Zusammenfassung
Trakl konfrontiert ein materialistisches und ein idealistisches Wirklichkeitskonzept, um die Alltagsrealität als defizient zu kritisieren und auf poetische Weise eine geistige Gegenwirklichkeit orphischer Innerlichkeit zu gewinnen. Er benutzt dazu in Anlehnung an antike und christliche Vorbilder eine traditionelle Bildlichkeit, wonach der Tod als Schattenwelt, das Leben als Traum oder Theaterspiel erscheint, und eine in sich stimmige Symbolik. Zuletzt aber scheitert auch diese rein subjektive Sinnsuche der Erinnerung an bessere Zeiten an der unheilbaren Sinnlosigkeit der sozialen und kulturellen Gegenwart.
Abstract
Trakl confronts a materialistic and an idealistic concept of reality in order to criticize everyday life as deficient and to poetically gain a spiritual counter-reality of orphic inwardness. He uses, based on antique and christian models, a traditional imagery, according to which death appears as a world of shadows, life as a dream or play, and a coherent symbolism. Ultimately, however, this purely subjective search for meaning through the memory of better times fails because of the incurable senselessness of the social and cultural present.
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I.
Der Streit um die Wirklichkeit ist alt. Für Idealisten ist nur das Geistige wirklich, für Materialisten nur das Stoffliche. Das jeweils andere ist dann das Unwirkliche. Wie sehr der Idealismus einmal dominiert hat, zeigt sich schon daran, daß er damals Realismus hieß, weil er Ideen für real hielt. Der heutige Sprachgebrauch spiegelt die Verschiebung der Denkweise: Realismus meint nun die Realität des Materiellen, wobei geistige Phänomene möglichst auch stofflich aufgefaßt werden, also beispielsweise Gedanken oder Phantasien als chemische Reaktionen oder elektrische Gehirnströme. Was aber wäre dann unwirklich? Auch ein Traum, eine Halluzination, sogar eine Wahnidee ist feststellbar, vorhanden und damit wirklich, während andererseits die äußere Welt der Dinge auch nur als vergleichbares Gehirnphänomen ins menschliche Bewußtsein dringt. In dieselbe Schwierigkeit kommt aber auch der extreme Idealismus, wenn er die materielle Welt nur als Geistesprodukt anerkennen will, denn auch als solches hätte sie dann eine ideale Wirklichkeit.
Bei diesem Zweifel, ob es Unwirklichkeit überhaupt geben kann, ist es ratsam, verschiedene Wirklichkeiten zu unterscheiden. In platonischer und christlicher Tradition, an die Trakl erkennbar anknüpft, kann das wahrhaft Wirkliche nur im Unvergänglichen liegen, das in der Zeit Vergängliche aber nur im uneigentlichen Sinne wirklich sein. Deshalb unterscheiden religiöse Dichter etwa in der Barockliteratur Zeitlichkeit und Ewigkeit; das vergängliche Leben in der Zeit, also die Wirklichkeit der Realisten, ist ihnen nur ein Traum oder ein Theaterspiel, das mit dem Tod in eine höhere Wirklichkeit mündet. Mystiker allerdings suchen sie schon im Leben als einen Geisteszustand, der sich der Dinge dieser Welt entledigt und der materiellen Wirklichkeit abstirbt. Analog hierzu läßt sich auch Trakls Gestaltung seelischer Haltungen oder Bewegungen, die das Verlassen einer leidvollen Alltagsrealität und das Eingehen in eine idyllische Geisteswelt anstreben, quasi mystisch verstehen. Die sogenannte Wirklichkeit der Erfahrungswelt erscheint dann unwirklich, die angebliche Unwirklichkeit der Phantasie aber, auch in ihrer poetischen Gestaltung, als eigentliche Wirklichkeit.
Es ist eine Hauptquelle des Mißverstehens, wenn man bei Trakl diese idealistische Grundhaltung verkennt und in seinen Texten das heute vorherrschende materialistische Welt- und Menschenbild voraussetzt, wonach der Sinnverlust der äußeren Wirklichkeit Sinnlosigkeit bedeuten muß und das sinnliche Leben doch eigentlich ganz schön und gut wäre, wenn sein ungestörter Genuß nur nicht schicksal- oder krankhaft verdorben würde. Für Trakl jedoch ist die organisch-materielle Wirklichkeit – in Analogie zum christlichen Konzept der Erbsünde – immer schon schuldhaft verdorben; es stellt sich nur die Frage, ob sie gegen eine bessere Gegenwirklichkeit des Geistes, in der allein Sinn möglich wäre, vertauscht werden kann.
Trakl erreicht diese Vertauschung der Wirklichkeiten bei aller poetischen Eigenartigkeit – entgegen einer irreführenden Hauptthese der Traklforschung – mit durchaus traditionellen und daher poetologisch und geistesgeschichtlich nachvollziehbaren Mitteln, indem er etwa die mythische Auffassung der Toten als Schatten auf die Lebendigen anwendet, während er andererseits den Zustand der geistigen Idylle durch religiöse Assoziationen mit Paradies, Verklärung oder Auferstehung als eine ideale Wirklichkeit gestaltet. Er verwendet also für seine poetische Schaffung von Bedeutung – nach dem Vorbild Hölderlins – in synkretistischer Weise antike und christliche Bilder, ohne allerdings die damit ursprünglich verbundenen Konzeptionen als Ganze zu übernehmen. So wird die antike Schattenwelt des Totenreiches eingesetzt, um die Unwirklichkeit des Wirklichen zu demonstrieren, indem die Lebenden nur noch wie tote Schatten erscheinen, aber auch umgekehrt, um die Schatten der körperlich Toten geistig beleben zu können. Das bedeutet natürlich nicht, daß Trakl die Toten wirklich für Schatten hält, sondern zeigt nur die künstlerische Verwendbarkeit dieser traditionellen Vorstellung zu seinen Zwecken.
Obwohl sich eine gewisse Nähe zum religiösen Idealismus, dem – wie in »Nachtergebung« (T93)Footnote 1 – »zum Traum dies Erdenwallen« wird, nicht leugnen läßt, gilt dieser funktionale Gebrauch auch von den zahlreichen christlichen Motiven, Zitaten und Anspielungen, mit denen sein Werk dicht durchzogen ist. Er nutzt sie, ähnlich wie Goethe im Faust, um eine Transzendenz zu verbildlichen, von der sich im Litteralsinne naturgemäß nicht sprechen läßt. Auch hierbei darf man die zugehörige Religionslehre nicht einfach in seinen Text mit hinein interpretieren, sondern muß sie als Quelle und Mittel einer eigenen Sinngebung verstehen, wobei sich, wie bei jedem Vergleich, Übereinstimmungen und Abgrenzungen ergeben können. So muß zwar auch Trakls ideales Paradies, wie das christliche, durch Leid und Opfer erkämpft werden, es besteht aber nicht so sehr in einer mystischen Vereinigung mit Gott oder dem Absoluten als in der Wiedergewinnung eines idyllischen Bewußtseins durch geistige Vereinigung des in dieser Welt Vereinsamten mit geliebten, aber im Leben verlorenen Mitmenschen. Er gestaltet in seinen Gedichten eine intensivierte Erinnerung, die dem Vermißten und Ersehnten zur visionären Erscheinung verhilft. Das ist, wie sich leicht an der Zueignung zum Faust ablesen läßt, auch das poetische Prinzip klassischer Dichtung, die Erinnertem und Gedachtem, also dem ideal Wirklichen, im Kunstwerk dauerhaften Sinn verleihen will, nur daß sich Trakl bei dieser ästhetischen Wirklichkeit aufgrund religiöser Skrupel über den Sinn des Lebens und über die existentielle Schuld des Menschen dann doch nicht beruhigen kann.
Die Unwirklichkeit des Wirklichen ist eine poetische Grundauffassung Trakls. Manche Gedichte betonen nur oder hauptsächlich diesen Aspekt, indem sie das reale Leben, das immer von der materiellen Vernichtung bedroht ist, in alter Tradition als Theater, Maskenspiel, Traum oder Schattenwelt darstellen. In anderen Fällen aber gestaltet er, ebenfalls nach barocken oder romantischen Vorbildern, auch den Lichtblick in eine ideale Gegenwelt, also die Wirklichkeit des Unwirklichen. Um beide Wirklichkeiten unterscheiden zu können, ist es unerläßlich, die Person Trakls, die der materiellen Realität angehört, sauber vom Lyrischen Ich seiner Gedichte zu unterscheiden, das zur idealen Wirklichkeit seiner Dichtung gehört. Denn es ist ein Unterschied, ob der Dichter dem Leser direkt versichert, der Wind könne wehklagen und ihm sei höchstpersönlich ein Gespenst erschienen, oder ob er ästhetisch distanziert den zugleich qual- und lustvollen Geisteszustand eines Ichs gestaltet, das seine Trauer erst in die Natur hinein verdinglicht, um dann aus ihr heraus die Erscheinung des Betrauerten zu erleben. Das eine wäre eine angeblich reale, das andere aber ist die ideale Wirklichkeit, um die es Trakl eigentlich geht und die er auch bildlich adäquat und gedanklich nachvollziehbar darstellt. Es ist nämlich ein Grundirrtum der Traklforschung, daß seine Gedichte selbst eine unwirkliche und folglich unverständliche Verdinglichung bloß der Sprache wären,Footnote 2 wo sie doch, wie alle Sprachkunst, die Verdinglichung des Geistigen mit sprachlichen Mitteln zur Anschauung bringen und damit verständlich machen wollen.
Während im Frühwerk sich oft noch eine abstrakte Gedankenlyrik findet, die aber auch schon klare Aussagen über die negative Tatsachenwirklichkeit enthält, zeichnet sich das spätere Werk durch eine konkrete Anschaulichkeit der geschilderten Situation aus, die es genau zu verstehen und gewissermaßen zu sehen gilt. Es ist nämlich nicht wahr, daß es in diesen Texten keinen Wirklichkeitsbezug und daher keinen Bedeutungsgehalt mehr gibt, was übrigens kein modernes Qualitätsmerkmal, sondern ein Zeichen modischer Trivialität wäre. Die nur scheinbar entgegengesetzten Extreme der biographischen und der strukturalistischen Fehldeutung, die oft seltsame Allianzen eingehen,Footnote 3 führen beide in die Irre. Zwar ist der Erlebnishintergrund des Autors für das Textverständnis nicht entscheidend und seine Kenntnis oft sogar störend, aber selbstverständlich geht es auch Trakl, wie allen sinnstiftenden Dichtern, darum, mit Dinglichem geistige Bedeutung zu schaffen, wozu er neben formalen Mitteln der Komposition auch die symbolischen und traditionsbeladenen Verweismöglichkeiten der konkreten Welt und ihrer sprachlichen Benennung benutzt. Man kann seine Gedichte eben nicht bloß innersprachlich und rein strukturell deuten, ohne zu wissen, was strukturbildende Sprachelemente wie ›Baum‹, ›Hain‹, ›Weiher‹, ›Mond‹ oder ›Blut‹ bedeuten; und man kann sie auch nicht verstehen, wenn man die zitathaften Verweise auf die Bedeutungsbeladung dieser Dinge in Geschichte, Mythologie und früherer Dichtung nicht erkennt.Footnote 4 Wer etwa bei Trakls mehrfach benutzter Formel ›Brot und Wein‹ nicht zugleich an die christliche Eucharistie und ihre Umdeutung bei Hölderlin denkt, kann seinen Texten, die sich darauf beziehen, auch nicht annähernd gerecht werden. Sprache trägt immer schon einen Verweischarakter in sich, sowohl auf die Natur wie auf die Tradition; Aufgabe des Dichters ist es, ihn poetisch zu nutzen, nicht aber, ihn durch sinnentleerte Beliebigkeit zu ersetzen.Footnote 5
Der Unterscheidung des außerfiktionalen Dichters vom innerfiktionalen Lyrischen Ich entspricht also die methodisch höchst notwendige Unterscheidung der poetischen Wirklichkeitsebenen, deren Vermengung gerade bei Trakl zu grundsätzlichem Mißverstehen führen muß. So wie die Aussage, die Welt sei sinnlos, vollkommen sinnvoll ist, sind auch Trakls Gedichte nicht selbst unwirklich, sondern sie gestalten eine Unwirklichkeit, die aber als höhere Wirklichkeit erscheinen soll. Es ist ein hypernaturalistischer Methodenirrtum, daß ein Kunstwerk, das Mehrdeutigkeit oder Unwirklichkeit ausdrücken soll, selbst mehrdeutig oder unwirklich sein müsse; und es beruht auf einem materialistischen Weltbild, das Trakls idealistischem Denken nicht gerecht werden kann, wenn seine Kritik an der äußeren Wirklichkeit schlichtweg als Wirklichkeitsverlust verstanden wird, statt als Versuch, eine innere Wirklichkeit zu finden und zu gestalten.Footnote 6
Trakls Texte verwirklichen das Unwirkliche und entwirklichen das Wirkliche mit poetischen Mitteln, die schwer verständlich sein mögen, aber nicht prinzipiell unverständlich sind. Dabei wird die sinnliche Realität als Illusion und Täuschung entlarvt, die eine häßliche und böse Wirklichkeit verdeckt. Es geht bei Trakl nicht um einen hedonistischen Lebensgenuß, der von absonderlichen psychischen oder physischen Dispositionen verhindert würde, die es zu überwinden gälte, sondern um einen erkenntnisbedingten Lebensekel, der nach geistigen Alternativen sucht. Das Dionysische, das ihm Nietzsche vermittelt haben mag, das er aber ganz anders behandelt und bewertet, ist ihm daher keine Erlösung, sondern eine sündhafte Verirrung, die als Rückfall umso schlimmer ist, wenn man ihren illusionären Charakter erkannt hat. Das Christliche erscheint ihm dagegen als wesensverwandter, aber historisch gescheiterter Versuch, eine höhere Wirklichkeit zu finden und mit ihr auf die Lebenswirklichkeit zurückzuwirken.Footnote 7 Nur das Orphische, also das subjektiv Innerliche, bietet bei Trakl zuweilen, aber auch nicht immer, die Möglichkeit der Weltflucht durch poetische Schaffung einer seelischen Gegenwirklichkeit, in der die Vergänglichkeit besiegt und das real Verlorene ideal wiedergewonnen werden kann. Am Ende freilich mißlingt auch dies.
Im Kunstwerk könnte diese innere Wirklichkeit, die sich im menschlichen Bewußtsein nur momentan herstellen läßt, im Sinne einer klassischen Ästhetik auch äußerliche Dauerhaftigkeit gewinnen. Der Gedanke, daß die Kunst als ästhetisches Opfer den Tod besiegen und das Böse bannen oder sogar sühnen könnte, stößt bei Trakl aber immer wieder auf Zweifel und Verzweiflung. Mit Nietzsches Diktum, »daß nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint«, hat dieser letztlich religiöse Sühnegedanke gar nichts zu tun, denn Nietzsche begründet die Rechtfertigung der Realität durch das »Dionysische« mit seiner »selbst am Schmerz perzipierten Urlust«,Footnote 8 während Trakl – eher im Sinne Schopenhauers – ganz im Gegenteil alles Dionysische und alle schuldhafte »Urlust« des Menschengeschlechts überwinden will, wenn auch nicht kann. Wenn er dabei das christliche Heilsangebot skeptisch bewertet, weil es zur äußerlichen Konvention erstarrt ist und nicht mehr in die soziale Wirklichkeit hineinwirken kann, dann verzichtet sein orphischer Weg der Innerlichkeit von vorne herein auf dieses Bemühen und findet ganz in der Seele des Einzelnen statt. Diese geistige Seligkeit, die als poetische Schöpfung erscheint, muß freilich durch Einsamkeit und Leid in der Lebenswirklichkeit teuer erkauft werden. Und wenn seine Herstellung oft auch scheitert, dann mag es daran liegen, daß diese äußere Welt in ihrer sündhaften Bosheit unrettbar dem Untergang verfallen bleibt. Auch wenn es dem Lyrischen Ich innerhalb der Dichtung mitunter gelingt, dieser schrecklichen Wirklichkeit zu entkommen, so gestaltet Trakl sie doch immer mit. Im Bewußtsein des Dichters und im Sinngefüge seines Gedichts bleibt die elegische Erkenntnis immer gegenwärtig, daß ein ideales Glück ein reales Unglück voraussetzt, an dem es nichts ändert. Deshalb erscheint ihm die individuelle Flucht in ein exklusives Paradies des Geistes und, weil dieser Geisteszustand eine poetische Errungenschaft ist, letztlich auch die Dichtkunst selbst als Schuld. Trakl hat die Unhaltbarkeit der Vermischung von Ästhetik und Ethik selbst eingeräumt: »kein Gedicht kann Sühne sein für eine Schuld«.Footnote 9
II.
Verse
Verse Confiteor Die bunten Bilder, die das Leben malt Seh’ ich umdüstert nur von Dämmerungen, Wie kraus verzerrte Schatten, trüb und kalt, Die kaum geboren schon der Tod bezwungen. Und da von jedem Ding die Maske fiel, Seh’ ich nur Angst, Verzweiflung, Schmach und Seuchen, Der Menschheit heldenloses Trauerspiel, Ein schlechtes Stück, gespielt auf Gräbern, Leichen. Mich ekelt dieses wüste Traumgesicht. Doch will ein Machtgebot, daß ich verweile, Ein Komödiant, der seine Rolle spricht, Gezwungen, voll Verzweiflung – Langeweile!
Schon in dem frühen Gedicht »Confiteor« (T147) läßt Trakl sein Lyrisches Ich das Bekenntnis ablegen, daß ihm die alltägliche Lebenswirklichkeit ein »Traumgesicht« sei, und damit die Unwirklichkeit des Wirklichen konstatieren. Dieser in seiner Art durchaus gelungene Text unterscheidet sich von späteren Behandlungen desselben Themas durch eine unkonkrete Abstraktheit, aber gerade deshalb auch durch eine unmittelbar verständliche Einfachheit der Aussage.Footnote 10 »Die bunten Bilder, die das Leben malt«, sind für dieses Ich »umdüstert nur von Dämmerungen«. Hier wird die reizende Buntheit der Objektwelt, die allerdings auch schon ein vom »Leben« künstlich hergestelltes Gemälde ist, bewußt vom subjektiven Blick unterschieden, dem die Dinge wie »kraus verzerrte Schatten« erscheinen, die »kaum geboren schon der Tod bezwungen« hat. Die antike Vorstellung vom Tod als Schattenwelt wird auf das moderne Leben übertragen, das somit als eigentliches Todesreich erscheint. Durch die Geburt kommt man in ein Leben, das in Wirklichkeit ein Tod ist. Während die erste Strophe diese Wahrnehmungsweise scheinbar noch als subjektive Verzerrung einer vorgegebenen Realität kennzeichnet, die man als krankhafte Melancholie mißverstehen könnte, dreht sich in der zweiten Strophe das Verhältnis um: »da von jedem Ding die Maske fiel«, kann das Ich nun die eigentliche Wirklichkeit hinter dieser maskierten Realität erkennen, nämlich »Angst, Verzweiflung, Schmach und Seuchen«. Jetzt versteht man auch erst das Motiv der vom Leben gemalten bunten Bilder, bei denen es sich nämlich um diese schönen Masken handelt, die das Eigentliche und Wahre verdecken.
Diese maskierte Scheinexistenz des Lebens ist der »Menschheit heldenloses Trauerspiel«. Das Leben als Theater ist eine von der Romantik aufgegriffene Barockidee aus religiös geprägten Zeiten, die aber nicht nur die Eitelkeit der vergänglichen Welt erkannten, sondern in christlichem Geiste auch noch nach einer ewigen Wirklichkeit strebten.Footnote 11 Davon ist hier keine Rede. Das Lyrische Ich erkennt zwar, weil es ein »schlechtes Stück« ist, das irdische Leben als eine Theaterillusion, hat ihm aber kein unvergängliches Leben entgegenzuhalten. Ihm ist bewußt, daß dieses Theater des Lebens »auf Gräbern« und »Leichen« aufgeführt wird, daß also die vorgetäuschte Schönheit und Sinnhaftigkeit nur das Ekelhafte des Todes und der Vernichtung überdeckt. Während ein Barockdichter dieses memento mori mit der Hinwendung zum Ewigen beantwortet hätte, bleibt bei Trakl die Aussicht auf die christliche Transzendenz verwehrt. Sein Ich »ekelt« zwar das »wüste Traumgesicht« der sogenannten Realität, es muß aber mangels Alternative dennoch gegen seinen Willen mitwirken. »Gezwungen« spielt es als »Komödiant« seine traurige »Rolle«. Wer dies alles durchschaut, dem bleibt nur noch »Verzweiflung« und »Langeweile«.
Welches »Machtgebot« den Menschen zwingt, wird nicht gesagt, doch ist es gewiß schon das Dasein selbst, das ihn zum Mitspielen im schäbigen Schauspiel des Lebens verurteilt, und nicht eine reformierbare Fehlentwicklung der Gesellschaft, der man sich schließlich durch mutiges Außenseitertum verweigern könnte. Diese »Langeweile« ist kein dekadentes ennui, wie es zu jener Jahrhundertwende gerade auch in Österreich Mode wurde, sondern hat die Qualität religiöser »Verzweiflung« über ein unabänderliches Unheil,Footnote 12 sei es nun, worüber dieser Text keine nähere Auskunft gibt, im menschlichen Wesen begründet oder historisch entstanden. In späteren Gedichten mit kulturkritischen Aspekten wie dem »Abendländischen Lied« (T66 f.) wird das existentielle Übel der Menschennatur deutlicher vom epochalen Aufhören geistiger Gegenwehr unterschieden.Footnote 13 Von einer hedonistischen Sehnsucht nach der verlorenen Weltlust, die nun einmal als Täuschung und Selbsttäuschung erkannt worden ist, kann jedenfalls schon beim frühen Trakl keine Rede sein.Footnote 14 Es ist nicht, wie bei Heine, erst die Todesnähe, die den heidnischen Lebensspaß verdirbt, sondern dieser selbst wird, wie bei Eichendorff, als Phänomen des Todes verstanden, der sich allerdings nicht mehr mit christlicher Zuversicht überwinden läßt.Footnote 15 »Confiteor« bleibt ganz im Negativen, wenn nicht gar im Nihilistischen befangen. Es fehlt hier sogar der Stolz der Frühromantik auf diesen leidvollen Erkenntnisvorsprung,Footnote 16 den Trakl – vielleicht auch über Nietzsche vermittelt – gut kennt: »Nur dem, der das Glück verachtet, wird Erkenntnis«, schreibt er bereits 1908 unter seine Photographie.Footnote 17 Wie bei den Romantikern ist dieser Sinnverlust aber sein Ausgangspunkt, um im Negativen das Positive, in der Dunkelheit das Licht, im Tod das Leben zu suchen; hier knüpft er, wenn auch auf ganz eigene Weise, an Hölderlin und Novalis an, mit denen seine reife Dichtung dann sehr viel enger verbunden ist als mit der kruden Kraftmeierei der ›Expressionisten‹, dem seichten Stimmungsgesäusel der ›Impressionisten‹ oder der leeren Wichtigtuerei der ›Symbolisten‹ seiner Zeit.Footnote 18
Daß die Sinnlosigkeit schon im Frühwerk nicht etwa programmatisch oder gar euphorisch, sondern leidend erkannt wird, zeigt bei »Confiteor« bereits der merkwürdige Titel aus der katholischen Meßliturgie, der das Schuldbekenntnis des Priesters bezeichnet, bevor er an den Altar zu treten wagt. Damit deutet sich an, was in späteren Gedichten bestätigt wird, daß sich Trakl – wie Hölderlin – in platonischer Tradition als poeta vates versteht, als priesterlich-prophetischer Dichter, der nicht nur eine beliebige subjektive Befindlichkeit oder vage Stimmung, sondern eine allgemeingültige Wahrheit zu verkünden und damit auf eine geistige Wirklichkeit zu verweisen hat. Sein Altar, an dem er sein poetisches Opfer darbringt, ist dann die Dichtkunst, deren »Wohllaut« – wie es in »Abendlied« (T38) heißt – die Epiphanie des Idealen aus einer häßlichen Realität heraus ermöglicht. Auch wenn sich hier davon noch keine Spur erkennen läßt, wird Trakl in seinem späteren Werk dann durchaus auch diese positive Gegenwelt errichten; der Unwirklichkeit des Wirklichen, die freilich immer bestehen bleibt, wird dann eine Wirklichkeit des Unwirklichen entsprechen. Auch diese höhere Wirklichkeit besteht in einer Art Transzendenz, aber nicht im Sinne einer seligen Ewigkeit nach diesem Leben, sondern als Einbruch einer geistigen Gegenwelt in dieses Leben. Wie bei »Confiteor« wird Trakl dabei die christliche Religion als poetischen Anspielungshorizont beibehalten, um die Möglichkeit einer lebensvollen Idealität zu veranschaulichen, die mit Leid und Trauer erkauft werden muß; und auch die antike Schattenwelt wird in synkretistischer Weise immer wieder bemüht, um die Alltagsrealität als Totenreich zu entlarven.
III.
Verse
Verse Allerseelen An Karl Hauer Die Männlein, Weiblein, traurige Gesellen, Sie streuen heute Blumen blau und rot Auf ihre Grüfte, die sich zag erhellen. Sie tun wie arme Puppen vor dem Tod. O! wie sie hier voll Angst und Demut scheinen, Wie Schatten hinter schwarzen Büschen stehn. Im Herbstwind klagt der Ungebornen Weinen, Auch sieht man Lichter in der Irre gehn. Das Seufzen Liebender haucht in Gezweigen Und dort verwest die Mutter mit dem Kind. Unwirklich scheinet der Lebendigen Reigen Und wunderlich zerstreut im Abendwind. Ihr Leben ist so wirr, voll trüber Plagen. Erbarm’ dich Gott der Frauen Höll’ und Qual, Und dieser hoffnungslosen Todesklagen. Einsame wandeln still im Sternensaal.
Die Unwirklichkeit des Wirklichen ist auch in Trakls Gedichten von 1913 ein auffallendes Phänomen. »Unwirklich scheinet der Lebendigen Reigen«, heißt es in »Allerseelen« (T21), obwohl ihr »Leben« doch »voll trüber Plagen« ist. Der Titel dieses Gedichts, der – wie »Confiteor« – ebenfalls christliche Assoziationen weckt, legt den Gegensatz von Tod und Leben, aber im Grunde auch schon die Umkehrung der üblichen Wertung nahe. Wie so oft gewinnt Trakls scheinbar abgerissener Stil, wenn man die beschriebene Szenerie erkennt, eine konkrete Anschaulichkeit. Auf dem Friedhof »streuen« die Besucher »heute«, am Totengedenktag, »Blumen« auf »ihre Grüfte«, auf die Gräber ihrer Angehörigen, die sich aufgrund der »Lichter«, der brennenden Kerzen, nur »zag erhellen«, also kein wirkliches Lebenslicht ausstrahlen können. Hier zeigt sich schon, wie Trakl die christlichen Bräuche als Bedeutungsträger benutzt, ohne doch selbst eine religiöse Lösung zu finden. Das darf man nicht als satirische Parodie mit antireligiöser Tendenz mißverstehen, denn nicht die Religion ist schuld, daß sie nicht hilft, sondern die Menschen, die sie nicht mehr verinnerlicht und damit verwirklicht haben, die als »traurige Gesellen« nur noch das äußere mechanische Verhalten an den Tag legen: »Sie tun wie arme Puppen vor dem Tod«. Diese Scheinchristen sind – wenn man »vor« zugleich räumlich und zeitlich versteht – angesichts des fremden und in Erwartung des eigenen Todes im Grunde schon leblos. Sie haben eben nicht, wie sie als Christen doch sollten, ihre Todesangst verloren, sondern »scheinen«, wie mit einem elegischen »O!« ausgerufen wird, gerade »hier« auf dem Friedhof »voll Angst und Demut«, ein sarkastisches Hendiadyoin, mit dem die christliche Haupttugend, die doch mit freudiger Hoffnung verbunden sein sollte, als unchristlicher Reflex hoffnungslos Ungläubiger entwertet wird.Footnote 19
Diese Stelle offenbart viel über Trakls poetische Technik. Das klagende »O!« bringt, wie später auch der Gebetsruf »Erbarm’ dich Gott«, eine persönliche Perspektive in ein ansonsten unpersönlich gehaltenes Gedicht. Gerade weil diese emotionale Wertung keinem Lyrischen Ich zugeschrieben wird, wirkt sie suggestiv auf den Leser, der sie als seine eigene annehmen kann und soll. Wie jeder große Dichter schafft sich Trakl damit seinen Idealleser, der in gewissem Sinne Bestandteil seiner Dichtung ist und dessen auktorial vorgegebene Haltung einzunehmen sich der reale Leser, wenn er den Text verstehen will, bemühen muß. Zur Schaffung von Bedeutung bedient sich Trakl überdies der Symbolik, etwa wenn die gestreuten Blumen »blau und rot« sind, also das Transzendente und das Lebendige repräsentieren, allerdings in einer auffallend konventionellen Weise, die fast wie ein romantisches Zitat anmutet. So wie diese »Männlein« und »Weiblein« keine ganzen Menschen, sondern nur Verkleinerungsformen davon sind, so wie sie nur wie Puppen ohne Anteilnahme handeln, so sind auch ihre quasi rituellen Handlungen abgenutzt wie leerer Kitsch.Footnote 20
Im Gegensatz dazu nutzt Trakl selbst sehr raffiniert die Doppeldeutigkeit von »scheinen«, was durch das zuvor eingeführte Lichtmotiv eine konkrete, durch die Problematisierung der Wirklichkeit aber auch eine erkenntnis- oder existenzkritische Bedeutung bekommt: »Unwirklich scheinet der Lebendigen Reigen« nicht nur wegen der schwachen Beleuchtung, sondern auch, weil sie nur eine Scheinexistenz führen. Auch der »Reigen« bekommt dadurch noch einen speziellen Hintersinn, weil er das Motiv des Totentanzes zitiert und damit schon verdeutlicht, daß in Wirklichkeit die Lebendigen die Toten sind. Bekräftigt wird das dadurch, daß sie wie »Schatten hinter schwarzen Büschen« stehen, also wie die Toten nach antiker Vorstellung schattenhaft erscheinen und daher in einer düsteren Welt kaum wahrnehmbar sind.Footnote 21 Immer wieder bestätigt sich bei Trakl der Befund, daß es sich bei seinen nur scheinbar willkürlichen oder gar halluzinatorischen Bildern tatsächlich um bedeutungstragende Bezüge auf antike oder christliche Anschauungen und um Zitate klassischer oder romantischer Poesie handelt. Jede Dichtkunst braucht einen solchen Bezug, nicht um das Vorgefundene zu imitieren, sondern um es im Kontrast dazu mit eigenem Sinn zu erfüllen.Footnote 22 So erinnern Trakls »Puppen« an Kleists »Marionettentheater«, nur daß seine toten Figuren eben nicht von einer höheren Macht in die Freiheit gehoben werden; und mit dem Doppelsinn von »scheinen« spielt er auf Mörikes Gedicht »Auf eine Lampe« an, nutzt ihn aber in ganz anderer Weise, indem sich der ästhetische Schein eben nicht als sich selbst genug erweist, sondern der kümmerliche Schimmer der Grabkerzen den lichtarmen Schattenmenschen nur eine Scheinwirklichkeit zuweist.
Im Zentrum des Gedichts, am Ende der zweiten und am Anfang der dritten Strophe, steht der Hinweis auf Gründe für diesen traurigen Zustand. Auf diesem Friedhof der wirklich Toten und der Todesangst der unwirklich »Lebendigen« hört man im »Herbstwind«, der bekanntlich die Blätter von den Bäumen weht, auch »der Ungebornen Weinen«. Die Trauer über diejenigen, denen das Leben vorenthalten wurde, zieht sich durch Trakls Werk bis hin zu »Grodek« (T94 f.), wo der »ungebornen Enkel« gedacht wird. Während in diesem letzten Gedicht Trakls der »Schmerz« dann bemerkenswerter Weise Nahrung für die »heiße Flamme des Geistes« ist, »sieht man« in »Allerseelen« nur »Lichter in der Irre gehn«. Bei diesen Irrlichtern kann es sich nur um Grablichter von Friedhofsbesuchern handeln, die keinen legitimen Ort der Trauer finden können, kein Grab, um ihr Licht niederzusetzen. Wenn aber »in Gezweigen« das »Seufzen Liebender haucht«, dann ist die Parallele zu »der Ungebornen Weinen«, das im »Herbstwind klagt«, zu deutlich, um nicht eine gemeinsame Ursache anzunehmen, was durch den Abschlußvers dieser Gruppe fast brutal bestätigt wird: »Und dort verwest die Mutter mit dem Kind«. Hier hat eine illegitime Liebesgeschichte ein trauriges Ende für die gestorbene Mutter und ihr ungeborenes Kind gefunden. Und auf dem Friedhof gibt es Irrlichter, die kein Grab finden, deren schuldbewußte Träger aber das eigene Klagen und Seufzen im »Herbstwind« hören können.Footnote 23 Auch diese Veräußerlichung innerer Seelenregungen in die Natur hinein ist bei Trakl im Grunde eine romantische Reminiszenz, die hier aber in ihrer Negativität einen ganz unromantischen Eindruck macht.
Zuletzt richtet das ungenannte Lyrische Ich, dessen persönliche Anteilnahme zuvor nur im »O!« der zweiten Strophe zum Ausdruck kam, ein Gebet an »Gott«, er möge sich »der Frauen Höll’ und Qual« erbarmen, aber auch »dieser hoffnungslosen Todesklagen« der im Leben noch Zurückgebliebenen, die »so wirr, voll trüber Plagen« ihr düsteres schuldbeladenes Dasein fristen. Mit der Hoffnungslosigkeit dieser Friedhofsgänger am Allerseelentag, die vorwiegend ihr eigenes Todesschicksal beklagen, wird erneut das zutiefst Unchristliche ihrer Haltung betont. Die Religion bietet diesen Menschen, die nur noch schattenhaft leben und mechanisch Trauerriten ausführen, keinen Halt, keinen Trost und keine Hoffnung mehr über den Tod hinaus. Das ist »Die tote Kirche« (T150 f.), wie sie im gleichnamigen Gedicht beschrieben wird, wo der Priester »ein jämmerlicher Spieler« ist, der vor »schlechten Betern mit erstarrten Herzen« die »frommen Bräuche« in »seelenlosem Spiel« nur noch äußerlich darbietet, wo allerdings zuletzt doch wenigstens »eine« Frau durch Schmerz und Leid den Zugang zum »Schmerzensantlitz« Gottes findet.Footnote 24
Auch in »Allerseelen« steht ganz am Ende überraschender Weise der merkwürdige Vers: »Einsame wandeln still im Sternensaal«. Es gibt also doch einen ›Himmel‹, aber nicht für »traurige Gesellen«, die »zerstreut« und »wirr« wie »Puppen« ein zwar reales, aber unwirkliches Leben führen, sondern für »Einsame«, die sich diesem »Reigen« entziehen und damit aus dem Alltagsleben schon geschieden sind.Footnote 25 Wie genau sich Trakl diesen transzendenten Heilszustand vorstellt, geht aus diesem kurzen Hinweis nicht hervor. Und wenn es auch nicht die christliche Seligkeit ist, auf die in der ›toten Kirche‹ wenigstens die Eine noch hofft, so ist es doch auch hier ein seliges Jenseits, dem eine höhere Wirklichkeit zukommt als dem unseligen Diesseits. Dieser »Sternensaal« ist ein Zustand jenseits der Alltagswirklichkeit, in der die übrigen Menschen schattenhaft nur zu leben »scheinen«. Diesen Scheinlebendigen spricht Trakl jede wahre Wirklichkeit ab. In anderen Gedichten droht dieser unwirklichen Realität noch deutlicher der Untergang und die Vernichtung; aber auch der Lichtblick in einen »Sternensaal« ist in Trakls Lyrik nicht ungewöhnlich. Er ist jedoch immer nur für Einzelne, für »Einsame« möglich, die im Geiste schon nicht mehr von dieser Welt sind.
IV.
Verse
Verse Abendlied Am Abend, wenn wir auf dunklen Pfaden gehn, Erscheinen unsere bleichen Gestalten vor uns. Wenn uns dürstet, Trinken wir die weißen Wasser des Teichs, Die Süße unserer traurigen Kindheit. Erstorbene ruhen wir unterm Hollundergebüsch, Schaun den grauen Möven zu. Frühlingsgewölke steigen über die finstere Stadt, Die der Mönche edlere Zeiten schweigt. Da ich deine schmalen Hände nahm Schlugst du leise die runden Augen auf, Dieses ist lange her. Doch wenn dunkler Wohllaut die Seele heimsucht, Erscheinst du Weiße in des Freundes herbstlicher Landschaft.
In »Abendlied« (T38) findet ebenfalls ein »Erscheinen« aus einer anderen Welt statt; die konkrete Situation ist aber schwieriger greifbar als in »Allerseelen«. Das Lyrische Ich distanziert sich hier nicht einfach von der Scheinwirklichkeit des Lebens; die alternative Wirklichkeit des Geistes drängt sich ihm überdies als Erinnerung auf. Weil Trakl, durchaus in romantischer Tradition, diese innere ideale Welt wie eine äußere Realität behandelt, macht die Szenerie den gespenstigen Eindruck einer Geistererscheinung. Sie findet am »Abend« statt, »wenn wir auf dunklen Pfaden gehn«. Das läßt sich zunächst ganz konkret dahin verstehen, daß abends die unbeleuchteten Wege dunkel sind; aber der weitere Verlauf des Gedichts legt dann auch eine metaphorische Bedeutung nahe.Footnote 26 Offenbar ist es ein melancholischer Geisteszustand, der den Einbruch der geistigen Wirklichkeit überhaupt erst ermöglicht. Merkwürdiger Weise ist drei Strophen lang von einem »wir« die Rede, das sich erst in der fünften in ein »ich« und ein »du« spaltet. Bis dahin könnte man dieses »wir« auch kollektiv verstehen, so daß der Leser mit eingebunden wäre.Footnote 27 Diese womöglich bewußt provozierte Lesart wird dann zugunsten eines Paares widerlegt, das sich gegenseitig erscheint.Footnote 28 Und so ist es auch in der ersten Strophe schon gemeint: die Beiden gehen hier schon »auf dunklen Pfaden« des Geistes, auf denen am Ende »dunkler Wohllaut« erklingt, und ihre »bleichen Gestalten«, die das »Weiße« vorwegnehmen, erscheinen »vor« einander. Dieses Bleiche und »Weiße« bezeichnet zwar das Geisterhafte, aber auch die Reinheit des Erinnerungsbildes, welches das Lyrische Ich bei der von ihm erinnerten Person spiegelbildlich voraussetzt.
Die erste Strophe gehört also nicht mit den folgenden zu einem Handlungskontinuum, wie man zunächst verstehen könnte, sondern nimmt rahmenhaft das »Erscheinen« der letzten vorweg, deren symmetrisches Spiegelbild sie ist. Dann wird erklärt, wie es dazu kommen konnte. Die zweite Strophe beschreibt dies als Erinnerungsakt. Wenn den in der Wirklichkeit Getrennten nach ihrem Zusammensein »dürstet«, wenn sie also in metaphorischer Bedeutung, die auch aus biblischer Redeweise bekannt ist,Footnote 29 ein höheres geistiges Bedürfnis haben, das ihnen sonst nicht befriedigt werden kann, dann trinken sie »die weißen Wasser des Teichs«, nämlich die »Süße« ihrer »traurigen Kindheit«. Dieses auffallende Oxymoron besagt, daß damals gerade in der Traurigkeit eine Süße lag, nämlich eben diese Gemeinsamkeit, nach der ihnen in ihrer einsamen Melancholie nun »dürstet«.Footnote 30 Dem entspricht vollkommen der zuvor geschilderte Zustand der Traurigkeit, der diesen Durst nach der Gemeinsamkeit erst weckt. Sie haben ihre Kindheit gemeinsam verbracht und erinnern sich nun gemeinsam an sie zurück. Da dies aber eigentlich nur von einem »ich« gesagt wird, ist es streng genommen nur seine Erinnerung, die es aber ganz selbstverständlich auch bei dem Anderen voraussetzt, was ihre geistige Verbundenheit noch verstärkt. Nicht zufällig wiederholt sich diese inhaltliche Symmetrie formal im Gesamtaufbau des Gedichts, das man über eine Mittelachse ineinander spiegeln kann. So spiegelt das Ich hier seine Sehnsucht nach dem Anderen in dessen gewünschter und als wirklich vorhanden ausgesagter Sehnsucht nach ihm.
Die Anschaulichkeit der beschriebenen Naturlandschaft mit »Pfaden«, die an das Ufer eines »Teichs« führen, wo ein »Hollundergebüsch« wächst, von wo aus man eine »finstere Stadt« oder doch die »Frühlingsgewölke« über ihr sehen kann, muß man sich auch bei Traklgedichten immer vor Augen führen, um die innere Logik des Geschehens zu begreifen. Auch hebt der metaphorische Sinn, wonach der Teich, etwa wie der mythische Avernus, ein Zugang zur Totenwelt ist, den litteralen nicht auf.Footnote 31 Da auch die Details nicht beliebig und die Adjektive nicht etwa nur isoliert symbolhaft, sondern immer mit Bezug zu einer geschilderten Situation gewählt sind, muß man hier fragen, warum das »Wasser des Teichs« in einer dunklen Abendlandschaft nicht nur hell, sondern sogar weiß ist. Eine konkrete Erklärung dafür wäre das – im Text allerdings nicht ausdrücklich erwähnte – Mondlicht, das nämlich, wie die letzte Strophe sagt, in »herbstlicher Landschaft« scheinen würde; denn auch sonst bei Trakl, etwa in »Die Ratten« (T30 f.), »scheint weiß der herbstliche Mond«. Und der Mond ist es auch im späteren Gedicht »Der Abend« (T90), der mit seinem Licht die Geisterwelt der Erinnerung ins Leben ruft, für die das »Weiße« hier steht. Solche Anleihen aus anderen Texten zur Interpretation eines Gedichts drängen sich aufgrund der häufigen Motivwiederholungen gerade bei Trakl auf, dürfen das Verständnis aber nie alleine bestimmen, sondern müssen immer durch den Kontext bestätigt werden. So paßt das weiße Mondlicht – das sich übrigens schon bei Opitz findetFootnote 32 – hier nicht nur zur landschaftlichen Szenerie mit ihrer Farbsymbolik, sondern auch zur transzendenten Metaphorik in diesem Gedicht und somit zum durchgängigen Gedanken in Trakls Werk, daß eine dunkle Welt durch einen ›Schein‹ erleuchtet werden muß, um eine höhere Wirklichkeit zu gewinnen.Footnote 33
Wenn der Teich an den mythischen Zugang zur Totenwelt erinnert, dann das Trinken seines Wassers – wie in »An einen Frühverstorbenen« (T65) – an den Lethefluß, aus dem die Gestorbenen die Vergessenheit an das Leben trinken. Es geht bei diesem Trinken also nicht um eine rauschhafte Steigerung des Lebens,Footnote 34 sondern um eine radikale Ernüchterung. Es ist, wie Hölderlin es nennt, das »heilignüchterne Wasser«, mit dem sich auch nach Goethe eine »nüchterne Trunkenheit«, die klassische sobia ebrietas, erreichen läßt, der eigentliche poetische Zustand, der unmittelbare Begeisterung mit ästhetischer Distanz vereint.Footnote 35 Auch bei Trakl bewirkt er zuletzt den »Wohllaut der Seele«. Nach dem Trinken vom Wasser der Erinnerung an Vergangenes, das zugleich ein Wasser des Vergessens der Gegenwart ist, sind die Beiden, wie es in der dritten Strophe heißt, »Erstorbene« wie die Lethetrinker, nur daß sie nicht körperlich, sondern geistig der Welt abhanden gekommen sind. Die Wirklichkeiten haben sich vertauscht. Sie sind der dunklen Welt, in der sie getrennt sind, nun abgestorben; sie »ruhen« aber nicht wie körperlich Tote in der Erde, sondern »unterm Hollundergebüsch« und schauen dabei »den grauen Möven zu«. Der Holunder, der auch sonst ein Baum der Lebensfreude ist, steht bei Trakl nicht nur im gleichnamigen Gedicht in Verbindung mit der »Kindheit« (T47);Footnote 36 und auch die Möven sind in »Anif« (T63) geradezu Vögel der »Erinnerung« und der »Schwermut«. Aus Trauer und Sehnsucht ist das Lyrische Ich mit seinem imaginierten Du in das gemeinsame Grab ihrer Erinnerung gestiegen.
Die Wirkung dieses höchst subjektiven, aber in seiner Weise dennoch wirklichen Zustandes beschreibt die vierte Strophe, die nach den drei Wir-Strophen und vor der Ich-und-Du-Strophe betont objektiv gehalten ist: »Frühlingsgewölke« zeigen sich in dieser inneren Wirklichkeit, wo es doch in der äußeren Herbst ist. Auch dieser Wechsel der Jahreszeit ist kein blindes Halluzinieren des Dichters, sondern ein gezielter Verweis auf den Wechsel der Wirklichkeiten. Wolken sind auch sonst bei Trakl das Bild der Epiphanie einer göttlichen Gegenwelt.Footnote 37 Sie »steigen über die finstere Stadt«, womit die soziale Gemeinschaft als Ort der geistigen und moralischen Verfinsterung genannt wird, der diese Beiden entkommen wollen, als »Einsame«, wie es in »Allerseelen« (T21) hieß, in den »Sternensaal« ihrer exklusiven Gemeinsamkeit. Sogar die historische Dimension der Kulturkritik öffnet sich hier kurz, wenn auf »der Mönche edlere Zeiten« verwiesen wird, wie sie in »Abendländisches Lied« (T66 f.) breiter geschildert sind.Footnote 38 Die »finstere Stadt« ist auch deshalb finster, weil sie diese hellere Vergangenheit »schweigt«, anstatt sich zu ihr in Beziehung zu setzen, so wie es das Lyrische Ich in der fünften Strophe mit seiner Kindheit macht, die zwar »lange her«, also in der sinnlichen Wirklichkeit vergangen ist, nun aber visionär vergegenwärtigt und damit ideal verwirklicht wird. Die soziale Realität der Stadt ist dagegen ohne historisch-kulturelle Erinnerung und daher auch ohne ideales Licht. Die erinnerte Beziehung zum Lyrischen Du ist geprägt durch die Zartheit seiner »schmalen Hände« und durch die Stille, wenn es »leise die runden Augen« aufschlägt. Diese »runden Augen« sind bei Trakl – etwa noch in »Elis« (T50 f.) – ein Zeichen des staunenden Glücks und der harmonischen Einbindung in eine paradiesische Welt. Es ist aber immer das Glück einer idealen Gegenwelt, das im Leben verschwunden und »lange her« ist.
Zuletzt widerspricht ein adversatives »Doch« diesem Vergangensein der Vergangenheit. Im Lyrischen Ich, und nach seiner festen Überzeugung auch im von ihm imaginierten Du, wird das verlorene Glück geistig und fast geisterhaft wieder hergestellt, »wenn dunkler Wohllaut die Seele heimsucht«. Dieses Dunkle greift die Dunkelheit der ersten Strophe auf, wie überhaupt das Gedicht in seinen jeweils gleichlangen Strophen symmetrisch konstruiert ist, denn auch die vorletzte Strophe bringt die »Süße« der zweiten zur Anschauung, und die drittletzte das Schauen der Erstorbenen aus der dritten. Auch der Gedanke, daß die helle Erinnerungswelt aus der Dunkelheit der Melancholie heraus erwächst, kehrt wieder, denn »dunkler Wohllaut« bewirkt jetzt, daß die »Weiße« erscheint. Damit wird das »du« zum ersten Mal dezent als feminin benannt.Footnote 39 Das Geschlechtliche hat jedoch ansonsten in diesem Text, wo es – wie im Gedicht »An einen Frühverstorbenen« (T65) – um eine Kindheitsfreundschaft geht, keine Bedeutung,Footnote 40 zumal wenn hier das Femininum ohne Bezug auf das natürliche Geschlecht rein grammatisch die erscheinende Seele bezeichnen sollte. Den »Wohllaut«, der mit der geistigen Erscheinung einhergeht, darf man – wie im Gedicht »In ein altes Stammbuch« (T24), wo es ebenfalls um eine abendliche »Melancholie« geht – mit »weichem Wahnsinn« verbinden und mit diesem als Zustand poetischer Begeisterung, als platonischen furor divinus verstehen.Footnote 41 Wenn er die »Seele heimsucht«, ist es also ein Zustand angenehmer Entrücktheit oder Erstorbenheit. Diese ›Heimsuchung‹, die auch als Leiderfahrung verstanden werden kann, erinnert überdies an eine biblische Szene der Begegnung Verwandter und Gleichgesinnter, die wissen, daß das Heil geboren wird,Footnote 42 so daß, wie bei den Mönchen, auch hier der christliche Horizont wieder aufscheint. Zudem betont dieses bei Trakl eher seltene Wort, das quasi als Oxymoron Leid und Heil verbindet, daß das Lyrische Ich von dieser Erscheinung gerade dort besucht wird, wo es in eminenter Weise ›daheim‹ ist, nämlich im Inneren seiner Seele.
Während die unedle Realität der »Stadt« erinnerungslos »edlere Zeiten schweigt« und damit in ihrer bösen Finsternis gefangen bleibt, entkommt das Lyrische Ich durch Realitätsflucht in eine innere Wirklichkeit voller Wohlklang und Helle. So kann die »Weiße in des Freundes herbstlicher Landschaft« erscheinen, also das Helle im Dunklen, der Frühling im Herbst, die Vergangenheit in der Gegenwart, das Leben im Tod, die Kindheit im Erwachsenen, das Glück in der Traurigkeit, das geistig Reine in der betrübten Seele des Erinnernden. Und doch behält und verstärkt sogar diese »Weiße« den gespensterartigen Eindruck der »bleichen Gestalten« vom Anfang des Gedichts, so daß die Andersartigkeit dieser Geisteswirklichkeit und ihre reale Unwirklichkeit immer mit im Bewußtsein bleibt.Footnote 43 Das einzig mögliche Glück ist bei Trakl nicht von dieser Welt, sondern von einer Welt der Imagination, die das reale Unglück und Nichtdazugehören voraussetzt. Denn wer zur finsteren »Stadt« gehört, hat kein höheres Bedürfnis und keine ideale Sehnsucht mehr.
V.
Verse
Verse An einen Frühverstorbenen O, der schwarze Engel, der leise aus dem Innern des Baums trat, Da wir sanfte Gespielen am Abend waren, Am Rand des bläulichen Brunnens. Ruhig war unser Schritt, die runden Augen in der braunen Kühle des Herbstes, O, die purpurne Süße der Sterne. Jener aber ging die steinernen Stufen des Mönchsbergs hinab, Ein blaues Lächeln im Antlitz und seltsam verpuppt In seine stillere Kindheit und starb; Und im Garten blieb das silberne Antlitz des Freundes zurück, Lauschend im Laub oder im alten Gestein. Seele sang den Tod, die grüne Verwesung des Fleisches Und es war das Rauschen des Walds, Die inbrünstige Klage des Wildes. Immer klangen von dämmernden Türmen die blauen Glocken des Abends. Stunde kam, da jener die Schatten in purpurner Sonne sah, Die Schatten der Fäulnis in kahlem Geäst; Abend, da an dämmernder Mauer die Amsel sang, Der Geist des Frühverstorbenen stille im Zimmer erschien. O, das Blut, das aus der Kehle des Tönenden rinnt, Blaue Blume; o die feurige Träne Geweint in die Nacht. Goldene Wolke und Zeit. In einsamer Kammer Lädst du öfter den Toten zu Gast, Wandelst in trautem Gespräch unter Ulmen den grünen Fluß hinab.
Der Unwirklichkeit des Wirklichen entspricht bei Trakl die Wirklichkeit des Unwirklichen. Nicht immer ist sie so greifbar wie in dem Gedicht »An einen Frühverstorbenen« (T65), wo berichtet wird, wie dessen »Geist« dem Kindheitsfreund, dem Lyrischen Ich, in späterer Zeit »stille im Zimmer erschien«. Daß hier nicht der Dichter selbst spricht, sondern daß er in seiner Dichtung ein Ich sprechen läßt, ist wichtig für das richtige Verständnis. Trakl versichert nicht dem Leser, ihm sei ein Gespenst erschienen, sondern er läßt ein Lyrisches Ich, das sich hier nur im »wir« der ersten und im »du« der letzten Strophe nennt, einen innerlichen Vorgang entfalten. Ganz unabhängig davon, auf wieviel eigenes Erleben der Dichter dabei zurückgreift, inwieweit dieses Ich also ein partielles Selbstporträt Trakls sein könnte, schafft er sich damit die ästhetische Distanz, den Seelenzustand, in dem das Unwirkliche wirklich wird, künstlerisch zu gestalten.Footnote 44 Und das Poetische ist eben auch eine Wirklichkeit. Das Erscheinen von Gespenstern mag man für unrealistisch halten; und wenn hier die Privatperson Trakl zur Privatperson des zufälligen realen Lesers spräche, bliebe es dessen privatem Dafürhalten überlassen, daran zu glauben oder nicht. Die poetische Schilderung eines Menschen, der an die innere Vergegenwärtigung der Gestorbenen glaubt und sie sogar erlebt, weil sie sich ihm aufgrund eines seelischen Ausnahmezustandes scheinbar körperhaft zeigen, ist hingegen – wie sogar der atheistische Storm im »Schimmelreiter« demonstriert – vollkommen realistisch und auch bei Trakl für den gutwilligen Realleser, der sich dem auktorial definierten Idealleser anzunähern bestrebt, rational und sprachlogisch nachvollziehbar.Footnote 45
Das Gedicht besteht aus sechs Strophen zu drei Paaren abnehmenden Umfangs mit jeweils fünf, vier und drei Versen. Die erste Strophe mit rahmendem Klage-»O« im ersten und im letzten Vers berichtet, wie »der schwarze Engel« des Todes in die »sanfte« und ruhige Idylle der Kindheit einbrach, die – wie in »Abendlied« (T38) – gekennzeichnet war durch den naiven Blick aus »runden Augen«. Obwohl die beiden Kinder damals äußerlich schon »am Abend« und »in der braunen Kühle des Herbstes« lebten, also in einer verwelkenden Spätzeit, genossen sie doch innerlich »die purpurne Süße der Sterne«, also auch schon im Widerspruch zur äußeren Wirklichkeit eine Art transzendentes Glück, was noch verstärkt wird durch ihr Spielen am »Rand des bläulichen Brunnens«. Denn Blau ist bei Trakl die Farbe auch des jenseitigen ›Himmels‹ und verweist in Verbindung mit Wasser auf ein höheres Leben; und Purpur verbindet Lebensfülle mit Leid wie bei Wein und Blut.Footnote 46 Schon das Glück dieser Kindheit beruhte also auf dem Nichtwahrnehmen der schlimmen Realität und auf einem Leben in anderer Wirklichkeit, in die der Tod unbemerkt »aus dem Innern des Baums trat«, also aus der Natur selbst heraus, in der sie sich irrtümlich geborgen fühlten. Die vergängliche Natur gehört aber bei aller äußeren Schönheit zum Reich des Todes, der – wie es in »Confiteor« (T147) heißt – hinter dieser »Maske« versteckt in ihrem Innern lauert; das zeitlose Glück, auch die naive Kinderfreundschaft, ist dagegen immer ein geistiger Zustand.
»Jener« Freund »aber« verließ den realen Ort dieser Zweisamkeit, nämlich den Mönchsberg, dessen realistische Benennung den Eindruck der materiellen Wirklichkeit noch verstärkt, »und starb«. Der »Garten« macht diesen Ort, aus dem der Freund durch den Tod vertrieben wird, endgültig zu einer Art verlorenem Paradies, zumal auch in das biblische Paradies der Tod durch einen Baum kam. Diese christliche Bilderwelt wird bei Trakl gewöhnlich durch eine antike ergänzt, was hier freilich erst am Ende des Gedichts ganz deutlich wird. Dennoch darf man rückblickend schon dieses Paradies auch mit einem idyllischen Arkadien gleichsetzen, in dem bekanntlich ebenfalls der Tod zu Hause ist.Footnote 47 Das adversative »aber« setzt diese zweite Strophe daher emphatisch in Beziehung zur ersten, um das Ende der dort beschriebenen Idylle zu betonen, die zwar noch im körperlichen Leben, aber auch schon aufgrund einer gemeinsamen geistigen Abgeschiedenheit zu Stande kam. Wenn der Freund, um zu sterben, »die steinernen Stufen des Mönchsbergs hinab« ging, dann kann man darin nicht nur eine konkrete Erinnerung an die Salzburger Topographie erkennen, es erweckt auch die Assoziation des mönchischen Ideals einer gemeinsamen Isolation, wie sie Trakl öfter beschwört, etwa in »Abendlied« (T38) mit »der Mönche edlere Zeiten«, so daß auch diese Kindheit auf dem Mönchsberg eine erhöhte »edlere« Daseinsweise bedeutet,Footnote 48 die auf einem harten, »steinernen« Weg abwärts in die Totenwelt hinein verlassen wird. Konkrete Anschauung und metaphorische Bedeutung wirken stimmig zusammen.Footnote 49 Besteht dieser Weg des Verlustes einer kindlichen Idealwelt gewöhnlich im Erwachsenwerden, so blieb dies dem Freund erspart, weil er sich, »seltsam verpuppt« wie ein Schmetterling, »seine stillere Kindheit« im Tode bewahrte. Frühverstorbene altern nicht in der Vorstellung der Weiterlebenden. Trakl verwendet hier, auch wenn er es als subjektives Erinnerungsphänomen umdeutet, ein sehr altes Bild vom Fortleben der Seele, führt aber zugleich seine eigene Farbsymbolik konsequent weiter, wenn der so Verpuppte ein »blaues Lächeln im Antlitz«, die himmlische Bläue des Brunnens aus der ersten Strophe also mit sich trägt.
Wie in »Allerseelen« (T21) bleibt von den Toten gewissermaßen etwas in der Natur zurück, hier im »Garten« das nun »silberne Antlitz des Freundes«. Silbern bezeichnet bei Trakl – wie »die silbernen Lider« der »Auferstandenen« in »Abendländisches Lied« (T66 f.) – etwas verklärt Jenseitiges.Footnote 50 Daß dieses Antlitz des Verstorbenen aber »im Laub oder im alten Gestein«, also in der organisch-vergänglichen und der steinern-dauerhaften Natur, auf eine Lebensäußerung lauscht, ist auch hier nicht als äußere Faktenwirklichkeit, sondern als Objektivierung der inneren Seelenwirklichkeit des Lyrischen Ichs zu verstehen, das sich im »wir« des zweiten und im »du« des vorletzten Verses symmetrisch versteckt. Diese geistige Disposition des Subjekts, die sich in die Natur hinein entäußert und ihm dort wieder erscheint, ist die Voraussetzung für die bald folgende Erscheinung des gestorbenen Dus, dessen Zurückbleiben in der Natur und Lauschen aus ihr heraus von Trakl nicht als übersinnliche Tatsache, sondern als Vorstellung des Lyrischen Ichs gestaltet ist.Footnote 51
Das jeweils vierversige Paar der dritten und vierten Strophe beschreibt diese Herbeirufung des Toten aus der Natur, in die ihn das Lyrische Ich klagend entäußert hat. Seine »Seele« nämlich »sang den Tod« des Freundes, und zwar die »grüne Verwesung des Fleisches«, also die Gräßlichkeit der körperlichen Vernichtung, wobei die grüne Farbe, die in der Pflanzenwelt auf das Leben verweist, an der menschlichen Leiche einen besonders widerlichen Eindruck erregt. Dieses Singen der Seele wird näher bestimmt als »Rauschen des Walds« und als »inbrünstige Klage des Wildes«, so daß immerfort das Innere sich im Äußeren scheinbar objektiviert oder eben ›erscheint‹. Für eine rationalistische Psychologie ist es natürlich umgekehrt: das Ich projiziert die Klage um den Freund in die Natur hinein. Wenn aber später der »Geist des Frühverstorbenen« aus der Trauer des Zurückgebliebenen heraus sich zur äußeren Erscheinung bringen soll, dann muß dieser Prozeß mit der Veräußerlichung der Klage um ihn beginnen. So wie in »Allerseelen« (T21) »der Ungebornen Weinen« im »Herbstwind klagt« oder das »Seufzen Liebender« in den »Gezweigen« weht, so objektiviert »das Rauschen des Walds« den subjektiven Seelengesang vom Tod des Freundes.Footnote 52 Auch hier wird sehr deutlich, daß für Trakl die geistige Idylle nur aus der intensiven Wahrnehmung der realen Schrecklichkeit erwachsen kann. Es ist nicht nur ein abstrakter Todesgedanke, sondern die grauenhafte Vorstellung der verwesenden Leiche, die das innere Singen und seine äußere Verwirklichung ermöglicht.
Zu diesen imaginierten Naturstimmen »klangen von dämmernden Türmen die blauen Glocken des Abends«. Die Türme nehmen in ihrer materiellen Solidität die »steinernen Stufen des Mönchsbergs« auf und die Glocken das religiöse Motiv dieser Mönche selbst. Hier werden, um die stattfindende Vertauschung der realen und idealen Wirklichkeit auszudrücken, sogar innerhalb der Objektwelt Ursachen und Wirkungen vertauscht, wenn von »dämmernden Türmen« und »blauen Glocken« gesprochen wird, denn im Litteralsinne stehen die Türme in der Abenddämmerung und ihre Glocken hängen vor dem noch blauen Himmel, aber auf der symbolischen Ebene dämmert wirklich die reale Wirklichkeit ihrem Ende entgegen und die Glocken repräsentieren die transzendente Bläue des Brunnens aus der ersten und des Sterbelächelns aus der zweiten Strophe, die dann in der blauen »Blume« der vorletzten Strophe kulminiert, also den ersehnten und zuletzt ideal erreichten Heilszustand.Footnote 53
So vorbereitet, kann nun in der vierten Strophe »der Geist des Frühverstorbenen« erscheinen. Sie beginnt ganz parallel zu »Seele sang« in der dritten Strophe artikellos mit »Stunde kam, da jener die Schatten in purpurner Sonne sah«. Anders als in der zweiten Strophe kann »jener« hier nur das Lyrische Ich meinen, das in der dritten Person distanziert von sich selbst spricht,Footnote 54 denn es handelt sich um die Steigerung der Verkörperung seiner Seelenbilder. Die parallele Konstruktion legt aber auch einen Zusammenhang nahe: das Kommen der Stunde ist die Folge des Singens der Seele. Damit ist die poetische Natur des Vorgangs, die am Ende so stark betont wird, schon angedeutet, und die Selbstdistanzierung des Lyrischen Ichs, das innerhalb der Dichtung eine neue ideale Wirklichkeit erschafft, entspricht somit der ästhetischen Distanz eines Dichters zu seinem Stoff. Das leidvolle Erleben der todverfallenen Lebenswirklichkeit war die Voraussetzung für das Erstehen der poetischen Gegenwirklichkeit des Geistes, in der sie nun überwunden wird.
Nach einer gewissen Zeit ging die Klage über die »Verwesung des Fleisches«, die sich für das Subjekt schon in der Natur objektiviert hatte, in die Erscheinung des Geistes über, der sich aus körperlosen »Schatten« erhebt. Denn in dieser erfüllten »Stunde« der Abenddämmerung sah das Lyrische Ich »die Schatten in purpurner Sonne«. Die konkrete Veranschaulichung dieses Bildes ist schwierig, wie immer bei Trakl für das genaue Verständnis aber wichtig.Footnote 55 Grammatisch sind zwei Lesarten möglich. Einmal kann man die Schatten in der Sonne selbst sehen, konkret vielleicht als Wolken, die sich vor die Abendsonne schieben; dann gehörte die Sonne selbst zum Bereich der »Fäulnis« und »Verwesung«.Footnote 56 Dagegen spricht, daß, abgesehen von der Abendröte, keine zusätzliche Verschattung der Sonne erwähnt wird. Vor allem aber ist dieser »Abend« der Erscheinung des Freundes die Vorbereitung auf die »Nacht« der Gemeinschaft mit ihm, so daß die purpurne Sonne unmöglich eine negative Bedeutung haben kann. Das wird zur Gewißheit, wenn man bedenkt, daß es sich um eine Erinnerung an »die purpurne Süße« der Kindheit handelt, denn Purpur steht bei Trakl nicht nur für Leid, sondern auch für Reife und Erfüllung, etwa bei den »purpurnen Trauben« in »Verklärung« (T67), oft aber für eine Erfüllung, die aus Leid erwächst, wie beim »Fallen purpurner Früchte« in »Abendländisches Lied« (T66 f.). Daher bietet sich auch hier ein Verständnis an, das im Licht der Abendröte eine Art Verklärung der »Schatten« sieht. Diese »Schatten der Fäulnis« sind das Unkörperliche, das von der »Verwesung des Fleisches«, also vom Körperlichen, übrig blieb; sie sind für das Lyrische Ich die unmaterielle Substanz, aus der heraus ihm in angemessener Beleuchtung der »Geist des Frühverstorbenen« erscheinen kann. In diesen »Schatten«, also im unkörperlichen Geist, findet es jetzt in »purpurner« Beleuchtung »die purpurne Süße« der Kindheit wieder, und zwar umso leichter, als sie ja auch damals schon einen idealen und sozusagen weltfernen Charakter hatte.
Erinnerung ist ideale Überwindung der Zeit, die sich hier visionär zur Erscheinung des Erinnerten steigert. Damals wie jetzt symbolisiert das Purpurne die Verbindung von Leid und Erfüllung, denn die »Schatten«, aus denen im geeigneten Licht die ideale Wirklichkeit erwächst, beruhen doch letztlich auch auf der realen »Fäulnis«. Die elegische Erinnerung an ein Glück setzt immer seinen realen Verlust voraus und damit ein Leid, das es zu überwinden gilt. Es mußte einige Zeit vergehen, bis – wieder in betont religiöser SpracheFootnote 57 – diese »Stunde kam«, bis sich die Veräußerungen der Seele zur Erscheinung der vermißten Person verdichtet hatten, denn es ist jetzt nicht nur »Abend«, sondern auch schon Herbst, da das »Laub« der Sterbestunde nun zu »kahlem Geäst« geworden ist. Jetzt, »da an dämmernder Mauer die Amsel sang«, konnte der Kindheitsfreund »stille im Zimmer« erscheinen. Die Mauer, wie zuvor die Türme, materialisiert geradezu die Dämmerung, den Untergang der dinglichen Realität, während die singende Amsel bei Trakl – wie im gleichnamigen Gedicht – oft genug diesen »Verfall« (T35) poetisch begleitet. Bemerkenswert ist auch das »Zimmer«, nicht etwa die freie Natur, als Erscheinungsort des Geistes, was dem grundsätzlich Innerlichen dieses nur scheinbar äußerlichen Phänomens entspricht.
Die Natur, aus der schon am Anfang der Tod »trat«, ist der vergänglichen Zeit und damit der »Verwesung« unterworfen; die Überwindung des Todes kann nur idealer Weise außerhalb der Zeit gelingen. Daher wechselt am Schluß des Gedichtes das Tempus. Während die historische Entwicklung vom Kindheitsglück über seinen Verlust durch den Tod des »Gespielen« bis zu seiner geisthaften Erscheinung als Erinnerung des Lyrischen Ichs im epischen Präteritum geschildert wurde, steht das dritte Strophenpaar im Präsens, weil es die imaginierte Wirklichkeit der Erscheinung als zeitfrei gegenwärtig zeigt. Das doppelte elegische »O« der vorletzten Strophe nimmt die Klagegeste aus der ersten Strophe auf, und der ganze erste Strophenvers ist syntaktisch auffallend parallel zum Eingangsvers des Gedichts gebildet. Wie »der schwarze Engel« des Todes damals »leise aus dem Innern des Baums trat«, so »rinnt« jetzt »das Blut« wiederum »aus der Kehle des Tönenden«. In beiden Fällen geht es um den Übergang zwischen Leben und Tod, nur daß jetzt das körperliche Sterben gewissermaßen rückgängig gemacht und der Frühverstorbene geistig zu neuem Leben erweckt wird. Damals trat der Tod ins Leben, jetzt tritt das Leben in den Tod, und zwar durch diesen »Tönenden«, mit dem das Lyrische Ich nur sich selbst meinen kann, gerade so wie es sich zuvor distanziert als »jener« bezeichnet hatte und wie es sich später mit »du« anreden wird. Der Freund kann schon deshalb nicht gemeint sein, weil er ausdrücklich »stille« erschien; dagegen greift dieses Tönen das Singen der »Seele« aus der dritten Strophe auf, das den Erscheinungsprozeß in Gang setzte. Damit bestätigt sich, daß dies im Grunde ein poetischer Akt ist. Alle Kunst ist eine Reaktion auf den Tod.
Der Überlebende ist, wenn er in seiner »Seele« den Kindheitsgespielen herbeiruft, ein Sänger, dem aber nicht Klänge, sondern Blut aus der Kehle tritt oder eben, wie es in »Nachtlied« (T141 f.) heißt, »Lieder, die wie Wunden bluten«. Hier werden nun endgültig antike mythische Assoziationen geweckt. Im Zusammenhang mit den »Schatten« läßt zunächst das »Blut« an die homerische Szene denken, in der Odysseus die Toten der Unterwelt mit Blut anlockt und sich von ihnen, nachdem sie davon trinken durften, Wahres sagen läßt.Footnote 58 Gerade so lädt das Ich hier »den Toten zu Gast« und zu »trautem Gespräch«. Während Odysseus aber den Schafen die Kehle durchschneidet, um die Toten mit Blut bewirten zu können, ist es hier die eigene »Kehle«, aus der das Lebenselixier »rinnt«. Die Kehle ist der Ursprung des Singens und zugleich der Ort des blutigen Opfers. Der den toten Freund Herbeirufende opfert sich singend selbst; er stirbt geistiger Weise der realen Lebenswelt ab, so wie der Freund damals körperlich aus ihr hinaus »starb«. Dieser freiwillige Opfertod des Lebenden, der den Gestorbenen aus dem Totenreich befreit, erinnert auch wieder an Christus, so wie das Christliche in den Mönchen, den Glocken und im paradiesischen »Garten« motivlich schon anklang; die verdichtende Charakterisierung dieses Blutenden als »Tönenden«, so daß sich das »Blut« metaphorisch als Klang oder umgekehrt der Gesang als anlockendes Opferblut verstehen läßt, erinnert aber vor allem an den Orpheusmythos, da dieser Sänger seine geliebte Frau eben nicht mit Blut, sondern mit Gesang aus der Unterwelt befreien wollte.Footnote 59 Hier wird die Vorstellung Trakls, daß die Dichtkunst eine quasi religiöse Opferhandlung sein könnte – die in »Confiteor« nur im Titel angedeutet wurde –, ganz deutlich. Diese Gleichzeitigkeit christlicher und antiker Motive, die Trakl nach dem Vorbild Hölderlins gerne synkretistisch verbindet, ist kein gedanklicher Widerspruch, weil er die zugehörigen religiösen oder philosophischen Auffassungen – wie schon im Frühwerk die Kunst- und Weltanschauungen seiner diversen Stoff- und Bildquellen – nicht einfach übernimmt, sondern beides nur als poetischen Bedeutungsträger nutzt, um seine eigene Vorstellung von der Überwindung des Todes auszudrücken.Footnote 60
Das vom »Tönenden«, also von einem Sänger, im Selbstopfer vergossene »Blut« ist, wie in typischem Traklstil lakonisch und verblos angefügt wird, die »Blaue Blume«, in romantischer Tradition also die Erfüllung der Sehnsucht,Footnote 61 wobei die Farbe Blau zugleich die frühere Jenseitssymbolik aufgreift, so daß der transzendente Charakter dieser Begegnung mit dem Frühverstorbenen, die man geradezu als Ergebnis dieses blutigen Gesanges verstehen kann, bestätigt wird. Im zweiten Teil der vorletzten Strophe ergänzt »die feurige Träne«, die das Lyrische Ich »in die Nacht« weint, ganz parallel »das Blut«, das aus seiner Kehle rinnt, so daß auch dessen Bedeutung gesichert wird. Das Blut gibt den Toten Leben, die Träne bringt Feuer und Licht in die dunkle Nacht des Todes, wobei das »Feuer« als Bild der Herabkunft des Geistes, wie das Opferblut und das Tränenwasser, ebenfalls eine christliche Dimension besitzt.Footnote 62 Dieser Gedanke, daß erst die Trauer die Überwindung des Todes ermöglicht, daß das Glück der Wiedervereinung aus dem Schmerz der Trennung erwächst, korrespondiert ebenfalls mit dem Anfangsmotiv, wonach der Tod schon ins Leben verschlungen ist, und mit dem Mittelteil, wo gerade die Meditation über die »Verwesung« des Körpers dazu führt, den »Geist des Frühverstorbenen« herbeizurufen. Dieses ideale Glück setzt das reale Unglück geradezu voraus. Wer mit sich und der Welt glücklich ist, hat keine Sehnsucht nach Erlösung. Wie bei Novalis erwächst der helle neue Tag einer dunklen heiligen »Nacht«.
»Goldene Wolke und Zeit« könnte man am Anfang der letzten Strophe als erneute Entgegensetzung der beiden Wirklichkeiten des verklärten Geistes und der zeitgebundenen Materie verstehen.Footnote 63 Die goldene Wolke bezeichnet auch gewiß den idealen Zustand der wiedergewonnenen Gemeinsamkeit, wobei – wie bei Hölderlin, der hier geradezu zitiert wird – die antike und biblische Vorstellung anklingt, daß das Göttliche in einer Wolke erscheint.Footnote 64 Die »Zeit« als Dimension körperlicher Vergänglichkeit wäre hier aber fehl am Platz, denn die beiden Schlußstrophen gehören ganz der orphischen Überwindung des Todes.Footnote 65 Daher muß man, zumal im mythischen Kontext, das Adjektiv im Sinne eines Hendiadyoins auf beide Substantive beziehen und die Evozierung einer ›Goldenen Zeit‹ verstehen.Footnote 66 Womöglich ist es auch ein von Trakl kalkulierter Effekt, daß man sich an dieser Stelle zunächst über das Eindringen der realen »Zeit« wundert, bevor man versteht, daß sie in eine »Goldene« verwandelt und damit aufgehoben wurde.Footnote 67 Sie ist hier allerdings ein ganz innerlicher Bereich in der Seele des Einsamen. Denn die intensive Einladung mit Blut und Tränen an »den Toten«, als »Gast« zu erscheinen, kann nur in »einsamer Kammer« geschehen, so wie in »Allerseelen« (T21) nur die »Einsamen« im »Sternensaal« wandeln können. Das idyllische Wandeln mit dem »Gespielen« der »Kindheit« ist nur in trauriger Abgeschiedenheit und geistiger Abgeschlossenheit von der Welt denkbar. Dann aber kann man »öfter den Toten zu Gast« laden, die Herbeirufung also bewußt wiederholen, und es kann zu »trautem Gespräch« mit ihm kommen. Diese Zweisamkeit des Geistes ist paradoxer Weise nur in der tatsächlichen Einsamkeit möglich, wo in der »Seele« des Lyrischen Ichs durch Sehnsucht und Trauer der Unterschied zwischen dem Lebenden und dem Toten überwunden wird und in einer selbstgeschaffenen Wirklichkeit ein »Geist« dem anderen begegnen kann.
Warum die so Vereinten »unter Ulmen den grünen Fluß hinab« wandeln, läßt sich auf der konkreten Sinnebene topographisch dadurch erklären, daß »Am Mönchsberg« (T55) in Salzburg – wie es im gleichnamigen Gedicht heißt – »im Schatten herbstlicher Ulmen der verfallene Pfad hinabsinkt«, und zwar zur Salzach, dem »grünen Fluß«. Die Ulme hat bei Trakl – in Gedichten wie »Im Park« (T58) oder »Das Herz« (T87 f.) – aber auch die symbolische Qualität, mit dem herbstlichen Gold ihrer Blätter einen göttlichen Raum friedlicher Geborgenheit zu repräsentieren, der allerdings oft der Trauer, dem Verlust oder der Zerstörung verfallen ist. Hier wird das »Goldene« zwar nicht direkt den »Ulmen« zugesprochen, doch läßt sich die »Goldene Wolke« durchaus konkret als das geschlossene Laubdach einer herbstlichen Ulmenallee verstehen. Das bestätigt erneut die Anschaulichkeit vieler angeblich unverständlich dunkler oder rein symbolisch gemeinter Bilder Trakls, wenn man mit der beschriebenen Situation den genauen Sinn nur erst verstanden hat.Footnote 68
Wenn der Weg der ideal »in trautem Gespräch« wieder vereinten Kindheitsfreunde »den grünen Fluß hinab« führt, dann faßt dieses Grün den untrennbaren Zusammenhang von körperlichem Tod und geistiger Erscheinung noch einmal zusammen, denn es bedeutet natürlich zunächst das Prinzip des Lebens, greift aber zugleich »die grüne Verwesung des Fleisches« aus der dritten Strophe auf. Leben und Tod gehören in der äußeren Erfahrungswirklichkeit nun einmal untrennbar zusammen, so wie der bewegte Fluß ja auch das Vorübergehende und Vergängliche bedeutet. Vielleicht darf man im mehrfach zitierten mythischen Kontext auch hier wieder an den Lethefluß denken, aus dem die Verstorbenen das Vergessen trinken, damit ihnen eine neue Seinsweise möglich wird. Während aber Vergil dabei einem pythagoreischen Konzept der Seelenwanderung folgt,Footnote 69 deutet Trakl auch die antiken Mythen eigenwillig um und versteht unter diesem Heilszustand einen Wechsel der Wirklichkeiten, nämlich das Verlassen der leidhaften und einsamen Existenz in der »Zeit« und den Übergang in eine geistige Existenz der Vertrautheit und Gemeinschaft. Da »die Seele«, wie es in »Frühling der Seele« (T77 f.) mit biblischem Anklang heißt,Footnote 70 immer »ein Fremdes auf Erden« ist, muß sie sich ihre wahre Heimat anderswo suchen, zwar nicht in einem christlichen Jenseits, aber doch in einer geistigen Transzendenz.Footnote 71 In diese »Goldene Wolke« kann nur gelangen, wer der materiellen Wirklichkeit abstirbt. Das reale Leid und das ideale Glück gehören für Trakl immer zusammen. Sein Paradies steht – im Unterschied zum gemeinsamen Heilsweg der Christen, die ja auch nur, wie es in Paul Gerhardts Psalmlied heißt, »Gast auf Erden«Footnote 72 sind – ausschließlich den Einsamen offen.
VI.
Verse
Verse Der Abend Mit toten Heldengestalten Erfüllst du Mond Die schweigenden Wälder, Sichelmond – Mit der sanften Umarmung Der Liebenden, Den Schatten berühmter Zeiten Die modernden Felsen rings; So bläulich erstrahlt es Gegen die Stadt hin, Wo kalt und böse Ein verwesend Geschlecht wohnt, Der weißen Enkel Dunkle Zukunft bereitet. Ihr mondverschlungnen Schatten Aufseufzend im leeren Kristall Des Bergsees.
Das späte Gedicht »Der Abend« (T90) bringt Trakls poetische Grundvorstellung, daß im abendlichen Mondlicht die »Schatten« der Toten erscheinen, noch einmal konzentriert zur Anschauung. Allerdings gelingt hier keinem Ich mehr die ideale Flucht aus der bösen Wirklichkeit zur Gemeinschaft mit einem gleichgesinnten Freund, sondern die »mondverschlungnen Schatten« der Toten, die ins Leben drängen, bleiben gefangen in einem »leeren Kristall«. Das Lyrische Ich ist hier noch mehr zurückgenommen als in früheren Texten, findet sich aber doch in der Anrede des Mondes und der »Schatten«. Denn derjenige, der hier »du« und »Ihr« sagt, ist ein Ich, für das in der Natur die »toten Heldengestalten« der Vergangenheit und die vergangene »Umarmung« der »Liebenden« geisterhaft erscheinen. Diese Naturbelebung ist auch hier – wie in den themenverwandten Gedichten Trakls – die Veräußerlichung einer inneren Vorstellung des Lyrischen Ichs und keine naturmystische Tatsachenbehauptung des Dichters.Footnote 73
In den ersten acht Versen des zwar einstrophigen, gedanklich aber dreiteiligen Gedichts schreibt das Lyrische Ich dem Mond äußerlich zu, was in seiner eigenen Seele innerlich geschieht, nämlich die Vergegenwärtigung einer besseren Vergangenheit in der Einsamkeit der »rings« um abgeschlossenen und »schweigenden« Natur. Syntaktisch parallel wird ausgesagt, womit der Mond die Natur erfüllt, nicht »mit Nebelglanz«, wie in Goethes Gedicht »An den Mond«, das hier kontrastiv anklingt, sondern mit »Heldengestalten« und mit der »Umarmung« der Liebenden. Die Sehnsucht richtet sich – wie bei Hölderlin, dessen spätem Hymnenton Trakl hier nahekommt – auf Heldentum und Liebe, die aus einer erbärmlichen Gegenwart verschwunden sind, denn es sind nur noch »Schatten berühmter Zeiten«; das Menschenleben ist nun – wie es in »Confiteor« (T147) heißt – nur noch ein »heldenloses Trauerspiel«. Ganz parallel werden auch die Naturorte benannt, die der »Sichelmond« mit diesen Bildern erfüllt, nämlich die »schweigenden Wälder« und die »modernden Felsen«. Die Sichelgestalt des Mondes ruft die Vorstellung einer Ernte hervor, also einer Erfüllung, zu der aber immer auch die Vergänglichkeit des Todes gehört. Dieser Aspekt wird durch die »modernden Felsen« drastisch betont, denn eigentlich gehört das Modern – wie die Fäulnis oder die Verwesung – der organischen Natur an. Zwar könnte man es auch metaphorisch im Sinne einer Erosion verstehen, aber auch dann bliebe die organische Anschauung mit der Assoziation von üblem Geruch wie bei einer Leiche erhalten. In Anknüpfung an eine frühromantische Auffassung, wonach es sich bei der Pflanzenwelt um den »Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten« handelt,Footnote 74 kann man sich auch bewachsene Steine vorstellen, deren organische Oberfläche dem tödlichen Verfall ausgesetzt ist, der schon die Felsen schädigt und gewissermaßen in Dünger verwandelt. Wenn also sogar die Steine schon modern, ist auch das scheinbar Unveränderliche der anorganischen Natur in einer verfallenden Spätzeit vom Untergang bedroht.Footnote 75 Das entspricht dem pessimistischen Grundgedanken des Gedichts, daß nun auch die geistige Wirklichkeit untergeht und verfällt.
Im zweiten Strophenteil wird nämlich in sechs Versen das Scheitern dieser Wiederbelebung der »Schatten berühmter Zeiten« beschrieben. Zwar »erstrahlt es«, also das von der Sehnsucht mit Erinnerung beladene Mondlicht, das die »Wälder« und »Felsen« einer isolierten Gebirgsnatur erfüllt, auch gegen »die Stadt hin«, wo es also – in Umkehrung der Perspektive von »Abendlied« (T38) – gesehen werden könnte und zu sehen auch höchst nötig wäre, denn dort wohnt »kalt und böse« ein »verwesend Geschlecht«, nämlich die Endzeitgeneration, die schuld ist am Untergang, weil sie die dunkle »Zukunft bereitet«, nicht nur ihre eigene, sondern vor allem auch die der »weißen Enkel«. Das Weiße ist als Erscheinungsfarbe des geistig Reinen, aber auch des Gespensterhaften, ebenfalls aus »Abendlied« und anderen Gedichten bekannt. Vielleicht darf man sogar erneut an die »ungebornen Enkel« aus »Grodek« (T94 f.) denken, denn nur die nicht mehr oder noch nicht Lebenden, die in der Seele als Geist erscheinen, sind im metaphorischen Sinne »weiß«. Ihre Zukunft aber ist dunkel, sowohl in übertragener Bedeutung, weil sie in ein dunkles Leben treten oder gar nicht erst geboren werden, als auch konkret in der Bildlichkeit des Gedichts, weil der Mondschein der Erinnerung an bessere Zeiten in ihrer finsteren »Stadt« nicht wahrgenommen wird. Dieses kollektive Nichtsehenkönnen des Guten stammt vom biblischen Vorbild für die topische Klage über die böse und gottferne »Stadt«, nämlich vom Weinen Christi über die Stadt Jerusalem, vor deren »Augen« das Heil »verborgen« war und die den bedrohlichen Charakter der »Zeit« und ihren nahen Untergang nicht erkannt hatte.Footnote 76
In den drei Versen des dritten Strophenteils wird dieses Scheitern erklärt. Die »mondverschlungnen Schatten« seufzen leidend auf »im leeren Kristall« eines »Bergsees«, der das anschauliche Naturbild aus Wäldern und Felsen zur eisigen Gebirgslandschaft vervollständigt. Das Kristalline ist die endgültige Überwindung des Organischen, also das Tote; in romantischer Tradition wird hier eine materialistische Ewigkeitsvorstellung mit einer idealistischen konfrontiert, zu der das »verwesend Geschlecht« offenbar nicht mehr fähig ist. Indirekt kommt damit auch hier das religiöse Motiv der Gottferne als Grund des Unterganges zum Ausdruck.Footnote 77 Das Adjektiv ›mondverschlungen‹ kann dabei zweierlei bedeuten, einmal daß die Schatten vom Mond oder mit ihm zusammen von der Nacht ›verschlungen‹, also verschluckt und aufgefressen werden, oder aber, daß die Schatten mit dem Mond oder seinem Licht ›verschlungen‹, also eng verbunden sind. Letzteres versteht sich fast von selbst, da diese Schatten vom Lyrischen Ich als vom Mond hervorgebracht, also auch als mit ihm vergänglich aufgefaßt werden. Hier bekommt nun der »Sichelmond«, der am Anfang nur symbolisch verstanden werden konnte, eine überraschende, aber für Trakls reifen Gedichtstil charakteristische Anschaulichkeit. Wenn es dort nämlich die Sichel des abnehmenden Mondes war, dann ist er jetzt im Neumond ganz verschwunden und die mit ihm ›verschlungnen‹ Schatten wurden mit ihm von der Nacht ›verschlungen‹. Dieser Doppelsinn von ›verschlingen‹ ist übrigens, wie der von ›scheinen‹ in »Allerseelen« (T21), ein weiteres Beispiel für sinnvolle Ambivalenz, bei der unterschiedliche Bedeutungen nicht alternativ zur beliebigen Auswahl stehen, sondern zusammen präzise einen gemeinsamen Sinn ergeben.
Nun seufzen diese Schatten aber nicht am Himmel auf, sondern im Bergsee. Das kann nur bedeuten, daß der Seespiegel das Mondlicht reflektiert hatte, also wie Wälder und Felsen auch mit den »Schatten berühmter Zeiten« erfüllt war, nun aber in der mondlosen Nacht zu einem »leeren Kristall« geworden ist. Die Vergegenwärtigung und Wiederbelebung des Vergangenen mißlingt, weil für seine ›Erscheinung‹ das Licht fehlt, konkret das des Mondes, symbolisch das der inneren Erleuchtung der Seele. Das Aufseufzen der Schatten ist demnach ihre Abschiedsklage, denn sie verschwinden mit dem abnehmenden Mond, also auch in der Seele des Lyrischen Ichs, das sie zuletzt noch emphatisch anredet, in der natürlichen und metaphorischen Dunkelheit. Das aus der Romantik bekannte Bild des harten Kristalls für das Wasser des Bergsees weckt dabei die Vorstellung, daß die Schattengestalten nun, fast als sei es gefroren, in ihm gefangen stecken und nicht mehr mit dem Mondlicht reflektiert, also in die Natur hinein befreit werden können.Footnote 78 Tod und Verfall haben hier nicht mehr nur, wie bei Trakl von Anfang an, die Lebenswirklichkeit ergriffen, sondern auch schon den Geist, der keine ideale Gegenwirklichkeit mehr aufrechterhalten kann.
Der Titel des Gedichts bezeichnet, auch wenn es zunächst nicht so scheinen mag, präzise sein Thema. Dieser »Abend« ist die Endzeit der geistig erfüllten Menschenwelt, in deren schwachem Sichelmondlicht dem Einzelnen und Einsamen noch einmal die Geister einer besseren Vergangenheit erscheinen, bevor sie, weil sie auf die Allgemeinheit keine Wirkung haben, auch für ihn in Nacht und Kälte verschwinden. Die triadische Struktur beginnt also mit privater Hoffnung und Begeisterung und führt dann über die Erkenntnis, daß sie isoliert bleiben muß und nicht auf das ganze »Geschlecht« der Menschen übergreifen kann, zur Resignation. Das ist die pessimistische Variante des von Schiller und der Romantik verwendeten Schemas, das hier aufgrund des Hymnenstils aber mehr noch an Hölderlin gemahnt, bei dem die Bewegung gewöhnlich vom Guten der Vergangenheit über das Schlechte der Gegenwart wieder zum Guten der Zukunft führt. Trakl aber hat – wie der späte Hölderlin in »Hälfte des Lebens« – den Glauben an eine gute Zukunft für die »Enkel« gründlich verloren. Was er vom christlichen Heilsangebot schon früher feststellen mußte, daß es nämlich nicht mehr in die Lebenswirklichkeit der Menschen hineinwirkt, gilt nun auch für die orphische Abschließung des Einzelnen in die innere Gemeinschaft mit längst verstorbenen Gleichgesinnten »berühmter Zeiten«, von der die kalten und bösen Mitmenschen von vorneherein ausgeschlossen sind. In einer Welt, wie sie diese »Stadt« repräsentiert, gibt es nicht nur kein Gutes und Schönes und Wahres, kein Heldentum und keine Liebe mehr, sondern auch kein Bedürfnis danach und somit kein Leiden am Mangel und keine Sehnsucht nach dem nicht einmal Vermißten. Hier wird am »Abend« der Menschheit durch das verschwindende Himmelslicht im die Todesernte einbringenden »Sichelmond« den vertrauten »Schatten« das Erscheinen sogar in einsamer Natur verwehrt, auch dem »Einsamen«, für den es kein geistiges Entkommen in einen exklusiven »Sternensaal« mehr gibt. An diesem Abend erklingt kein Lied mehr. Bei der poetischen Grundauffassung Trakls vom prophetischen Dichter als Verkünder einer höheren Wirklichkeit ist das auch das Ende einer orphischen Dichtkunst, die das Tote geistig wiederbeleben will.
Notes
Georg Trakl, Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe v. Walther Killy u. Hans Szklenar, hrsg. Friedrich Kur, München, 5. Aufl. 1979 (auch im Folgenden mit der Sigle T und Seitenzahl zitiert). Diese Ausgabe genügt gegenwärtigen Zwecken völlig, da die Textgenese, auch wo sie den Befund bekräftigen könnte, nicht herangezogen wird. Vor- und Zwischenstufen, besonders wenn ihre Herstellung spekulativ bleibt und mehr über die Herausgeber als den Dichter aussagt, beweisen wenig, weil ihre Abänderung unterschiedliche Gründe haben kann. Ein ursprünglicher Gedanke kann ebenso gut verbessert wie verworfen werden. Außerdem liegt diesen Textanalysen nicht die einmal modisch gewesene Doktrin vom ›Text als Prozeß‹ zu Grunde, sondern die Vorstellung einer ›endgültigen Fassung‹, die jeder vernünftige Dichter, auch wenn er seine Notizen wegzuwerfen vergißt, selbstverständlich anstrebt. Das schließt nicht aus, daß die Entstehungsgeschichte der Texte für andere Fragestellungen hilfreich sein kann, solange man unfertigen Versuchen nicht den Status eigenständiger Dichtungen verleiht.
Wolfgang Preisendanz, »Auflösung und Verdinglichung in den Gedichten Georg Trakls«, in: Wolfgang Iser (Hrsg.), Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Kolloquium Köln 1964, München 1966, 227–261 (Text) u. 485–494 (Diskussion), schreibt das »Zum-Vorschein-Kommen eines Ungegenständlichen am Gegenständlichen« nur einer traditionellen Ästhetik zu; dagegen seien »Trakls Sprachbilder« aufgrund einer davon angeblich abweichenden Modernität »nicht mehr als Anwendung auf eine außersprachliche gegenständliche Realität zu interpretieren, auch nicht als Anweisung auf eine gegenständliche Realität, an der Ungegenständliches zum Vorschein kommt« (486), so daß es sich dabei vermeintlich »um sich selbst meinende Bilder handelt« (241). Es gibt aber, solange man keinen dadaistischen oder vergleichbaren Unsinn treibt, sondern Wörter benutzt, die eine Bedeutung haben, keine bloßen »Sprachfiguren, deren Sinn nicht mehr die Natur oder eine persönliche Situation, sondern nur ihre Funktion auf der Ebene des Gedichts erläutern kann« (241).
Sogar Preisendanz (Anm. 2), der doch sonst jeden Realitätsbezug bestreitet, weist beim »Gesang einer gefangenen Amsel« (T74) »diesmal ein okkasionelles Erlebnis« als »Voraussetzung für Folge und Ordnung der Sprachbilder« (252) nach. Jedem Kunstwerk liegt wohl – sei es nun als biographisches Vorkommnis, als Traumphantasie oder als Leseerfahrung – irgend ein »okkasionelles Erlebnis« des Künstlers zu Grunde, das man zum Verständnis aber nicht kennen muß, weil es allein noch keine Kunst ist, sondern lediglich den Stoff dazu liefert.
Preisendanz (Anm. 2) belegt mit Parallelen aus älterer Dichtung ausführlich den Zitatcharakter »von Trakls Lieblingsvokabular« (255), was alleine schon seine These von der »Verdinglichung« der Sprache widerlegt, mit der kein »außersprachlicher Vorgang bezeichnet« (251) werde, denn fremde Sprache ist für den Sprechenden immer schon ein »außersprachlicher Vorgang«.
Dagegen sind für Albert Berger, Dunkelheit und Sprachkunst. Studien zur Leistung der Sprache in den Gedichten Georg Trakls, Wien 1971, Trakls Texte nur »Ausdruck der Ratlosigkeit vor der Widersprüchlichkeit des Daseins« (95), das entweder gleich ganz »ohne Sinn« (13) sei oder von dessen Sinn man nicht wisse, »ob es ihn gibt oder nicht« (144). Diese Unsinnstheorie hat in der Traklforschung große Beliebtheit errungen, weil sich in etwas, das »dunkel bleiben muß« (11), alles Beliebige hineindeuten läßt und die angebliche »Undeutbarkeit« (49) zur bequemen »Vieldeutigkeit« (48) mißbraucht werden kann. Wenn »Bedeutung« und »gedanklicher Gehalt« verschwinden, dann ist das Gedicht nur noch ein »Medium, das die Kräfte des Gemüts freilegt und Stimmung schafft«, also trivialer Kitsch, den sich der Leser selbst zusammenphantasieren kann, denn wenn »alle Erscheinungen gleichwertig sind, dann sind sie faktisch austauschbar« (21).
So schließt etwa Berger (Anm. 5) von Trakls Bestreben, »den Bezug zur äußeren Wirklichkeit, zur objektiv bestehenden Welt einzuschränken und schließlich beinahe zu lösen«, auf eine »irreale Sehweise Trakls«, welche »die Aussage selbst dunkel« (21) mache. Anstatt Trakls Alternative einer idealen Wirklichkeit anzuerkennen, muß Berger seine Interpretenzuflucht »zu einer völlig neuen, sprachimmanenten Wirklichkeit« (26) nehmen. Wenn demnach nicht der »Dichter« etwas sagt, sondern »die Sprache selbst« (27), dann versuche Trakl mit Hilfe dieses »Effektes« der Dunkelheit und »Mehrdeutigkeit« (38) absichtlich »jede Eindeutigkeit zu vermeiden« (37), worin der eigentliche Sinn seines Dichtens bestehe, nämlich zu demonstrieren, daß es sonst keinen gibt.
In diesem Sinne wird auch Trakls mündliches Bekenntnis vom Januar 1914, er sei »ein Christ«, durchaus von seinem Werk bestätigt, zumal er ergänzte: »Nie war die Menschheit so tief gesunken, wie jetzt nach der Erscheinung Christi – sie konnte gar nicht so tief sinken!« (Zitiert nach Otto Basil, Georg Trakl mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1965, 136.) Das entspricht völlig der in kulturkritischen Gedichten wie »Abendländisches Lied« (T66 f.) vertretenen Ansicht, das Christentum habe einen so hohen idealen Anspruch erhoben, daß ihm nur Einzelne gerecht werden konnten, die Menschheit als Ganze aber daran gescheitert ist.
Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, in: Ders., Werke, hrsg. Karl Schlechta, 3 Bde, 6. Aufl., München 1969, I, 19–134, hier: 131. Vgl. den Hinweis bei Preisendanz (Anm. 2), der allerdings den dionysischen Kontext bei Nietzsche außer Acht läßt und daher Trakls angebliche Verdinglichung der Sprache, welche die »eigentliche Realität des Dichtens« (261) sei, in einen falschen Zusammenhang bringt.
Im August 1914 zu Ludwig von Ficker, zitiert nach Basil (Anm. 7), 146.
Vgl. dagegen die ungerechte Abwertung von »Confiteor« bei Regine Blass, Die Dichtung Georg Trakls. Von der Trivialsprache zum Kunstwerk, Berlin 1968, als »klischeehaft und trivial« (57). Selbstverständlich handelt es sich hier um eine konventionellere Art Lyrik als in Trakls Spätwerk, aber die Kritik an der »Fülle der Konsonanten«, die dem »Wohllaut« widerstrebe, ist ebenso unangebracht wie das Bedauern, daß kein »vorbereitender und erklärender Gedankengang« (57) vorliege. Es gibt auch einen konsonantischen Wohlklang, der in diesem Falle dem harten Inhalt angemessener ist als ein vokalisches Harmoniegesäusel; und das Fehlen pseudophilosophischer Langschweifigkeit ist eher eine lyrische Qualität.
Am bekanntesten ist Calderons Drama El gran teatro del mundo (1649); vgl. aber auch von Czepko das Gedicht »Spiele wohl!« mit dem Untertitel »Das Leben ein Schauspiel«, wo der »Innhalt« des Lebenstheaters, das unweigerlich »in der Grufft« endet, zwar auch aus des »Tods Beschwerde« besteht und von »Wollust« und »Eitelkeit« begleitet wird, wo jedoch das Schauspiel von »Gott« selbst veranstaltet wird, so daß am »Ende« den guten Schauspieler »JESUS rufft« (Daniel Czepko von Reigersfeld, Geistliche Schriften, hrsg. W. Milch, Breslau 1930, 22).
Vgl. dagegen Werner Kohlschmidt, »Der deutsche Frühexpressionismus im Werke Georg Heyms und Georg Trakls«, Orbis litterarum 9 (1954), 3–17 u. 100–119, der in »Confiteor« den symbolistischen »Spleen« (102) der »Wiener Jahrhundertschwermut« wie beim »frühen Hofmannsthal« (103) erkennen will. Die Gemeinsamkeit mit Hofmannsthal liegt aber nur im sehr unterschiedlichen Rückbezug auf Barock und Romantik. Auch Erich Bolli, Georg Trakls »dunkler Wohllaut«. Ein Beitrag zum Verständnis seines dichterischen Sprechens, Zürich, München 1978, sieht die »in Verzweiflung umschlagende Langeweile« in »Confiteor« als »Démon ennui« der »französischen Symbolisten«, während er die »Thematisierung des Schuldigwerdens« dem »Einfluß der großen russischen Erzähler« (12) zuschreibt. Diese Art der Einflußforschung verdeckt den religiösen Zusammenhang von Verzweiflung und Schuld, auf den es Trakl ganz unabhängig von seinen Quellen, denen er eben wirklich »nur einzelne Motive, Metaphern und Gebärden« (12) entnimmt, letztlich ankommt. Deshalb verzichtet Trakl, was Bolli ihm unverständlicher Weise zum Vorwurf macht, auf die »Inanspruchnahme ihres Gehalts« (12), also auf das Plagiieren der Quellen, sondern gestaltet schon in frühen Gedichten wie »Confiteor« mit den Versatzstücken der Tradition einen eigenen Gehalt.
Vgl. Rainer Hillenbrand, »Trakls Abendländisches Lied«, Wirkendes Wort 66 (2016), 241–254.
Kohlschmidt (Anm. 12) mißversteht in diesem Sinne das frühe Gedicht »Einklang« (T146), wo das Leben eben nicht »als ein Stirb und Werde um erhöhter Leiden und Lust willen« (104) begriffen wird, wo es also nicht um die Suche nach »tiefern Wonnen« einer fade gewordenen Sinnlichkeit geht. Trakl wird auch stilistisch nicht »zu einer immer höheren Steigerung der Sensationen nach jeder Enttäuschung« (104) gezwungen, denn er gestaltet nicht den »Genuss der Welt« (105) oder ihres Verfalls, sondern den Versuch der Weltflucht in eine alternative Wirklichkeit mit ihren eigenen geistigen Genüssen.
Preisendanz (Anm. 2) verweist zu Recht auf den motivlichen und sogar stilistischen Einfluß Heines auf das Frühwerk Trakls, verkennt aber diesen entscheidenden Unterschied in der geistigen Grundhaltung. Die »Todverfallenheit verdüstert und verzerrt« in »Confiteor« eben nicht »die bunten Bilder des Lebens«, sondern »demaskiert lassen alle Dinge nur Angst, Verzweiflung, Schmach und Seuchen erkennen« (234) wie »in Eichendorffs Das Marmorbild« (233), wo jedoch der Gottesbezug den Helden noch retten kann.
Über das gesteigerte Selbstbewußtsein des Außenseiters in Tiecks Erzählung »Liebeszauber«, dem in der »Raserei der Verzweiflung« das Leben »nur ein Traum« ist, vgl. Rainer Hillenbrand, »Auch Verzweiflung ist Glück. Melancholie und Melancholiker in Tiecks Phantasus«, Neophilologus 91 (2007), 261–280: »Einerseits beruht das Glück auf Täuschung, andererseits ist aber paradoxerweise auch das melancholisch-überlegene Bewußtsein ein Glück« (266). Diese Erzählung nimmt übrigens auch die gedankliche Struktur des Traklgedichts vorweg, daß die scheinbare Realität sich später als Täuschung und die scheinbare Phantasie sich als Realität erweist.
Zitiert nach: Alfred Doppler, »Orphischer und apokalyptischer Gesang. Zum Stilwandel in der Lyrik Georg Trakls«, in: Ders., Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte, Wien, Köln, Weimar 1992 (zuerst 1968), 11–32, hier: 11, wo auch auf Nietzsche verwiesen wird.
Kohlschmidt (Anm. 12) bemerkt zwar ganz richtig, daß Trakls Gedichte gar nicht typisch ›expressionistisch‹ sind, nämlich »ohne Heyms Energie, ohne den von Edschmid geforderten Überschwang«, aber nur, um sie stattdessen »der impressionistischen Weltaufnahme, der symbolistischen Verinnerlichung« (105) zuzuordnen.
Richard Millington, »Georg Trakl’s Ghosts. Haunted Poems at the End of History«, The German Quarterly 90 (2017), 267–282, der bei Trakl tatsächlich Gespenster sieht, bringt mit dem »folk belief that on this day the souls of the dead return briefly to the physical realm«, einen ganz falschen Ton in das Gedicht. Trakls Friedhofsbesucher bringen nicht einmal mehr den kirchlichen Glauben an ein Leben nach dem Tod auf; von einem volkstümlichen Aberglauben wie »laying out offerings of food and flowers on graves and at other sites«, um die armen Seelen herbeizurufen, kann bei diesen dekadenten »Puppen« gar keine Rede mehr sein. Trakls genau konzipierte Gedichte werden in besonderem Maße Opfer hemmungsloser Interpretenphantasie, etwa wenn Millington »in the first stanza of the poem« (273) zu den Friedhofsblumen auch noch Lebensmittelspenden hinzudichtet.
Auch Eduard Lachmann, Kreuz und Abend. Eine Interpretation der Dichtungen Georg Trakls, Salzburg 1954 (Trakl-Studien I), sieht »hilflose Marionetten vor der Realität des Todes« und in ihrem »Gebaren« eine »mechanische Konvention« (48).
Vgl. Lachmann (Anm. 20): »Nicht die Toten sind tot, die Lebenden erscheinen ›unwirklich‹, wie Schatten« (48).
Preisendanz (Anm. 2) verweist (247) auf das Mörikezitat in »Zu Abend mein Herz« (T20) und über die üblichen Verdächtigen hinaus in überzeugender Weise sogar auf die »Hainbunddichter« als Quellen für Trakls »Vokabular«, »Sprachbilder« und »rhythmische Figuren« (255).
Vgl. dagegen Lachmann (Anm. 20): »Die Ungebornen weinen um der ihnen verhängten Schuldverstrickung willen, wenn sie ins Leben treten werden« (49). Davon ist im Text keine Rede. Diese »Ungebornen« werden niemals »ins Leben treten«, weil sie schon vor ihrer Geburt als Opfer der Lebenden im Grab verwesen. Wie der »Schmerz« in »Grodek« so gilt auch dieses »Weinen«, das nur die Schuldbewußten hören, der Verhinderung ihrer Existenz.
Hans Weichselbaum, »Die Figur des Mönchs bei Georg Trakl«, in: Uta Degner, Hans Weichselbaum, Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Autorschaft und Poetik in Texten und Kontexten Georg Trakls, Salzburg, Wien 2016 (Trakl-Studien XXVI), 117–131, nimmt dieses Gedicht als Beispiel für Trakls »kritische Sicht des Christentums« (121). Dieser Befund muß jedoch dahin präzisiert werden, daß Trakl niemals die christliche Lehre selbst kritisiert, sondern immer nur ihren Verfall, während gerade hier – allerdings nur an einer Einzelnen – auch das positive Gegenbild eines echten Christentums geboten wird.
Vgl. Lachmann (Anm. 20): »›Sternensaal‹ ist der Bereich des Abgeschiedenen. [...] Das Zeithafte ist in das Zeitlose eingegangen« (49). Für Millington (Anm. 19) hingegen, der Trakl allen Ernstes zum Geisterseher mit »spectral apparitions« (275) machen will, sind diese Einsamen »neither clearly living nor clearly dead«, und er weiß nicht, ob er sie »as living or ghostly figures« (274) nehmen soll.
Selbstverständlich ist auch bei Trakl, was Preisendanz (Anm. 2) bestreitet, ein »klarer Unterschied zwischen metaphorischem und nicht-metaphorischem Sprechen auszumachen« (486).
Károly Csúri, Konstruktionsprinzipien von Georg Trakls lyrischen Textwelten, Bielefeld 2016, versteht dieses »wir« der ersten Strophe als »der Mensch« (36) schlechthin; daher muß er später »den überraschenden Wechsel von wir zu ich und du in Strophe 5« so verstehen, als würde »das Allgemein-Menschliche durch Individuell-Persönliches abgelöst und konkretisiert« (37). Damit geht aber die Anschaulichkeit der geschilderten Situation, die Einheit der poetischen Vorstellung und die Spiegelbildlichkeit der Komposition verloren.
Dagegen sieht Hans Esselborn, Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik, Köln, Wien 1981, in diesem »wir« das »gegenwärtige Ich und sein früheres Selbst« in quasi schizophrener Weise »zusammengefaßt« (189). Das ist aber nach dem Wortlaut der zweiten Strophe, wo beide in einer gemeinsamen Gegenwart das Wasser der Erinnerung trinken, nicht möglich; der Hauptsinn des Gedichts, daß nämlich die verlorene Gemeinsamkeit durch einen poetischen Erinnerungsakt erst wieder hergestellt werden muß, ginge damit verloren. Im Widerspruch hierzu sieht aber Esselborn andererseits auch eine »Liebessituation« (189) in einer »vergangenen Liebesszene« (190). Vermutlich will er damit zwei widersprüchliche Lesarten als gleichberechtigt anbieten, so wie Marianne Hepp, Kommentar zu ausgewählten Gedichten Georg Trakls, Pisa 1987, dieses »wir« dann ausdrücklich »doppeldeutig« findet und dabei ebenfalls die falsche Alternative anbietet, es könne sich dabei »auch um eine Zusammenfassung des gegenwärtigen Ichs und seines früheren Selbst handeln« (81), so daß »der Mensch sein totes Selbst als Verdoppelung vor sich« (83) sähe.
In den Psalmen (42,3; 143,6) dürstet die Seele nach Gott, aber auch in den Reden Jesu (Matth. 5,6) nach der Gerechtigkeit.
Csúri (Anm. 27) erkennt ebenfalls diesen »Doppelaspekt der Kindheit, ihre Süße und ihre Traurigkeit«, bezieht ihn aber getrennt auf die »Untergangs- und Auferstehungsvisionen« (36) des Gedichts, während die Pointe des Oxymorons doch in der Gleichzeitigkeit des nur scheinbar Widersprüchlichen liegt.
Clemens Heselhaus, »Das metaphorische Gedicht von Georg Trakl«, in: Ders., Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache, Düsseldorf 1961, 228–257, befindet hingegen, »daß der Teich kaum noch ein Naturgegenstand ist«; überhaupt würden von Trakl keine »Naturbilder« verwendet, »sondern Traum- oder Rausch-Erlebnisse« und diese »dann wieder in Naturbildern vergegenwärtigt« (241). Dieses »Verfahren, das sich vielleicht aus Drogenträumen erklären läßt« (241), würde jeden rational nachvollziehbaren Sinn und damit auch jeden poetischen Wert vernichten, dem Interpreten aber beliebigen Freiraum zum selbständigen Phantasieren und ›Mitdichten‹ verschaffen, was die Beliebtheit dieser unsinnigen These in der Traklforschung erklären mag. So sieht Hepp (Anm. 28) im Trinken aus dem Teich eine »Metapher, die jegliche Logik sprengt«, weil man die »Kindheit« nicht »trinken« könne (83). In diesem Sinne »sprengt« aber definitionsgemäß jede Metapher die »Logik« eigentlicher Rede; und andererseits ist Trakls Metaphorik in sich vollkommen stimmig.
Vgl. das Sonett »Ich gleiche nicht mit dir deß weissen Mondens Liecht« (Weltliche und geistliche Dichtung, hrsg. H. Oesterley, Berlin, Stuttgart o. J., 29).
Vgl. Csúri (Anm. 27): »Das Medium des Mondenen, das als Traum- und Rauschhaftes bei Trakl oft in die Sphäre des Todes vermittelt, ist in der Textwelt von Anfang an präsent« (37).
Esselborn (Anm. 28) spricht hier fälschlich vom »dionysischen Rausch als Stimulans des Gefühls« (189).
Zu diesem Motiv in Hölderlins »Hälfte des Lebens« und in Goethes Divan vgl. Rainer Hillenbrand, Klassischer Geist in Goethes West-östlichem Divan, Frankfurt a. M. etc. 2010, 265 (Anm. 470).
Auch Csúri (Anm. 27) sieht »die enge Verbindung von Kindheit und Hollundergebüsch bei Trakl« (37). Vielleicht darf man hier auch an die traumhafte Holunderbuschszene in Kleists Käthchen von Heilbronn denken, die ebenfalls den visionären Zugang zu einer höheren Wirklichkeit schildert. Auch wenn es kaum zu beweisen ist, kann man bei Trakl im Holunder immer auch eine Referenz auf Hölderlin vermuten.
Csúri (Anm. 27) versteht sie hier »als emblematische Zeichen von Läuterung und Wiedergeburt« (37).
Vgl. Rainer Hillenbrand, »Trakls Abendländisches Lied« (Anm. 13). Esselborn (Anm. 28) bietet zu dieser sinnvollen wahlweise auch noch die unsinnige Lesart an, mit »der Mönche edlere Zeiten« sei »nur eine verhüllte Beschreibung früheren asketischen Verhaltens, eine extreme Form der Liebesabkehr, gemeint« (190). Daß die »finstere Stadt« jetzt von solch privaten Angelegenheiten »schweigt«, wäre dann aber ganz banal. Diese angebliche Bedeutungsalternative beruht übrigens auf der falschen Voraussetzung, daß es in dem Gedicht um ein sexuelles Verhältnis zu einem »Liebesobjekt« (190) gehe, wovon aber nichts im Text steht und was in der »Kindheit« auch ganz unwahrscheinlich ist. Auch nach Hepp (Anm. 28), die gleich drei Alternativen zur Auswahl stellt, kann die »edlere Zeit« hier »verschiedenes bedeuten« (85).
Für Lachmann (Anm. 20), der die ganze Szene im »Garten der Familie Trakl« (117) lokalisiert, handelt das Gedicht deshalb »von der Schwester« (116). Von der poetischen Figur der »Schwester«, die Trakl ausdrücklich nennt, wenn er sie meint, ist aber in diesem Text keine Rede; und der Hinweis auf Trakls reale Schwester ist nicht nur prinzipiell unstatthaft, sondern setzt hier auch einen ganz falschen Akzent, wenn etwa Csúri (Anm. 27) hier »Schuldige« (37) einer »sündigen Kindheit« (38) sieht, was sich nur als Rest einer autobiographischen Interpretationstradition erklären läßt, die im Lyrischen Ich immerzu Herrn Trakl persönlich erkennen will, von dem die fragliche Sündhaftigkeit allerdings auch nicht als Faktum feststeht.
Vgl. dagegen Hildegard Steinkamp, Die Gedichte Georg Trakls. Vom Landschaftscode zur Mythenpoesie, Frankfurt a. M. etc. 1988, die den »impliziten erotischen Konnotationen in diesem Gedicht« nachspürt, wozu sie in der letzten Strophe bei der geistigen Erscheinung, weil sie die »Weiße« genannt werde, eine »Nacktheit der Haut« (185) postuliert. Bei Trakltexten entspringen ›implizite Konnotationen‹ nur allzu oft der Interpretenphantasie. Auch für Hepp (Anm. 28) handelt es sich »zweifellos« um das »Hervorrufen der vergangenen Geliebten« (86).
Vgl. Lachmann (Anm. 20): »Der Augenblick, da dunkler Wohllaut die Seele heimsucht, ist der Augenblick der dichterischen Eingebung« (117); aber es »handelt« sich natürlich nicht, wie Hepp (Anm. 28) will, um den »Gesang« des »Dichters« Trakl und seines biographischen »Freundes« (87), sondern um die poetische Imagination der von Trakl gestalteten Figur. Trakl »und seine dichterische Welt« gehen eben nicht »unmittelbar ineinander über« (88), was immer damit gemeint sein soll, sondern befinden sich in der jeder Kunst notwendigen ästhetischen Distanz zwischen Autor und Werk.
Vgl. die Szene der Heimsuchung Elisabeths durch Maria bei Luk. 1,39-56.
Vgl. Steinkamp (Anm. 40): »Aus der Sicht der nur gedanklich präsenten ›Erscheinungen‹ seiner Kindheit haben auch die ›bleichen Gestalten‹ keine körperliche Realität mehr« (184). Gerade dies verleiht ihnen aber auch ihre unantastbare Reinheit.
Die Fehlinterpretation dieses Gedichtes von Klaus Simon, Traum und Orpheus. Eine Studie zu Georg Trakls Dichtungen, Salzburg 1955 (Trakl-Studien II), beruht weitgehend auf autobiographischer Begrenztheit, die überall eine »Situation des Dichters beschrieben« sieht und diese »im Leben Trakls« (115) wiedererkennen will. Lachmann (Anm. 20) versteht den Text insgesamt zwar besser, grundsätzlich aber auch biographisch: »Trakl denkt an einen Spielgefährten, der früh sterben mußte« (177). Csúri (Anm. 27) sieht gar keine zweite Person, sondern in beiden nur »Manifestationen des gespaltenen Selbst«; es handele sich also um den »Versuch, Kontakt [...] zur stilleren Kindheit des eigenen Selbst wiederherzustellen« (191). Diese Interpretation scheitert schon an der mit »Verwesung« und »Fäulnis« extrem körperlichen Beschreibung des Todes, der dann ja nur metaphorisch als Verlust der Kindlichkeit gemeint wäre, womit der Trakl so wichtige und den Sinn dieses Gedichtes entscheidende Gegensatz materieller und idealer Wirklichkeit verloren ginge. Noch grundsätzlicher aber ist der Einwand, daß diese Ichspaltung nicht – wie etwa in »Naturtheater« (T144 f.) – textintern stattfindet, sondern textextern schon stattgefunden hätte, letztlich also auch wieder Trakl persönlich zugeschrieben werden müßte. Auf der biographischen Ebene der Textentstehung könnte man natürlich vermuten, daß es diesen Kindheitsfreund für Trakl gar nicht gegeben, sondern daß er ihn zu poetischen Zwecken erfunden und dabei sich selbst als Vorbild genommen hat; für die Textbedeutung macht das aber ebensowenig einen Unterschied wie die Frage, ob die poetische »Schwester« seiner Gedichte in Trakls wirklicher Schwester ein Vorbild hat oder nicht. Es ist wie bei Goethes »Römischen Elegien«, für deren Bedeutung und Verständnis es auch ganz gleichgültig ist, ob ihr Autor wirklich eine römische Geliebte hatte, ob er sie aufgrund anderer Erfahrungen gestaltet oder ob er sie frei erfunden hat.
Vgl. dagegen Wilhelm Schneider, »Georg Trakl An einen Frühverstorbenen«, in: Ders., Liebe zum deutschen Gedicht. Ein Begleiter für alle Freunde der Lyrik, Freiburg i. Br. 1952, 201–213, der bestreitet, »daß es um irgendwelche Wiedergabe wirklicher Vorgänge und Dinge geht«; es gehe »vielmehr um innere Bilder, Eigenschaften der Seele, traumhaft und kaum sagbar, wenigstens nicht sagbar mit den üblichen, vom Verstand geregelten Mitteln der Sprache« (202). Gemeint ist, daß Trakl, der hier einerseits angeblich »ein tatsächliches Jugenderlebnis« (204) verwertet habe, weshalb es um eine Episode »aus dem Leben des Dichters« (206) gehe, andererseits nur irrationale Traumvisionen ohne Hilfe des Verstands und seiner Sprachmittel – wie auch immer – direkt aufs Papier gesudelt habe. So hätte er aber unmöglich seine formal und sprachlich sorgfältig und genau gestalteten Sprachkunstwerke hervorbringen können. Hier wird besonders deutlich, wie gerade die biographische Identifikation des Lyrischen Ichs als unreflektierter Ausfluß eines unzurechnungsfähigen Autors – sei er nun durch Drogen oder durch Träume erregt – dazu führt, die angebliche Unverständlichkeit Trakls zu begründen, die weitgehend verschwindet, sobald man in seinen Gedichten bewußt gestaltete und daher auch – in den üblichen hermeneutischen Grenzen – rational nachvollziehbare Texte erkennt, und zwar ganz unabhängig davon, aus welchen irrationalen Quellen er das dabei sinnvoll verarbeitete Bildmaterial bezogen haben mag.
Schneider (Anm. 45) betont dionysisch einseitig »die Farbe des Lebens (Blut!), des starken, rauschhaften Lebens« (205).
Vgl. das von Goethe als Motto seiner Italienischen Reise zitierte »Et in Arcadia ego«, das ursprünglich ein memento mori der Barockmalerei war und die Anwesenheit des Todes auch in der idyllischen Schäferwelt bedeutete.
Weichselbaum (Anm. 24) unterscheidet bei Trakl die »Figur des Mönchs« als Ausdrucksmittel für seine angeblich »kritische Sicht des Christentums« (121) und andererseits eine »positive Wertung der Mönchsfigur« (122). Letztere überwiegt aber deutlich, und scheinbare Gegenbeispiele wie in »Traum des Bösen« (T18 f.) und »Drei Blicke in einen Opal« (T39 f.) wären im Gedichtkontext auch erst noch genauer zu bewerten.
Vgl. hingegen Schneider (Anm. 45): »Man ist nicht immer sicher, ob eine Aussage im eigentlichen oder übertragenen Sinne aufzufassen ist«, so wie man in diesem Falle »das tatsächliche Geschehen auch als Abstieg in die Unterwelt deuten« (209) könne. Selbstverständlich kann man eine poetische »Aussage« immer zugleich litteral und metaphorisch verstehen; der mehrfache Schriftsinn gilt als Grundlage abendländischer Poetik natürlich auch bei Trakl.
Auch Schneider (Anm. 45) versteht »Silbern als Farbsymbol des Jenseits« (206).
Hier rächt sich auch bei Lachmann (Anm. 20) die Verwechslung des Autors mit dem Lyrischen Ich: »Trakl singt das Lied vom Tode dem lauschenden Freund zu« (178). Trakl »singt« aber nicht innerhalb seines eigenen Gedichts, noch »lauscht der tote Freund« (178) im Sinne einer esoterischen Naturmystik tatsächlich in Bäumen und Steinen. Im Gedicht zeigt Trakl vielmehr das metaphorische Singen einer Seele, die sich damit einen toten Freund imaginiert und ideal vergegenwärtigt. Trakl stellt nicht die Welt dar, wie sie ihm subjektiv erscheint, sondern schafft mit dem Lyrischen Ich ein Subjekt, dessen Herstellung einer idealen Wirklichkeit sich im Kunstwerk objektiv beschreiben läßt. Nicht der Autor selbst phantasiert in seinen Gedichten, sondern er gestaltet präzise das Phantasieren eines Ichs. Ob er sich dazu mehr oder weniger selbst zum Modell genommen hat, tut gar nichts zur Sache. Trakl schildert nicht seine zufällige Befindlichkeit, sondern, wie er selbst sagt, »das Leben so klar wie es ist, ohne alle persönliche Deutung« (An Hermine von Rautenberg, 5. 10. 1908, in: Georg Trakl, Werke. Entwürfe. Briefe, hrsg. Hans-Georg Kemper, Frank Rainer Max, Stuttgart 1984, 214).
Auch für Schneider (Anm. 45) »wird die Trauer in der Seele des Dichters« – muß heißen: ›des vom Dichter geschaffenen Lyrischen Ichs‹ – »auf die Umwelt übertragen, ihre Laute werden als Klagetöne des Waldes, des Wildes und der Abendglocken empfunden« (206).
Auch für Lachmann (Anm. 20) sind die Glocken blau, »weil sie vom Ewigen künden« (178). Das ist nur ein Beispiel dafür, daß Trakls Farbsymbolik nicht von subjektiver Beliebigkeit ist, sondern an traditionelle Bedeutungen anknüpft. Übrigens läßt Trakl auch in »Sonja« (T60) »die blauen Glocken läuten«, womit aber die Glockenblumen gemeint sind, so daß immerhin ein assoziativer Zusammenhang der Turmglocke vor blauem Himmel mit der blauen Blume erkennbar wird.
Lachmann (Anm. 20) bezieht das »jener« der zweiten Strophe ebenfalls »auf den Frühverstorbenen«, dieses »jener« der vierten aber auf den »Dichter« (178), nämlich auf Trakl persönlich. Er weist zu Recht darauf hin, daß der erste Fall, der eigentlich dem natürlichen Sprachgebrauch entspricht, bei Trakl eher die Ausnahme ist, weil er, wie hier im zweiten Fall, »fast immer sich selbst mit diesem ›jener‹ meint« (178). Abgesehen von der unglücklichen Vermischung des Autors mit seinem Werk, ist es richtig, daß Trakl sein Lyrisches Ich oft diese Distanzierung von sich selbst vornehmen läßt.
Schneider (Anm. 45) kapituliert hier programmatisch und sieht nur »Bilder, die als sinnliche Eindrücke nicht verwirklichbar sind, die aber das Gefühl ansprechen« (206), also beliebig deutbar sind.
So interpretiert Lachmann (Anm. 20) diese Stelle, für den die »Sonne selbst« das »Todeszeichen«, nämlich die »Schatten«, an sich trägt und deshalb »am Leiden der Welt teil« hat, worauf »purpurn« verweise (178).
Vgl. die Jesusworte: »Meine Stunde ist noch nicht gekommen« (Joh. 2,4).
Vgl. Odyssee, 11. Gesang, insbes. V. 34–37 u. 147–149. Gottfried Benn gestaltet später dieselbe Szene in »Quartär II« (1946).
Schneider (Anm. 45), der »die Bildersprache Trakls« (202) doch eigentlich »als sinnliche Eindrücke nicht verwirklichbar« (206) findet, verwirklicht hier das Bild dennoch zu sentimentalem Kitsch: »Was im Innern als Herzenswunde blutet, dringt aus der Kehle als Gesang« (208). Damit verwischt er das bewußte Selbstopfer des Künstlers zu einem diffusen Gefühlsautomatismus, den er ja auch Trakls poetischer Schaffensweise unterstellt, da seine Bilder angeblich »traumhaft« das »Gefühl ansprechen« (206). Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie in der Traklforschung die These vom Unverstehbaren und Unsagbaren dazu mißbraucht wird, Beliebiges in die Texte hineinzuphantasieren.
Simon (Anm. 44) meint dagegen, »die beiden Vorstellungen des Todes«, nämlich »die orphische und die christliche«, seien widersprüchlich, denn ihre »Verbindung ist logisch nicht möglich« (115). Trakl vertritt hier aber weder das christliche, noch das antike Konzept und möchte sie auch nicht logisch verbinden, sondern nutzt nur beide Möglichkeiten, durch Erinnerung an Bekanntes neuen Sinn zu stiften.
Vgl. dagegen Lachmann (Anm. 20): »Die ›blaue Blume‹ ist nicht die blaue Blume der Romantik« (179). Diese Assoziation ist jedoch unvermeidlich und daher von Trakl gewollt. Für Preisendanz (Anm. 2) ist diese Stelle »ganz klar auf Novalis bezogen« (253), für Csúri (Anm. 27) bedeutet sie »als Novalis-Zitat romantische Sehnsucht und dichterische Vollendung« (191), und auch Schneider (Anm. 45) erkennt »das alte romantische Sehnsuchtssymbol« (208).
Zu den feurigen Zungen vom Himmel an Pfingsten vgl. Apg. 2,1–4. Die Kombination von Blut und Wasser verweist mehrfach auf Christus, aus dessen Seitenwunde bei der Kreuzigung beides floß (Joh. 19,34) und der auf dem Ölberg Blut schwitzte (Luk. 22,44), weil seine Seele bis in den Tod hinein betrübt war (Matth. 26,38). Es könnte also ein Hinweis auf Christi Opfertod vorliegen, zumal er bei anderen Gelegenheiten auch Tränen vergoß, so insbesondere über die Gottferne der Stadt Jerusalem und ihren deshalb bevorstehenden Untergang (Luk. 19,41), ein Motiv, das sich auch bei Trakl mehrfach wiederfindet, so in »Abendlied« (T38) und »Der Abend« (T90).
Vgl. Alfred Doppler, »Die Stufe der Präexistenz in den Dichtungen Georg Trakls« (zuerst 1968), in: Ders., Die Lyrik Georg Trakls (Anm. 17), 33–45, der hier eine »Antithese« (44) der beiden dem Lyrischen Ich »innewohnenden Seinsweisen« sieht, nämlich den Zustand einer »traumhaften Zeitenthobenheit« und das »Verfallensein an die Zeitlichkeit« (43).
Vgl. von Hölderlin »Der Archipelagos«, wo »der Gott in goldnen Wolken erscheinet«; in seinem Gedicht »An Landauer« werden sogar die »Seligen«, also die Verstorbenen, als »geliebte Schatten« bezeichnet und als »goldne Wolke« verbildlicht (Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Kleine Stuttgarter Ausgabe, 6 Bde, hrsg. Friedrich Beissner, Stuttgart 1946–1962, II, 115 u. 118). Bei der Verklärung Christi ertönte die »Stimme« Gott Vaters aus einer hellen »Wolke« (Matth. 17,5), bei seiner Himmelfahrt nahm ihn eine »Wolke« (Apg. 1,9) auf, bei seiner Wiederkunft wird er »in den Wolken des Himmels« (Matth. 24,30) erscheinen und auch die seligen Menschen werden dann »hingerückt werden in den Wolken, dem Herrn entgegen« (1. Thess. 4,17).
Doppler, »Die Stufe der Präexistenz« (Anm. 63), muß aus seiner antithetischen Auffassung die falsche Konsequenz ziehen: »Die Zeit bricht demnach zerstörend in die Zeitlosigkeit des verklärenden Gesanges ein« (44). Davon kann aber am Gedichtende, wo dem Lyrischen Ich die Herstellung dieser idealen Wirklichkeit gelingt, keine Rede sein.
Csúri (Anm. 27) schlägt ebenfalls vor, »Goldene Wolke und Zeit nicht getrennt, sondern als Einheit zu verstehen, also eine goldene Zeit« (191).
Über die »auktorial kalkulierte Ambivalenz des Ausdrucks« im Gegensatz zu einem »Ambivalenzbegriff«, der die Möglichkeit »widersprüchlicher Lesarten« behauptet, »um die Textbedeutung relativistisch oder ›rezeptionsästhetisch‹ ins Belieben des Interpreten zu rücken«, vgl. Rainer Hillenbrand, »Trakls Abendländisches Lied« (Anm. 13), 251 f. (mit Anm. 28).
Simon (Anm. 44) folgt einer unglücklichen Stereotype der Traklforschung, wenn er meint, der Hauptpunkt dieses Gedichts lasse sich »begrifflich nicht nachvollziehen«, und daher einen »Zwiespalt in den Vorstellungen des Dichters« unterstellt, den verstehen zu wollen, zu einem »Absurdum« führte (115). Nur weil man etwas nicht versteht, ist es nicht schon unverständlich; und eine absurde Dichtung, die sich selbst widerspräche, hätte keine höhere poetische Qualität, wie gerade bei Traklgedichten gerne behauptet wird, sondern wäre trivial.
Vgl. Äneis, 6. Buch, V. 703–751.
Vgl. Hebr. 11,13 f.: »Fremdlinge auf Erden«, die »ein Vaterland suchen«.
Exemplarisch für viele Traklinterpreten ist die Fehldiagnose bei Schneider (Anm. 45): »Aber aus dieser Gleichsetzung von Leben und Tod kann kein Trost quellen, weil das Leben vom Grabe her betrachtet wird und der Todesgedanke das Leben vergiftet« (209). Für Trakl vergiftet aber nicht der Todesgedanke das Leben, sondern das Leben ist schon tödlich vergiftet, so daß die »Grenzverwischung zwischen Leben und Tod« (209), nämlich die Flucht aus der materiellen in eine geistige Wirklichkeit, eben doch ein »Trost« und ein Glück sein kann, sofern sie gelingt. Symptomatisch ist auch Schneiders biographische Nutzanwendung: »Das hat der Dichter Trakl so sehr an sich erfahren, daß er in noch jungen Jahren aus dem unerträglich gewordenen Leben flüchtete« (209). Dahinter steckt der traklfremde Grundgedanke, daß die Realität des Lebens doch eigentlich ganz erfreulich sein könnte, wenn sie nur nicht mit allzuviel Melancholie vergiftet würde. Diese hausbackene Psychologie, wonach »der Todesgedanke« Trakl den Lebensgenuß verdorben und so in den Selbstmord getrieben habe, findet jedenfalls in seinen Gedichten keine Stütze; hier ist es eher das letztliche Scheitern einer geistigen Weltflucht, die eine körperliche notwendig machen könnte.
Dichtungen und Schriften, hrsg. Eberhard von Cranach-Sichart, München 1957, 367–370; vgl. Psalm 119,19.
Vgl. dagegen Lachmann (Anm. 20): »Die Natur, die das Vergangene birgt, seufzt schwer über das Kommende« (74).
Zu diesem Zitat aus Tiecks Erzählung »Der Runenberg«, das an Novalis anknüpft, vgl. Rainer Hillenbrand, »Auch Verzweiflung ist Glück« (Anm. 16), 269 u. 279 (Anm. 11).
Vgl. Lachmann (Anm. 20): »›Modernde Felsen‹. Dieses Wort erschließt den Sinn, in dem hier die Zeit gemeint ist. [...] Und nun ist der ›Abend‹ der Zeit angebrochen« (74).
Luk. 19,41–44 (vgl. Anm. 62).
Vgl. H. W. Nieschmidt, »Georg Trakl. Wesenszüge seiner Lyrik«, Wirkendes Wort 4 (1953/54), 83–91, zur »menschlichen Seele« in diesem Gedicht: »Jede Berührung mit dem Weltlichen kann bereits zu ihrer Befleckung und Selbstentfremdung führen, seit sich die Menschheit in furchtbarem Sündenfall von Gott gelöst hat und ständig weiter von ihm entfernt. Die Welt, auf der die Schatten der Erbsünde lasten, drängt die Einzelseele in äußerste Isolation« (87). So explizit klingt das christliche Thema in »Der Abend« freilich nicht an; nur in Verbindung mit anderen Gedichten läßt sich dieser Horizont erschließen.
Das romantische Motiv der Gefangenschaft im Kristall findet sich etwa in Hoffmanns »Goldnem Topf« (10. Vigilie), die Konkurrenz organischer und kristalliner Welten und der damit verbundenen religiösen und materiellen Ewigkeitskonzepte wiederum in Tiecks »Runenberg« (vgl. Anm. 74). Lachmann (Anm. 20) meint, der leere Kristall des Bergsees sei für die Schatten »der Trichter, durch den sie dahin schwinden, woher sie die Stimme des Dichters rief« (74). Von einem »Trichter« ist im Text aber keine Rede, und die Schatten werden auch nicht vom Grund des Bergsees heraufgerufen. Gerade Trakls genau konstruierte Bilderwelt, von der Bedeutung und Gehalt seiner Gedichte abhängen, darf nicht vom Leser und Interpreten beliebig weitergedichtet und damit verfälscht werden. Daß »die Stimme des Dichters«, also Trakls, die Schatten herbeirief, ist nur die übliche Verwechslung des Autors mit seinem Werk, also außerpoetischer mit innerpoetischen Instanzen, die aber, weil sie die Realität mit der Idealität vermengt, gerade das Verständnis der unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen bei Trakl und damit das Grundverständnis seiner Gedichte verhindert.
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Hillenbrand, R. Wirklichkeit und Unwirklichkeit bei Georg Trakl. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 95, 81–114 (2021). https://doi.org/10.1007/s41245-021-00123-9
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