Massen samt ihren Praktiken der Registratur, Erfassung etc. mit dem Aufschwung der Statistik in der Physik oder verbindet unter dem Stichwort »reine Sachlichkeit« gefasste Tendenzen in der modernen Kunst und Architektur, die sich u.a. durch ihren Mut zur ornamentlosen, leeren Fläche auszeichnen, mit einem schwindenden »horror vacui« der modernen Physik und der zunehmenden Akzeptanz prinzipieller, erkenntnistheoretisch fundierter Leerstellen im Wissen über die Natur.

Eine solche Verknüpfung von Ästhetik, Gesellschaft und Wissenschaft, heute, wenn man will, lesbar als eine intuitive Form der Wissenspoetologie avant la lettre, wirkt bei einem Physiker der damaligen Zeit zunächst einmal ausgesprochen modern. Jedoch darf nicht vergessen werden, dass Schrödingers Überlegungen zur Milieubedingtheit der Naturwissenschaft oder auch Cassirers bis 1936 abgeschlossene Studie zum (In)Determinismus der modernen Physik letztlich nur zwei von vielen Versuchen im frühen 20. Jahrhundert waren, die bahnbrechenden Erkenntnisse der neuen Physik wissenschaftstheoretisch zu systematisieren, zu historisieren und zu kulturalisieren.Footnote 29 Es waren nicht selten ›Naturforscher‹ selbst, wie die zum Standardrepertoire der heutigen Wissenschaftsgeschichte avancierten Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck oder Gaston Bachelard, die sich aus verschiedenen Perspektiven um eine adäquate Verortung der Forschungen ihrer Zeit bemühten – und die allgemein verständlichen Schriften der Physiker ebenso studiertenFootnote 30 wie umgekehrt etwa Schrödinger schon als junger Forscher Wissenschaftsphilosophen wie Pierre Duhem rezipierte und sogar rezensierte.Footnote 31 Schrödingers Brief an Cassirer jedenfalls lässt bereits im Jahr 1937 deutlich den Überdruss des Physikers an den Debatten um seine Disziplin erkennen: »Es mag an einer Übersättigung mit – fremden und eigenen – die prinzipiellen Fragen meiner Wissenschaft betreffenden Gedanken liegen, einer Übersättigung, die durch das schmerzliche Bewusstsein, bei alledem doch nicht satt geworden zu sein, sich langsam zum Widerwillen gegen weitere Nahrungsaufnahme steigert.«Footnote 32

Solcher Abneigung gegenüber zeitgenössischer Physiker-Philosophie und Philosophen-Physik zum Trotz lag Schrödinger mit seinem Vortrag zur Milieubedingtheit seiner Disziplin durchaus im Trend seiner Zeit. Der Text fügt sich in die von Hans-Jörg Rheinberger konstatierte Konjunktur epistemologischer Reflexionen im frühen 20. JahrhundertFootnote 33 – auch wenn Schrödinger dem gewählten Genre entsprechend eher offene Thesen in den Raum stellte als sie im Detail zu belegen, auch wenn er ohne Anspruch auf methodische Fundierung argumentierte und die neueren Tendenzen seiner Disziplin anders als etwa Fleck weniger mit einem »historischen Index« (Rheinberger) versah als mit einem sozio-kulturellen. Es ist bezeichnend für die Diversität der zeitgenössischen Debatte um die (Natur)Wissenschaftskultur, dass neben Fachgenossen aus der Physik auch Ludwik Fleck durchaus kritisch auf Schrödingers Überlegungen reagierte und die von Letzterem postulierten stilistischen Verwandtschaftsbezüge zwischen verschiedenen Gesellschaftsbereichen infrage stellte: »ein solcher – eher künstlerischer und literarischer als wissenschaftlicher Ansatz, […] der auf einem intuitiven Erfühlen von Gemeinsamkeiten […] und Zusammenhängen beruht […], eignet sich noch nicht für die Forschung. Zu viel Literarisches und Beliebiges ist darin: Aus einem schönen Text herausgerissene Sätze überzeugen, kalt betrachtet, niemanden. Der Forschungsgegenstand löst sich auf, verschwindet wie ein spiritistisches Trugbild im Tageslicht.«Footnote 34

Zu beachten ist indes, dass sich Flecks Kritik an Schrödinger generell gegen einen seit der Jahrhundertwende ubiquitär gewordenen Stilbegriff richtet, der ursprünglich kunstgeschichtlich konnotiert war, nun aber auch in der Epistemologie Anwendung fand. In Abgrenzung davon bezieht sich der Fleck’sche Begriff des ›Denkstils‹ sehr präzise und eng auf einzelne (Sub‑)Disziplinen und ihre jeweiligen ›Denkkollektive‹, die weniger mit Blick auf vage Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten mit anderen Bereichen des menschlichen Lebens denn in ihren konkreten, fachspezifischen Besonderheiten und Differenzen zueinander erfasst werden sollen. Unabhängig davon, ob sie berechtigt ist, liefert Flecks Kritik einen Ansatzpunkt zur Präzisierung der hier aufgeworfenen Frage nach historischen Entwicklungen im Verhältnis der modernen Physik zur Literatur. Denn wenn die Feststellung von positiven Bezügen der Naturwissenschaftler auf Literatur und entsprechenden Affinitäten zwischen Physik, Literatur und Kunst heutzutage fast schon als Gemeinplatz zu bezeichnen ist, der bereits zur damaligen Zeit von Forschern diverser fachlicher Provenienz zum Gegenstand jeweils unterschiedlich perspektivierter Reflexionen gemacht wurde, bedarf es womöglich einer Verengung des analytischen Fokus. Eine erste Möglichkeit wäre zu fragen, ob Schrödinger (ebenso wie Cassirer) eigentlich ›die‹ Physik an sich bzw. den Physiker im Allgemeinen im Blick hatte, oder aber einen spezifisch historisierbaren Typus, nämlich den theoretisch arbeitenden Physiker, dessen alltägliche Arbeitspraxis völlig andere mediale und technische Bedingungen erforderte als die auf das Labor und darin durchgeführte Operationen konzentrierte Tätigkeit des Experimentalphysikers. Lassen sich in der noch kleinen Gemeinschaft der theoretischen Physik, die sich mit den bahnbrechenden Erkenntnissen Plancks und Einsteins als institutionell eigenständige Subdisziplin etablieren konnte und sich seither – gerade im deutschen Sprachraum – zunehmend von der Experimentalphysik abgrenzte,Footnote 35 Eigenheiten im Verhältnis zu Literatur, Sprache und damit verbundenen Wissensformationen feststellen? Und sind diese Besonderheiten, um Schrödinger und Fleck gewissermaßen zur Synthese zu bringen, möglicherweise charakteristisch für den ›Denkstil‹ der modernen theoretischen Physik?

IV.

Schrödinger und die Philologie

Innerhalb der theoretischen Physik wurde die Entwicklung der Quantentheorie von ausgedehnten Debatten um eine adäquate Beschreibung intuitiv nicht zugänglicher Phänomene begleitet: Zwar konnte die Quantenphysik mathematisch präzise erfasst werden, doch scheiterten die Physiker an der Übersetzung der Formalismen in die Alltagssprache mit ihren auf Anschauung und Sinneserfahrung fußenden klassischen Begrifflichkeiten. Von der intensiven Auseinandersetzung mit dem problematischen Verhältnis von Sprache und Naturerkenntnis zeugen neben themenspezifischen Aufsätzen der Physiker auch Briefe und retrospektive Reflexionen,Footnote 36 welche eine Vielfalt unterschiedlicher Positionen in Detailfragen und damit verbundene Grabenkämpfe innerhalb der jungen Subdisziplin sichtbar machen. Werner Heisenberg etwa kolportiert in seiner Autobiografie die Anekdote, dass Erwin Schrödinger, während eines Gastaufenthalts in Kopenhagen erkrankt und von Niels Bohrs Frau gepflegt, die Diskussionen um die Möglichkeit einer anschaulichen Interpretation der Quantenmechanik mit dem dänischen Kollegen noch im Krankenbett fortsetzen musste.Footnote 37 In einem Brief an den Kollegen und Freund Max Born beschließt Schrödinger wiederum süffisant seine Ausführungen zu einer Bohr’schen Passage, in der dieser die notwendige, dabei jedoch, so zumindest Bohr, stets ungenügende Beschreibung jeglicher Beobachtung in »common language« hervorhebt: »Der eminente Physiker Niels Bohr wird als ›Philosopher-Scientist‹ von Seiten seiner Physikerkollegen eminent überschätzt. Das [Bohrs Überschätzung, MMG] ist ein sehr gewöhnlicher Sachverhalt, der sich in gewöhnlicher Umgangssprache sehr leicht beschreiben und begründen läßt.«Footnote 38

Die atomphysikalischen Rekurse auf Sprache sind in ihrer Ausprägung und Funktion überaus vielschichtig; sie beschränken sich keineswegs auf zeittypische Reflexionen über die ›Grenzen der Sprache‹ sowie damit verbundene epistemologische Ansätze einer quantentheoretisch fundierten ›(Sprach‑)Philosophie der Physiker‹:Footnote 39 Ein mikroskopischer Blick in physikalische Fachschriften offenbart eine fast schon symptomatische Häufung von sprachbezogenen Genitivattributen wie »Sprache der Wellen«, »Sprache der Teilchen«, »Sprache der Aethertheorie«, »Sprache der bisherigen Theorie«, »Sprache der Elektronenbahnentheorie« etc.Footnote 40 Das Konzept der ›Sprache‹ mit ihrem Wortschatz, ihrem grammatikalischen Regelwerk und insbesondere dem darin eingeschlossenen Translationspotenzial bildete für die Quantenphysiker offenbar einen wichtigen Referenzbereich, um sich über die Erstellung und Übertragung verschiedener (mathematischer) Ansätze zur Beschreibung physikalischer Phänomene zu verständigen, die dem sprachlich beschränkten Alltagsverstand, dem gemeinen Logos, nicht mehr zugänglich waren.Footnote 41

Interessant ist vor allem, dass jenseits solch metaphorischer Konzeptionen auch natürliche Sprachen an sich eine nicht unerhebliche Rolle im Werk der Atomphysiker spielen – und zwar nicht nur in beiläufigen »Versuch[en] einer vernünftigen Schreibung des Englischen«,Footnote 42 wie sie sich beispielsweise im Nachlass Schrödingers finden. Während nach Ansicht mancher Wissenschaftshistoriker die Mathematik im Begriff war, sich als ›Muttersprache der durchrationalisierten Moderne‹Footnote 43 zu etablieren, kultivierte ein Großteil der theoretischen Physiker, deren Kerngeschäft gerade in jener Mathematisierung bestand, auch schon vor etwaigen Exilerfahrungen eine grundständige Form der Polyglottie. Diese war bemerkenswerterweise keineswegs nur dem lebendigen internationalen Wissensaustausch dienlich, sondern zeichnete sich durch eine auffällige Affinität zu den Toten bzw. Alten Sprachen aus, insbesondere zum Griechischen. Im Fall Schrödingers tritt diese Neigung etwa in wissenschaftshistorischen Versuchen mit Titeln wie »2400 Jahre Quantentheorie«Footnote 44 zutage, in denen er gängige Interpretationen der Quantenmechanik mit der griechischen Atomistik verschaltete und mitunter sogar vorsokratische Fragmente in Originalsprache zitierte. Auch die im Nachlass erhaltenen »griechischen Präparationen« aus Schrödingers Wiener Gymnasialzeit, in denen sich u.a. seine Mitschriften zur griechischen Naturphilosophie finden, lassen auf den hohen Stellenwert schließen, den der Physiker dem Altgriechischen zuschrieb. Besonders eindrücklich zeugen Schrödingers Annotationen in thematisch einschlägigen FremdseparataFootnote 45 sowie seine Angewohnheit, Notizbücher mit griechischen Titeln bzw. Lettern zu versehen, von seinem anhaltenden Philhellenismus.

Der im Brief an Cassirer behaupteten Abneigung des »echten Naturforscher[s] von heute« gegen überkommene philosophische Begriffsschemata zum Trotz beschäftigte sich Schrödinger also selbst in ähnlich intensiver Weise wie Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli oder Carl Friedrich von Weizsäcker mit der Naturphilosophie und Sprache des Altertums. Und auch wenn die theoretische Physik der damaligen Zeit mit Blick auf die jeweils bevorzugten philosophisch-literarischen »Hexenküchen« durchaus verschiedene Geschmäcker ausprägte,Footnote 46 hatte Schrödinger wohl recht, wenn er seine Faszination von der griechischen Antike und ihrer Sprache in seinen öffentlichen Vorträgen zu »Nature and the Greeks« innerhalb eines »trend of thought rooted somehow in the intellectual situation of our time« verortete.Footnote 47 Ähnlich wie seine Beobachtungen zur soziokulturellen Bedingtheit naturwissenschaftlicher Forschungstätigkeit zeugt diese Einschätzung vom feinen Sensorium des Physikers für das eigene Sozialmilieu und die zeitgenössische Wissenschaftskultur: Im Werk der deutschsprachigen Gründerväter der modernen Atomphysik lassen sich in der Tat erstaunlich dichte Spuren ihrer Affinität nicht nur zu Literatur, Sprache und Text, sondern auch und vor allem zur Textwissenschaft, also zur (klassischen) Philologie fassen. Im Folgenden wollen wir, wiederum am Beispiel Schrödingers, zeigen, auf welche Weise die theoretischen Physiker jener Zeit philologische Wissensformationen für ihre Forschungs- und Publikationspraxis fruchtbar machten.Footnote 48

In einem ersten Schritt gehen wir der Frage nach, wie die Physiker dem Anschauungs- und Versprachlichungsproblem der modernen Quantenphysik mittels ihres humanistischen Bildungsreservoirs zu Leibe rückten. Ernst Cassirer hat in seinen wissenschaftsphilosophischen Schriften wiederholt betont, dass im Zuge der Entwicklung von Relativitäts- und Quantentheorie eine »Physik der Bilder und Modelle« von einer »Physik der Prinzipien« abgelöst worden sei.Footnote 49 Der darin eingeschlossenen epistemologischen Ambivalenzen war sich der Philosoph bewusst: In der auch Schrödinger zugesandten Schrift Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik verwies er mit Blick auf Du Bois Reymond, der ja mit seinem »Ignoramus et Ignorabimus« im frühen 20. Jahrhundert intensiv rezipiert wurde, auf die »Hypostase« der grundlegenden Erkenntnisinstrumente »Sprache und Bild«. »In dieser Hypostase« werde »das Instrument«, im Fall der theoretischen Physik also der mathematische Formalismus, »zu einer selbständigen, eigentümlichen und eigenwilligen Kraft, die den Menschen in ihren Bann zieht. […] Das Symbolische wird zum Magischen«. Und weiter: »So merkwürdig und paradox es scheinen mag, so ist doch selbst die ›abstrakteste‹ Symbolbildung von diesem Zwange zum unmittelbar Bildhaften, und damit von dem Zwange zur Verdinglichung, nicht frei.«Footnote 50 Hier lassen sich durchaus Verbindungen zu Schrödingers Positionen in der aufgeladenen Anschaulichkeitsdebatte der Quantenphysik ziehen: Der vielseitige Theoretiker wehrte sich schließlich zeit seines Lebens gegen den ›Bildersturm‹ seiner Fachgenossen, die das Beharren auf der Möglichkeit einer »anschaulichen« Beschreibung quantenphysikalischer Phänomene vereinzelt als regressive Sehnsucht nach den alten Vertrautheiten der klassischen Physik abtaten.Footnote 51 Schrödingers an mehreren Stellen explizit formulierte Epistemologie der Anschauung blieb nicht nur graue Theorie, sondern fand ihren Niederschlag auch in seiner anschauungszentrierten Forschungs- und Darstellungspraxis. So benutzte er mit Vorliebe Bilder, auch sprachlicher Natur – Metaphern, Vergleiche etc. –, um schwierige wissenschaftliche Tatsachen dem interessierten Laien, aber auch dem Fachmann verständlich zu machen.Footnote 52 Gerade die griechische Antike bot ihm ein reichhaltiges Reservoir an Inspirationen: Mythisch-surreale Fabelwesen eigneten sich beispielsweise hervorragend, um alogische quantenmechanische Phänomene zu versinnbildlichen und damit dem Alltagsverstand zugänglicher zu machen.Footnote 53 In Einzelfällen ließ sich – so z.B. im Fall einer gekritzelten Chimäre, die als Sinnbild des ›unmöglichen‹ Welle-Teilchen-Dualismus Bohrs Komplementaritätsprinzip ins Lächerliche zieht – mit derartigen Übertragungen literarischen Kanonwissens noch eine Kritik an der quasi-religiösen Dogmatik verbinden, mit der, zumindest aus Schrödingers Perspektive, Bohrs Anhänger die Kopenhagener Deutung zum Glaubenssatz hypostasierten, der mathematischen Formulierung den Primat einräumten und allein schon die Möglichkeit einer anschaulichen Interpretation in Abrede stellten.Footnote 54

Unabhängig von erkenntnistheoretischen Divergenzen ließen sich neben Schrödinger auch andere Physiker von philologischen Inhalten inspirieren. Werner Heisenberg, um nur ein Beispiel zu nennen, war vor allem nachsokratischen Inspirationsquellen zugänglich und stilisierte in der autobiografischen Rückschau seine frühmorgendlichen Timaios-Lektüren zum atomphysikalischen Erweckungserlebnis.Footnote 55 Inhaltlich-konzeptuell griff er immer wieder auf Platon oder Aristoteles zurück und sprach beispielsweise bei der Beschreibung der Wellenfunktion ψ und der daraus ableitbaren Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons von einer »quantitativen Fassung des Begriffs der δύναμις, […] der ›potentia‹ in der Philosophie des Aristoteles.«Footnote 56 Ähnlich funktionalisierte Verweise auf altgriechische Begriffswelten – diesmal jedoch auf vorsokratische und insbesondere Heraklitische – finden sich auch bei Schrödinger, in wissenschaftshistorischen bzw. -philosophischen Aufsätzen ebenso wie im schriftlichen Austausch mit Kollegen.Footnote 57 In einem Brief aus dem Jahr 1952 an Max Born etwa setzte Schrödinger sich mit einem ihm zugesandten Manuskript zu einem Vortrag auseinander, den der Freund einige Monate früher in London zum Problem der Physical Reality gehalten hatte:Footnote 58

p. 20: »It has under certain circumstances not a distinct individuality. «

To this I say

Gibt’s etwas [sic!] da ein Weniger oder Mehr?

In any circumstances whatsoever I have to use – im Prinzip – the antisymmetric wave function.

Summary: Trotz meiner vielen Einwände bin ich mit dem Grundgedanken sehr einverstanden. Wenn Du’s zur Hand hast, lies einmal in der ebengenannten Abhandlung (Besonderheit des Weltbildes . . . ) meine Heraklit-Interpretation (p. 225) nach. Philologisch mag sie unzutreffend sein, aber dem Sinn nach deckt sie sich mit Deiner Auffassung. Invarianten = το κοινον.Footnote 59

Diese merkwürdig zusammengezimmert wirkende Passage ist typisch für den Kommentarstil des lesenden Kritikers Schrödinger: Seine schriftlichen Diskussionsbeiträge schließen jeweils an einzelne, durch Seitenverweise näher bestimmte, besprechungswürdige Zitate aus dem Text des Kollegen an. Zugleich bündelt der versatzstückhafte Abschnitt exemplarisch die bisher andiskutierten – unspezifischen wie spezifischeren – Aspekte des Wechselverhältnisses zwischen Naturwissenschaft und Literatur, (theoretischer) Physik und Philologie. So zeichnet sich die Passage zunächst durch ein recht selbstverständliches Oszillieren zwischen der Muttersprache und der Sprache des Exillandes aus. Dabei handelt es sich freilich nicht um ein subdisziplinäres Charakteristikum: Die Sprachkompetenz Schrödingers, der schon als kleines Kind im Englischen geschult wurdeFootnote 60 und neben Latein und Altgriechisch auch Französisch, Spanisch und Italienisch zumindest passiv ausgezeichnet beherrschte, mitunter sogar Aufsätze in den jeweiligen Sprachen schrieb bzw. Selbstübersetzungen anfertigte, stellt lediglich einen Extremfall bildungsbürgerlicher Multilingualität dar. Ebenso typisch für die gelehrte Kommunikation jener Zeit sind literarhistorische Rekurse, mit denen man oft und gerne seine Korrespondenzen würzte – im konkreten Fall mit einer (wenn auch etwas schief, weil vermutlich aus dem Gedächtnis) zitierten Schillerzeile aus dem »Verschleierten Bildnis zu Sais«.Footnote 61 Während diese Lesefrucht kaum inhaltliche Funktionen hat, sondern eher das Kanonwissen des gelehrten Briefeschreibers vorführt, ist der Verweis auf Heraklit bzw. Schrödingers eigene Heraklit-Auslegung semantisch vielschichtiger – und bezeichnend für den Umgang der theoretischen Physiker jener Zeit mit philologischen Wissensformationen. Es handelt sich nicht um ein argumentum ad verecundiam im engeren Sinn, vielmehr bedient sich Schrödinger hier eines aus der frühesten Philosophiegeschichte überlieferten Konzepts, welches die von ihm behauptete »Überlappung« der individuellen Wirklichkeiten, i.e. die intersubjektive Realität, vermeintlich präziser zu fassen vermag als eine Beschreibung »in common language«, sei es nun in deutscher oder englischer. Gleichwohl ist die formelhaft mit einem Ist-gleich-Zeichen suggerierte Passgenauigkeit des Heraklitischen Konzepts weniger auf tatsächliche begriffliche Präzision denn vielmehr auf systematische Vagheit und Ungenauigkeit zurückzuführen:Footnote 62 Wie Schrödingers Hinweis auf die philologische Fragwürdigkeit seiner »Interpretationen« andeutet, führt nicht zuletzt die im Fall der Vorsokratiker sehr zweifelhafte Quellenlage dazu, dass seine Auslegung eben nur eine von mehreren möglichen ist – allen philologischen Geschicks zum Trotz, über das der Physiker als ehemaliger Klassenprimus und ausgezeichneter Altgriechisch-SchülerFootnote 63 selbstverständlich verfügte. Das Gleichheitszeichen suggeriert Identität, wo Schrödinger sich de facto im interpretativen Spielraum bewegt. Die auf solche Weise zutage tretende Dissonanz zwischen vermeintlich exakter Mathematik und interpretierender Sprache, zwischen ›harter‹ Rechen- und ›weicher‹ philologischer Interpretationsarbeit, klingt interessanterweise bereits in einigen polemischen Passagen im Werk Friedrich Nietzsches an. Als »alte[r] Philologe[], der von der Bosheit nicht lassen« konnte, nutzte dieser nämlich zeitweise die Gelegenheit, seine Kollegen aus der Physik zu kritisieren, auf deren »schlechte Interpretations-Künste den Finger« zu legen – und en passant entsprechende disziplinäre Zuschreibungen auf den Kopf zu stellen: »aber jene ›Gesetzmässigkeit der Natur‹, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob – – besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten ›Philologie‹, – sie ist kein Thatbestand, kein ›Text‹, vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt!«Footnote 64

Was Schrödingers Liebäugelei mit der Philologie betrifft, lässt sich wiederum festhalten, dass gerade die Vagheit von bruchstückhaft tradiertem Wissen in den von ihm hergestellten Transformationszusammenhängen kein epistemisches Manko darstellte – ganz im Gegenteil: Sie dürfte mit dafür verantwortlich sein, dass antike und insbesondere vorsokratische Motive und Konzeptionen eine gewisse Attraktivität für die Übertragung in quantenphysikalische (Kon‑)Texte entfalten konnten. Deutungsoffene, semantisch ambivalente Fragmente ließen sich je nach Standpunkt zur Beschreibung mathematisch-physikalischer Entitäten oder für erkenntnistheoretische Überlegungen fruchtbar machen. Indes beschränkte sich das interdisziplinäre Transformationspotenzial der seit dem 19. Jahrhundert florierenden Philologien keineswegs auf philologisch erschlossene literarische Motive und philosophische Begriffsschemata. Auch die Operationen und Techniken, mithilfe derer philologisches Wissen gesammelt, organisiert, verwaltet und hervorgebracht wurde, erwiesen sich für die theoretische Physik des frühen 20. Jahrhunderts als anschlussfähig. Eine sehr eigenwillige Form von ›Goethe-Rezeption‹ in der von Robert Musil erwähnten Schrödinger’schen »Plauderei«, die in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Die Koralle veröffentlicht worden war,Footnote 65 ist dafür symptomatisch. In dem kurzen, auf den Kontext der Illustrierten abgestimmten Artikel veranschaulicht Schrödinger am Beispiel einer in einer Bibliothek aufgestellten Goethe-Ausgabe statistische Grundlagen. An der (berechenbaren) Verteilung der ursprünglich zusammen im Regal aufgestellten Gesamtausgabe nach zufälligem Herausnehmen und Wieder-Einstellen einzelner Bände führt er vor, dass auch der Zufall, der dem interessierten Laien der damaligen Zeit zumindest vom Hörensagen als Schreckgespenst des klassischen Physikers und seines Kausalitätsprinzips bekannt war, bestimmten Gesetzmäßigkeiten (eben der Statistik) unterliegt. »Goethe« muss hier also nicht als Spender geflügelter Worte, als Identifikationsfigur des universell gebildeten Naturforschers oder gar als Kronzeuge nationaler ExzeptionalitätFootnote 66 herhalten. »Goethe« steht hier vielmehr für ein qua Autorschaft als zusammengehörig markiertes Ensemble von Dingen (im Schrödinger’schen Bild: von Büchern), die durch das »Gesetz des Zufalls« innerhalb eines größeren Ensembles permutiert werden. Dieser Rekurs auf Goethe ist symptomatisch für die Philologie-Bezogenheit der (theoretischen!) Physiker im Umgang mit Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: Zur Illustration der physikalischen Gesetzmäßigkeiten greift Schrödinger eben nicht auf vom Material losgelöste, dem Bildungsbürgertum der damaligen Zeit vertraute geistige Inhalte zurück, sondern auf »Goethe« als ›Objekt‹ – und auf die Wissens(an)ordnung der Bibliothek, innerhalb derer dieses Objekt nach bestimmten Kriterien einsortiert wird (oder eben nicht). Damit ruft er weniger ein literarisches Register denn ein philologisch-textwissenschaftliches auf – samt der damit verknüpften Praktiken, wie sie insbesondere die klassische Editionsphilologie ein paar Dekaden vorher im Zuge der Erschließung, Verwaltung und Bearbeitung rasant anwachsender, dabei aber fragmentarischer und höchst unsicherer Quellenbestände ausgebildet hatte.Footnote 67 Es dürfte jedenfalls kein Zufall sein, dass Schrödinger in seinem Aufsatz zur »Besonderheit des Weltbilds der Naturwissenschaft« auf die zeitliche Koinzidenz der »mühevolle[n], sichtende[n] Sammlung« der Vorsokratiker-Fragmente durch den berühmten Altphilologen Hermann Diels mit der »Lebenszeit Machs« hinweist.Footnote 68 Denn ähnlich wie die Philologie war auch die klassische Physik, die im 19. Jahrhundert bereits als abgeschlossen galt, mit explodierenden Datenmengen, neuen Erkenntnissen und damit verbundenen Verunsicherungen konfrontiert. Diese trugen maßgeblich zu den wissenschaftlichen Revolutionen der Quanten- und Relativitätstheorie sowie zur universitären Etablierung der theoretischen Physik bei, die noch um 1900 den Status eines ungeliebten Sidecuts der Experimentalphysik innehatte. Nicht zuletzt machten sie sich jedoch auf praktischer Ebene bemerkbar: Im Umgang mit sich beständig vergrößernden, schwierig einsortierbaren, unklaren und interpretationsoffenen Wissensbeständen war die Entwicklung neuer Arbeitstechniken unumgänglich geworden.

Schrödingers didaktisches Bild von der Goethe-Ausgabe verweist bereits auf eine gewisse philologisch affizierte Praxis- und Materialbezogenheit der theoretischen Physik jener Zeit. Nichtsdestoweniger operiert es selbst, als anschauliches Gleichnis in einem populärwissenschaftlichen Aufsatz, das der Illustration von komplexen mathematischen Sachverhalten dient, auf der Ebene der Sprache. Die vielfältigen Ausprägungen der ›Philologie der Physiker‹ geben hingegen Anlass zu der Vermutung, dass die von uns postulierte Affinität von theoretischer Physik und Philologie über eine eher intuitiv wahrnehmbare, ästhetisch-stilistische Verwandtschaftsbeziehung hinausgeht. Dafür spricht der Umstand, dass die Neigung der theoretischen Physiker zum Literarisch-Philologischen selbst in ihrer wissenschaftlichen Arbeitspraxis manifest werden konnte. Hinweise darauf finden sich etwa in Schrödingers Notizheften, die aufschlussreiche Titel wie »ΓΛΩΣΣΗ« (Transkription: »Glosse«, übersetzt: »Zunge, Sprachfertigkeit, Sprache«) tragen,Footnote 69 und neben literarischen Versuchen beispielsweise Notizen zum »Bedeutungswandel« von Wörtern oder zum Verhältnis von »Sprache und Begriffen« enthalten. Als besonders aufschlussreich erweist sich eine Mappe, die an der Zentralbibliothek für Physik der Universität Wien als Kopie verwahrt wird und im digitalen Nachlass-System PHAIDRA nicht erfasst ist. In dem Heft, das mit dem Wort »ΡΟΙHΣΙΣ« (Transkription: »Poiesis«) übertitelt ist, finden sich viele Gedichte, datiert auf das Jahr 1928 und damit auf die Hochphase von Schrödingers wissenschaftlicher Produktivität. Das zeigt zunächst einmal, dass Schrödingers literarische Ambitionen nicht nur dem gängigen Format der gelehrten Alterslyrik zuzuordnen sind, dessen sich viele Wissenschaftler seiner Generation bedienten: Selbst in Zeiten beruflicher Auslastung und wissenschaftlichen Engagements war der Physiker poetisch aktiv. Bemerkenswerter ist allerdings der Umstand, dass Schrödinger seine im weiteren Sinn ›literarischen‹ Notizhefte, in denen er aus diversen Werken exzerpierte, Literaturlisten festhielt, kleine Bleistiftgemälde anfertigte, literarisch oder philosophisch dilettierte, keineswegs feinsäuberlich von seinen Arbeitsaufzeichnungen getrennt hielt. Während seine wissenschaftlichen Notizhefte und Mitschriften fallweise mit Bildern von nackten Frauen oder einzelnen Gedichten angereichert sind, bettet Schrödinger hier seine lyrischen Versuche in Kalkulationen und Skizzen zu einer »mathematischen Darstellungstheorie« ein.Footnote 70 Der kreative Titel scheint sich also nicht nur auf die Hervorbringung von Literatur zu beziehen, sondern schließt auch die Genese von Wissen im Modus der Formel mit ein – mitunter auch in der heute nur noch schwer entzifferbaren Gabelsberger-Kurzschrift, die Schrödinger für die schnelle Entwicklung von Vortragsentwürfen oder das Festhalten von Ideen verwendete. Derartige tief bis ins Material reichende Amalgamierungen verschiedener Schreib- und Wissensformationen erinnern an epistemische Notationspraktiken in der Tradition des Lichtenberg’schen ›Sudelns‹Footnote 71 und führen über die auch bei anderen Physikern wie Werner Heisenberg oder Carl Friedrich von Weizsäcker nachweisbaren Reflexionen zum Verhältnis von Dichtung und MathematikFootnote 72 hinaus. Das betrifft auch Schrödingers gelegentliche »experiments in translation«, deren sich auch sein Dubliner Kollege, der Mathematiker John L. Synge, befleißigte und welche die naturwissenschaftliche Technik des Experiments für den linguistischen Zweck der Übersetzung fruchtbar machten.Footnote 73 Auch wenn die konkrete Entstehungsgeschichte solcher Mappen aus den Nachlässen der betreffenden Physiker (noch) unklar ist, geben die überlieferten Zeugnisse Hinweise darauf, wie in der täglichen Arbeitspraxis literarische, physikalische und philologische Wissensformationen, Ästhetiken und Operationen nicht nur koexistieren, sondern mitunter symbiotisch verschmelzen konnten.

V.

›Echte‹ Naturforscher? Das Bildungsmilieu der theoretischen Physik

In seinem Aufsatz zur Milieubedingtheit der Naturwissenschaft sah Schrödinger den Zeitgeist als ein revolutionär-umstürzlerisches Bewusstsein in seiner eigenen Disziplin am Werk. Die Wissenschaftsgeschichte wiederum stellte seit den 1970er-Jahren esoterikaffine Gegenkulturen und wissenschaftsskeptische Strömungen der Weimarer Republik als besonders anschlussfähig für zentrale quantenphysikalische Denkmuster wie die Rede von der Aufhebung der Kausalität, der A‑Logizität, der Irrationalität, Unschärfe und Unsicherheit alles möglichen Wissens über die Natur heraus.Footnote 74 Wie die angeführten Beispiele deutlich gemacht haben dürften, wären solche Kulturalisierungen der modernen theoretischen Physik um eine Untersuchung der Interdependenzen von Physik und Philologie zu ergänzen. In diesem Zusammenhang interessiert freilich weniger der soziokulturelle Rahmen jener Zeit, in der die Quantentheorie formuliert wurde, als vielmehr das konkrete Bildungsmilieu, in dem die Quantenphysiker selbst sozialisiert wurden: Die überwiegend deutschsprachigen Begründer der Quantentheorie stammten fast ausnahmslos aus dem Bildungsbürgertum. Der Besuch eines prestigeträchtigen humanistischen Gymnasiums war für sie eine Selbstverständlichkeit.Footnote 75

In den renommierten Bildungsinstitutionen kam der philologischen Schulung ein bedeutend höherer Stellenwert zu als der mathematisch-naturwissenschaftlichenFootnote 76 – und dort konnten Heisenberg, Schrödinger, Pauli, Born und ihre Kollegen, so sie noch nicht familiär bedingt oder gar in professoralen Haushalten philologisches Wissen quasi mit der Muttermilch aufgesogen hatten,Footnote 77 schon früh in Kontakt mit den Alten Sprachen und grundlegenden philologischen Techniken kommen. Die durchgängige Hochschätzung dieser ›philologischen Schule‹,Footnote 78 welche die deutschsprachigen theoretischen Atomphysiker durchlaufen hatten, ist in Egodokumenten wie späteren Reden anlässlich von Jubiläumsfeiern der besuchten Gymnasien oder Korrespondenzen auf vielfältige Weise dokumentiert. In einem an den Direktor des Wiener Akademischen Gymnasiums gerichteten Brief, abgefasst anlässlich der 400-Jahr-Feier der Schule, bringt Schrödinger seine Dankbarkeit gegenüber der Bildungsanstalt zum Ausdruck und hebt insbesondere die Relevanz des altphilologischen Unterrichts hervor: »wie gerne möchte ich all Ihren Schülern einen vollen Eindruck davon geben, was die Einführung in die Antike und die Erlernung der alten Sprachen im späteren Leben für mich bedeutet hat und noch bedeutet, obwohl sie für mein engeres Fachgebiet – die theoretische Physik – gar nicht ›notwendig‹ zu sein scheinen. Es ist eine Erweiterung des Lebensraums, ohne die ich mich arm fühlen würde.«Footnote 79 Derartige Elogen finden sich bei vielen Atomphysikern, nicht selten in expliziter Beziehung auf ihre spätere Tätigkeit als Naturwissenschaftler. So hält Max Laue als Rezept zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, insbesondere des naturwissenschaftlichen, fest: »Schickt die Jungens ins Gymnasium und lasst sie dort die alten Sprachen gründlich treiben!«Footnote 80 Während so mancher nach 1945 geborene Physiker infolge der sukzessiven Ablösung der humanistischen Gymnasien durch andere, zielgerichtetere Wege zur Universitätsreife gar nicht mehr in Berührung mit den Alten Sprachen gekommen sein mag, könnte den Gründervätern der Quantenphysik die Ausprägung einer charakteristischen ›scientific persona‹Footnote 81 attestiert werden, welche die humanistisch-philologische Gelehrsamkeit als zentralen Bestandteil der eigenen wissenschaftlichen Praxis begriff.

Die schon von Kindesbeinen an bestehende Verbindung zu den Geisteswissenschaften, insbesondere den Sprach- und Textwissenschaften, konnten die Physiker auch zu Zeiten aufrecht halten, in denen sie schon längst über ihre gymnasiale Ausbildung hinausgewachsen waren und ihre Berufung gefunden hatten: in professoralen Netzwerken, die einen gleichermaßen produktiven wie interdisziplinären Wissensaustausch ermöglichten. Zu diesen Netzwerken zählten zunächst größere institutionalisierte Zusammenhänge wie die Akademien. So ist in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften, in der auch Schrödinger Mitglied war, bis er nach der Machtergreifung Hitlers seine Mitgliedschaft freiwillig niederlegte, dokumentiert, dass z.B. Einstein oft und gerne den Vorträgen der Philologen, etwa Wilamowitz-Moellendorffs oder Hermann Diels’, lauschte: Der Physiker erläuterte in just jener Sitzung die Perihel-Bewegung des Merkur mittels seiner Allgemeinen Relativitätstheorie, in der Diels über seine Nachkonstruktion von Platons Nachtuhr berichtete (welche er übrigens mithilfe seines Sohnes, des Chemikers und späteren Nobelpreisträgers Otto Diels, angefertigt hatte).Footnote 82 Solch frappante Konstellationen dürften maßgeblich dazu beigetragen haben, dass eine von Diels angefertigte Übersetzung des Lukrez’schen Lehrgedichts De Rerum Natura mit einer Einleitung von keinem Geringeren als Einstein erscheinen und vom Physiker und Chemie-Nobelpreisträger Walther Nernst rezensiert werden konnte.Footnote 83 Erwin Schrödinger selbst stellte in seinem (übrigens ebenfalls in einer Akademie-Sitzung gehaltenen) Vortrag »Ist die Naturwissenschaft milieubedingt?« interdisziplinäre Kontaktzonen als wichtige Schaltstellen im wissenschaftlichen Arbeitsprozess heraus: Nicht nur konnte der Forscher hier innerhalb eines zwar universitär geprägten, so doch fachübergreifenden sozialen Umfelds mit aktuellen Strömungen seiner Zeit in Kontakt geraten und sich bei seiner Arbeit davon inspirieren lassen. Daneben fungierten die Akademien als Kontrollinstanzen, welche die eigenen Forschungen mitunter neu perspektivierten, den Wissenschaftler dadurch anregten, sich der Relevanz seiner Arbeit zu vergewissern bzw. seine Fragestellungen gegebenenfalls anzupassen:

Beiläufig bemerkt, es scheint mir eine der fruchtbarsten und heilsamsten Funktionen solcher Körperschaften, in denen Forscher aus allen Gebieten zu gemeinsamer Arbeit sich vereinigen, daß der Einzelne sich gelegentlich besinnen muß, daß er über seine eigentlichen Ziele und Triebfedern Auskunft geben muß vor Männern, die er respektiert und ganz voll nimmt und bei denen er nicht in Gefahr kommt, sie mit einer schnellen Verlegenheitsantwort abzuspeisen, in dem hochmütigen Gedanken: der kann das ja doch nicht verstehen.Footnote 84

Wie auch der Beginn von Schrödingers Brief an Cassirer deutlich macht, demzufolge der Physiker seinen Kollegen nicht einfach mit einem »unsachlichen, förmlichen, rein conventionellen Dank« abspeisen, sondern die »Dinge erst richtig durchdenken« wollte, um »etwas irgendwie wesentliches darüber schreiben zu können«, nahm Schrödinger den interdisziplinären Austausch durchaus ernst, ja betrachtet ihn als wichtiges Instrument im Prozess der Wissenserzeugung.Footnote 85

Möglichkeiten zu solchem Austausch boten sich nicht nur in den großen Akademien, sondern auch im privaten Rahmen – etwa in Professorenzirkeln wie der berühmten Berliner Mittwochsgesellschaft oder kleineren Vereinigungen wie dem Leipziger Professorenkränzchen »Coronella«.Footnote 86 Lockere Freizeitaktivitäten und abendliche Zusammenkünfte im häuslichen Umfeld brachten die Mitglieder miteinander in Kontakt und schufen Raum für universitätspolitische Gespräche, Probevorträge und interdisziplinäre Diskussionen. Als »Coronella«-Mitglied konnte der junge Professor Werner Heisenberg beispielsweise akademische Bekannt- und Freundschaften mit Figuren wie dem Altertumswissenschaftler Helmut Berve, den Philologen Friedrich Klingner und Wolfgang Schadewaldt oder Hans Georg Gadamer pflegen, dessen Berufung nach Leipzig nicht zuletzt auf Heisenbergs Interesse an Gadamers Untersuchungen zur antiken Atomistik zurückzuführen war.Footnote 87 Daneben bot zur damaligen Zeit auch das allgemeine gesellige Leben der Professorenfamilien Raum für fachliche, philosophische oder musikalische Begegnungen. So verkehrte Schrödinger als Arbeitskollege des jungen Physikers Max Delbrück, Sohn des Historikers Hans Delbrück, während seiner Berliner Zeit gerne in dessen Familienhaus, wo sich immer wieder Möglichkeiten fachübergreifender Kontakte ergeben konnten. Beim Ehepaar Planck wiederum lauschte man in gelehrter Atmosphäre Kammermusikkonzerten.Footnote 88 Und im Hause Schrödinger fanden die beliebten »Würstelabende« statt, zu denen neben einem breiten naturwissenschaftlichen Kollegium auch diverse private Bekanntschaften erschienen – im Gästebuch unterzeichnete als »stille Zuschauerin« etwa Mira Koffka,Footnote 89 bei der es sich um eine Stieftochter Georg Bondis und spätere Verlagsmitarbeiterin sowie Übersetzerin von Schrödingers englischsprachigen Vorträgen (Nature and the Greeks) handeln dürfte. Zu Gast gebeten wurde man übrigens einigermaßen poetisch, wie das gereimte Einladungsschreiben zeigtFootnote 90 – auf das Physiker/innen wie Max Planck oder Lise Meitner in ähnlich ambitionierten Versen antworteten.Footnote 91

Ruft man sich nun noch einmal Erwin Schrödingers brieflich geäußerte Behauptung in Erinnerung, dass der »echte[] Naturforscher von heute [...] eine tiefe Verachtung gegen Literatur« hege, so regen sich nicht nur starke Zweifel, ob und inwiefern der Verfasser sich selbst überhaupt dem Kreis moderner Forscher zugeschlagen hat. Angesichts der offensichtlichen literarisch-philologischen Inklinationen der theoretischen Physiker könnte man auch fragen: Wären all diese Wissenschaftler in ihrer Liebe zur Literatur dann unzeitgemäß gewesen? Oder fügten sie sich mit ihrer Neigung in einen zeitgenössischen Trend – wären im Sinne Schrödingers aber womöglich gar nicht als ›echte Naturforscher‹ zu bezeichnen?

VI.

Feine Unterschiede

Die bisherigen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass für eine adäquate Einordnung von Schrödingers Brief an Cassirer sowie der darin vermeintlich zum Ausdruck kommenden abschätzigen Haltung gegenüber ›Literatur‹ Differenzierungen notwendig sind – in mehreren Richtungen. So ist zunächst von Pauschalisierungen wissenschaftlicher Disziplinen Abstand zu nehmen. Wenn Schrödinger in seinem Schreiben die Haltung ›der‹ Naturforscher im Allgemeinen referiert und die Frage nach der Milieubedingtheit ›der‹ Naturwissenschaft mit einer kulturellen Verortung ›der‹ Physik beantwortet, insinuiert er die Homogenität ganzer Disziplinen bzw. fakultärer Einheiten. Das mag in einem polemischen Privatbrief oder einer essayistischen Skizze ohne systematischen Anspruch durchaus sinnvoll sein. Aus analytischer Perspektive ist freilich zu beachten, dass mit solcherlei Generalisierungen Verbindungslinien verwischt werden, die sich auf subdisziplinärem Level präzise herausarbeiten ließen. Eine aussagekräftige Untersuchung von Wechselbeziehungen zwischen Physik und Literatur um 1900, die über die Konstatierung vager Analogien hinausgeht, erfordert also die Berücksichtigung kleinteiliger Entwicklungs- und Ausdifferenzierungsprozesse, etwa mit Blick auf die Ablösung der Vormachtstellung der Experimentalphysik durch die Theorie. Außerdem ist, gerade im Fall der modernen Atomphysik mit ihren aufgeheizten Debatten, auch der disziplininternen Vielfalt an Positionen und Weltbildern Rechnung zu tragen – die ihrerseits wiederum, selbst bei ein und derselben Forscherpersönlichkeit, in Abhängigkeit von publizistischem Kontext, Adressaten oder auch der momentanen individuellen Lebenssituation durchaus variieren konnten. Von ›der‹ Antikefaszination Schrödingers wäre insofern also genauso wenig zu sprechen wie von einer Literaturbegeisterung (oder -verachtung) ›der‹ Physik. Der Brief an Cassirer für sich erlaubt dementsprechend auch keine generalisierbare Aussage über das komplexe Beziehungsgefüge von Literatur und Physik: Mit Blick auf den polemischen Tonfall sind neben dem bereits diskutierten Überdruss an zeitgeist-typischen soziokulturellen bzw. philosophischen Deutungen der modernen Physik eben auch persönliche Befindlichkeiten Schrödingers und inhaltliche Differenzen zu den in Cassirers Indeterminismus-Studie vertretenen Positionen in Rechnung zu stellen, die im Lauf der Zeit starken Schwankungen unterworfen sein konnten.Footnote 92 Beispielhaft hierfür wäre die recht ausführliche briefliche Kritik an Cassirers Rekurs auf Schrödingers Wiener Lehrer Franz Exner: Dieser hatte mit Blick auf die statistische Thermodynamik bereits Jahre vor der Entwicklung der Quantenmechanik das Kausalgesetz spekulativ infrage gestellt. Schrödinger sah seinen Lehrer und dessen Intuitionen gegenüber Heisenberg, der derartige philosophische Konzeptionen mit seiner Mechanik und seinen Unschärferelationen auf ein formelhaftes Fundament gestellt hatte, bei Cassirer offenbar zu wenig gewürdigt – womöglich auch seine eigenen, auf Exner aufbauenden physikalisch-philosophischen Spekulationen, die er in seiner Züricher Antrittsvorlesung 1922 geäußert hatte, später freilich, nach seiner ›(Rück‑)Wende‹ zu einer Physik der anschaulichen Modelle, geflissentlich ignorierte.

Zu beachten ist, dass sich umgekehrt aus solchen Dissonanzen keineswegs auf eine ablehnende Grundhaltung Schrödingers gegenüber Cassirer schließen lässt – zu berücksichtigen wäre hier u.a. auch die Tradition des polemischen Gelehrtenaustauschs, an die Schrödinger anknüpft. Jahre später jedenfalls ist der längst verstorbene Cassirer dem Physiker in seinem Lebensabriss,Footnote 93 aber auch in der Kommunikation mit Fachkollegen als Gewährsmann willkommen – beispielsweise in einem Brief an Max Born, in dem Schrödinger wie so oft gegen das Komplementaritätsprinzip wettert. Das von Bohr aufgestellte und von Schrödinger stets kritisch reflektierte Postulat, demzufolge (u.a.) eine Darstellung in der Raum-Zeit bei gleichzeitiger Erfüllung des Kausalitätsprinzips einander ausschlössen (Raum-Zeit-Darstellung und Kausalitätsforderung einander also »komplementär« wären), wurde von Bohr selbst schon früh verallgemeinert und im Sinne einer »naturwissenschaftlich« fundierten Begründung der Willensfreiheit eingesetzt – sehr zum Missfallen Schrödingers:

Und nun gar: das ur-ur-alte Rätsel freier Wille gegen kausale Determiniertheit habe nun endlich seine Lösung gefunden durch die gloriose Erfindung der Komplementarität. (Schüler: Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein. Mephisto: Schon gut, nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen, Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Ich könnte die Stelle vollständiger hersetzen, obwohl ich das Buch nicht mithabe aber ich will mich jetzt im schönen Zug des Schimpfens nicht länger unterbrechen.)

Ja habt Ihr denn wirklich keine Ahnung wie naiv Ihr seid? Liest niemand den Ernst Cassirer oder wenigstens mich? Kennt niemand das erste Buch des Lucretius Carus? welches – oder vielleicht sein Held Epikur das Rätsel von [sic! es dürfte sich hierbei um einen Transkriptionsfehler handeln: vor] 2 000 oder mehr Jahren schon so ziemlich auf dieselbe Art gelöst hat, bloß mit weniger Stacheldraht von Formeln, welcher es heute den armen unschuldigen Lämmern von Offizieren der Bundeswehr aufzumutzen erlaubt. So Dixi.Footnote 94

Gespickt mit Referenzen auf Texte wie das Lukrez’sche Lehrgedicht – in den 1920er-Jahren von Hermann Diels neu übersetztFootnote 95 – ist die Passage selbst ebenso vielschichtig wie der nur vermeintlich simple Brief an Cassirer. Doch während Schrödinger in seiner Korrespondenz mit dem Philosophen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber geisteswissenschaftlichen Wissenstechniken zur Schau stellt und insbesondere die Aktualitätseuphorie der Naturwissenschaftler und ihre Fähigkeit zur Selbstbeglaubigung durch die zentrale Technik der Formel zumindest auf den ersten Blick eher positiv zu bewerten scheint, nimmt der »schöne[] Zug des Schimpfens« hier eine etwas andere Wendung. Bohrs formelbewehrte Anhänger situiert Schrödinger im Brief an den Freund geradewegs in der Tradition einer philosophischen »Hexenküche«,Footnote 96 in der schon, wie er heraushebt, vor über 2000 Jahren ein ganz ähnliches Süppchen gekocht wurde. Wenn Schrödinger an anderer Stelle die »Schärfe« beeindruckt, »mit der sich schon dem frühesten [i.e. vorsokratischen!, MMG] naturwissenschaftlichen Denken die Unerbittlichkeit der Kausalforderung abhob«,Footnote 97 so sieht er die Reflexionen seiner Zeitgenossen zum Problem der Willensfreiheit als abgestandenen Aufsud der von Lukrez überlieferten Epikureischen Ideen: »behufs Rettung der Freiheit des Willens« habe der griechische Philosoph vorgeschlagen, »die absolute Gesetzlichkeit der Atombewegungen kleinweise aber ohne Unterlaß durchbrochen [zu] denken«.Footnote 98 Die Auflösung des Widerspruchs zwischen Determinismus und Willensfreiheit auf Basis des Komplementaritätsprinzips – durch das etwas penetrante Faust-Zitat als nachgerade teuflische Sophisterei diffamiert – ist für Schrödinger also nicht viel mehr als ein Abklatsch der von ihm hier sehr kritisch bewerteten Gedanken des Epikur, die durch einen »Stacheldraht von Formeln« vor den Einwänden Fachunkundiger abgeschirmt werden.

Auffällig ist an solchen Passagen nicht zuletzt der naturwissenschafts- und erkenntnisskeptische Grundtenor Schrödingers, welcher dem zentralen Symbolsystem seiner Disziplin, der Formel, zumindest misstrauisch, wenn nicht kritisch gegenübersteht. Schon Friedrich Nietzsche hat im ausgehenden 19. Jahrhundert, der Hochphase des ›Age of Science‹, wiederholt alles andere als wertfreie Überlegungen zur Physik und ihren Prinzipien angestellt: Wiewohl Nietzsche der Physik zumindest fallweise, etwa in der Fröhlichen Wissenschaft, durchaus wohlgesonnen zu sein scheint, mitunter gar ein »Hoch« auf das im Aufschwung begriffene Fach und seine Methode der genauen Beobachtung ausbrachte,Footnote 99 qualifizierte er es an anderen Stellen, insbesondere in den nachgelassenen Fragmenten, massiv ab. Als Disziplin emsiger Maschinisten und Ingenieure, welche sich »auf den Glauben an die Sinne stellt«, »Augenschein und Handgreiflichkeit für sich« hat und deshalb »bezaubernd, überredend, überzeugend« auf ein »Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack« wirke,Footnote 100 als Leitwissenschaft seiner Zeit, die ihre tatsächliche »Welt-Auslegung« zur »Welt-Erklärung« hypostasiere, verortete er die Physik in einem spezifischen Setting von Technik‑, Kulturkritik und Massenkritik, welches das 20. Jahrhundert variantenreich durchdeklinieren würde.Footnote 101 Vor diesem Hintergrund gewinnt denn auch der auf den ersten Blick geisteswissenschaftlich-literarischen Wissensformationen gegenüber abfällige Brief Schrödingers an Cassirer eine etwas andere Note. An genau solche naturwissenschaftskritischen Denkmuster knüpft nämlich auch der Physiker an, wenn er an Cassirer schreibt: »Wir Naturwissenschaftler sind Parvenus, Nouveau-riches. Dies ist unaufrichtig gesprochen, denn selbst bezeichnet man sich nicht gern mit so abfälligen Namen. Nouveau-riche ist dritte Person. Die erste Person lautet: Self-made-man. Wir sind eine Art Bolschewiken in der Wissenschaft und lieben nicht die Beziehung auf jene Gesellschaftsordnung, die der unseren vorherging.«Footnote 102

In Anbetracht solch despektierlicher Titulierungen verwundert es wenig, dass Schrödinger explizit seine eigene Gruppenzugehörigkeit thematisiert. Realiter dürfte sich der ein elitäres kontinentales Selbstverständnis pflegende Altösterreicher mit Bolschewiken oder kapitalistischen Neureichen, die sich als ungebildete Emporkömmlinge jeden Trend eilig zu Nutze machen und von einer umfassenden Verachtung gegenüber allem Unzeitgemäß-Vergangenem beseelt sind (dabei jedoch hochmütig ihre eigene Traditionsgebundenheit übersehen), ebenso wenig identifiziert haben wie mit den formelversessenen »Offizieren der Bundeswehr«, die er in seinem wütenden Brief an Max Born abkanzelt.Footnote 103 Dass Schrödinger sich gerade im Briefwechsel mit Fachkollegen nicht selten als gebildeter Gegenpol einer durch zu viel stupide Mathematik banalisierten, sich in leeren Wort- und Formelhülsen verlierenden neuen Physik in Szene setzt und seine Außenseiterposition in der Riege der Gründerväter der Quantentheorie heraushebt, lässt den interdisziplinären Austausch mit Cassirer in anderem Licht erscheinen: Schrödingers ruppiger Ton dürfte nicht zuletzt Ausdruck seiner Enttäuschung sein – der Enttäuschung darüber, dass eben selbst ein Philosoph wie Cassirer »dem unendlich angeschwollenen Tam-Tam der modernen Quantenphysik« aufsitzt und viel zu unkritisch die Banalitäten einer, zumindest aus Schrödingers Sicht, ebenso durchrationalisierten wie laienphilosophisch aufgeplusterten Disziplin für epistemologische Großtaten hält. Insofern ist Schrödingers Brief eben nicht nur lesbar als Kritik an geisteswissenschaftlich-literarischen Wissensformationen, sondern auch und vor allem als Warnung – vor falscher Hochachtung vor der formelbewehrten ›Philosophie der (Quanten)Physiker‹.Footnote 104

VII.

Nachtrag

Wenn Nietzsche im späten 19. Jahrhundert über die Physik nachdachte, so hatte er dabei die seinerzeit dominante Experimentalphysik im Blick. Von den tiefgreifenden Veränderungen, welche die Epochenschwelle um 1900 mit sich brachte, konnte er nichts wissen: Der bis dato wenig geliebten theoretischen Physik gelang es, sich innerhalb weniger Jahre in Deutschland als Speerspitze eines Faches zu etablieren, dem gerade die von Nietzsche elitistisch verachtete Sinnlichkeit und »Handgreiflichkeit«, präziser: seine Anschaulichkeit zu großen Teilen abhandenkam.Footnote 105 Anknüpfend daran lassen sich die aufgezeigten textuellen und institutionellen Verschränkungen von Physik und Philologie epistemologisch und selbst praxeologisch weiterspinnen:Footnote 106 Die Aufgabe der Theorie verschob sich dahin, experimentell festgestellte Abweichungen von gängigen Modellen in einem konsistenten mathematischen Formalismus zu harmonisieren, diesen zu verfeinern und schließlich – ausgehend von der zugrunde liegenden Mathematik – praktische Ergebnisse zu prognostizieren, welche erst im Anschluss in eigens für den Nachweis designten Experimentalsettings bestätigt wurden.Footnote 107 Die Theorie begann, dem Experiment vorauszulaufen. Der theoretische Physiker jener Zeit bezog sich in diesem Zusammenhang nicht mehr nur auf unmittelbar mit den Sinnen wahrnehmbare Erscheinungen, sondern auf deren zu Papier gebrachte Spuren,Footnote 108 im weiteren Sinn: auf Texte, wie er sie ja auch selbst produzierte. Nicht unähnlich dem klassischen Editionsphilologen zielte er darauf ab, bruchstückhafte, fallweise widersprüchliche ›Quellen‹ genau zu lesen, zu bewerten, zu einem sinnhaften Ganzen zu verbinden und mithilfe des von ihm generierten Regelwerks noch nicht aufgefundene Belege vorherzusagen, deren Existenz erst später nachzuweisen sein würde.

Geblieben war freilich auch der Subdisziplin der theoretischen Physik, wiewohl sie gerade in Hinblick auf ihre Praktiken, Operationen, Orte und Dinge der Wissensproduktion mit der Experimentalphysik nicht in einen Topf zu werfen ist, die von Nietzsche so geschätzte zentrale Technik der genauen Beobachtung, die dieser nicht nur an der Physik bewunderte, sondern insbesondere an seiner eigenen Herkunftsdisziplin. Ungeachtet Nietzsches Geringschätzung des zeitgenössischen Philologenstandes erscheint bei ihm nämlich just die Philologie als unzeitgemäße Wissenschaft der langsamen, tiefen Lektüre und Beobachtung, der differenzierten Abwägung und grundlegenden Zurückhaltung im Urteilen, für die er den Begriff der »Ephexis« prägte.Footnote 109 Diese basalen philologischen Techniken des aufmerksamen Lesens und abwägenden Urteilens waren gerade den Schöpfern der modernen theoretischen Physik im Zuge ihrer profunden altphilologischen Ausbildung in Fleisch und Blut übergegangen. Nimmt man Sheldon Pollocks Diktum, demzufolge »[f]ür jemanden, der durch diese Schule gegangen ist, […] Philologie zum Rüstzeug für alle Texte«Footnote 110 wird, ernst, dann ist von einer charakteristischen, philologischen Prägung der Wissenskultur der deutschsprachigen theoretischen Physik am Beginn des 20. Jahrhunderts auszugehen. In diese Richtung weist auch eine Bemerkung von Hans Ulrich Gumbrecht, der in seiner Schrift Die Macht der Philologie gerade »die Forschungstätigkeit im Bereich der theoretischen Physik« und das »(beispielsweise ›philologische‹) Nachdenken über ein vorsokratisches Fragment« miteinander in Beziehung setzt.Footnote 111 Doch mehr noch: Die im vorliegenden Aufsatz am Beispiel Erwin Schrödingers herausgestellten Zusammenhänge legen nahe, dass die interdisziplinäre Verschaltung von theoretischer Physik und klassischer Philologie im frühen 20. Jahrhundert über einen solchen, eher intuitiv formulierten Konnex hinausreicht. Auch wenn die Physik die Philologie als Leitwissenschaft um 1900 abgelöst haben mag, konnte deren Macht noch lange ins 20. Jahrhundert nachwirken, und zwar nicht nur als Relikt und Referenzfeld einer überkommenen humanistischen Gelehrtentradition.Footnote 112 Der zeitgemäße theoretische Physiker trat mitunter eher als Text- denn als klassischer Naturforscher auf. Er empfand sich selbst nicht mehr nur als Leser im mannigfaltigen Buch der Natur, sondern zunehmend auch als dessen Editor, der aus vielen vermeintlich zusammenhanglosen Fragmenten ein sinnvolles Ganzes zu generieren suchte.