Es zählt zum Grundwissen der Germanistik, dass sich in den 1770er Jahren ein Aufstand gegen die Regelpoetik formierte, der eine der prägendsten Ideen, ja vielleicht sogar die fixe Idee der modernen deutschen Literatur ins Leben rief: den Geniegedanken.Footnote 1 Mit dem Sturm und Drang verabschiedete man das Ideal des poeta doctus, dem sich die Autoren der Frühen Neuzeit verpflichtet hatten;Footnote 2 stattdessen formulierte man die Sehnsucht nach einem Naturgenie, das durch angeborenes Talent jedes erlernte Wissen überflügeln sollte.Footnote 3 Damit erhielt der gelehrte Dichtertypus Konkurrenz durch ein neues Autorkonzept, das man aufgrund seines oppositionellen Charakters als poeta non doctus bezeichnen könnte. Für kurze Zeit schien die Literatur so von ihren traditionellen Bildungsvoraussetzungen entbunden zu sein.

Doch dieses Versprechen ließ sich im weiteren Verlauf der deutschen Literaturgeschichte nicht vollständig einlösen. Die Grenzen und Widersprüche des neuen Autormodells, das aus dem Widerstand gegen die normativen Lehren der Rhetorik und Poetik hervorgegangen war,Footnote 4 zeigten sich besonders plastisch, wenn der Ruf nach mehr Natur in der Poesie tatsächlich von Ungelehrten beantwortet wurde. Denn diesen wurde keineswegs mit durchgängigem Wohlwollen begegnet. Bei der Lektüre von Volksliedern rüstete sich etwa Johann Gottfried Herder, erst einmal das »Gold« vom »Schlamm«Footnote 5 scheiden zu müssen. Noch reservierter verhielten sich Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller gegenüber literarischen Texten aus der Feder von Frauen, die von gelehrten Institutionen wie Lateinschule oder Universität ausgeschlossen waren.Footnote 6 Während die neuen, oft gezielt auf die Sprache des Herzens setzenden Romane von Autorinnen um 1800 zahlreiche begeisterte Anhänger fanden,Footnote 7 genügte ausgerechnet den Vorreitern der Geniebewegung das »Gefühl« darin nicht als Grundlage für die »Kunst«: Für Goethe und Schiller hatte der »Dilettantism« der »Weiber«,Footnote 8 wie ihr Versuch »Über den Dilettantismus« (1799) festhält, mit einer vermeintlich ›wahren‹ Poesie nur selten etwas zu tun.

Mit solchen Selektionsgesten mussten Autorinnen und Autoren, die sich aufgrund ihrer sozialen Herkunft oder ihres Geschlechts außerhalb der gelehrten Sphäre bewegten, um 1800 jederzeit rechnen. Nicht viel besser sah die Alternative aus, denn auch eine wohlmeinende Förderung legte die entsprechenden Akteure oft auf einen Status als ›Naturdichter‹Footnote 9 oder bloßes Geschlechtswesen fest, der sie als Dichter zweiten Ranges qualifizierte. Auf solche Etikettierungen hätten viele der Betroffenen, allen voran die immer wieder mit Klischees ihrer einfachen Herkunft und Weiblichkeit konfrontierte Anna Louisa Karsch,Footnote 10 ohne Zweifel gern verzichtet;Footnote 11 andere nutzten sie marktstrategisch zu ihren Gunsten – etwa der Schweizer Bauer und Schriftsteller Ulrich Bräker, der sich von seinem Verleger Johann Heinrich Füßli 1789 offensiv als »Sohn der Natur«Footnote 12 bewerben ließ. Unabhängig von den Taktiken, die einzelne Schreibende im Umgang mit ihrer Sonderstellung entwickelten, zeichnet sich im Umgang mit tatsächlichen ungelehrten Dichtern ab, welches Konfliktpotenzial mit der Abkehr von der Regelpoetik und der Hinwendung zur Idee des Naturgenies in der deutschen Literatur verbunden war: Im Sinne der Genieästhetik riefen Autoren und Kritiker zwar allenthalben nach dem Anderen der Gelehrsamkeit. Doch immer, wenn ungelehrte Dichter die literarische Bühne betraten, war ihre Position eine prekäre. Sie standen nicht für sich selbst, sondern hingen weiterhin vom Pro oder Contra der gelehrten Kritik ab.

Zu diesem Problem hat die Forschung bisher wenig zu sagen gehabt. Allenfalls sind Einzelfälle in den Fokus gerückt, denen meist mit feldtheoretischen Ansätzen begegnet worden ist. Ob mit Blick auf schreibende FrauenFootnote 13 oder Angehörige der niederen Stände:Footnote 14 Die Auseinandersetzung mit ungelehrten Dichtern um 1800 hat sich in der Vergangenheit größtenteils darauf beschränkt, konkrete Konstellationen herauszustellen, in denen bestimmten Gruppen der Zugang zum literarischen Feld entweder erschwert oder nur unter Anwendung marginalisierender Etikettierungen gestattet wurde. Die Frage, in welchem gemeinsamen Horizont dieser Umgang mit poetae non docti stand, ist hingegen ebenso wenig gestellt worden wie die nach seiner literatur- und diskursgeschichtlichen Relevanz.

Dieser Beitrag entwickelt daher eine systematische Perspektive auf den Status der ungelehrten Dichter im 18. Jahrhundert, die diese Debatten sowohl miteinander verbindet als auch von Zuschreibungen der Marginalität löst. Das Ziel wird sein, diesen scheinbaren Nebenschauplatz der Autonomieästhetik als einen literatur- und diskursgeschichtlichen Ort zu profilieren, an dem sonst übersehene Voraussetzungen des Genieentwurfs paradigmatisch sichtbar werden.

Im Fokus steht dabei die kommunikative Ordnung, die dem genialischen Sprechen implizit zugrunde lag. Die These, die dazu entwickelt werden soll, lässt sich in ebenso kurzer wie paradoxer Weise wie folgt formulieren: Damit die epochemachende Idee einer »allein aus sich schaffenden Subjektivität«Footnote 15 in die Welt gesetzt werden konnte, bedurfte es zunächst nicht nur einer Sprechinstanz. Die nachträgliche Verhandlung von genialischem Potenzial bei Karsch, Bräker und anderen dokumentiert, dass ursprünglich mehrere kommunikative Positionen besetzt sein mussten, wenn naturhaft ingeniöse Rede konstituiert werden sollte. Das hat, so die Annahme, mit der literarischen Vorgeschichte des Geniegedankens zu tun, die enger mit dem ungelehrten Dichten verschränkt ist, als man es bisher gesehen hat. So nahm das Konzept des schöpferischen Individuums konzeptuelle Anleihen bei historisch älteren Formaten des ungelehrten Dichtens, zu denen prinzipiell mehr als ein Sprecher gehörte. Die Rekonstruktion dieser Vorläufermodelle verspricht nicht zuletzt zu verdeutlichen, unter welchen Prämissen (und in welchen Grenzen) es den Autoren des Sturm und Drang gelingen konnte, die mehrstimmige Ordnung der genialischen Rede in eine programmatische Einstimmigkeit zu überführen.

I.

Um das umrissene Sprechmodell zu rekonstruieren, ist es nötig, in die Jahrzehnte vor dem Geniediskurs zu blicken und nach der literaturgeschichtlichen Folie zu fragen, vor der sich das neue Dichterkonzept herausbildete. Dieses Unternehmen ist keineswegs trivial, denn nach wie vor hat der inszenierte »Traditionsbruch[ ]«,Footnote 16 mit dem die Stürmer und Dränger jegliche Kontinuität zur Literatur der vorigen Generationen negierten, einige blinde Flecken in der Forschung hinterlassen. Was die Vorläufermodelle des genialischen Dichtens betrifft, gilt dies trotz einer differenzierten Forschungslage noch heute. So hat Jochen Schmidt die deutschsprachige Geschichte des Genie-Gedankens (1985) in seiner einschlägigen Studie erst spät mit der Zürcher Aufklärung beginnen lassen, die seit den 1730er Jahren ihre Poetik der Einbildungskraft lancierte.Footnote 17 An dieser kurzen Genealogie des Genies hat Hans-Georg Kemper zu Beginn der 2000er Jahre eine wichtige Korrektur vorgenommen, die einen Vorlauf bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts erschlossen hat.Footnote 18 So sei der absolute »Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch« des Geniekonzepts nicht aus einer bloßen »Addition philosophischer, ästhetischer und rhetorischer Aspekte«Footnote 19 zu erklären, wie sie im Wesentlichen bei Schmidt stattgefunden habe. Stattdessen, so Kemper, müsse die Genie-Poetik als buchstäblich verstandene »Genie-Religion«Footnote 20 verstanden werden, deren zentrale Sprech- und Denkfiguren auf religiöse Muster zurückgeführt werden könnten. Besonders der Pietismus ist dadurch in den Fokus gerückt. Denn auf der Suche nach einer intensiven innerlichen GlaubenserfahrungFootnote 21 vertrat die protestantische Reformbewegung eine Lehre der Inspiration,Footnote 22 die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts auch Praktiken eines enthusiastischen, von einer »persönlichen Offenbarung«Footnote 23 motivierten Sprechens entstehen ließ. Im religiösen Kontext bildeten sich dabei Modelle inspirierter Rede heraus, die Kemper als strukturgebende Impulse für Programme der poetischen Inspiration ins Spiel gebracht hat.

Durch diesen Hinweis auf die religiösen Inspirierten um 1700 ist ein entscheidendes Phänomen erschlossen worden, das die literarischen Geniediskurse mit einer kulturhistorischen Tiefendimension versieht. Irritierend an der Forschung, die sich seither auf Kempers These bezieht, ist jedoch der schematische Umgang mit der Frage, wie die Aneignung dieser Sprechmodelle sich in der Literatur des 18. Jahrhunderts konkret vollzog. So hat es sich etabliert, die pietistische Inspirationsidee mittels eines weiten Zeitsprungs in direkte Analogie zum Selbstverständnis des jungen Goethe zu setzen.Footnote 24 Am prägnantesten tritt dieser Zugriff bei Ulf-Michael Schneider hervor, der die »Ekstatiker[ ], Geistverkünder[ ] und Visionäre[ ]« der Jahrhundertwende in seiner Studie zu Propheten der Goethezeit (1995) umstandslos als »religiöse Genies« bezeichnet: »[D]urch ihr Sprechen aufgrund des ›inneren Worts‹ oder als göttlich erfahrener Eingebungen« hätten diese Frauen und Männer das »Substrat« bereitgestellt, an das die »dichterischen ›Genies‹ der Sturm- und-Drang-Generation«Footnote 25 um 1770 hätten anknüpfen können.

Problematisch an dieser Analogie ist indes nicht nur ihr Anachronismus, der literarische Rezeptionen der Inspiration vor den 1770er Jahren ausklammert. Auch systematisch führt sie insofern zu Widersprüchen, als sie allein die »religiösen«Footnote 26 Anschlusspunkte für die Autorschaftskonzepte des Sturm und Drang fokussiert. So bleibt letztlich offen, wie die paradigmatische Autonomie des Dichtergenies aus einem Redemodell hervorgehen konnte, das traditionell zwei Instanzen voraussetzte:Footnote 27 Inspiration, wörtlich die »Einhauchung«Footnote 28 (inspiratio) göttlicher Rede, war im religiösen Verständnis als Akt einer vermittelten Rede konzipiert, in der eine höhere Macht als Autor fungierte und sich zum Zweck der Aussprache eines menschlichen Mediums bediente.Footnote 29

Im Folgenden soll daher eine neue Perspektive auf diesen Prozess entwickelt werden, die in Rechnung stellt, dass die religiöse Praxis der inspirierten Rede stets auch ein Probefeld für die ungelehrte Produktion von Texten war und dadurch mehr literarische Anschlussfelder bot als bisher gesehen. Dieser Umstand offenbart sich schon bei einem kursorischen Blick auf die Rede- und Gesangspraktiken von pietistischen Inspirierten, die im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert vielfältig diskutiert wurden. Daran fällt auf, dass das Feld durchgängig von wenig literarisierten Akteuren besetzt wurde, denen man traditionell gerade wegen ihrer fehlenden Vertrautheit mit Schrift und Rhetorik eine besondere Glaubwürdigkeit als Medien des Gottesworts zusprach.Footnote 30 Zu diesen Figuren zählte etwa der Sattler Johann Friedrich Rock, der sich der ›Wahren Inspirations-Gemeine‹Footnote 31 in der hessischen Wetterau anschloss, wo er sich 1715 zu einem von mehreren »Werckzeugen des Geistes«Footnote 32 erweckt sah. Bis zu seinem Tod 1749 produzierte Rock insgesamt »946 Inspirations-Reden«,Footnote 33 die während des Vortrags mitgeschrieben, in der gemeindeeigenen Druckerei verlegtFootnote 34 und auf den örtlichen Buchmessen vertrieben wurden.

Etwas defensiver ging man im Halle der 1690er Jahre mit den Dienstmägden Magdalena Elrichs, Katharina Reinecke und Anna Maria Schuchart um,Footnote 35 die Ekstasen durchlebten, göttliche Botschaften verkündeten und im Falle Schucharts auch religiöse Lieder hervorbrachten.Footnote 36 Just zu dem Zeitpunkt, als August Hermann Francke von einer kurfürstlichen Kommission wegen Radikalitätsvorwürfen seitens der Orthodoxie beobachtet wurde, war die öffentliche Assoziation mit diesen Visionärinnen riskant.Footnote 37 Hohe Wellen schlug daher eine anonyme Publikation von abgefangenen Briefen, in denen Francke sich äußerst angetan von den ›begeisterten Mägden‹ zeigte.Footnote 38

Wohlwollen für diese Frauen bekundete zudem ein Bericht des jungen Johann Anastasius Freylinghausen,Footnote 39 der die Idee der Inspiration später in der allgemeinen Glaubenspraxis der Pietisten verankerte, indem er das berühmte Geist-Reiche Gesang-Buch (1704/1714) herausgab.Footnote 40 Diese Erweiterung des protestantischen Liedkanons beruhte laut Freylinghausens Vorrede auf einer Art kollektiven Eingebung, bei der Gott »vielen seiner Kinder und Knechten ein neu Lied in ihr Hertz und in ihren Mund geleget« habe, um »Jhn damit zu preisen«Footnote 41. Glaubenspraktisch erklärt sich diese These aus der differenzierten Kultur des religiösen Lieds im Pietismus, die förderte, dass Gläubige ihre religiösen Empfindungen in Verse fassten.Footnote 42 So finden sich im Freylinghausen’schen Gesangbuch viele Texte von Gemeindemitgliedern, die sich bei der Andacht vom Heiligen Geist erfasst gefühlt hatten. Sophia Tranquilla Schröder, die Tochter des Konsistorialrats Joachim Wolf in Halle, ist in der Ausgabe von 1711 etwa als Autorin von drei Liedern präsent.Footnote 43

Berücksichtigt man den Aspekt der Ungelehrtheit in diesen Fällen von inspirierter Rede, dann schärft dies die Aufmerksamkeit dafür, dass die zugrunde liegende Sprechordnung außer der Verbindung von göttlichem Autor und menschlichem Medium noch eine weitere integrale Beziehung beinhaltete. Denn der Sattler Rock, die ›begeisterten Mägde‹ und auch die Gläubigen, deren Lieder in Freylinghausens Gesangbuch eingingen: Sie alle konnten bei näherem Blick nur darum als heteronome Medien des Gottesworts überzeugen, weil ein autoritativer Interpret diesen Status für sie beglaubigte. Die Plausibilität der Inspiration hing maßgeblich davon ab, dass die Sprecher die aktive Autorschaft und das Verständnis der Eingebungen von sich wiesen, die sie fast immer mündlich (also in maximaler Distanz zum Schriftsystem) formulierten.Footnote 44 Sie konnten sich nicht selbst als Inspirierte legitimieren. Daher musste die Rede der Ungelehrten durch eine weitere Instanz flankiert werden, die ihre Botschaften mit den Mitteln der Gelehrsamkeit bearbeitete: durch Protokolle (z.B. Rocks Schreiber), durch Editionen und Paratexte (z.B. Freylinghausen) oder durch autoritative Interpretationen (z.B. Francke). Darüber kam eine dritte Sprechinstanz ins Spiel, die mit einer starken Sprach- und Diskursmacht ausgestattet und in der Lage war, das gesamte Gefüge interpretatorisch zu justieren.

Damit zeigt sich, dass die Konstitution von inspirierter Rede in entscheidendem Maße von einem Zusammenwirken ungelehrter und gelehrter Sprechinstanzen abhing. Parallel zu den religiösen Genealogien des Genies erschließt sich so ein konkreter kommunikativer Raum, in dem Inspiration inszeniert, diskutiert und transformiert werden konnte. Der Blick darauf verspricht, bisher übersehene literarische Projekte zu erschließen, die lange vor Goethe zur Entwicklung von genialischen Redestrukturen beitrugen. Wie im nächsten Schritt zu zeigen ist, war es dieser eng mit sozial- und bildungsgeschichtlichen Fragen verschränkte Aspekt der inspirierten Rede, der zuerst in der Literatur des 18. Jahrhunderts aufgegriffen wurde.

II.

Auf der Suche nach literarischen Projekten, die vor dem Sturm und Drang an die profilierten Formen der inspirierten Rede anschlossen, muss man weder zeitlich noch örtlich in die Ferne schweifen. Genauer gesagt, kann man am Standort des Francke’schen Pietismus verweilen. Bekanntlich verschrieb die preußische Universitätsstadt Halle sich in der Aufklärungszeit nicht nur theologisch, sondern auch poetisch der Inspiration.Footnote 45 In den späten 1730er Jahren formierte sich die Erste Hallische Dichterschule um Immanuel Jacob Pyra und Samuel Gotthold Lange, die mit Pyras Lehrgedicht Der Tempel der Wahren Dichtkunst (1737) das Programm einer ›Heiligen Poesie‹ vorlegte.Footnote 46

Will man die Bedingungen verstehen, unter denen sich im 18. Jahrhundert die Vorstellung einer poetischen Inspiration herausbildete, dann lohnt diese oft nur en passant erwähnte Bewegung eine eingehende Betrachtung. Bei näherem Blick hat man es hier mit einem differenzierten Projekt zu tun, in dem die Protagonisten der Ersten Hallischen Dichterschule nicht nur eine, sondern zwei Positionen des religiösen Sprechmodells in den literarischen Diskurs überführten und systematisch weiterentwickelten. Zum einen profilierten die jungen Autoren Pyra und Lange einander als Medien der Inspiration, indem sie die eigene Poetik im Tempel als Lehre einer personifizierten »heilge[n] Poesie« ausgaben, die dem Sprecher des Lehrgedichts »bey später Andacht« über »des grossen Davids Psalmen«Footnote 47 erscheint. Zum anderen eignete sich besonders Lange darüber hinaus die Position des Interpreten an, indem er sein Umfeld gezielt auf Ressourcen ungelehrten Dichtungsvermögens durchleuchtete. Diese aktive Auslegung der Interpretenrolle steigerte deren Bedeutung in der Sprechordnung der Inspiration erheblich. Während die Theologen um 1700 die Äußerungen von selbsternannten Prophet(inn)en und Visionär(inn)en lediglich nach erfolgtem Sprechakt dokumentiert und kommentiert hatten, wurden jetzt bewusst Rede- und Schreibanlässe herbeigeführt, in denen Dichter und Philosophen die poetische Begeisterung von Ungelehrten hervorzulocken und zu studieren versuchten. Auf diese Experimente soll hier das Augenmerk gelenkt werden: Wie zu zeigen ist, bildeten sie einen literaturhistorisch signifikanten Versuchsraum, in dem die Interaktion von Gelehrten und Ungelehrten prototypische Konzeptionen des Naturgenies hervorbrachte.

In den Fokus solcher Beobachtungskonstellationen rückte dabei zuallererst Langes Ehefrau, die immer wieder zu Schreibversuchen angehalten wurde. Schon die Sammlung Thirsis und Damons freundschaftliche Lieder (1745), deren Titel das Freundespaar Pyra/Lange feierte, enthielt auch eine Ode von Anna Dorothea Lange, die das antikisierende Pseudonym ›Doris‹ erhielt (»Doris auf Damons Nahmensfest«).Footnote 48 1747 erschienen dann Langes Horatzische Oden mit einem »Anhang Horatzischer Gedichte von Anna Dorothea Langin, gebornen Gnügin«, die eng an seine eigene Lyrik angelehnt waren.Footnote 49 Lange selbst deutete diese Dichtungen in seiner Ode »An Doris« als Produkte von unwillkürlichen »Trieben«, die seine Frau »oft« und unwiderstehlich »zum Singen«Footnote 50 zwingen würden. Faktisch lässt seine 1769/1770 herausgegebene Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe aber keinen Zweifel daran, dass man Anna Dorothea Lange im literarischen Netzwerk Halles ebenso kontinuierlich wie systematisch zum Dichten aufforderte. Zwar fehlen Langes eigene Briefe in der publizierten Korrespondenz. Doch umso stärker tritt das Interesse seiner Gesprächspartner hervor, die unentwegt mit konkreten Schreibaufträgen an die zentrale Frau im Freundeskreis herantraten.

»Doris muß nicht aufhören zu anakreontisieren«,Footnote 51 forderte etwa Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der zudem für eine Fortsetzung der Freundschaftlichen Briefe (1746) auf sie zählte. »Doris muß fleißig schreiben, damit wir das Versprechen am Ende der Vorrede halten können«,Footnote 52 drängte er: An diesem Ort hatte Johann Georg Sulzer eine »Samlung von Briefen unserer Freundinnen« in Aussicht gestellt, die »beweisen« solle, »wie artig witzige Mädchen schreiben«Footnote 53. Diese Ankündigung lässt erahnen, dass auch der Schweizer Philosoph analytisches Interesse an Anna Dorothea Lange hegte. In der Tat belegt der Briefwechsel, dass ›Doris‹’ literarische Potenziale für Sulzer um die Mitte der 1740er Jahre einen regelrechten Projektcharakter erhielten. So erlegte er Langes Gattin ein detailliertes Übungsregime auf, das ihre angeborenen Fähigkeiten entwickeln, die Schreibende aber auf keinen Fall »gelehrt«Footnote 54 machen sollte, wie er betonte. Im Sinne des empfindsamen Geschlechterdiskurses, der Frauen als Natur- und Gefühlswesen definierte,Footnote 55 empfahl Sulzer statt »Schulbücher[n]« und den »alten Schriftsteller[n]«Footnote 56 die gemeinsamen freundschaftlichen Gespräche als Ausgangspunkt für die erwünschten Texte. Auf der Agenda standen Poesie und Prosa; zum erforderlichen Zeitaufwand machte er ebenso konkrete Vorgaben wie zu Umfang und Themen:

Ich bitte die Doris gar sehr, daß sie sich etwas mehr, als bis dahin, ins Schreiben und Dichten menge. Durch die Uebung erlangt man Fertigkeit. Sie muß in Prose so wohl als in gebundener Rede wenigstens alle Wochen zwey Bogen vollschreiben. Wenn es ihr im Anfang sollte zu schwer vorkommen, Materien abzuhandeln, so kann sie, was die Prose betrifft, Gespräche schreiben. Z.E. Sie kann fingiren, ich wäre bey Ihnen, und die Reden, Scherze und Beschäfftigungen beschreiben, die wir zusammen hatten.Footnote 57

Und nicht zuletzt Vorbereitungen für eine (letztlich nicht realisierte) Zeitschrift mit dem Titel Der Mädchenfreund illustrieren, wie ernst es Sulzer 1746/1747 mit der Anleitung zur weiblichen Autorschaft war.Footnote 58 In diesem Projekt sollte Anna Dorothea Lange laut seinen Vorstellungen als »Mitarbeiterinn«Footnote 59 und als »Muster« fungieren, damit sie den anvisierten Leserinnen mit der »natürlichen Artigkeit«Footnote 60 ihrer Texte den erwünschten Weg zum eigenen Schreiben weisen könne.

Auf den ersten Blick könnte man verleitet sein, diese wiederholten Schreibaufträge ausschließlich als Beleg für eine zunehmende Wertschätzung weiblichen Talents aus dem Geiste der Aufklärung zu lesen.Footnote 61 Die konstante Erwartungshaltung, mit der Lange, Sulzer und Gleim die Beobachtete – bisweilen gegen ihren passiven oder aktiven WiderstandFootnote 62 – konfrontierten, deutet freilich darauf hin, dass die Beobachtung ihrer Schreibversuche mit einem eigenen literarischen bzw. literaturtheoretischen Interesse verknüpft war. Dieses erhält konkreteres Profil, wenn man genauer auf die Zuschreibungen blickt, die an die Autorin und ihre Gedichte herangetragen wurden. Als Frau fungierte Anna Dorothea Lange, wie im Folgenden deutlich werden soll, in den Augen ihrer männlichen Förderer als Testfall für ein alternatives Dichtermodell zum poeta doctus. Aus diesem Grund avancierte sie in Halle zum Paradigma einer neuen, poetischen Form ungelehrter Inspiration, die man an ihrem Beispiel zu sondieren, ja überhaupt erst dichtungstheoretisch zu konturieren versuchte.

Anhand der zahlreichen Texte, in denen das Phänomen der dichtenden Frau in Halle thematisiert wurde, lässt sich diese geschlechtlich differenzierte Transformation der inspirierten Sprechordnung detailliert verfolgen. So dokumentiert ein posthum publiziertes Gedicht mit dem Titel »Paßionsandacht« (1765), in dem angesichts eines deiktisch evozierten Kreuzes typische Motive der Jesus-Minne ausbuchstabiert werden,Footnote 63 dass es immer noch religiöse Praktiken waren, die den Ausgangspunkt für Anna Dorothea Langes Schreiben bildeten.Footnote 64 Diese fromme Bewunderung für die Schöpfung durchlief in den Interpretationen ihrer Autorschaft jedoch zusehends eine metonymische Verschiebung, bei der die Dichterin zum Sprachrohr einer pantheistisch gedachten Natur stilisiert wurde. So bescheinigte Georg Friedrich Meier der verehrten Frau ein feines Sensorium für die »Allgegenwart Gottes«, das die Natur direkt zu ihr sprechen lasse. »Ihr sangen die Nachtigallen den Urheber der Natur, und die Bäume rauschten ihr seinen Namen zu«,Footnote 65 schrieb der Kunsttheoretiker. Mit einer ähnlichen Denkfigur pries Johann Peter Miller, der Rektor des örtlichen Gymnasiums, sie als wahre »Naturpriesterin«: Durch ihre Beschreibung der heimischen Landschaft habe die Autorin das »grosse Bild der Gottheit« im 40. Stück der Wochenschrift Der Gesellige (1745/1746) so deutlich wachgerufen, dass »eine weite Provinz mit Verehrern und Anbetern des lebendigen Gottes«Footnote 66 erfüllt worden sei.

Bei dieser Inszenierung der Autorin als fühlender Leserin im Buch der NaturFootnote 67 machten die Deutungen von Anna Dorothea Langes Texten allerdings nicht Halt. Einen literaturtheoretisch entscheidenden Schritt vollzogen ihre Gesprächspartner durch eine weitere Verschiebung des Inspirationsmodells, bei der sie die dichtende Frau selbst zum Buchstaben im liber naturae erklärten. »[A]lles an ihr ist Natur«, schwärmten Lange und Meier im Geselligen; »die Kunst ist ihr verborgen«Footnote 68. Diese These verschränkte das religiöse Modell inspirierter Rede, das traditionell auf ungelehrte Sprecher setzte, mit dem Weiblichkeitsdiskurs der Empfindsamkeit. Indem die Autorin als Teil einer – pantheistisch gedachten – Natur gedeutet wurde, konnten ihre Texte zum Ausdruck einer natürlichen, aktiv gedachten Kraft erhoben werden, welche die Schreibende vermeintlich reflexhaft auf »rührende[ ]« Reize reagieren lasse: auf »Gott«, ihren »Ehegatten« oder ihr »Kind[ ]«Footnote 69. Daraus resultierte ein Autorschaftsmodell, bei dem die »Empfindung« die Schreibende – so Lange und Meier – ohne die verfälschende Wirkung erlernter »Regeln«Footnote 70 durchströmte. Dass diese Vorstellung auf einer Transformation inspirierter Rede beruhte, liegt ebenso auf der Hand wie die literaturpolitische Funktion, die ›Doris‹ durch diese Interpretation erhielt: Als ungelehrte Frau, die sich beim Schreiben angeblich nur von der Natur leiten ließ, konnte sie als Präzedenzfall für die aufkommende Kritik an der aufgeklärten Regelpoetik dienen.Footnote 71

Kommunikationslogisch betrachtet, blieb Anna Dorothea Lange in dieser literarischen Variante der Inspiration auf die Rolle eines ungelehrten Mediums festgelegt. Ihren besonderen dichtungstheoretischen Status erhielten ihre Gedichte durch die postulierte Opposition zu einer bewussten, am gelehrten Regelapparat orientierten Autorschaft. Auf dieses Deutungsangebot bezog sich die Schreibende selbst, indem sie ihre Gedichte immer wieder mit Begeisterungsformeln beginnen ließ, die den Text unter das Vorzeichen von Heteronomie stellten. »Was vor eine frohe Glut / Erhizet die entzündten Geister?«, setzt beispielsweise ihre Ode »Doris auf Damons Nahmensfest« ein, die in Pyras und Langes Freundschaftlichen Liedern abgedruckt ist:

Es wallt, es brennt mein treues Blut.

Jetzt bin ich meiner selbst nicht Meister.

Ich fühle, wie mich nun zum singen,

Gantz ungewohnte Triebe zwingen.Footnote 72

Zugleich zeigt der Text exemplarisch, wie sich die Beziehung zwischen den drei Instanzen der inspirierten Rede im Zuge der hallischen Aufklärung neu justierte. Auffällig ist, dass der göttliche Autor nun in den Hintergrund rückte. Zwar lobte Anna Dorothea Lange den »Herr[n], der alle Welt regieret«, im Gedicht auf den Namenstag ihres Mannes noch als Stifter ihres ehelichen »Glück[s]«; ihren poetischen Enthusiasmus führte sie aber nur noch auf die daraus erwachsene »Liebe«Footnote 73 zurück: auf eine Empfindung, die nicht mehr als anthropomorphe Autorinstanz zu greifen war.

Entscheidend für die kommunikative Konstitution von inspirierter Rede wurde damit die Beziehung von Medium und Interpreten, in der die Deutung der ungelehrten Dichtung konkret ausgehandelt werden konnte. Im betrachteten Fall traten die beiden Instanzen in ein stabilisierendes Verhältnis: Indem Anna Dorothea Lange die ihr angebotene Rolle des Gefühlswesens akzeptierte, erreichte sie die Aufnahme ihrer Ode in die Freundschaftlichen Lieder. Umgekehrt profitierte das Autorenduo Pyra und Lange von diesem Beitrag. Auch die beiden Männer experimentierten in ihrer Lyrik mit dem Inspirationstopos aus Horaz’ Bacchus-Ode 3,25 (Quo me, Bacche, rapis tui plenum?), um eine Selbstaffektation im Zeichen der Baumgarten’schen Ästhetik zu entwerfen.Footnote 74 Doch erst die Ode einer vorgeblich ungelehrten Dichterin konnte dafür die Probe aufs Exempel bilden, indem sie die Referenz auf antike Muster performativ naturalisierte.Footnote 75

Somit entstand ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit: Auf der einen Seite brauchten Pyra und Lange das Beispiel ›Doris‹, um neue dichtungstheoretische Kategorien wie Natur, Empfindung oder Begeisterung im Diskurs zu platzieren. Auf der anderen Seite war Anna Dorothea Lange auf ihre Interpreten angewiesen, um die entworfene Position in der literarischen Kommunikation des 18. Jahrhunderts besetzen zu können. Als Medium der Natur konnte sie nur überzeugen, wenn sie jegliche Einsicht in die ›Triebe‹ und Mechanismen des eigenen Schreibens von sich wies und diese an eine gelehrte Sprechinstanz delegierte. Wie die religiöse Inspiration, so war auch die natürliche Begeisterung also vorerst eine Sache der Heteronomie.

III.

Wie wichtig diese Interdependenz für die Entwürfe von ›Naturdichtung‹ vor dem Sturm und Drang blieb, zeigt sich am deutlichsten an denjenigen Fällen, in denen sich das Verhältnis von Medium und Interpreten weniger harmonisch gestaltete. Zu denken ist vor allem an Anna Louisa Karsch, die ungefähr ein Jahrzehnt nach Anna Dorothea Lange die literarische Bühne betrat. Auf den ersten Blick schien die Schlesierin, die Ende der 1750er Jahre mit patriotischen Oden auf die Schlachten des Siebenjährigen Kriegs von sich reden machte,Footnote 76 den zirkulierenden Entwürfen naturhafter Inspiration geradezu modellhaft zu entsprechen: Nicht nur als Frau, sondern auch als Angehörige des niederen Stands verkörperte sie in den Augen der hallischen Aufklärer exakt den diskutierten Typus ungelehrter Autorschaft. Deswegen wurde auch Karsch rasch zu einem Beobachtungsobjekt stilisiert, an dem man das Wirken einer angenommenen natürlichen Dichtungskraft zu studieren versuchte.Footnote 77 Kennzeichnend für dieses Interesse ist ein Fragenkatalog, mit dem Friedrich Gabriel Resewitz – ein Theologe aus dem Freundeskreis um Lange, Gleim und SulzerFootnote 78 – 1761 an Karsch herantrat. »[D]ie fragen scheinen mir nur da zu sein um etwas sagen zu wollen«,Footnote 79 bemerkte die Autorin lakonisch. Tatsächlich zielten Resewitz’ Erkundigungen geradezu aufdringlich darauf ab, Karsch zum passiven Medium natürlicher Kräfte zu erklären:

Haben Sie denn Anfangs, da Sie die Natur dichten lehrte, einen unwiederstehlichen Trieb dazu empfunden? Haben Sie diesem Triebe gebieten können oder ihm folgen müssen, und fühlen Sie ihn noch? Sind Sie in der Zeit, da Sie dichten, so davon eingenommen, daß Sie in dem Augenblick gegen alles andere gleichgültig sind?Footnote 80

Für kurze Zeit ließ Karsch sich in der Tat auf dieses Deutungsangebot ein, das ihr eine prominent geförderte Publikation ihrer Auserlesenen Gedichte (1764) einbrachte. In der »Vorrede« zu dieser Ausgabe, die von Gleim veranstaltet wurde, erhob Johann Georg Sulzer die Autorin zu einem Anschauungsbeispiel für die Kraft, mit der »die Natur durch die Begeisterung würket«Footnote 81. Das pietistische Modell der Inspiration wurde dabei von einem Rückgriff auf die platonische Enthusiasmuslehre überlagert, die den medialen Status der Autorin noch verstärkte. So wurde die unbewusste Produktion bei Sulzer zum Qualitätskriterium für Karschs Texte erhoben. Demnach schreibe die ungelehrte Autorin ihre besten Texte, wenn die »Hitze der Einbildungskraft« ihre Hand lenke, wie Platon es im Ion (4. Jh. v. Chr.) beschrieben habe.Footnote 82 Wenn sie hingegen »aus Vorsatz und mit ruhiger Ueberlegung« zu dichten versuche, dann seien »das Kennzeichen des Zwanges« und der »Mangel der Muse«Footnote 83 nicht zu übersehen.

Dass diese Festlegung auf natürliche Inspiration im Grunde schlecht zu einer Autorin passte, die sich als virtuose Gelegenheitsdichterin gezielt den Weg in höhere soziale Kreise erschrieben hatte,Footnote 84 zeigte sich rasch. Nach der Veröffentlichung der Auserlesenen Gedichte orientierte sich Karsch wieder an ihrem eigenen Autorschaftsverständnis, suchte die Nähe zum preußischen Königshof und erwarb dort die Gunst von Prinzessin Amalie.Footnote 85 Auf diese Hinwendung zu einem sozialen Raum, der als Reich der Künstlichkeit verschrien war, reagierte die Literaturkritik, indem sie der Autorin fortan den Status der inspirierten Naturdichterin indigniert wieder entzog.Footnote 86 »Die besten Gesänge sang die Karschin in den Jahren 1761. 62., vielleicht noch bis 1768«, als sie sich an ihre »hohen und starken Naturempfindungen« gehalten habe, resümierte Johann Gottfried Herder in der Rückschau auf ihr Werk. Seitdem sich Karsch auf »die bloßen Gegenstände der Pracht« konzentriert habe, sei ihr »Flug« indes gesunken: »Was konnte die Naturdichterin hier singen, hier beschreiben?«, klagte der Gelehrte, der die Autorin aus dem »niedrigsten Stande«Footnote 87 von der eigentlichen Quelle ihrer Poesie abgeschnitten sah. Ohne den Zuspruch ihrer Interpreten fiel Karsch auf den Rang einer gewöhnlichen Schriftstellerin zurück, die nicht mehr als Sprachrohr der Natur galt und sich unter ungleich schwierigeren Vorzeichen als zuvor im literarischen Feld behaupten musste.

Insofern wird an diesem Fall klar: Poetische Inspiration war in den literarischen Diskursen vor dem Sturm und Drang keine Qualität, über die Schreibende selbst verfügen konnten. Sie existierte nur, sofern eine weitere Sprechinstanz hinzukam, die diese Dichterinnen und Dichter durch ihre Interpretation zum Medium höherer Kräfte erklärte. Und diese Redeordnung ging aus einem religiösen Inspirationsmodell hervor, in dem das sprechende Medium in Bezug auf Sprache, Wissen und Gelehrsamkeit als heteronome Instanz entworfen worden war.

IV.

Wenn inspirierte Rede in der deutschen Literatur also nicht für sich allein stehen konnte, solange sie zugleich die Rede von Ungelehrten war: Was ist damit für das Verständnis der Geniedichtung gewonnen, in der auch in der Rhetorik und Poetik ausgebildete Autoren ein solches Dichtermodell für sich reklamierten, um es in den 1770er Jahren offensiv ins Zeichen der Autonomie zu stellen?

Mit dem Wissen um die hier nachgezeichneten Transformationen inspirierter Rede lässt sich besonders in Goethes und Herders früher Dichtung nicht übersehen, dass die Autoren mit dem Modell bestens vertraut waren. Mehr noch: Sie entwarfen gezielt lyrische Sprechsituationen, in denen sie die drei Instanzen der inspirierten Kommunikationssituation bewusst zusammenfallen ließen. Dabei machten sie sich nicht zuletzt ihre veränderten Sprechlizenzen zunutze. Anders als die ungelehrten Dichter(innen) vor ihnen, konnten die Gebildeten in ihren Texten sowohl die Position des Mediums als auch die des Interpreten für sich beanspruchen. Darüber gelang es ihnen, zuletzt auch ihre Ebenbürtigkeit mit der göttlichen Autorinstanz zu postulieren, auf die der Inspirationsdiskurs weiterhin bezogen blieb.

Vor dem konturierten Hintergrund scheint es zum Beispiel kein Zufall zu sein, dass der zwanzigjährige Herder die Frage nach seiner Heteronomie oder Autonomie gegenüber Gott in der Form mehrerer lyrischer Selbstgespräche verhandelte, in denen das Ich gleichzeitig als Sprecher und als sein eigener Beobachter auftreten konnte.Footnote 88 Unter ständiger inhaltlicher Referenz auf Gott erzeugte Herder eine Redesituation, in der er sich zunächst als Medium der göttlichen Schöpferkraft interpretierte, um anschließend ein analoges Vermögen in sich selbst festzustellen. »Was ich bin Geist! ich Geist! – so bin ich Gott!«, schrieb er in einem Fragment von 1764, in dem er sein denkendes Ich durch Selbstbeobachtung voller Enthusiasmus zum alter deus erklärte:

Ich denk’ ich will ich bins! wie Gott, durch den ich bin,

einst Geister rief aus dem Geisternichts

und Körper rief aus dem Körpernichts

ruf ich Gedanken aus dem Gedankennichts.Footnote 89

Ebenso erhält die Sprechsituation des Gedichts, das allgemein als die Gründungsurkunde der Autonomieästhetik gilt, im Lichte der rekonstruierten Redeordnungen eine neue Facette. Die anspielungsreiche Form von Goethes »Prometheus« (1773/1774) hat die Forschung schon vielfach beschäftigt. Dabei besteht Einigkeit, dass die rebellische Rede des Prometheus (»Bedecke deinen Himmel, Zeus, / Mit Wolkendunst!«Footnote 90) mitnichten den »monologischen Charakter«Footnote 91 aufweist, den man der Lyrik generell zuschreibt. Strukturell basiert das Gedicht zunächst, wie Peter Wruck gezeigt hat, auf einer »Gebetsform«, in der ein Ich zu einem Gott spricht – die Goethe allerdings dergestalt invertiert, dass die Apostrophe »zur Herausforderung und Lästerung«Footnote 92 von Zeus dient.

Diese formale Betrachtung lässt sich noch vertiefen, wenn man die Analyse hinzuzieht, die David E. Wellbery vorgelegt hat. Dieser bescheinigt »Prometheus« eine besondere »kognitive Leistung der Form«, die darin bestehe, dass das Gedicht durch seine Redesituation zum »Erkenntnisprozeß«Footnote 93 des Helden beitrage. Durch die »poetische Sprachfügung« lasse Goethe den Sprecher seinen zentralen Gedanken entdecken: die Idee der »Autonomie des Menschen«Footnote 94. Die Bedingung dafür sei eine »hermeneutische Ausrichtung« der vorgeführten »Sprechhandlung«,Footnote 95 die Goethes Rollen-Ich zu seinem eigenen Interpreten werden lasse. Stärker noch als bei Herder wird diese Selbstbespiegelung dynamisiert. Wie Wellbery darlegt, erkennt Prometheus angesichts seiner Rede, dass er die olympischen Götter durch die »vokative Projektion«Footnote 96 des Gebets selbst ins Leben gerufen hat. Diese Einsicht in die Schöpfungskraft der eigenen Sprache veranlasst ihn, sich performativ an Zeus’ Stelle zu setzen, indem er von der Gottesapostrophe zur »Selbstanrede«Footnote 97 wechselt (»Hast du’s nicht alles selbst vollendet, / Heilig glühend Herz?«Footnote 98). Als sein eigener Interpret setzt Prometheus einen Schlussstrich unter das heteronome Sprechen des Betenden, der eine Botschaft des Zeus ersehnte. Zum Ende des Gedichts beansprucht er, kraft der Sprache selbst als gottgleicher Schöpfer zu wirken.

Im Horizont der betrachteten Diskurse lässt diese raffinierte Übertragung den Schluss zu, dass auch Goethes Programmtext der Genieästhetik auf der traditionellen Ordnung des inspirierten Sprechens aufbaute. Wieder ging die autonome Rede aus einer Überlagerung von mehreren Sprecherfunktionen hervor, die in der pietistischen Kultur um 1700 und in der empfindsamen Literatur um 1750 noch von verschiedenen Akteuren hatte besetzt werden müssen: erstens dem göttlichen Autor, zweitens dem inspirierten Medium und drittens seinem Interpreten. Ein entscheidender Faktor für diese Verschiebung von einem heteronomen zu einem autonomen Inspirationsmodell liegt, wie hier gezeigt worden ist, in einer sozial- und bildungsgeschichtlichen Neubesetzung des inspirierten Sprechers. Mit der Abkehr vom Ideal des poeta doctus, das die Regelpoetik der Aufklärung proklamiert hatte, lockerte sich die Kopplung der Inspiration an ein ungelehrtes Medium; von nun an beanspruchten zunehmend auch solche Autoren diese Rolle für sich, deren Bildungsweg den Ansprüchen an den gelehrten Dichter ohne Weiteres genügt hätte.

Die Potenziale zur Autorinszenierung, die dadurch gewonnen wurden, müssen angesichts der Erfolgsgeschichte von Autonomie- und Genieästhetik nicht betont werden. Zugleich weist die nachgezeichnete Transformation aber auch auf Restriktionen des genialischen Dichtungsmodells hin. Weit über Herder und Goethe hinaus blieb dieses an permanente Beschwörungen der eigenen Inspiriertheit gebunden, in denen der Dichter als Interpret seiner Rede auftreten musste. Eine Erinnerung an die zugrunde liegende kommunikative Ordnung, aus der diese Verpflichtung auf Selbstreferenzialität hervorgegangen war, blieb im literarischen Diskurs an anderer Stelle präsent: im Umgang mit den Texten von Ungelehrten, die von der Literaturkritik noch für lange Zeit als Produkte natürlicher Eingebung verhandelt wurden.