Zusammenfassung
Hölderlin war wenig erfolgreich bei dem Versuch, sich mit seiner Lyrik gegen die zeitgenössischen Geschmacksanforderungen zu behaupten. Davon zeugt die Publikationsgeschichte seiner Elegie »Der Wanderer«. Erstmals 1797 bei Schiller für Die Horen eingereicht, erfuhr der Text in der Folge mehrfache Nachbearbeitungen: zunächst durch Hölderlin selbst, dann durch Schiller und schließlich durch Matthisson, der für den Abdruck in seiner Lyrischen Anthologie (1806) wiederum tiefgreifende Anpassungen vornahm. Die Überarbeitungen beider erfolgreichen Lyriker verbannen den ursprünglichen Reflexionsgehalt und glätten die formale und bildliche Dynamik zugunsten von Anschaulichkeit und Gefälligkeit. Dies gibt Aufschluss über die zeitgenössischen Geschmackskonventionen und damit über die Erfolgsvoraussetzungen für Lyrik um 1800, von denen sich Hölderlin mit der Herausbildung seines Individualstils zunehmend entfernte.
Abstract
Hölderlin was not very successful in asserting with his poetry against the demands of contemporary taste. The publication history of his elegy »Der Wanderer« bears witness to this. First submitted to Schiller for Die Horen in 1797, the text was subsequently subjected to several revisions: first by Hölderlin himself, then by Schiller, and finally by Matthisson, who again made far-reaching adjustments for the reprint in his Lyrische Anthologie (1806). The revisions of both successful poets banish the original reflective content and smooth the formal and metaphorical dynamics in favour of clarity and pleasentness. This provides information about contemporary taste conventions and thus about the prerequisites for the success of poetry around 1800, from which Hölderlin increasingly deviated by developing his individual style.
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I.
»Ich bin mit dem gegenwärtig herrschenden Geschmak so ziemlich in Opposition, aber ich lasse auch künftig wenig von meinem Eigensinne nach, und hoffe mich durchzukämpfen.«Footnote 1 So schrieb Hölderlin seinem Bruder am 2. November 1797 aus Frankfurt. Der junge Dichter hatte zum wiederholten Male die niederdrückende Erfahrung machen müssen, dass seine zur Veröffentlichung bestimmten Gedichte nicht in der von ihm gewollten Form akzeptiert wurden; offenbar entsprachen sie zu wenig den ästhetischen Erwartungen der Zeit. Von Schiller, seinem Förderer und Mentor, war Hölderlin immer wieder auf Mängel der von ihm eingesandten Gedichte hingewiesen worden. Anfänglich hatte Schiller ihm noch konkrete Korrekturhinweise gegeben, die Hölderlin dann (zum Teil recht eigenwillig) in Überarbeitungen umzusetzen suchte. Später nahm Schiller einige Gedichte, trotz Korrektur, nicht mehr auf; und bei anderen wiederum hatte er vor Abdruck selbst noch korrigierend eingegriffen.
Am 20. Juni 1797 hatte Hölderlin die Elegie »Der Wanderer« zusammen mit dem Hexameterhymnus »An den Aether« nebst einem Exemplar des gerade gedruckten ersten Bandes des Hyperion an Schiller gesandt und um Aufnahme in dessen Musen-Almanach gebeten. Nachdem Schiller zunächst den Rat Goethes hinzugezogen hatte,Footnote 2 der die Gedichte trotz einiger Kritikpunkte für publikationstauglich hielt,Footnote 3 hatte Schiller Hölderlin bereits vorab mitgeteilt, dass er »An den Aether« in den Musen-Almanach und »Der Wanderer« in die Horen aufnehmen würde.Footnote 4 Noch im August erschien »Der Wanderer« anonym, wie alle Beiträge, im sechsten Stück der Zeitschrift.Footnote 5 Das Gedicht weicht im Druck zum Teil erheblich von der von Hölderlin als Sicherheitskopie angefertigten Reinschrift ab. Zwar ist Schillers Druckvorlage selbst nicht erhalten, doch lässt sich anhand eines Vergleichs mit dem Entwurf und der Reinschrift vermuten, dass viele Änderungen wahrscheinlich von Schillers Hand stammen.Footnote 6
Wenngleich Hölderlin sich beim Verfassen seiner ersten Elegie in vielem an Vorbildern, vor allem an Schillers geschichtsphilosophischem Landschaftsgedicht »Elegie« (später »Der Spaziergang«) orientiert hat,Footnote 7 so lassen sich doch bereits Elemente des in dieser Zeit sich ausbildenden Individualstils erkennen. Zugleich eignet Hölderlins Elegie ein für Schiller ohne Weiteres erkennbarer Gestus der Überbietung. Ist es bei Schiller bloß ein Tagesausflug auf eine Bergeshöhe, deren Ausblick den Wanderer zu kulturgeschichtlichen Reflexionen inspiriert, so dichtet Hölderlin in »Der Wanderer« die Rückkehr eines Suchenden von einer Weltreise durch die lebensfeindlichen Regionen der südlichen Wüste und des Nordpols in die vertraute Heimat, wo der Wanderer schließlich den ersehnten Frieden der Natur findet. Diese Heimkehr wird durch die jahreszeitlichen, geschichtlichen und geografischen Bilder allegorisch lesbar als anthropologische und kulturgeschichtliche Reflexion, die auf den Ausgleich der in der exzentrischen Polarität des Menschen wurzelnden Extreme des entgrenzenden Gefühls (Hitze: Feuer, ägyptische Wüste, Süden, Sommer) und des trennenden Verstandes (Kälte: Eis, Nordpol, Winter) durch wechselseitige Durchdringung zielt (milde Wärme: Maisonne, Heimat, Frühling).Footnote 8 Die Kontrastierung von lieblicher Idylle mit klimatischen Extremen, von harmonischer Übereinstimmung mit Disharmonie gestaltet Hölderlin auch auf den Ebenen von Bildsprache und Rhythmus, indem er konventionelle durch ungewöhnliche Bilder ergänzt und hier und da vom Metrum abweicht.
Solche Abweichungen vom klassischen Stilideal, das auf Harmonie und Anschaulichkeit zielt, sind in dieser Entwicklungsphase Hölderlins sicher nicht mehr nur Anfängerfehler. Hier zeigt sich vielmehr der Emanzipationswille eines jungen Autors auf der Suche nach dem eigenen Ausdruck. Wie schwierig (und mitunter aussichtslos) die Durchsetzung poetischer Innovationen gegen etablierte ästhetische Konventionen sein konnte, dafür ist die Geschichte der Überarbeitungen und Drucke von »Der Wanderer« ein besonders aufschlussreiches Beispiel.
Von der Elegie existieren zwei Fassungen Hölderlins. Von der 1796/97 entstandenen ersten Fassung gibt es zwei Druck-Versionen. Eine erschien 1797, von Schiller redigiert, in dessen Horen, 10. Bd., 6. Stk., 69–74. Die Elegie, die in Hölderlins Reinschrift 90 Verse (45 Distichen) umfasst, ist in der Horen-Fassung um sechs Verse gekürzt und enthält fünf von Schiller neu gedichtete Verse,Footnote 9 die ihren allegorischen Charakter deutlich abschwächen. Eine zweite, von Hölderlin nicht autorisierte Druckfassung findet sich in Friedrich Matthissons 20-bändiger Lyrischer Anthologie, Bd. 17, 155–160Footnote 10. Auf der Grundlage des Horen-Drucks verändert Matthisson den Text derart, dass dieser nur bedingt noch ein Gedicht Hölderlins genannt werden kann. Hatte Schiller sechs Verse gestrichen, so kürzt Matthisson das aus 84 Versen bestehende Gedicht noch einmal um ganze 22 Verse, also um gut ein Viertel des Ausgangstextes, und ändert darüber hinaus viele Stellen im Hinblick auf einen seiner Auffassung nach gefälligeren Ausdruck.
Eine zweite Fassung der Elegie entstand aus einer Umarbeitung, die Hölderlin im Sommer 1801 zwischen den Zeilen einer Abschrift des Horen-Drucks entwarf. Die Neufassung sandte er Ludwig Ferdinand Huber als Probe für eine in Aussicht gestellte Gedichtsammlung bei Cotta zu. Diese Fassung erschien im Herbst 1801 in der von Huber herausgegebenen Zeitschrift Flora Teutschlands Töchtern geweiht, 9. Jg., 3. Vj., 31–39. Sie ist um 24 Verse länger als die erste Fassung (Horen-Druck) und ist, wie für Hölderlins späte Elegien typisch, in Gruppen von drei mal drei Distichen unterteilt. Gegenüber der Erstfassung revidiert Hölderlin hier nicht nur die inhaltliche Intention, indem er den finalen harmonischen Ausgleich der Gegensätze in Unversöhnlichkeit verwandelt (der Wanderer kehrt als Fremder in eine ihm fremd gewordene Heimat zurück), sondern er verändert den sprachlichen und bildlichen Ausdruck hin zu einer Unkonventionalität, die bereits wichtige Elemente von Hölderlins Spätstil aufweist.
Während Huber die gegenüber der Erstfassung deutlich unkonventionellere Zweitfassung Hölderlins ohne Korrekturen in seiner Zeitschrift abdruckte, nahmen Schiller und Matthisson zum Teil tiefgreifende Änderungen an einem Text vor, den Hölderlin mit Blick auf die Veröffentlichung zuvor an vielen Stellen selbst bereits abgemildert hatteFootnote 11. Was mag Hölderlins Förderer Schiller, der bereits als anerkannter Dichter etabliert war, und Matthisson, einer der beliebtesten Lyriker der Zeit, zu derartigen Eingriffen motiviert haben? Was gefiel ihnen nicht an Hölderlins Text? Und welche ästhetischen Beurteilungskriterien waren maßgebend für ihre Korrekturentscheidungen?
Zur bemerkenswerten Geschichte der Umarbeitungen von Hölderlins »Der Wanderer« gibt es bisher keine Untersuchung, die solchen Fragen nachgeht. Die bisherige Tendenz zeichnet sich vielmehr aus durch eine weitgehend unhistorische, ästhetisch-normative Verteidigung der Einzigartigkeit Hölderlins gegen den angeblichen ›Unverstand‹ der Zeitgenossen.Footnote 12 Dagegen sind die Korrektur-Eingriffe in Hölderlins Elegie noch nicht im zeitgenössischen Rahmen ästhetisch-stilistischer Erwartungen und medienspezifischer Gattungskonventionen problematisiert worden.Footnote 13
Zu Matthissons Umarbeitung gibt es bisher nur zwei Beiträge. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1963 sucht Vincenzo Maria Villa an Matthissons Fassung nachzuweisen, dass dem Anthologisten eine (verloren gegangene) »Urfassung« vorgelegen habeFootnote 14, was sich allerdings in Anbetracht der textgenetischen Umstände als unhaltbar erweistFootnote 15, aber auch angesichts der anthologischen Überarbeitungspraxis Matthissons abwegig ist. In einer »Notiz« von 1995 kommentiert Peter Trawny Matthissons Umgang mit Hölderlins Elegie.Footnote 16 Er geht davon aus, dass die Änderungen für den Horen-Druck unter Einflussnahme Schillers von Hölderlin selbst vorgenommen wurden,Footnote 17 während er bei Matthisson ein »eigensinnige[s] Eingreifen[]« sieht, welches das Gedicht »entstellt«.Footnote 18 Die sukzessiven Änderungen an dem Gedicht deutet Trawny – wenig aufschlussreich – als »Weg in die Fremde«.Footnote 19 Damit wird zwar die Entfernung des Gedichts von seiner ursprünglichen, vom Autor intendierten Gestalt richtig beschrieben. Doch ist das zugrunde liegende Deutungsmuster, nach welchem Hölderlin hier ein ›Unrecht‹ durch die seine Eigentümlichkeit und seinen Wert verkennenden Zeitgenossen widerfahre, zu einfach, weil unhistorisch. Indem die modern-autonomieästhetischen Überzeugungen von Originalität und Individualität als unhinterfragte, positive Wertkriterien historisch verabsolutiert werden, gelangen die von einer weitgehend konventionsorientierten literarischen Kultur geprägten historischen Wertungsvoraussetzungen gar nicht in den Blick. Vielmehr wird durch solche ›nachträgliche Anwaltschaft‹ das Gedicht als ein der Zeit Inkommensurables aus seinem historischen Publikations- und Rezeptionskontext herausgelöst, die konkreten Gründe der Nichtakzeptanz ästhetischer Abweichung aber bleiben verborgen.
Anstatt den Überarbeitungen Schillers, vor allem aber Matthissons ihre ästhetische Relevanz abzusprechen, sollen sie hier als aufschlussreiche Dokumente im literaturgeschichtlichen Kontext ernst genommen werden. Die Eingriffe beweisen nämlich nicht nur Hölderlins ästhetische Nonkonformität; sie sind neben individuellen Geschmackspräferenzen der Korrektoren vor allem bestimmten gattungs-, format- und zielgruppenspezifischen Anforderungen geschuldet. Insofern spiegeln sie, in vermittelter Weise, die zeitgenössischen Geschmackserwartungen eines breiteren Publikums und geben damit Aufschluss über die ästhetisch-stilistischen Voraussetzungen für erfolgreiche Lyrik um 1800.
Im Folgenden werden zunächst charakteristische Stiltendenzen von Schillers und Matthissons Landschaftslyrik als ästhetische Prämissen der Korrektur-Eingriffe skizziert sowie Kontext und Zielrichtung beider Gedichtüberarbeitungen rekonstruiert. Im Anschluss werden die von beiden Dichtern an Hölderlins Text vorgenommenen Korrekturen hinsichtlich ihrer sprachlich-stilistischen Abweichungen untersucht, um zu bestimmen, wie weit Hölderlins Individualstil von Schillers Vorstellungen klassischer Ästhetik und von den durch Matthisson in Anspruch genommenen populären Geschmackskonventionen des breiteren Publikums abweicht. Abschließend gilt es mit einem Blick auf den Flora-Druck wesentliche Erfolgsbedingungen für Lyrik um 1800 zu bestimmen.
II.
Als 1797 »Der Wanderer« in den Horen veröffentlicht wurde, lebte der gerade 27-jährige Hölderlin als Hauslehrer bei der Bankiersfamilie Gontard in Frankfurt. Der innere Konflikt zwischen seiner abhängigen Existenzweise und der dichterischen Berufung zehrte an dem jungen Dichter;Footnote 20 aber noch war er voller Hoffnung, sich in den nächsten Jahren mit seiner Dichtung etablieren zu können. 23 Gedichte von ihm waren bereits in verschiedenen Zeitschriften und Almanachen erschienen, und gerade war auch der erste Band seines Hyperion-Romans gedruckt worden.Footnote 21
Friedrich Schiller (1759–1805) und Friedrich Matthisson (1761–1831) waren zu der Zeit schon anerkannte Dichtergrößen. »Unter den Dichtern Deutschlands überragte schon damals Schiller […] hinter Göthe, alle übrigen, und von den Lyrikern war Matthisson jüngst zu einem großen Rufe gelangt«Footnote 22, erinnerte sich später Gustav Schwab. Schiller, damals 38 Jahre alt, hatte es nach wirtschaftlich schwierigen Jahren geschafft, sich Anfang der 1790er-Jahre in Jena zu etablieren und im Bündnis mit Goethe einen nachhaltigen Einfluss auf die literarische Kultur Deutschlands auszuüben; seine lyrischen und dramatischen Dichtungen ließen ihn zum »Liebling der deutschen Musen« und »Teutsche[n] Shakespeare« werdenFootnote 23. Der nur zwei Jahre jüngere Matthisson befand sich damals bereits auf dem Höhepunkt seines literarischen Erfolgs. Er galt als »Hauptrepräsentant« der »elegisch-sentimentale[n]« Schule.Footnote 24 Seine formvollendeten empfindsamen Gedichte folgten dem klassizistischen Stilideal. Stimmungsbetont und eingängig, erreichten sie auch ein breiteres Publikum. Als häufiger Beiträger in Voßens Hamburger Musen-Almanach war er nicht nur äußerst populär, sondern übte auch großen Einfluss auf den jungen Hölderlin aus.Footnote 25 Insbesondere den Leserinnen galt Matthisson als »einer der Lieblinge unserer Lyrik«Footnote 26. Bereits 1781 hatte er eine erste Liedersammlung (Lieder von Fr. Matthisson, Breslau) veröffentlicht. 1787 war die Ausgabe seiner Gedichte erschienen, die dann in den Folgejahren immer neu aufgelegt wurde.Footnote 27 Viele seiner Texte wurden schon zu Lebzeiten von Zumsteeg, Reichhardt, Beethoven u. a. vertont; bekannt bis heute ist Beethovens Vertonung von »Adelaide« (1795/96).
Beide Lyriker stellten für Hölderlin in dieser Zeit wichtige Bezugspunkte dar.Footnote 28 Schiller war für Hölderlin als Vorbild und väterlicher Protektor in dieser Zeit ungemein wichtig, wenn Hölderlin sich auch in seinen Frankfurter Jahren auf der Suche nach einem eigenen Ausdruck zunehmend von ihm emanzipierte. Schillers philosophische Lyrik rezipierte er intensiv, sie diente ihm als Modell für poetischen Gedankenausdruck. Matthisson, der auch von Schiller gelobte »Seelenmaler«Footnote 29, bot Hölderlin ein Muster des landschaftlichen Ausdrucks von Stimmungen. Beides – Reflexion und Stimmungsausdruck – sucht Hölderlin in seiner Elegie »Der Wanderer« zu verbinden. Dementsprechend lassen sich in dem Gedicht Bezüge nicht nur zu Schillers »Elegie«, sondern auch zu Matthissons »Der Alpenwanderer« erkennen.
III.
Wie lässt sich Schillers korrigierendes Eingreifen in »Der Wanderer« verstehen? Was mag Schiller hierzu motiviert haben und wodurch könnte er sich legitimiert gefühlt haben? Dass es wohl weniger die Lesererwartungen gewesen sind, erklärt sich aus Schillers eigenem kritischen bis feindlichen Verhältnis zum Publikum. Sein anspruchsvoller Begriff von Popularität, nach dem ästhetische Idealität und Lesernähe vereinbar sind, erlaubte keine unmittelbare Anpassung an die Bedürfnisse des breiteren Publikums.Footnote 30 Schiller lehnte es ab, »durch Anschmiegung an den Geist der Zeit das Publikum zu gewinnen«Footnote 31. »Das einzige Verhältnis gegen das Publikum, das einen nicht reuen kann, ist der Krieg«, schrieb Schiller wenige Jahre später an Goethe.Footnote 32 Diese Haltung resultierte unter anderem aus seiner Erfahrung als Herausgeber der Horen. Die Literaturzeitschrift kam, trotz des mit ihr verbundenen Öffentlichkeitsanspruchs und berühmter Mitarbeiter, über einen kleinen, vorwiegend intellektuellen Leserkreis nie hinaus und musste nach noch nicht einmal drei Jahren eingestellt werden.Footnote 33 Der im Konzept der ›ästhetischen Erziehung‹ programmatisch gefasste humanistische Bildungsanspruch verbunden mit den Anforderungen einer der Synthese von innerem Gehalt und Formvollendung verpflichteten Kunstauffassung lassen eine primär ästhetisch-programmatisch orientierte Redaktionsarbeit des Herausgebers vermuten. Spezifische Formatanforderungen des im großzügigen Oktav (22 × 14,5 cm) herausgebrachten Journals scheinen dagegen nicht den Ausschlag für die von Schiller geforderten (bzw. selbst ausgeführten) Gedichtkürzungen gegeben zu haben,Footnote 34 als vielmehr der ästhetische Anspruch einer Formgebung, die Einseitigkeiten und Abschweifungen zu vermeiden suchte. Für die Eingriffe in Hölderlins Text sind insofern weniger rezeptionsästhetische als pädagogische und programmatisch-literaturpolitische Motive in Betracht zu ziehen. Berücksichtigt werden müssen in diesem Zusammenhang vor allem drei Faktoren: das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Schiller und Hölderlin, das Bestreben, die im Bund mit Goethe zu eigen gemachte klassische Ästhetik zur Durchsetzung zu bringen, sowie der Abwehrkampf gegen die hiervon abweichenden neueren Tendenzen der aufkommenden Romantik.
Als Förderer und kritischer Mentor war Schiller für Hölderlin in dieser Zeit enorm wichtig. Schiller setzte große Hoffnungen in den jungen Dichter und unterstützte ihn seit 1793 durch Publikation seiner Gedichte. Mit dem Druck des Hyperion bei Cotta hatte er Hölderlin darüber hinaus eine erste Romanveröffentlichung vermittelt. Cotta hatte er den noch unbekannten Autor am 9. März 1795 mit den Worten empfohlen:
Er hat recht viel genialisches, und ich hoffe auch noch einigen Einfluß darauf zu haben. Ich rechne überhaupt auf Hölderlin für die Horen in Zukunft, denn er ist sehr fleißig und an Talent fehlt es ihm gar nicht, einmal in der litterarischen Welt etwas rechtes zu werden.Footnote 35
Schiller war sich seines Einflusses auf Hölderlin bewusst und nutzte diese Machtposition gegenüber dem Schüler immer wieder, um den jungen, Anerkennung suchenden Dichter auf die Mängel seiner lyrischen Produktionen hinzuweisen und auf die seiner Ansicht nach richtige ästhetische Bahn zu lenken. Aus dem Brief Schillers vom 24. November 1796 geht hervor, dass er Hölderlin für philosophische Lyrik noch nicht reif hält. Er rät ihm daher »philosophische Stoffe« zu meiden und »der Sinnenwelt näher« zu bleiben. Auch kritisiert er Hölderlins »Weitschweifigkeit, die […] oft den glücklichsten Gedanken erdrückt.«Footnote 36 Die Tendenz zur weitschweifigen Reflexion führt Schiller dabei zurück auf Hölderlins »heftige Subjectivität«, verbunden mit »eine[m] gewissen philosophischen Geist und Tiefsinn«.Footnote 37 In dieser Tendenz sieht er eine nur durch äußere Einwirkung zu korrigierende Einseitigkeit. Den Grund dafür vermutet er darin, dass Hölderlin und mit ihm Dichter wie Siegfried Schmid und Jean Paul »so subjectivisch, so überspannt, so einseitig geblieben« seien durch den »Mangel einer aesthetischen Nahrung und Einwirkung von außen« und die »Opposition der empirischen Welt in der sie leben gegen ihren idealischen Hang«.Footnote 38
Insofern sah Schiller vermutlich eine strenge ›ästhetische Erziehung‹ seinerseits als das geeignete Mittel, Hölderlin von der ›schiefen Bahn‹ dieses gerade aufkommenden romantischen Subjektivismus abzubringen. Hölderlin seinerseits fand sich Schiller gegenüber in einer prekären Konfliktsituation zwischen verpflichtender Abhängigkeit und einem inzwischen gewachsenen dichterischen Selbstbewusstsein. Im Begleitschreiben zur Sendung von »Der Wanderer« und »An den Aether« vom 20. Juni 1797 gesteht er Schiller:
Ich habe Muth und eigenes Urtheil genug, mich von andern Kunstrichtern und Meistern unabhängig zu machen, und insofern mit der so nötigen Ruhe meinen Gang zu gehen, aber von Ihnen dependir’ ich unüberwindlich; und weil ich fühle, wie viel ein Wort von Ihnen über mich entscheidet, such’ ich manchmal Sie zu vergessen, um während einer Arbeit nicht ängstig zu werden. Denn ich bin gewiß, daß gerade diese Ängstigkeit und Befangenheit der Tod der Kunst ist […].Footnote 39
Der Autorität Schillers, die Hölderlin als lähmend für seine Kreativität empfand, konnte er sich kaum entziehen. »Deßwegen darf ich Ihnen wohl gestehen«, schreibt Hölderlin später an Schiller, »daß ich zuweilen in geheimem Kampfe mit Ihrem Genius bin, um meine Freiheit gegen ihn zu retten«.Footnote 40
Die Einschränkungen, die Hölderlin beim Dichten durch die »Macht« von Schillers »Geist«Footnote 41 erfährt, nimmt der junge Dichter einerseits durch (zum Teil eigenwillige) Anpassungen seiner Gedichte hin, andererseits begegnet er den für ihn oft demütigenden Zurechtweisungen SchillersFootnote 42 mit impliziter Kritik und Überbietung des Meisters. Beides spiegelt sich in seinen Gedichten. Im Vorfeld von Gedichtpublikationen nimmt Hölderlin immer wieder – teils von Schiller aufgefordert, teils unaufgefordert im Blick auf dessen mögliches Urteil – Korrekturen an seinen Gedichten vor. Das bereits im Vorjahr zur Publikation an Schiller geschickte Gedicht »An die klugen Rathgeber« ist mit seinem Appell an die großen Dichter, die jungen Künstler nicht einzuschränken, eine unverkennbar auch auf Schiller gemünzte Kritik an dessen autoritärem Umgang mit jungen Talenten.Footnote 43 Schiller hatte das Gedicht, das für die Publikation im Almanach angeblich zu spät eingetroffen warFootnote 44, bemängelt, Hölderlin, der um Rücksendung des Manuskripts gebeten hatteFootnote 45, aber die Möglichkeit eingeräumt, es ihm nach Überarbeitung der angestrichenen StellenFootnote 46 erneut zur Veröffentlichung zukommen zu lassen. Nachdem Hölderlin von Schillers Entschluss erfahren hatte, »An den Aether« und »Der Wanderer« drucken zu lassen, legte er dem Antwortbrief eine stark überarbeitete FassungFootnote 47 des Gedichts (nun mit dem Titel »Der Jüngling an die klugen Rathgeber«) und eine gekürzte Version des Liedes »Diotima« bei:
Ich danke Ihnen innigst für Ihre gütige Aufnahme des Wanderers in die Horen. Glauben Sie, daß ich diese Ehre zu schäzen weiß! […] Ihrer Erlaubniß gemäß, schick’ ich Ihnen das Gedicht an die klugen Rathgeber. Ich hab’ es gemildert und gefeilt, so gut ich konnte. Ich habe einen bestimmteren Ton hineinzubringen gesucht, so viel es der Karakter des Gedichts leiden wollte. Ich lege Ihnen noch ein Lied bei. Es ist das umgearbeitete und abgekürzte Lied an Diotima, das Sie schon von mir besitzen. Ich nähre die Hoffnung, daß es in dieser Gestalt wohl eine Stelle in Ihrem Allmanache finden dürfte.Footnote 48
Trotz der Abmilderungen und Kürzungen Hölderlins nahm Schiller am Ende keines der beiden Gedichte auf.
Im Fall von »Der Wanderer« gibt es in der erhaltenen Reinschrift und dann noch einmal in der verschollenen Druckvorlage Änderungen, die auf Hölderlin zurückgehen und bei denen dieser wohl Schillers Stilerwartungen zu entsprechen suchte. Sie zeigen, dass es ihm vor allem darum ging, die schon früher von Schiller kritisierte »Weitschweifigkeit«Footnote 49, aber auch metrische Unregelmäßigkeiten und ungewöhnliche Bilder und Ausdrücke zu vermeiden. So streicht Hölderlin bereits bei der Reinschrift 5 Distichen aus dem EntwurfFootnote 50, dichtet eines neuFootnote 51 und verändert an vielen Stellen den AusdruckFootnote 52; inhaltlich werden hierbei vor allem mythologische Referenzen (V. 3–6: Gaia, Eros, Zeus; V. 37–40: Olymp) zugunsten der Nachvollziehbarkeit der dargestellten Wanderung vermieden, womit aber zugleich auch der allegorische Charakter der Elegie und damit ihr Reflexionsgehalt abgeschwächt wird.Footnote 53 Für die vermutlich im Anschluss entstandene Druckvorlage lassen sich weitere Änderungen Hölderlins rekonstruieren:Footnote 54 Neben der Neudichtung eines Distichons (Ersetzung von V. 19 f. in der Reinschrift durch V. 17 f. in der Horen-Fassung), feilte er vor allem noch einmal an Metrum und Ausdruck, indem er hier und da den Rhythmus glättete, kühnere Bilder abschwächte und Ausdrücke konventioneller machte.
Über die am 20. Juni 1796 von Hölderlin erhaltenen Gedichte »Der Wanderer« und »An den Aether« wollte Schiller kein voreiliges Urteil fällen. Bevor er Hölderlin im August die Zusage zur Publikation der Gedichte gab, hatte er sie (ohne Nennung des Autors) zunächst Goethe zur Beurteilung zugeschickt, da er selber »[u]eber Produkte dieser Manier […] kein reines Urtheil« habe und »gerade in diesem Fall recht klar zu sehen [wünschte], da mein Rath und Wink auf den Verfasser Einfluß haben wird«.Footnote 55 Goethe hatte tags darauf zurückgeschrieben, er sei den Gedichten »nicht ganz ungünstig«, sie würden »im Publico gewiß Freude finden«.Footnote 56 Trotz einiger Kritikpunkte attestierte Goethe dem »Wanderer« »ein sanftes, in Genügsamkeit sich auflösendes Streben« und riet Schiller, das Gedicht in die Horen aufzunehmen.Footnote 57 Goethes Kritik zielt auf Unzulänglichkeiten in Darstellungsweise, Bildlichkeit, Ausdruck und Versmaß:
Freylich ist die Afrikanische Wüste und der Nordpol weder durch sinnliches noch durch inneres Anschauen gemahlt, vielmehr sind sie beyde nur durch Negation dargestellt, da sie denn nicht, wie die Absicht doch ist, mit dem hinteren deutsch-lieblichen Bilde genugsam contrastieren. […] Einige lebhafte Bilder überraschen, ob ich gleich den quellenden Wald, als negierendes Bild gegen die Wüste, nicht gern stehen sehe. In einzelnen Ausdrücken wie im Versmaß wäre noch hie und da einiges zu thun.Footnote 58
Schiller antwortete darauf:
Es freut mich, daß Sie meinem Freunde und Schutzbefohlenen nicht ganz ungünstig sind. Das Tadelnswürdige an seiner Arbeit ist mir sehr lebhaft aufgefallen, aber ich wußte nicht recht, ob das Gute auch Stich halten würde, das ich darinn zu bemerken glaubte. Aufrichtig, ich fand in diesen Gedichten viel von meiner eigenen sonstigen Gestalt, und es ist nicht das erstemal, daß mich der Verfasser an mich mahnte. […] Indessen finde ich in diesen neuern Stücken den Anfang einer gewissen Verbesserung; denn kurz, es ist Hölderlin, den Sie vor etlich Jahren bei mir gesehen haben.Footnote 59
In seiner Antwort wiederholte Goethe seine Empfehlung, die Gedichte aufzunehmen: Die Gedichte »recommandirt […] eine gewisse Lieblichkeit, Innigkeit und Mäßigkeit«, weshalb »der Verfasser« verdiene, »daß Sie das mögliche thun um ihn zu lenken und zu leiten«.Footnote 60
Schillers Antwortbrief an Hölderlin vom August ist nicht überliefert. Wenn daher ungewiss bleibt, ob Schiller Hölderlin darin über mögliche Veränderungen an dessen Gedicht informierte,Footnote 61 so ist doch Hölderlins Antwort zu entnehmen, dass er ihm zumindest die wesentlichen Kritikpunkte und seinen »Rath«Footnote 62 mitteilte. Dass er sich nicht erneut die Mühe zu konkreten Korrekturanweisungen (wie zuvor im Fall von »An die klugen Rathgeber«) machte, mag an der knappen Zeit gelegen haben, denn noch im August wurde »Der Wanderer« im 6. Stück der Horen abgedruckt. Es kann darin aber auch ein Akt der Autorität Schillers gegenüber dem ›schwierigen Schüler‹ gesehen werden, welcher seinen Korrekturanweisungen nur bedingt Folge geleistet hatte. Neben dieser pädagogischen Funktion lässt sich die von Goethes Urteil geleitete Korrektur Schillers vor dem Hintergrund der gemeinsamen Literaturpolitik der WeimaranerFootnote 63 nicht zuletzt auch als Versuch werten, das eigene klassische Stilideal gegenüber den Abweichungen des »Schutzbefohlenen«Footnote 64 durchzusetzen – wozu Schiller sich als ›ästhetischer Erzieher‹ und Förderer des jungen Talents im Gegenzug für die Publikation berechtigt sehen mochte. Hölderlins Indignation und Festhalten am »Eigenwillen« im anfangs zitierten Brief vom 2. November 1797 zeigt aber, dass Schiller den folgsamen Schüler der früheren Jahre hier bereits verloren hatte; denn dieser ließ sich nicht mehr an die Hand nehmen, wenngleich er auch in den Folgejahren weiter um Schillers Anerkennung und Unterstützung warb. Obwohl er seinen Protegé »so spät als möglich aufgeben« wollte,Footnote 65 währte Schillers Geduld kaum noch ein Jahr; zu weit hatte Hölderlin sich von seinem einstigen Vorbild entfernt, und zu groß war die Entfremdung geworden. Als Hölderlin ihm 1799 erneut schrieb, um ihn als Mitarbeiter für seine geplante Zeitschrift Iduna zu gewinnen, hatte Schiller den eigensinnigen Schüler bereits fallengelassen.Footnote 66
Der redigierte Druck von »Der Wanderer« in den Horen zeigt im Vergleich zur rekonstruierten Druckvorlage eine Reihe Texteingriffe Schillers, die sich aber quantitativ gesehen in Grenzen halten: Nach Wörtern gezählt, betreffen die Änderungen (hierzu gehören Tilgungen, Ersetzungen und Umstellungen) gut 10 % der Vorlage; im Textresultat beläuft sich der Umfang der betroffenen Wörter (das sind Ersetzungen und Umstellungen) auf 52 von 771 Wörtern, was einen Fremdanteil von annähernd 7 % bedeutet.
Im Vergleich zur Druckvorlage zeigt sich, dass Schiller fast 9 % des Textes eliminiert, wovon er allerdings über die Hälfte der betroffenen 39 Wörter ersetzt. Diese Ersetzungen gelten vor allem der Korrektur des bildlichen Ausdrucks. Die Tendenz ist hier eine Konventionalisierung im Sinne des ästhetisch Schicklichen. So korrigiert Schiller etwa das von Goethe monierte »überraschen[de]« Bild des »quellenden Wald[s]«Footnote 67 in V. 5 f.:
Ach! hier sprang, wie ein sprudelnder Quell, der unendliche Wald nicht
In die säuselnde Luft üppig und herrlich empor,
indem er den Vergleich ersetzt durch die Worte (kursiv):
Ach! nicht sprang, mit erfrischendem Grün der schattende Wald hier
In die säuselnde Luft üppig und herrlich empor.
Den in der Tat ungewöhnlichen Vergleich, bei dem zwei sowohl der Größe als auch der sinnlichen Qualität nach sehr weit auseinander liegende Bilder kühn miteinander verknüpft werden, ersetzt Schiller hier durch die äußerst konventionelle Beschreibung »mit erfrischendem Grün«, wodurch er die mögliche Irritation der Vorstellung zugunsten einer besseren Nachvollziehbarkeit vermeidet.
Die 33 Worttilgungen (4 %) zeigen, dass Schiller darüber hinaus vor allem »Weitschweifigkeit« zu vermeiden suchte. Ein Beispiel ist die biografische Anekdote am Ende (Reinschrift, V. 81 f.), die Schiller wohl als eine die Darstellung störende Abschweifung streicht:
Schmeichelnd zieht mich, wie sonst, in des Walds unendliche Laube
Aus dem Garten der Pfad, oder hinab an den Bach,
Wo ich einst im kühlen Gebüsch, in der Stille des Mittags
Von Otahitis Gestad, oder von Tinian las.Und die Pfade röthest du mir, es wärmt mich und spielt mir
Um das Auge, wie sonst, Vaterlandssonne, dein Licht.
Auch im Kontext der Landschaftsdarstellung schwer nachvollziehbare allegorische Bilder, die auf die philosophische Reflexion hinter der Landschaftsdarstellung verweisen, eliminiert Schiller, entsprechend der zuvor an Hölderlin gerichteten Ermahnung, sich auf die Darstellung des sinnlich Anschaulichen zu beschränken.Footnote 68 So streicht er zum Beispiel die vage Vorstellung des die Erde belebenden Dichterworts (V. 39 f.):
Deine gesparte Kraft flammt auf in üppigem Frühling,
Rosen glühen und Wein sprudelt im kärglichen Nord.
Aber die Erde schwieg zur Freude, so ich verheißen,
Und vergebens gesagt war das belebende Wort.(V. 37–40)
Von Umstellungen dagegen sind nur 13 Wörter (1,6 %) der Vorlage betroffen; sie sind weniger auf metrische Korrekturen zurückzuführen als auf Veränderungen, die durch bildliche und sprachliche Korrekturen erzwungen wurden. So etwa zur Verdeutlichung der Negation in V. 25 (vgl. auch V. 5):
Ach!
hiernicht schlang um die Erde den wärmenden Arm der Olympnichthier.
Ein anderes Beispiel ist die Korrektur des allegorischen Bildes von den Bächen als liebenden Jünglingen am Anfang der Elegie (V. 7 f.). Hier eliminiert Schiller das Allegorische zugunsten der reinen Landschaftsdarstellung, sucht dabei aber Hölderlins semantischer Intention zu entsprechen, indem er die Wörter mit einigen Ergänzungen umstellt. Die Verse
Hier frolokten die Jünglinge nicht, die stürzenden Bäche,
Ins jungfräuliche Thal hoffend und liebend herab.
ersetzt Schiller durch folgende (kursiv die wiederverwendeten Wörter):
Bäche stürzten hier nicht in melodischem Fall vom Gebirge,
Durch das blühende Thal schlingend den silbernen Strom,
Welcher Art sind nun Schillers Korrektur-Eingriffe? Differenziert man die Eingriffe nach Sprachebenen, so ergibt sich folgendes Bild: Die meisten der insgesamt 10 Korrektur-Eingriffe (vor allem Tilgungen bzw. Ersetzungen) zielen auf Ausdruck, Darstellung und Bildlichkeit und betreffen 93 % der korrigierten Wörter, während grammatisch-syntaktische und metrische Korrekturen kaum ins Gewicht fallen (sie betreffen zusammen nur 7 % der Wörter) und klangliche Aspekte keine Rolle spielen.
Daran zeigt sich, dass Schillers Korrektur vor allem werkästhetischen Gesichtspunkten folgt. Sein Hauptaugenmerk liegt auf kohärenter anschaulicher Darstellung und nachvollziehbarem Bildausdruck. Entsprechend tilgt er die für die Nachvollziehbarkeit des Gedichts störenden Elemente und eliminiert den allegorisch angedeuteten Ideenausdruck zugunsten der sinnlich konkreten Landschaftsbeschreibung. Die Abwehr der Allegorie steht dabei ganz im Zeichen der im Klassik-Konzept von Goethe und Schiller verstärkt betonten Überwindung der älteren rhetorischen Tradition zugunsten des Symbols als Inbegriff einer der neuen bürgerlichen Dichtung angemessenen ›natürlichen‹ Sprache.Footnote 69 Bei Schiller lässt sich insofern eine Tendenz zur inhaltlichen Korrektur feststellen, bei der es offenbar darum ging, Ausgewogenheit, Angemessenheit und Transparenz von Darstellung und Ausdruck im Sinne der eigenen Kunstauffassung zu erreichen. Trotz der vielen Eingriffe kann seine Korrektur insgesamt als noch moderat bezeichnet werden. 23 Wörter in der Druckfassung gehen wahrscheinlich auf Schiller zurück, was auf den Gesamttext bezogen knapp 3 % sind. An diesem relativ geringen Anteil lässt sich ersehen, dass es Schiller darum ging, bei der Korrektur von bildlichen Ausdrücken dennoch der semantischen Intention des Textes gerecht zu werden. Indem er den Text auf seinen anschaulichen Gehalt reduziert, verkürzt er jedoch die im Gedicht angelegte allegorische und damit reflexive Dimension. Trotz der Kürzungen und Abschwächungen behält Hölderlins Gedicht bei Schiller im Wesentlichen seinen eigentümlichen Charakter.
IV.
Die 1806 im 17. Teil von Matthissons groß angelegter Lyrischer Anthologie abgedruckte Fassung von Hölderlins »Der Wanderer« beruht auf der von Schiller 1797 in den Horen publizierten Erstfassung. Es ist das einzige Gedicht Hölderlins, das der Herausgeber der Aufnahme für Wert befandFootnote 70, was insofern erstaunt, als Matthisson sich schon für die frühen Gedichte Hölderlins begeistert und Freundschaft mit dem jungen Dichter geschlossen hatte.Footnote 71 Es ist durchaus denkbar, dass sein Wissen um Hölderlins VerfassungFootnote 72 und der Eindruck der zuletzt publizierten unkonventionellen, den Klassizismus überwindenden Gedichte dunklen Stils sein Urteil beeinflusst haben, wofür auch Matthissons klassizistische und dezidiert anti-romantische Tendenz bei der Auswahl der in die Sammlung aufzunehmenden Dichter spricht.Footnote 73 Dass Matthisson gerade die Elegie »Der Wanderer« von Hölderlin aufgenommen hat, mag in Teilen Matthissons Vorliebe für die klassische Form, das Elegische und die Landschaftslyrik geschuldet sein, ist aber wohl vor allem damit zu erklären, dass das Gedicht durch die Veröffentlichung in Schillers Horen gewissermaßen bereits ›nobilitiert‹ war und somit als ›anthologiefähig‹ gelten konnte.
Für den Druck in seiner Lyrik-Anthologie hat Matthisson allerdings kaum einen Vers von Hölderlins Elegie unangetastet gelassen. 1821 urteile Karl August Varnhagen von Ense, Hölderlins Gedicht sei hier »auf das willkührlichste abgeändert u. verstümmelt«Footnote 74. Matthisson hatte die Vorlage nicht nur um mehr als ein Viertel (22 von 84 Versen) gekürzt, sondern sich auch mannigfache sonstige Eingriffe in den Text erlaubt. Seine Änderungen betreffen (die Kürzungen miteingeschlossen) über ein Drittel des Ausgangstextes (rund 37 %). Davon sind der größte Teil Textkürzungen. Einen nicht unbeträchtlichen Anteil (etwa 10 %, wie bei Schiller) machen Korrekturen bezüglich Form, Ausdruck und Metrik aus. Im Textresultat beträgt der Fremdanteil der Wörter (Änderungen Matthissons) fast 14 % – doppelt so viel wie bei Schiller.
Wie lässt sich erklären, dass Matthisson an einem (bereits von Schiller überarbeiteten) Text derart viele Eingriffe glaubte vornehmen zu müssen? Was motivierte ihn dazu? Waren bei Schiller vor allem werkimmanente ästhetische Kriterien ausschlaggebend, so waren es bei Matthisson offenbar vor allem rezeptionsästhetische Erwägungen. Seine Korrekturentscheidungen macht er nämlich direkt von der Publikationsform Anthologie und deren Zielpublikum abhängig.
Im Gegensatz zu Schillers anspruchsvoller Zeitschrift, die letztlich nur eine relativ begrenzte Leserschaft erreichte, richtete sich Matthissons Anthologie an ein breiteres (nicht gelehrtes) Lesepublikum, dessen Geschmackserwartungen im Hinblick auf den Erfolg des Unternehmens berücksichtigt werden mussten.Footnote 75 Schöngeistige Literatur, vor allem empfindsame Dichtung, wie sie in den beliebten Almanachen und Taschenbüchern der Zeit vertreten war, richtete sich hauptsächlich an eine gebildete bürgerliche, vorwiegend weibliche Leserschaft.Footnote 76 Auf deren Geschmack war die Sammlung nicht nur durch ihre betont empfindsame, dezidiert unpolitische und nicht intellektuelle Auswahl abgestimmt (es ist darin keine im eigentlichen Sinne ›gelehrte‹ oder ›philosophische‹ Lyrik enthalten).Footnote 77 Auch Format und Aufmachung der Anthologie – elegante Halbfranzbände in zierlichem Duodez mit goldgeprägten Rücken und illustrierten Kupfertiteln – entsprachen ganz dem Anspruch zeitgenössischer Lyrikrezeption. »Die äußerliche Gestalt des Werks«, so der begeisterte Rezensent der Neuen Bibliothek, sei
ganz nach dem Geschmack des Publikums berechnet und gereicht der Verlagshandlung zur Ehre. Druck und Format sind sehr niedlich; das Papier ist schön, und jedes der in Kupfer gestochenen Titelblätter ist mit einer Vignette von Lips geziert. Doppelt bedauern müssen wir es daher, daß auch an dieses Werk von einem Wiener Nachdrucker unheilige Hände gelegt worden sind.Footnote 78
Die Erweiterung des (zunächst weniger umfangreich angelegten) Unternehmens auf zuletzt 20 Bände und die nahezu parallel produzierte NachdruckauflageFootnote 79 bezeugen »Matthissons beachtlichen Markterfolg«.Footnote 80 Erfolgreich war das Werk aber auch durch seine nachhaltige Kanonwirkung:Footnote 81 als fast 200 Dichter und Dichterinnen aus zwei Jahrhunderten (dem 17. und 18.) umfassende Sammlung setzte es offenbar MaßstäbeFootnote 82 und erlangte als Umsetzung der im Kontext der Napoleonischen Kriege »so beliebte[n] Idee eines N a t i o n a l - D e n k m a a l s«Footnote 83 offenbar beträchtliches Renommee.Footnote 84 Mit dem Unternehmen gerierte Matthisson sich nicht nur als Anwalt des etablierten vaterländischen Geschmacks gegen den von vielen Zeitgenossen in der romantischen Tendenz erblickten Verfall der Dichtkunst,Footnote 85 sondern betrieb auch Kanonpolitik in eigener Sache, indem er sich in Band 14 mit 25 Gedichten (noch vor Schiller, der mit 21 Gedichten aufgenommen ist) »als Autor in die vordersten Ränge seiner eigenen Sammlung ein[schrieb]«.Footnote 86 Ironisch kommentierte Der Freimüthige, in der Anthologie hätte sich vor allem der Herausgeber vervielfältigt, sie sei vor allem ein »Monument des M u s e n h e l d e n Matthisson«.Footnote 87 Der mit der Sammlung unternommene Versuch, eine orthodoxe Geschmacksführerschaft im Abwehrkampf gegen jüngere Neuerungsbestrebungen aufzubauen, wurde vom Großteil der literaturkritischen Publizistik mitgetragen.Footnote 88 Der Sammlung habe der Dichter, wie die Neue allgemeine deutsche Bibliothek zustimmend schreibt, »das Siegel seines eignen Geschmacks« aufgedrückt.Footnote 89 Und Matthisson selbst konnte sich als weithin beliebter Dichter durch seinen bei einem breiten Publikum bewährten Geschmack nicht zu Unrecht dazu berufen fühlen.Footnote 90 Seine elegisch-sentimentale Lyrik erfreute sich – mit 15 rechtmäßigen Auflagen seiner GedichteFootnote 91 und Werkausgaben in LeihbibliotheksbeständenFootnote 92 – noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts »eines großen und verbreiteten Beifalls, weil sie bei manchen äußeren Vorzügen, besonders einer erfreulichen Schönheit der Form und Sprache, an die geistige und künstlerische Bildung des Publikums nur sehr mäßige Ansprüche machte«, so der zeitgenössische Literaturhistoriker Heinrich Kurz.Footnote 93 Als viel gelobter »Landschaftsmaler in der Poesie«Footnote 94 war er Zeitgenossen zufolge schon früh »ein Liebling des Publicums geworden«.Footnote 95 Insbesondere den Geschmack der schöngeistigen Leserinnen schien er mit seinen empfindsamen und formvollendeten Gedichten zu treffen,Footnote 96 da sie durch ästhetische und affektive Sensibilisierung den an die weibliche Lektüre gestellten Anspruch der ›Geschmacks- und Herzensbildung‹Footnote 97 in exemplarischer Weise erfüllten. Aufgrund der vielen Auflagen und Nachdrucke seiner Gedichte und der allgemein bezeugten Popularität seiner Lyrik, die sich, ungeachtet der wechselnden literarischen Tendenzen, vom Ende der 1780er-Jahre bis weit ins 19. Jahrhundert behaupten konnte, kann man davon ausgehen, dass sein orthodoxes, klassizistisch-empfindsames Konzept von Lyrik sich in Vielem mit dem Wertungshorizont eines breiteren schöngeistigen Publikums deckte. Davon zeugen das Matthisson vielfach attestierte »zarte Gefühl des S c h i c k l i c h e n«Footnote 98 und GefälligenFootnote 99. Dieser mit dem vorherrschenden Lesegeschmack harmonierende ästhetische Kanon liegt auch seiner anthologischen Praxis zugrunde. In ihr verbindet sich das »Anliegen literarhistorischer Dokumentation mit dem normativen Anspruch, einen klassizistisch gereinigten Kanon der besten lyrischen Gedichte der Deutschen zu präsentieren«.Footnote 100
Um den Publikumserfolg seines vielbändigen Unternehmens beim Lesepublikum zu garantieren, nahm sich Matthisson (selbst bei Größen wie GoetheFootnote 101) das Recht, eine Vielzahl der aufgenommenen Gedichte im Sinne des »guten Geschmacks« zu kürzen oder zu verändern. Dieses editorische Vorgehen begründet er ausführlich in den Vorreden zum ersten und achtzehnten Band seiner Anthologie. In der ersten Vorrede heißt es:
Da dieses Werk nicht ausschließend für Sprachforscher und Literatoren, sondern für das ganze lesende Publikum bestimmt ist: so kam es vor allen Dingen darauf an, dasselbe auch durchaus l e s b a r zu machen. Unmöglich würde dieses, besonders bei den ältern Dichtern, der Fall haben seyn können, wenn man sich, beim erneuten Abdrucke ihrer Gesänge, diplomatische Genauigkeit hätte zum Gesetz machen wollen. Veränderungen und Abkürzungen waren daher in jeder Rücksicht unvermeidlich. Aber mein Hauptaugenmerk ging immer dahin, den Charakter und Geist der abgekürzten oder veränderten Gedichte mit Schonung und den guten Geschmack mit Achtung zu behandeln. Ist mir dieses nicht mißlungen, so habe ich von der Erörterung der alten Streitfrage: ob ein solches Verfahren rechtmäßig oder unrechtmäßig sei? weiter nichts zu fürchten.Footnote 102
Der Zweck der populären Lesbarkeit rechtfertigte also in Matthissons Augen das Mittel »unvermeidlich[er]« »Veränderungen und Abkürzungen«. Um für das »ganze lesende Publikum« »durchaus l e s b a r« zu sein, sollte ein Gedicht vor allem zwei Bedingungen erfüllen: Es musste leicht verständlich und gut nachvollziehbar sein, und es musste die ästhetischen und sprachlich-stilistischen Konventionen des »guten Geschmacks« erfüllen.
Ein derartiger, oftmals ohne Absprache mit dem Autor gewählter »Verschönerungsweg«Footnote 103 war in der zeitgenössischen Literaturpraxis allerdings nichts Ungewöhnliches;Footnote 104 Textanpassungen gehörten neben Auswahl und Zusammenstellung zu den zentralen Aufgaben des Herausgebers.Footnote 105 Dementsprechend erschien auch den meisten Rezensenten Matthissons Vorgehen nicht nur als legitim, sondern sogar als wünschenswert.Footnote 106 »Seit wann ist denn Bessermachen eine Sünde?«, fragt der Rezensent vom Morgenblatt für gebildete Stände. Der Herausgeber habe glücklicherweise keine Rücksicht genommen »auf die Leute […], die über jede Wortversetzung ein Geschrey erheben, als wenn man nicht die Feile an ein fremdes Gedicht, sondern das Messer an ihre eigne Kehle gesetzt hätte.«Footnote 107
Die auf seine Auswahl angewandte Korrekturpraxis brachte Matthisson vereinzelt auch Kritik ein, die vom philologischen Standpunkt der »Litteratoren« aus argumentierte. Hier zeigt sich die – noch zaghafte – Tendenz einer im 19. Jahrhundert sich durchsetzenden Verwissenschaftlichung der Beschäftigung mit Literatur im Zeichen einer literarhistorisch und editionswissenschaftlich fundierten Nationalphilologie.Footnote 108 So vermisste man die für eine historisch repräsentative Lyrik-Sammlung nötige TexttreueFootnote 109 oder erwartete zumindest die Anführung der ursprünglichen LesartenFootnote 110 und kritisierte den Verlust der »historische[n] Charakter-Eigenthümlichkeit«.Footnote 111 Diese Praxis editorischer Aneignung brachte später den Satiriker Friedrich Christoph Weisser dazu, Matthisson als »umgekehrte[n] Plagiarius« zu titulieren.Footnote 112 Im 18. Teil seiner Anthologie sah Matthisson sich erneut zu einer Rechtfertigung seiner Texteingriffe genötigt. Besonders den Verdacht der Willkür sucht er auszuräumen, indem er ein im Dienst des Leservergnügens stehendes »Aenderungssystem« als Basis seiner Korrekturentscheidungen expliziert und durch zwei positive Rezensionen untermauert:
Den wahren Gesichtspunkt, aus welchem der Herausgeber das von ihm, gegen offenbare Sprachunrichtigkeiten, prosodische Härten und Kakophonieen, unächte Reime, matte Zeilen, müßige Strophen, widrige und unedle Ausdrücke oder falsche und triviale Bilder angenommene Aenderungssystem betrachtet wissen möchte, hat niemand treffender und befriedigender bestimmt, als der Recensent der lyrischen Anthologie in der Hallischen allgemeinen Literatur-Zeitung (Jahrgang 1805, Nummer 201.), dessen eigene Worte hier noch einmal zu wiederholen, er daher für zweckmäßig hält:
›Eine poetische Anthologie kann entweder nach einem h i s t o r i s c h e n, oder nach einem ä s t h e t i s c h e n Plane angelegt werden. Im ersten Falle müßte man die Gedichte ganz unverändert […] geben […]. Wählt aber der Sammler den ästhetischen Gesichtspunkt, so ist es ihm nur um das Vergnügen seiner Leser zu thun. Er wählt dann nur das Schönste, und nimmt sich, wenn eignes Talent ihn dazu beruft, mit Recht die Freiheit, selbst an dem Trefflichsten kleine Flecken in Gedanken, Ausdruck und Versbau zu vertilgen. Es ist wohl gewiß, daß die historische Ansicht sich besser für eine Geschichte der Poesie, oder für eine Folge von Charakteren der Dichter eignet; daß hingegen eine poetische Blumenlese, aus dem ästhetischen Gesichtspunkt angelegt, ein ausgebreiteteres Interesse erwecken, für die Leser angenehmer, und für den Herausgeber belohnender seyn muß.‹Footnote 113
Das von Matthisson gewählte »ästhetische« Korrektur-Verfahren ist also nach Meinung des Rezensenten im Interesse des Lesevergnügens gerechtfertigt wie die Freiheit des Editors durch sein »Talent«. Den zweifachen Vorteil eines solchen Verfahrens sieht er darin, dass die Anpassung an die Lektüreerwartungen der Leser (»Vergnügen«) die Rezeptionschancen der Anthologie erhöht und für einen besseren Absatz auf dem Buchmarkt sorgt.
Zu seiner Verteidigung zieht Matthisson einen weiteren RezensentenFootnote 114 heran, der Verbesserungen durch die »fremde Hand« des Editors als »die letzte Politur« eines Werkes für gerechtfertigt hält.Footnote 115 Im Blick auf die mehrheitliche Zustimmung sieht er »sein Verfahren vor den bedeutendsten Tribunalen der vaterländischen Kritik gerechtfertigt«Footnote 116. Wie Dieter Martin herausgearbeitet hat, zielte Matthissons Editionspraxis darauf ab, mit seiner Sammlung sowohl dem Anspruch literarhistorischer Repräsentativität (durch das Prinzip der chronologischen Reihung) wie den zeitgenössischen Lektüregewohnheiten (durch editorische Anpassungen) gerecht zu werden:
Indem Matthisson gegensätzliche Prinzipien zu vereinigen suchte, bediente er ein zunehmendes Interesse des Publikums an der Literaturgeschichte und erreichte zugleich eine Leserschaft, die es nicht gewöhnt war, vom eigenen Zeitgeschmack zu abstrahieren und das historisch Fremde als solches zu akzeptieren.Footnote 117
Wenn die Elegie »Der Wanderer« als einziges von Hölderlins Gedichten von Matthisson ausgewählt wurde, so geschah dies nicht nur, weil sie bereits an prominenter Stelle veröffentlicht worden, sondern vermutlich auch, weil sie im Vergleich zu vielen anderen Gedichten Hölderlins (nicht zuletzt aufgrund der Überarbeitungen Hölderlins und Schillers) ein hohes Maß an Anschaulichkeit und innerer Ausgewogenheit besaß und nicht (wie sonst bei Hölderlin) reflexionslastig war. Dass Matthisson, der auch die zweite Fassung in der Flora kannteFootnote 118, sich für die erste Fassung entschied, liegt sicherlich an dem konventionelleren Ausdruck und dem versöhnlichen Schluss, wodurch das Gedicht ebenso dem eigenen empfindsam-klassizistischen Ideal wie dem vorherrschenden Lyrik-Geschmack entgegenkam. Schon Goethe hatte ja gemutmaßt, »Der Wanderer« werde »im Publico gewiß Freude finden«Footnote 119.
Dennoch sah sich Matthisson, der für seinen formal-ästhetischen Perfektionismus bekannt warFootnote 120, bei Hölderlins Elegie zu vielerlei Änderungen veranlasst. Bei der Korrektur ließ er sich von dem rezeptionsästhetischen Kriterium populärer Lesbarkeit im Vertrauen auf sein eigenes, erfolgsbewährtes Stilempfinden leiten. In der von Klopstock und HöltyFootnote 121 geprägten Lyriktradition stehend, die empfindsamen Gefühlsausdruck und klassizistische Formvollendung verband, legte Matthisson seiner Überarbeitungspraxis einen ästhetischen Kanon zugrunde, der sich weitgehend mit dem zeitgenössischen (bürgerlichen) Verständnis von Lyrik als einer gefühlsbetont-innerlichen und harmonisch-anmutigen, idealiter sangbaren (d. h. liedhaften) Gattung deckte.Footnote 122 Im Zentrum stehen dabei die – seiner eigenen Lyrik immer wieder zugeschriebenen – geschmacksästhetischen Normen der Schicklichkeit (im Sinne eines den etablierten Geschmacks- und Kunstregeln gemäßen StilsFootnote 123) und der Gefälligkeit (im Sinne einer durch Anschaulichkeit, Eleganz und Leichtigkeit ansprechenden und eingängigen Darstellungs- und AusdrucksweiseFootnote 124). Diesen Prinzipien entspricht das in der Vorrede zu Band 18 erläuterte »Aenderungssystem«. Es lässt sich nach den von Matthisson genannten ÄnderungskriterienFootnote 125 folgendermaßen darstellen:
Korrekturbedürftige Textmerkmale | Sprachebene | Ziel und Mittel | |
---|---|---|---|
(1) | »Offenbare Sprachunrichtigkeiten« | Grammatik | Korrekter und verständlicher Ausdruck etwa durch Vermeidung grammatisch bedingter Unbestimmtheit bzw. Mehrdeutigkeit |
(2) | »Prosodische Härten« | Metrik/Rhythmus | Natürliche Lautung und leichte Sprechbarkeit bzw. Sangbarkeit durch Glättung des Rhythmus |
(3) | »Kakophonien« | Klang | Wohllaut durch Vermeidung disharmonischer Klänge |
(4) | »Unächte Reime« | Klang | Wohllaut durch Vermeidung klanglicher Abweichungen |
(5) | »Matte Zeilen« | Ausdruck/Darstellung | Nachvollziehbarkeit durch Streichung/Änderung von Zeilen, die inhaltlich redundant sind oder keinen poetischen Ausdruckswert besitzen |
(6) | »Müßige Strophen« | Darstellung | Nachvollziehbarkeit durch Kürzung von für die Realisierung des Gedichtthemas irrelevanten Strophen |
(7) | »Widrige und unedle Ausdrücke« | Ausdruck | Anmut/Harmonie durch Ersetzung unangemessener bzw. nicht gefälliger Ausdrücke |
(8) | »Falsche und triviale Bilder« | Bildlichkeit | Verständlichkeit und poetische Qualität durch Ersetzung von semantisch irritierenden oder banalen Bildern. |
Die von Matthisson angebrachten Korrektur-Kriterien zielen zum einen auf Herstellung von inhaltlicher Nachvollziehbarkeit durch leicht verständliche Sprache und anschauliche Darstellung, zum anderen auf formal-ästhetische Harmonisierung durch korrekten Sprachausdruck, klangliche Schönheit und formale Stimmigkeit. Der Schwerpunkt auf Form und Ausdruck zeigt, dass es Matthisson vor allem auf die Korrektur vermeintlicher formaler Mängel und weniger um die inhaltliche Dimension der Gedichte ging.
Auf welche Weise kommt nun Matthissons »Aenderungssystem« bei Hölderlins Elegie »Der Wanderer« zur Anwendung? Betrachtet man zunächst Matthissons Text-Eingriffe quantitativ differenziert, so ergibt sich folgendes Bild: Das größte Gewicht fällt auf die ersatzlosen Streichungen (207 Wörter), die fast 27 % der Vorlage betreffen. Relative Kürze war offenbar eine entscheidende Anforderung einer populär ausgerichteten Anthologie.Footnote 126 Von den insgesamt 275 eliminierten Wörtern (rund 35 % des Textbestands!) ersetzt Matthisson nur ein Viertel, was etwa 9 % des Ausgangstextes entspricht. Die Ersetzungen zielen vor allem auf Änderung des Ausdrucks und Glättung rhythmischer Unregelmäßigkeiten. Umstellungen hingegen nimmt Matthisson seltener vor; sie betreffen nur 11 Wörter (1,4 %). Im abgedruckten Text gibt es insgesamt 86 von Matthisson neu hinzugefügte Wörter, was einem hohen Fremdanteil von 15 % (gegenüber knapp 3 % bei Schiller) entspricht.
Die Hälfte von Matthissons Eingriffen beziehen sich auf Darstellung und Ausdruck. Der kürzeren Darstellung halber tilgt er insgesamt 11 »müßige« Distichen. Gestrichen werden Elemente, die Matthisson nach seinem Modell des Landschaftsgedichts wohl als störend empfunden haben mag. So entfernt er bis auf V. 5 die Kontrastbilder der Elegie: die Schilderung des Walds und der Bäche (V. 7–10) und den die reine Landschaftsdarstellung unterbrechenden mythologischen Vergleich (V. 23–26):
Ach! nicht schlang um die Erde den wärmenden Arm der Olymp hier,
Wie Pygmalions Arm um die Geliebte sich schlang.
Hier bewegt’ er ih[r] nicht mit dem Sonnenblicke den Busen,
Und in Regen und Thau sprach er nicht freundlich zu ihr.
Darüber hinaus streicht Matthisson Partien, in denen Gedanken zum Ausdruck kommen, die nicht unmittelbar verständlich sind und über die Vorstellungsbildung hinaus die Reflexionstätigkeit des Lesers beanspruchen:
Und das heilige Grün, der Zeuge des ewigen, schönen
Lebens der Welt, es erfrischt, wandelt zum Jüngling mich um.Alt bin ich geworden indeß […] (V. 41–43)
Hier scheint der paradoxe Gegensatz von »Jüngling« und »Alt«, in dem der für Hölderlin wichtige Herder’sche Palingenesie-GedankeFootnote 127 zum Ausdruck kommt, von Matthisson als störend empfunden worden zu sein. Die Schlussreflexion des heimgekehrten Wanderers streicht er gleich ganz:
Feuer trink ich und Geist aus deinem freudigen Kelche,
Schläfrig lässest du nicht werden mein alterndes Haupt.
Die du einst mir die Brust erwektest vom Schlafe der Kindheit,
Und mit sanfter Gewalt höher und weiter mich triebst,
Mildere Sonne! zu dir kehr’ ich getreuer und weiser,
Friedlich zu werden und froh unter den Blumen zu ruhn. (V. 79–84)
Durch Tilgung der kontrastiven Entgegensetzungen und des Reflexionsgehalts der Elegie entsteht eine inhaltlich äußerst verharmloste Version, die den über die Naturbeschreibung allegorisch ausgedrückten Gedanken der Elegie der leichteren Nachvollziehbarkeit halber zugunsten der naiv-anschaulichen Landschaftsschilderung unterdrückt. Durch diese Reduktion lässt Matthissons Fassung eine philosophische Lektüre des »Wanderers« nicht mehr zu. An die Stelle des Gedankens der Verjüngung durch Rückkehr zur Natur tritt das topische Bild der frohen Einkehr ins heimatliche Idyll.
Auch auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks verändert Matthisson den Text nicht unwesentlich. Einige Korrekturen intendieren bessere Verständlichkeit wie etwa die Ersetzung von »Vesten« (V. 51) durch das geläufigere »Schlösser« (V. 40)Footnote 128 oder bessere Nachvollziehbarkeit durch Konkretisierung und Vereinfachung des Ausdrucks in dem Distichon V. 61 f.
Still ists hier: kaum rauschet von fern die geschäftige Mühle,
Und vom Berge herab knarrt das gefesselte Rad.
durch genaue (realistische) Benennung der akustischen Quelle (»von dem Bergwerk« statt »vom Berge«; »Schaufeln der Mühle«):
Hier ists einsam und heimlich! Fern tosen die Schaufeln der Mühle,
Und von dem Bergwerk herab knarrt das gefesselte Rad.
Nicht nur das Vorstellungsbild wird hier für den Rezipienten ›ausgemalt‹, die Stille (»Still ists hier«) wird ausgefüllt durch ein subjektives Gefühl, das konkretisierend ›vorgegeben‹ wird: »Hier ists einsam und heimlich!«
In V. 61 vereinfacht Matthisson den Ausdruck nicht nur formal, er passt ihn auch inhaltlich an die Lebenswelt der bürgerlichen Leserinnen an. Hieß es bei Hölderlin:
Lieblich [tönt] der Mutter Gesang, die im Grase siztFootnote 129 mit dem Söhnlein,
so korrigiert Matthisson (V. 47):
Lieblich [tönt] aus dämmernder Laube der Mutter Gesang, bei dem Säugling,
Mit dieser Änderung vermeidet er nicht nur den Relativsatz, sondern bewirkt auch eine ›Verbürgerlichung‹ des Bildes und erhöht damit dessen Identifikationspotenzial: Aus der einfachen, ländlichen Szene der bäuerlichen Mutter, »die im Gras sizt«, wird die Vorstellung einer ›zivilisierten‹ Bürgersfrau in ihrer LaubeFootnote 130 – beliebter intimer Leseort bürgerlicher DamenFootnote 131.
An diesen wenigen Beispielen lässt sich zugleich erkennen, dass Matthissons Korrekturen neben der besseren Lesbarkeit (Verständlichkeit und Vorstellungsbildung) zugleich auch eine bestimmte Wirkungsintention verfolgen: nämlich das Gedicht durch sentimentale Naivisierung eingängiger und damit gefälliger zu machen. Indem er den Gefühlsausdruck in die landschaftliche Darstellung projiziert, erzeugt er eine dem Idyllischen angemessene ›liebliche‹ Stimmung. Einen in diesem Sinne gefälligeren Charakter verleiht Matthisson der Elegie vor allem durch Ersetzung ungewöhnlicher und ›extremer‹ durch ›abgemildetere‹ Ausdrucksmöglichkeiten. So schwächt er etwa die extremen Wirkungen von Eispol und Wüste in V. 43 f. wesentlich ab. Hölderlin hatte die Kälte und Erstarrung des Nordens im Erbleichen des Ichs (lesbar zugleich als Ausdruck des EntsetzensFootnote 132 und totum pro parte für das Ergrauen der Haare) und die Hitze des Südens im die Haare versengenden Feuer zum Ausdruck gebracht:
Alt bin ich geworden indeß, mich blaichte der Eispol,
Und im Feuer des Süds fielen die Locken mir aus.
Matthisson hingegen nimmt dem Bild das Extreme (Erbleichen des Ichs, Ausfallen der Locken) und Elementarische (Feuer), indem er es vorstellungsnäher konkretisiert (»Scheitel«), konventionalisiert (»Gluthen des Süds«) und abmildert (Locken fallen nicht aus):
Alt bin ich worden indeß: mir bleichte der Eispol die Scheitel,
Und in den Gluthen des Süds mehrten die Locken sich nicht.
Mildert Matthisson die von dem Wanderer gemachten Erfahrungen des Extremen im Ausdruck ab, so intensiviert er zugleich die Schilderung der lieblichen heimatlichen Landschaft und der mit ihr verbundenen Gefühle. So etwa in V. 37–40:
Aber jetzt kehr’ ich zurück an den Rhein, in die glückliche Heimath,
Und es
wehenhauchen, wie einst, zärtliche Lüfte mich an.Und das
strebendestürmende Herz besänftigen mir die vertrautenFriedlichen Bäume, die einst mich in den Armen gewiegt.
Durch die Ersetzung zweier Verben erreicht Matthisson hier eine affektive Intensivierung, indem er einerseits die Vermenschlichung der Natur im Ausdruck »zärtliche Lüfte« (V. 38) durch das Verb hauchen verstärkt und andererseits die Natursphäre durch das Verb stürmen als Gegensatz geschickt mit der Sphäre des menschlichen Gefühls verschränkt und so, wie Schiller es vom poetischen Landschaftsmaler gefordert hatte, die Landschaft zum Seelenausdruck machtFootnote 133.
Insgesamt wirkt auch hier die zugunsten der Gefälligkeit vorgenommene Abmilderung des Ausdrucks als Verharmlosung des gedanklichen Gehalts, mithin als Unterdrückung der philosophischen Lesart.
Weitere Eingriffe zielen auf die Verbesserung von Metrum und Prosodie;Footnote 134 sie motivieren fast ein Viertel der Korrekturen, wirken sich allerdings nur auf rund 10 % der betroffenen Wörter verändernd aus. Bei der Korrektur »prosodischer Härten« kommt es Matthisson neben Vermeidung ›unnatürlicher‹ Betonungen vor allem auf Regelmäßigkeit und Einhaltung der metrischen Vorgaben des elegischen Distichons an. Zwar lässt das aus Hexameter und Pentameter bestehende Distichon im Deutschen eine gewisse Flexibilität bei der Wahl der Versfüße zu; so lassen sich an den meisten Stellen Daktylen oder Trochäen benutzen nach dem Schema:
Statt der von Hölderlin alternativ benutzten (zweisilbigen) Trochäen bevorzugt Matthisson die leichter schwingenden (dreisilbigen) Daktylen. Durch Ersetzung der entsprechenden Trochäen erzielt er eine metrische Übereinstimmung mit den obligaten Daktylen am Versende. Eine solche rhythmische Glättung nimmt er etwa an dem Distichon V. 33 f. vor:
Durch Anpassung der Versfüße an die auf die Zäsuren folgenden Daktylen erreicht er eine einheitliche metrische Struktur (V. 23 f.):
Ähnlich die Korrektur von V. 14 (»Wasser bewahrte mir treulich das fromme Kameel«) in »Wasser bewahrte mir stets treulich das fromme Kameel« (V. 8), bei der durch Hinzufügung von »stets« ein gleichmäßiges daktylisches Versmaß erreicht und zugleich das wohl als unnatürlich empfundene betonte »mír« vermieden wird.
An vielen Stellen scheint Matthisson Hölderlins flexiblen Umgang mit dem Metrum als zu korrigierende metrische Fehler oder »prosodische Härten« wahrgenommen zu haben, etwa in V. 28, wo Hölderlin den für den Pentameter charakteristischen Hebungspralls in der Mitte des Verses auslässt:
Matthisson korrigiert den Vers durch Umstellung und Ersetzung:
Indem er sich geradezu penibel an die metrischen Vorschriften hält, greift Matthisson selbst dort an Stellen korrigierend ein, wo Hölderlins (bzw. Schillers) Abweichungen einen Ausdruckswert haben, wie etwa im Falle der emphatischen Dreifachhebung durch die (betonte) Voranstellung des »nicht« zu Beginn von V. 5:
Bei allen metrischen Änderungen geht es also neben Harmonie im Wesentlichen um Vermeidung möglicher Irritationen beim Lesen. Indem Matthisson unter Absehung von der möglichen expressiven oder semantischen Relevanz bestimmter stilistischer Abweichungen Hölderlins Verse zu einem regelmäßigen, metrisch konformen Sprachrhythmus glättet, stellt er zwar einen ›besser lesbaren‹ Text her, nimmt ihm aber zugleich an vielen Stellen die sprachliche Eigentümlichkeit.
An dritter Stelle folgen in Matthissons Überarbeitung Korrekturen des bildlichen Ausdrucks. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Eingriffe beträgt fast 16 %. Es lässt sich hier die gleiche Tendenz feststellen wie schon bei den Korrekturen des sprachlichen Ausdrucks: Sie zielen auf eine Konventionalisierung und Abmilderung extremer oder ungewöhnlicher Bilder zwecks Verständlichkeit und Gefälligkeit für das Lesepublikum, bewirken damit aber zugleich eine Verharmlosung der inhaltlichen Intention. In einigen ungewöhnlichen Bildern Hölderlins scheint Matthisson »falsche […] Bilder« gesehen zu haben, die gegen das klassische Gebot von Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit verstoßen, da sie sich aufgrund der fehlenden bzw. nur partiellen Ähnlichkeit mit dem Gemeinten der einfachen Vorstellungsbildung sperren. So tilgt Matthisson gleich am Anfang den kühnen Vergleich des Gebirges als mit einem »wandelnd Gerippe« (V. 3 f.):
Fernhin schlich das hagre Gebirg, wie ein wandelnd Gerippe
Hohl und einsam und kahl blikt’ aus der Höhe sein Haupt.
Auch der Vergleich des springenden Waldes mit dem »sprudelnde[n] Quell« in V. 5 der Reinschrift, an dem schon Goethe Anstoß genommen und den Schiller dann eliminiert hatte, scheint Matthisson irritiert zu haben. Die nicht unmittelbar nachvollziehbare Metapher, die durch mögliche Assoziationen etwa mit springenden Kindern eine Vermenschlichung bewirkt, nimmt Matthisson in seiner Korrektur zurück, indem er das Verb ›springen‹ durch das dem Naturbereich entstammende, insofern ›näherliegende‹ Verb ›schwellen‹ ersetzt:
Ach!
nicht sprang,Hier schwoll mit erfrischendem Grün der umschattende Waldhiernicht!In die säuselnde Luft üppig und herrlich empor.
(Horen-Druck, V. 5f. / Anthologie-Druck., V. 3f.)
Eine ähnliche Vermenschlichung der Landschaft – nun durch explizite Personifikation eines »Dörfchens« – nimmt Matthisson als Anlass zur Korrektur in V. 56, in dem er den Bildausdruck entschieden abmildert. Hölderlins etwas ›verspielt‹ anmutendes Bild:
Aber unten im Thal, wo die Blume sich nährt von der Quelle,
Streckt das Dörfchen vergnügt über die Wiese sich aus,
in dem die kindliche Vertrautheit mit der heimatlichen Landschaft zum Ausdruck kommt, neutralisiert Matthisson durch folgende Ersetzungen (kursiv):
Aber unten im Thal, wo die Blume sich nährt von der Quelle,
Breitet das freundliche Dorf über die Wiese sich hin. (V. 41f.)
Eine ähnliche Verkleinerung nimmt Matthisson in V. 75 f. zurück. Hier wird die ›heimliche‹ Stimmung der Geborgenheit in der Heimat im Bild vom Wald als »unendliche[r] Laube« ausgedrückt, in dem die Gegensätze von Groß und Klein in der Vorstellung zusammengezogen werden. Matthisson ersetzt diese Vorstellung (zumal er das Bild der Laube schon in V. 47 verwendet hat) durch eine der Vorstellung des Waldes ›besser entsprechende‹ konventionelle Metapher, in der – statt Geborgenheit – Erhabenheit ausgedrückt wird:
Schmeichelnd zieht mich, wie sonst, in des
Walds unendliche LaubeForsts majestätische HallenAus dem Garten der Pfad, oder hinab an den Bach,
(Horen-Druck, V. 75f. / Anthologie-Druck., V. 59f.)
Diese Tendenz zur Konventionalisierung des bildlichen Ausdrucks geht zum Teil bis zur Trivialität, welche Matthisson mit seinem »Aenderungssystem« ja eigentlich zu vermeiden beanspruchte (»falsche und triviale Bilder«). So löst er etwa die als Gegensatz zum »kärglichen Nord« konstruierte optische Metapher »Rosen glühen« (V. 36), in der das Feuermotiv der Elegie (V. 49: »glühende Berge«Footnote 135) weitergeführt wird, in den trivialen Ausdruck »Rosen duften« (V. 26) auf.
Spielten in Schillers Korrektur klangliche Aspekte keine Rolle, so sind bei Matthisson mindestens zwei Eingriffe klanglich motiviert. Dabei geht es weniger um »Kakophonien und unächte Reime« als um Vermeidung von Lautfolgen, die das Verständnis irritieren. So hat zu der Korrektur von V. 12: »Aengstig und eilend flohn wandernde Störche vorbei« in »Aengstlich zogen und schwer wandernde Störche vorbei« (V. 6) wahrscheinlich die lautliche Nähe von »flohn« zu ›flogen‹ Anlass gegeben. An anderer Stelle (V. 18) ändert Matthisson eine Wortfolge, die – vermutlich von Hölderlin intendiert – durch Homophonie beim Hörer eine zweifache Lesart bewirken konnte.Footnote 136. Die Stelle lautet:
Aber ich bat umsonst; du erschienst mir feurig und herrlich,
Aber ich hatte dich einst göttlicher, schöner gesehn. (V. 17 f.)
V. 18 lässt vom Klang her nämlich auch die Lesart ›göttlicher Schöner‹ zu. Damit suggeriert der Vers neben dem lesbaren Sinn, der sich auf die explizit angerufene »Natur« (V. 13) bezieht (»Aber ich hatte dich [Natur] einst göttlicher, schöner gesehn«), einen nur hörbaren Sinn, der sich durch den elliptischen Bezug auf den erst später genannten »üppige[n] Frühling« (die verjüngte Natur) herstellt (›Aber ich hatte dich einst, göttlicher Schöner [= Frühling] gesehn‹).Footnote 137 Matthisson vermeidet diese akustische Ambiguität durch Ersetzung:
Aber ich bat umsonst! Zwar feurig und prachtvoll erschienst du;
Doch ich hatte dich einst hehrer und milder gesehn. (V. 10 f.)
Darüber hinaus eliminiert er den durch die Anapher »Aber […] / Aber« erzeugten Anfangsreim sowie die Dreifachalliteration »Aber […] / Aber […] / Auch« (V. 17–19), indem er den in Hölderlins Distichon nicht so deutlich markierten Gegensatz durch eine zwar-doch-Konstruktion verdeutlicht.
Insgesamt betrachtet sind Matthissons Eingriffe in Hölderlins Text mehr als nur eine formal-ästhetische Korrektur im Sinne einer »letzte[n] Politur«; die Eingriffe sind sowohl quantitativ als auch ihrer Qualität nach so tiefgreifend, dass von einer starken Umarbeitung, wenn nicht gar Neufassung des Textes gesprochen werden muss. 37 % des Ausgangstextes sind von den Änderungen betroffen, im Textresultat stammen fast 14 % der Wörter nicht von Hölderlin selbst (gegenüber den angenommenen 6,7 % bei Schiller). Zwar zielen Matthissons Eingriffe darauf, das Gedicht durch Kürzung der Darstellung, Konventionalisierung des sprachlichen und bildlichen Ausdrucks und metrische und klangliche Anpassungen für das breite Publikum »lesbar« zu machen. Doch verbessern diese Korrekturen nicht nur – wie von Matthisson mit seinem »Aenderungssystem« postuliert – Textverständlichkeit und Anschaulichkeit, sondern wirken sich zugleich auch verändernd auf den ideellen Gehalt (den »Charakter und Geist« des Gedichts) aus, indem sie dem Text seine allegorische Ebene und damit die ihm ursprünglich innewohnende reflexive Dimension nehmen.Footnote 138
Vergleicht man die Korrektur-Verfahren Schillers und Matthissons, so zeigt sich, dass die Art und Weise der jeweiligen Überarbeitung im Wesentlichen von bestimmten ästhetischen Überzeugungen, zeitspezifischen Kanonanforderungen und formatbedingten Zwecksetzungen abhängt. Wenn es an einigen Stellen ähnliche Überarbeitungstendenzen gibt (wie bei der festgestellten Allegorieabwehr zugunsten einer natürlich-anschaulichen Darstellung), so haben beide Textrevisionen doch deutlich verschiedene Funktionen: Korrigiert Schiller den Text unter einem eher werkästhetischen Gesichtspunkt im Hinblick auf ausgewogene Darstellung und Anschaulichkeit im Sinne der klassischen Ästhetik, so verändert Matthisson ihn unter einem primär rezeptionsästhetischen Gesichtspunkt im Hinblick auf die von ihm postulierten Kriterien populärer Lesbarkeit: Verständlichkeit des Sinns, Anschaulichkeit der Darstellung und Gefälligkeit des sprachlichen und bildlichen Ausdrucks. Bleibt bei Schiller die poetische Individualität von Hölderlins Gedicht trotz mancher Kürzungen und Abschwächungen des Reflexionsgehalts noch weitgehend erhalten, so erweist sich Matthissons Korrektur als eine von seinem »homogenisierenden klassizistischen Stilwillen«Footnote 139 dominierte systematische Überarbeitung im Hinblick auf populäre Lesbarkeit, bei der die Priorisierung der Form gegenüber dem Inhalt, der Gefühlsmomente gegenüber dem Reflexiven letztendlich zur gänzlichen Unkenntlichmachung der philosophischen Intention des Gedichts führt. Das Resultat ist ein in vielem an das (eigene) Modell empfindsamer Landschaftsdichtung angepasstes Gedicht, das aus rezeptionsästhetischem Kalkül des Anthologisten um seinen ursprünglich unkonventionelleren Ausdruck wie seinen philosophischen Reflexionsgehalt beschnitten wird. Diese »letzte Politur« des bereits zweifach nachbearbeiteten Gedichts verpasst der Elegie zwar die an der Matthisson’schen Lyrik so viel gelobte »gefällige Glätte«Footnote 140, doch droht dadurch das Gedicht zur »Marmorgruppe« (A. W. SchlegelFootnote 141) zu erstarren. Damit tendiert Matthisson letztlich zu jener Form editorischer Aneigung, vor der ein Rezensent ihn bewahrt zu glauben meinte: nämlich derjenigen seines Vorgängers Ramler, »der selbst seinen Zeitgenossen seine Feile aufdrang und an ihnen polirte, bis man in dem Wiederschein der Glätte wol s e i n e kritische Figur, aber nicht mehr die des zu Tode gefeilten Märtyrers erkennen konnte.«Footnote 142
V.
Hatte Hölderlin sich während seiner Tübinger Studienzeit und in Waltershausen noch sehr an Schillers Dichtung und Ästhetik orientiert, so emanzipierte er sich in den Frankfurter Jahren zunehmend von ihm. Während die ambivalente persönliche Bindung an den übermächtigen Schiller bis in die Spätzeit fortbestand,Footnote 143 fand Hölderlin im Ästhetischen zu einer eigenen poetischen Sprache, die immer mehr von den klassischen Stilidealen (Ausgewogenheit, Anschaulichkeit, Transparenz der Sprache) abwich und nach 1800 schließlich zum Bruch mit der klassizistischen Ästhetik führte.Footnote 144 In Hölderlins Festhalten am »Eigenwillen« und dem Vorsatz, sich »durchzukämpfen«Footnote 145, manifestiert sich ein gewachsenes dichterisches Selbstbewusstsein und der Wille zu poetischer Individualität. Hölderlins Unversöhnlichkeit gegenüber dem »herrschenden Geschmak«Footnote 146 und sein zugleich erhobener Wirkungsanspruch konfrontierten ihn zuletzt immer wieder mit der Aporie, zugleich für und gegen das Publikum schreiben zu müssen.Footnote 147
In diesem Zwiespalt zwischen autonomieästhetisch begründetem Individualstil einerseits und den herrschenden Gattungskonventionen und den konservativen Rezeptionserwartungen der zeitgenössischen Leserschaft andererseits tendierte Hölderlin deutlich zum »Eigenwillen«. Mit seinem außergewöhnlichen Spätstil überschritt er schließlich die Grenzen der Rezeptionsbereitschaft des breiteren Lesepublikums und untergrub damit zugleich die Möglichkeit populärer Wirkung.Footnote 148 Welchen Anforderungen eine Lyrik entsprechen musste, die auch beim breiteren Publikum erfolgreich sein wollte, lässt sich – zumindest der Tendenz nach – aus den Stilcharakteristika von Matthissons Lyrik und seinen anthologiespezifischen Überarbeitungskriterien ableiten. Demnach sind die wichtigsten Faktoren, welche ein Gedicht für ein breiteres Publikum »lesbar« machen sollten, in folgenden Kriterien zu sehen:
-
1.
Kürze;
-
2.
Einfachheit der Darstellung zum leichten Nachvollzug;
-
3.
sinnliche Anschaulichkeit zur Erleichterung der Vorstellungsbildung;
-
4.
Stimmungs- und Gefühlsausdruck und Vermeidung von Reflexivität;
-
5.
Verständlichkeit und Gefälligkeit des sprachlichen Ausdrucks;
-
6.
konventionelle (und damit: leicht verständliche) Bildlichkeit;
-
7.
Harmonie und Sangbarkeit von Metrik und Prosodie;
-
8.
Lieblichkeit des Klangs und vorzugsweise reimende Verse.
Die meisten Gedichte Matthissons erfüllen diese Bedingungen. Sein stimmungsvolles Gedicht »Abendlandschaft«, das schon Schiller lobteFootnote 149, ist hierfür ein gutes Beispiel:
Goldner Schein
Deckt den Hain,
Mild beleuchtet Zauberschimmer
Der umbüschten Waldburg Trümmer.
Still und hehr
Strahlt das Meer;
Heimwärts gleiten, sanft wie Schwäne,
Fern am Eiland Fischerkähne.
[…]
Auf der Fluth
Stirbt die Gluth;
Schon verblaßt der Abendschimmer
An der hohen Waldburg Trümmer.
Vollmondschein
Deckt den Hain;
Geisterlispel wehn im Thale
Um versunkne Heldenmale.Footnote 150
Bei der Korrektur von Hölderlins Elegie folgte Matthisson dem Ideal seiner eigenen empfindsam-stimmungsvollen Landschaftslyrik. Wie die allegorische Intention so hatte er auch den Sinn der von der konventionellen Ästhetik abweichenden Stilelemente in dem Gedicht nicht erkannt, sondern diese für korrekturbedürftige ›Schönheitsfehler‹ gehalten. Als »Codex für den gewähltesten Ausdruck«Footnote 151 sollte die Anthologie nicht nur das Überlieferungswürdige versammeln, sondern dabei zugleich einen auf den bewährten Geschmack gestützten ›normalästhetischen‹ (und das hieß: klassizistisch orientierten) Kanon im Abwehrkampf gegen die heterodoxen Tendenzen im Feld der Lyrik vermitteln. Das von solcher Normierung Abweichende, das Disparate und Disharmonische, poetisch Innovative musste diesem Zweck entsprechend getilgt werden. Die Konventionalität, welche die Verse Hölderlins durch die Überarbeitung Matthissons erhielten, steht in äußerstem Gegensatz zur Unkonventionalität seines Spätstils. Schon in ihrer ersten Fassung zeigt die Elegie »Der Wanderer«, trotz einiger Anpassungen, erste Elemente des Hölderlin’schen »Eigenwillen[s]«. In ihrer zweiten Fassung von 1801 (Flora-Druck) hat der Dichter sie noch wesentlich unkonventioneller gestaltet. Darin ist nicht nur die inhaltliche Intention der Erstfassung revidiert, hier setzt sich auch das für den Spätstil charakteristische Prinzip der ›harten Fügung‹ durch. Nicht harmonische Auflösung und Versöhnung sind Ziel solcher Stilisierung (wie in der klassischen Ästhetik), sondern Gegensätze und Disparates werden hier durch Verbindung und Kontrastierung ästhetisch produktiv gemacht. Das von Goethe gelobte »sanfte[], in Genügsamkeit sich auflösende[] Streben«Footnote 152 ist nun der Entfremdung des Ichs gewichen. Die Erfahrung des Extremen, der Fremdheit und Vereinsamung des Zurückgekehrten findet auch in der Form ihren Ausdruck: Unkonventionelle Ausdrücke und Bilder, syntaktische und rhythmische Härten prägen den Stil. Unter teilweiser Wiederherstellung des Wortlauts der Reinschrift-Fassung verfremdet Hölderlin die für den Horen-Druck zuvor abgeschwächten Verse ins Unkonventionelle. Besonders kühn sind die Zerrüttung des Syntaktischen (Nachtrag, Einschübe, harte Enjambements) und die Ambiguisierung der grammatischen Funktion (Subjekt, Objekt) in V. 3 f.:
Einsam stand ich und sah in die Afrikanischen dürren
Ebnen hinaus; vom Olymp reegnete Feuer herab;
Reißendes! milder kaum, wie damals, da das Gebirg hier
Spaltend mit Stralen der Gott Höhen und Tiefen gebaut.Footnote 153
Derartige hart gefügte Verse wirken irritierend. Sie stören nicht nur Lesefluss und Vorstellungsbildung, sondern tendieren auch dazu, den Sinn zu verdunkeln, da die grammatischen Bezüge durch die syntaktischen Umstellungen nicht unmittelbar erkennbar sind. Durch solche stilistischen Innovationen seiner Dichtersprache entfernte sich Hölderlin in der Spätzeit nicht nur von der klassischen Ästhetik, sondern zugleich auch von den Bedingungen populärer Lesbarkeit. Schwer verständlich und oft disharmonisch, weder eingängig noch sangbar, stellten die Verse des späten Hölderlin eine Zumutung für die zeitgenössischen Geschmackserwartungen dar. In dezidierter Abweichung vom ästhetischen Kanon behauptete Hölderlin mit seinem neu ausgebildeten Individualstil seine dichterische Autonomie. Zugleich aber setzte er damit seine Lyrik der Resonanzlosigkeit aus. Seine Unkonventionalität bewahrte den Dichter so zwar vor dem klassizistischen Epigonentum eines Matthisson, entfernte ihn aber zuletzt so weit vom Zeitgeschmack, dass seine späten Gedichte weithin auf Unverständnis und Ablehnung stießen.Footnote 154 Hölderlins poetische Innovativität wurde damit zugleich zum Hindernis für den literarischen Erfolg.
Notes
An den Bruder, 2. November 1797; Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, 8 Bde. in 15 Bdn., hrsg. Friedrich Beißner [u. Adolf Beck], Stuttgart 1943–1985 (im Folgenden: StA), VI, 254 f.
Vgl. Schiller an Goethe, 27. Juni 1797; StA VII.2, 95.
Vgl. Goethe an Schiller, 28. Juni 1797; StA VII.2, 410 f.
Hölderlin dankt Schiller im August hierfür (vgl. StA VI, 250).
Die Horen eine Monatsschrift. Herausgegeben von Schiller, 10. Bd., 6. St., 1797, 69–74.
Die Textfassungen von »Der Wanderer« werden zitiert nach dem genetisch differenzierten Text der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 20 Bänden und 3 Supplementen, hrsg. Dietrich E. Sattler, Frankfurt a. M. 1975–2008 (im Folgenden: FHA) 6, 51–53 (»Der Wanderer I«, Entwurf) und 55–57 (»Der Wanderer II«, Reinschrift). Es ist sehr wahrscheinlich, dass Hölderlins Reinschrift mit der verlorenen Druckvorlage (H2) nahezu identisch ist, da sie im Manuskript auf das ebenfalls an Schiller gesandte Gedicht »An den Aether« folgt; neben der für Schiller bestimmten Druckvorlage fertigte Hölderlin sie vermutlich sicherheitshalber an, nachdem Schiller im Jahr zuvor ein Manuskript mit unveröffentlichten Gedichten – trotz Hölderlins Bitte um Rücksendung – einbehalten hatte (vgl. FHA 6, 53). Die FHA rekonstruiert in einem differenzierten Text (FHA 6, 59–61) einen recht erheblichen Teil der Abweichungen als Eingriffe Schillers. Vgl. dagegen StA I, 521 f., wo nahezu alle Änderungen Hölderlin zugeschrieben werden.
Unmittelbar nach dem Erscheinen von Schillers Gedicht im Oktober 1795 in den Horen (4. Bd., 10. St.) scheint Hölderlin den Plan zu einer eigenen »Elegie« gefasst zu haben, wie aus dem vermutlich Anfang Dezember 1795 geschriebenen Brief an Neuffer hervorgeht (vgl. StA VI, 187). Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich hierbei um »Der Wanderer« handelte.
Im Entwurf ist die allegorische Intention deutlicher. Das Gedicht beginnt mit den Worten: »Nord und Süd ist in mir« (FHA 5, 51, V. 1).
Vgl. die Synopse im Zusatzmaterial online.
Friedrich Hölderlin, »Der Wanderer«, in: Lyrische Anthologie. Herausgegeben von Friedrich Matthisson. 20 Bde., Zürich: Orell, Füßli & Co. 1803–1807 [Antiqua-Ausgabe], Bd. 17 (1806), 155–160.
Vgl. den differenzierten Text in FHA 6, 59–61.
Eine solche nachträgliche Inschutznahme Hölderlins gegen seine zeitgenössischen Kritiker findet sich etwa in Adolf Becks Kommentar zu den Rezensionen (vgl. StA VII.4, bes. 5–27). Hier soll keineswegs bestritten werden, dass die Urteile der Zeitgenossen aus heutiger Sicht ungerecht erscheinen. Kritisiert wird nur, dass Beck weder die historische und individuelle Relativität von Stil- und Geschmackspräferenzen reflektiert noch der Frage nachgeht, warum nicht nur dieses Gedicht, sondern eine Vielzahl von Dichtungen Hölderlins den zeitgenössischen Rezensenten missfielen. Stattdessen finden sich in seinem Kommentar zu den Rezensionen der Flora stets absolute Werturteile (vgl. StA VII.4, 16).
In seinem Vergleich der ersten und zweiten Fassung geht Andreas Müller (wie Beißner in der Stuttgarter Ausgabe) davon aus, dass die meisten Eingriffe von Hölderlin selbst stammen (vgl. Andreas Müller, »Die beiden Fassungen von Hölderlins Elegie ›Der Wanderer‹«, Hölderlin-Jahrbuch 3 [1948/49], 103–131, hier: 112.). Und Maria Behre deutet die Elegie in ihrer ersten Fassung als Gedicht über die Zeit, thematisiert aber nicht die Änderungen zwischen Reinschrift und Druckfassung (vgl. Maria Behre, »Das Messen der Zeit«, in: Gerhard Kurz [Hrsg.], Interpretationen. Gedichte von Friedrich Hölderlin, Stuttgart 1996, 113–123).
Vicenzo Maria Villa, »Una Fassung ignorata di una elegia di Hölderlin«, Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa. Lettere, Storia e Filosofia 32 (1963), 175–182, hier: 176 u. 182.
Ein Beweis dafür, dass Matthisson die (der zweiten Fassung vorgezogene) Horen-Fassung bearbeitet hat, ist der Ausdruck »der umschattende Wald« (V. 3 in der Anthologie-Version Matthissons), der eine leichte Abwandlung des Verses aus der Horen-Fassung (V. 5: »der schattende Wald«) darstellt. In Entwurf und Reinschrift steht dort dagegen noch: »der unendliche Wald« (V. 5, FHA 6, 51 u. 55).
Peter Trawny, »Das Gedicht auf dem Weg in die Fremde. Eine Notiz zu der Elegie ›Der Wanderer‹ bei Friedrich Matthisson«, Hölderlin-Jahrbuch 29 (1994/95), 276–282, bes. 279–281.
Vgl. Trawny (Anm. 16), 278 f.
Trawny (Anm. 16), 280.
Trawny (Anm. 16), 276.
Vgl. z. B. den Brief an Neuffer vom 10. Juli 1797; StA VI, 243 f.
Vgl. das Verzeichnis der Drucke in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. Michael Knaupp, 3 Bde., München 1992 (im Folgenden: MA), I, 26 f.
Gustav Schwab, »Nekrolog auf Hölderlin«, in: Schwäbische Chronik, Stuttgart, 20., 21., 22. 6. 1843; zit. nach: StA VII.3, 359 f.
So 1791 das Urteil eines Mitarbeiters der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung; zit. nach Norbert Oellers, »Schiller, Johann Christoph Friedrich von«, in: Neue Deutsche Biographie, Berlin 1953 ff., XXII (2005), 759–763, hier: 762.
Heinrich Kurz, Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller [1853]. 3. Aufl. Leipzig 1861, III, 129; vgl. auch: 33.
So war etwa Matthissons »Elegie. In den Ruinen eines alten Bergschlosses geschrieben« Vorbild für Hölderlins 1789/90 entstandenes Gedicht »Burg Tübingen« (vgl. StA I, 101–103).
»Matthisson, Friedrich von«, Damen Conversations Lexikon, Leipzig 1834 ff, VII (1836), 148–149, hier: 148.
Gedichte von Friedrich Matthisson, Mannheim 1787 (2. Aufl.: Friedrich Matthissons Gedichte, hrsg. Johann Heinrich Füßli, Zürich 1792; 3. Aufl. 1794; 4. Aufl. 1797, sowie weitere vermehrte u. revidierte Auflagen bis 1832).
Steht Schillers Bedeutung für Hölderlins lyrische Entwicklung außer Frage, so ist die Relevanz Matthissons besonders für den jungen Hölderlin bisher kein Thema in der Forschung. So findet sich im Hölderlin-Jahrbuch kein einziger Beitrag zum Einfluss Matthissons; die Internationale Hölderlin-Bibliographie verzeichnet keinen relevanten Eintrag, und auch im Hölderlin-Handbuch (hrsg. Johann Kreuzer, Stuttgart 2011), wird Matthisson nur dreimal flüchtig erwähnt (siehe Register, 553). Gustav Schwab dagegen wusste noch: »Hölderlins eben erwachte Dichtergabe war anfangs von ihnen beiden [Schiller und Matthisson, T.Ch.] abhängig« (zit. nach StA VII.3, 360).
Friedrich Schiller, »Über Bürgers Gedichte«, in: Ders., Sämtliche Werke in fünf Bänden, hrsg. Peter-André Alt, München, Wien 2004, V, 992–1011, hier: 1009.
Vgl. Schiller (Anm. 29), bes. 973–975.
Briefentwurf an Fichte, 3. u. 4. August 1795; Schillers Leben dokumentarisch in Briefen, zeitgenössischen Berichten und Bildern, hrsg. Walter Hoyer, Frankfurt a. M. u. a. 1967, 497.
Schiller an Goethe, 25. Juni 1799; Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, 2 Bde., hrsg. Emil Staiger, Frankfurt a. M. 1977, II, 770.
Von Zeitgenossen wie dem Gelehrten Wilhelm Friedrich Mackensen wurde der Publikation ihre Publikumsferne vorgeworfen: »Gerade in diesem Journale, das dem Deutschen Volke recht eigentlich gewidmet seyn soll, treibt sich ein Häufchen idiosynkratischer Schriftsteller in einem engen Kreis herum, in welchem kein anderer, als ein Eingeweihter treten, und mit dem Volke so wenig gemein haben kann, daß es vielmehr davor, als vor einem Zauberkreise zurückbeben wird.« (Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes 1795, Sp. 939). Die im ersten Erscheinungsjahr 1795 angesetzte Auflage von 2000 Stück konnte nicht gehalten werden, viele Abonnenten sprangen ab. 1797 belief sich die Auflage auf nur noch 1000 Stück und musste schließlich zum Jahresende eingestellt werden. (Vgl. John A. McCarthy, »Literarisch-kulturelle Zeitschriften«, in: Ernst Fischer, Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix [Hrsg.], Von Almanach bis Zeitung. Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800, München 1999, 176–190, hier: 188).
Zwar nimmt Hölderlins Elegie »Der Wanderer« in den Horen mit knapp 6 Druckseiten überdurchschnittlich viel Raum ein (wobei die letzte Seite nur zu einem Viertel bedruckt ist); die meisten Gedichte, ohne Kurzgedichte und Epigramme, haben 3 (und weniger) Seiten. Doch ist dies im Vergleich zu anderen aufgenommenen Gedichten mit ähnlich epischem oder reflexivem Charakter keine übermäßige Länge; Schillers »Elegie« (später »Spaziergang«) erhält 14, das längste der Gedichte erstreckt sich über 30 Druckseiten.
Schiller an Cotta, 9. März 1795; StA VII.2, 31.
Schiller an Hölderlin, 24. November 1796; StA VII.1, 46.
Schiller an Goethe, 30. Juni 1797; StA VII.2, 98.
Schiller an Goethe, 17. August 1797; StA VII.2, 107.
StA VI, 241. Ähnlich schon den Brief vom 20. November 1796; StA VI, 223 f.
An Schiller, 30. Juni 1798; StA VI, 273.
Ebd.
Als Beispiel sei hier Schillers Auftrag an Hölderlin genannt, eine Stelle aus Ovids Phaeton zu übersetzen, womit Schiller Hölderlin – wie Helios seinem allzu kühnen Sohn – einen unmissverständlichen Wink gab, als noch unerfahrener Dichter bescheidener zu sein (vgl. Ulrich Gaier, »Rousseau, Schiller, Herder, Heinse«, in: Johann Kreuzer [Hrsg.], Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2002, 72–89, hier: 81).
Die Kritik an den sie bevormundenden Größen – vor allem Schiller und Goethe sind hier gemeint – führt Hölderlin fort in den Gedichten »An unsre großen Dichter« und (weniger explizit) auch in »An die jungen Dichter« und »Die scheinheiligen Dichter«.
Vgl. Schillers Brief an Hölderlin vom 24. November 1796; StA VII.1, 46 f.
Vgl. den Brief vom 20. November 1796; StA VI, 223.
Vgl. die Anstreichungen und Eingriffe Schillers in: MA III, 84 f.
Hölderlin hielt sich kaum an Schillers Korrekturvorschläge, sondern überarbeitete das Gedicht von Grund auf, so dass man auch von einer Neufassung sprechen könnte; hieran zeigt sich zugleich die Grenze seiner Anpassungsbereitschaft: Während er Korrekturhinweise aufnahm, duldete er offenbar keine Fremdeingriffe, womit die Indignation über Schillers Änderungen an »Der Wanderer« umso verständlicher wird.
An Schiller, 15./20. August 1797; StA VI, 250.
Schiller an Hölderlin, 24. November 1796; StA VII.1, 46.
Siehe FHA 6, 51, V. 3–6, 25 f., 37–40.
FHA 6, 51, V. 27 f.
Vgl. die Abweichungen der Reinschrift (FHA 6, 55–57) vom Entwurf (FHA 6, 51–53).
Schiller hatte Hölderlin im Vorjahr geraten, »wo möglich die philosophischen Stoffe« zu fliehen und »der Sinnenwelt näher« zu bleiben (Brief vom 24. November 1796; StA VII.1, 46).
Siehe FHA 6, 59–61 (differenzierter Text).
Schiller an Goethe, 27. Juni 1797; StA VII.2, 96.
Goethe an Schiller, 28. Juni 1797; StA VII.2, 96.
Ebd.
Ebd., 96 f.
An Goethe, 30. Juni 1797; StA VII.2, 98.
Goethe an Schiller, 1. Juli 1797; StA VII.2, 100.
Aus Hölderlins Antwortbrief geht dies nicht hervor. Dort heißt es nur: »Ich fühle tief, wie treffend Sie meine wahrsten Bedürfnisse beurtheilt haben, und ich folge um so freiwilliger Ihrem Rath, weil ich wirklich schon eine Richtung nach dem Wege genommen habe, den Sie mir weisen.« (StA VI, 249.).
An Schiller, 10./15. August 1797; StA VI, 249.
Ein erstes Zeugnis dieser aggressiven Literaturpolitik Schillers und Goethes sind die im Jahr zuvor gemeinsam verfassten und im Musenalmanach für das Jahr 1797 veröffentlichten »Xenien«, die in zum Teil bitterböser Kritik mit zeitgenössischen Schriftstellern und mit dem Publikum ins Gericht gehen. (Vgl. dazu Peter-André Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 2, München 2000, 203–208.).
Schiller an Goethe, 30. Juni 1797; StA VII.2, 98.
Schiller an Goethe, 17. August 1797; StA VII.2, 107.
Ein Brief Hölderlins an Schiller vom 30. Juni 1798 bleibt unbeantwortet. Der letzte Brief von Schiller, der eine Absage der gewünschten Mitarbeit an der Iduna formuliert, datiert vom 24. August 1799. Auf die beiden folgenden Briefe (vom September 1799 und vom 2. Juni 1801) reagiert Schiller nicht mehr.
Goethe an Schiller, 28. Juni 1797; StA VII.2, 97.
Vgl. Schiller an Hölderlin, 24. November 1796; StA VII.1, 46.
Vgl. »Allegorie2«, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin, New York 1997 ff., I (1997), 40-44, hier: 42. Diese kritische Abwertung des Allegorischen im Namen des Natürlichen, wie sie sich etwa bei Lessing und Mendelssohn, prominent dann vor allem bei Goethe findet, beruht auf einem Verständnis der Allegorie als eines konventionsbedingten willkürlichen und abstrakten Zeichens, dem gegenüber das Symbol als Inbegriff des natürlichen und konkreten Zeichens in seiner Legitimität für den poetischen Gebrauch aufgewertet wurde (vgl. dazu Heinz Schlaffer, »Die Kritik der Allegorie im Zeitalter Goethes«, in: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, 2., erw. Aufl., Stuttgart 1998, 29–38). In diesem Zusammenhang steht die Ablösung des allegorischen Naturgedichts im Paradigma der klassischen Rhetorik durch das lyrische Naturgedicht, das auf dem goethezeitlichen Symbolkonzept basiert, insofern hier Naturphänomene nicht mehr allegorisch, sondern »als Medium punktueller, stimmungshaft-reflexiver und verdichteter Darstellung« genutzt werden (Georg Braungart, »Naturlyrik«, in: Dieter Lamping [Hrsg.], Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte, 2. Aufl., Stuttgart 2016, 138–140, hier: 139).
Vgl. Matthissons Briefe vom 5. September u. 21. Oktober 1805 an Haug; StA VII.3, 553 f.
Vgl. die Erinnerungen Rudolf Magenaus in StA VII.1, 395 f. Von allen weiteren im 17. Band vertretenen Dichtern wurden jeweils mind. 4 Gedichte aufgenommen.
Noch im Sommer 1802 hatte Matthisson nach dem Zeugnis Wilhelm Waiblingers eine verstörende (und vermutlich letzte) Begegnung mit dem gerade aus Bordeaux zurückgekehrten, geistig zerrütteten und äußerlich verwahrlosten Dichter gehabt (vgl. StA VII.3, 356–366), der dann drei Jahre später (im Jahr 1806, als auch der Anthologieband 17 erschien) in das Tübinger Klinikum eingewiesen wurde.
Insgesamt lässt sich eine sehr starke Präferenz für diejenigen Dichter feststellen, »die in seiner Jugendzeit ästhetisch führend waren und ihn geschmacksgeschichtlich entscheidend geprägt haben« (Dieter Martin, »Friedrich Matthissons ›Lyrische Anthologie‹ (1803–1808) im Spannungsfeld von editorialer Aneignung und nationalliterarischer Kanonbildung«, Zeitschrift für Germanistik, NF XXVII (2017), 132–148, hier: 138; für Nachweise: 139). Bis auf eine Reihe von (noch vorromantischen) Gedichten A. W. Schlegels finden sich in Matthissons Anthologie keine Gedichte frühromantischer Dichter und Dichterinnen (wie F. Schlegel, Novalis, Tieck, S. Brentano), jener »neuen Schule«, welcher der Anthologist vermutlich auch die jüngsten Dichtungen Hölderlins (aus der Zeit nach 1800) zuordnete. Der Hölderlinforscher Adolf Beck meint, Matthissons Auswahl lasse »in befremdlichem Maße Wertgefühl vermissen« (StA VII.4, 554). Dies ist restrospektiv, aus Sicht des heutigen – autonomieästhetisch geprägten – Literaturkanons, wohl richtig, im Blick auf die historischen Wertungsverhältnisse jedoch falsch. Dass Matthisson sehr wohl ein – wenn auch gänzlich verschiedenes – »Wertgefühl« besaß, das er seiner anthologischen Auswahl zugrunde legte, und dass dieser ästhetische Kanon sich weitgehend mit den vorherrschenden Geschmacksüberzeugungen deckte, dokumentieren die zeitgenössischen Kritiken, die – bis auf wenige Ausnahmen (Allgemeine Literatur-Zeitung 1807, Bd. 1, Sp. 619; Bd. 3, Sp. 731 f.; Jenaische Allgemeine Literaturzeitung 1807, Bd. 1, Sp. 379 f. u. 382) – die Nichtaufnahme der gerade aufkommenden romantischen Lyrik nicht nur billigten, sondern im Namen des Abwehrkampfes gegen die »Mißgeburten« und den »Unsinn der verrufenen Schule« explizit begrüßten (so die Bibliothek der redenden und bildenden Künste Bd. 1 [1806], 355).
StA VII.2, 484.
Zur Entstehung und den Mitwirkenden an diesem Großprojekt vgl. Maria-Verena Leistner, »Friedrich Matthisson als Herausgeber und Anthologist«, in: Erdmut Jost (Hrsg.), Friedrich von Matthisson (1761–1831). Dichter im Zeitalter der Freundschaft, Halle/Saale 2013, 163–177, hier: 170–172.
Vgl. Erich Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Der Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987, 42 f.; Wolfgang Bunzel, »Almanache und Taschenbücher«, in: Fischer, Haefs, Mix (Hrsg.) (Anm. 33), 24–34, hier: 26 f.
So finden sich in Matthissons Auswahl weder sozialkritische Gedichte Bürgers noch die politischen Oden Klopstocks (vgl. Leistner [Anm. 75], 173).
Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Bd. 70 (1804), 313. Ähnlich die Allgemeine Literaturzeitung 1805, Bd. 3, Sp. 197: »Uebrigens entspricht die äußere Eleganz dieses mit zierlichen Vignetten von Lips ausgestatteten Werks dem Werthe seines Inhalts.« Und die Zeitung für die elegante Welt 1805, Bd. 3, Sp. 121, schrieb, das Werk werde »jeder Privatbibliothek zur Zierde gereichen«. Die beigebundenen, von Johann Heinrich Lips illustrierten antikisierenden Kupfertitel und der schlicht gestaltete Satz in der Antiqua gaben der Sammlung das Gepräge von zeitloser Eleganz und Klassizität, womit der Anspruch auf Repräsentativität und Dauerhaftigkeit unterstrichen wurde (vgl. Martin [Anm. 73], 136). Erworben werden konnte das Werk sicher nur von den oberen Ständen, die auch den Großteil des belletristischen Lesepublikums stellten; auf Druckpapier kosteten die 20 Bände 20 Rtlr.; für die anspruchsvolleren Käufer gab es für 30 Rtlr. eine Vorzugsausgabe auf feinem Velinpapier (vgl. die Angaben in: Bibliothek der schönen Wissenschaften oder Verzeichniss […] Romane, Gedichte, Schauspiele […], hrsg. T. C. F. Enslin, Berlin 1923, 59; Allgemeine Literaturzeitung 1807, Bd. 4, Sp. 473).
Lyrische Anthologie. Herausgegeben von Matthisson, Wien: In Commission bey Anton Doll, 1804–1808 [neu gesetzte, teilw. korrigierte Fraktur-Ausgabe im Klein-Oktav-Format].
Martin (Anm. 73), 136. Schon im Vorfeld der mehrjährigen Vorbereitung der Anthologie äußert sich der befreundete Dichter Lävinus Christian Sander angesichts der (von Johann Heinrich Füssli offenbar bereits zugesagten) Publikation freudig-überrascht: »Lieb war mir die Nachricht, daß eine so große Sammlung dieser Art doch noch Absatz findet« (Brief vom 1. Juni 1800; Friedrich v. Matthissson’s Literarischer Nachlaß nebst einer Auswahl von Briefen seiner Freunde. Ein Supplement zu allen Ausgaben seiner Schriften, Berlin 1832, II, 19).
Trotz subjektiver Akzentsetzungen Matthissons habe, so Leistner, »die Lyrische Anthologie bei dem Prozess der Bildung eines gültigen Kanons deutscher Gedichte langhin eine bestimmende Rolle gespielt« (Leistner [Anm. 75], 173).
So wurden alle weiteren zeitgenössischen Lyriksammlungen in den Besprechungen der Zeit stets an ihr gemessen. Sie habe, so liest man in einer Rezension zum Pantheon der deutschen Dichter (1806), »jede andre Sammlung dieser Art […] überflüssig gemacht« (Allgemeine Literatur-Zeitung, 1807, Bd. 1, Sp. 516); an anderer Stelle ist gar von einer »unübertroffenen und unübertrefflichen Sammlung« die Rede (Bibliothek der redenden und bildenden Künste, Bd. 1 [1806], 346).
Der Freimüthige, 1806, Bd. 1, 381.
Vgl. Hans Braam, Lutz Hagestedt, »Lyrische Wunderkammern der ›Sattelzeit‹: Gedichtsammlungen als Instrument bürgerlicher Kanonstiftung«, German Life and Letters 70/1 (2017), 79–99, hier: 84. Als klassische Sammlung war Matthissons Anthologie offenbar weithin bekannt (»Wer kennt nicht Matthissons lyrische Anthologie […]?«, fragt das Morgenblatt für gebildete Stände Bd. 1 [1807], 289), wofür auch die Tatsache spricht, dass sie in die Bestände einiger Leihbibliotheken aufgenommen wurde. Für Beispiele siehe Georg Jäger (Hrsg.), Die Leihbibliothek der Goethezeit. Exemplarische Kataloge zwischen 1790 u. 1830, Hildesheim 1979, 367 u. 382.
So wird Matthissons Anthologie von einem Rezensenten lobend als »indirecte Satyre in sechszehn Bänden auf die neue Schule« gewertet und die in der romantiknahen Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung erschienene negative Kritik als Auszeichnung angerechnet, die »beynahe soviel werth« sei »als ein Lorbeerkranz« (Bibliothek der redenden und bildenden Künste, Bd. 1 [1806], 353 u. 354). Dem entsprechend fällt auch die Gewichtung der Autoren aus: »Mit 37 Gedichten stehen Gleim (Nr. 34) und Göckingk (Nr. 105) an der Spitze, es folgen Goethe (Nr. 128) mit 33, Hölty (Nr. 119) mit 29, Herder (Nr. 98) mit 28, Klopstock (Nr. 46) und von Salis (Nr. 160) mit je 27, Matthisson (Nr. 159) selbst mit 25 und Schiller (Nr. 156) mit 21 Texten.« (Leistner [Anm. 75], 172.).
Braam/Hagestedt (Anm. 84), 95.
Der Freimüthige 1806, Bd. 1, 382.
Vgl. etwa die Rezensionen in Der Neue Teutsche Merkur, Bd. 3 (1803), 496–499; Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 84 (1803), 80–87; Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Bd. 70 (1804), 302–313; Bd. 71 (1805), 300-309; Allgemeine Literatur-Zeitung 1805, Bd. 3, Sp. 185–190; Bibliothek der redenden und bildenden Künste, Bd. 1 (1806), 346–355.
Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 84 (1803), 82.
So schreibt die Allgemeine Literaturzeitung, Matthisson habe in der Anthologie »eben so viel Sorgfalt für das Vergnügen der Leser, als seinen Kunstsinn bewährt« (1805, Bd. 3, Sp. 187), eine solche Auswahl gelinge nur der »Kunstbegabten Hand« (Sp. 179).
»Matthisson«, Killy Literaturlexikon, 2., vollst. überarb. Aufl., Berlin u. a. 2008 ff., VIII (2010), 45.
Vgl. Alberto Martino, Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756–1914), Wiesbaden 1990, 128, 271, 767; Jäger (Anm. 84), 505, 515 mit Anm. 117.
Kurz (Anm. 24), 129.
Karl Heinrich Jördens, Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten, Leipzig 1808, III, 459.
»Matthisson«, Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversationslexikon), 7. Aufl., Leipzig 1827, VII, 197. Friedrich Bouterwek etwa schreibt: »Wie lieb er dem Publicum geworden ist, beweisen die wiederholten Auflagen seiner Gedichte, ungeachtet der Verhöhnung, mit der einige neuere Kritiker von der sogenannten romantischen Partei ihn herabzuwürdigen versucht haben« (Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts, Göttingen 1801 ff., XI [1819], 429 f.; übereinstimmend z. B. auch: Neuer Teutscher Merkur 1791, Bd. 1, 212; Jördens (Anm. 94), 459; Franz Horn, Die Poesie und Beredsamkeit der Deutschen, von Luthers Zeit bis zur Gegenwart, Berlin 1822 ff., III (1824), 371; Theodor Milde, Über das Leben und die Werke der beliebtesten deutschen Dichter und Tonsetzer, Meissen 1834, I, 146).
Immer wieder wurde dies dem Matthisson’schen Stil bescheinigt: Er habe »viel Annehmliches, viel, was empfindsame, und zumal weibliche Seelen reizet« (Allgemeine Literaturzeitung 1787, Bd. 3, 789) und Matthisson, so A. W. Schlegel, sei der »Liebling[] unserer schwärmerischen Freundinnen der empfindsamen Landschaftsmalerei« (Matthisson, Voß und F. W. A. Schmidt. Eine Zusammenstellung, Kritische Schriften, Berlin 1828, III, 82–121, hier: 82).
Vgl. Ursula A. J. Becher, »Lektürepräferenzen und Lektürepraktiken von Frauen im 18. Jahrhundert«, in: Hans Erich Bödecker (Hrsg.), Lesekulturen im 18. Jahrhundert, Hamburg 1992, 27–42, hier: 38.
J. A. Bergk, Die Kunst, Bücher zu lesen, nebst Anmerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799, 192.
Vgl. z. B. Jördens (Anm. 94).
Martin (Anm. 73), 148.
Vgl. Lyrische Anthologie (Anm. 10), Bd. 11, 147–155. An 13 von insgesamt 33 Gedichten Goethes nahm Matthisson Veränderungen vor; untersucht hat dies Daniel Jacoby, »Goethes und Schillers Verhältnis zu Matthisson«, Goethe-Jahrbuch 28 (1907), 173–191.
»Vorrede« in: Lyrische Anthologie (Anm. 10), Bd. 1, 10 f.
Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 84 (1803), 81.
Ein Beispiel hierfür ist die eigenmächtige Korrektur Hölderlins an einem Gedicht des Dichterfreundes Friedrich Emerich (»An das Schicksal«), dem er die Publikation in dem von seinem Freund Johann Ludwig Neuffer herausgegebenen Taschenbuch für Frauenzimmer von Bildung auf das Jahr 1800 sichern wollte (vgl. StA VI, 341; Texte: StA II, 993 f.).
Im Gegensatz zur heute gängigen Praxis war es »durchaus nicht selbstverständlich, dass die Herausgeber das jeweilige Gedicht in seiner originalen Textgestalt akzeptierten« (Braam/Hagestedt [Anm. 84], 91; zu den editorischen Maximen der Zeit vgl. Dieter Martin, Barock um 1800. Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770 bis 1830, Frankfurt a.M. 2000, 130–133). Texteingriffe waren vielmehr an der Tagesordnung, ja wurden von etlichen Autoren sogar explizit gewünscht, wie einige Zuschriften an Matthisson zeigen (vgl. Leistner [Anm. 75], 172 f.). Beispiele für stark eingreifende Herausgeberschaft sind Karl Wilhelm Ramler (Die Lieder der Deutschen, 1766, später: Lyrische Blumenlese), Herder (etwa dessen Änderungen an Claudius’ Abendlied für die Sammlung der Volkslieder, 1778/79) oder auch Arnims und Brentanos Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1806). Derartige redaktionelle Anpassungen konnten ebenso den anthologiespezifischen Anforderungen an eine gewisse Länge entsprechen wie auch politischen Erwägungen oder der gutmeinenden Idee, die Verse zu ›verbessern‹ (vgl. Braam/Hagestedt [Anm. 84], 91 mit Nachweisen). Dass derartige Eingriffe zumeist nicht mit dem Autor abgestimmt waren, dies aber auch kaum erwartet wurde, hängt letztlich mit dem noch nicht so stark ausgeprägten Autorschafts- und Urheberrechtsbewusstsein zusammen, das sich erst später, befördert durch die juristische Kodifizierung (erstmals 1837 in Preußen), aber auch die Philologisierung des Literarischen, zu einer persönlichkeitsrechtlich verankerten Instanz ausbildete.
Allein 6 der 10 ermittelten Rezensionen stimmen Matthissons Verfahrensweise rundweg zu, 2 halten das Verfahren grundsätzlich für richtig, monieren aber eine nicht immer adäquate Durchführung; dagegen sehen nur 2 Besprechungen die Überarbeitungspraxis vorwiegend kritisch (Jenaische Allgemeine Literaturzeitung 1805, Bd. 1, Sp. 585–589; Der Freimüthige, 1806, Bd. 1, 380 f.). Der Neue Teutsche Merkur rechnet »glückliche Abkürzungen und Veränderungen« zum »vorzüglichsten Verdienst« des Herausgebers (Bd. 3 [1803], 497). Auch der Rezensent der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste lobt das Prinzip der Verbesserungen: zurecht würden Gedichte hier nicht als »unantastbare Heiligthümer«, sondern in »Rücksicht auf die Forderungen des guten Geschmacks« behandelt (Bd. 71 [1805], 303). Die Veränderungen seien mit wenigen Ausnahmen »im Ganzen trefflich gelungen« und stellten »meist wirkliche Verbesserungen« dar, urteilt die Jenaische Allgemeine Literaturzeitung (1807, Bd. 1, 378, 380). Und die Allgemeine Literaturzeitung meint, Matthisson habe hier »eben so viel Sorgfalt für das Vergnügen der Leser, als seinen Kunstsinn bewährt« (1805, Bd. 3, 187). In einigen Besprechungen werden sogar fehlende oder zu nachlässige Korrekturen moniert (z. B. Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 98 [1805], 379–382). Andere Rezensenten wiederum halten das Verfahren grundsätzlich für legitim, kritisieren aber, Matthisson habe zuweilen Lesbares »noch lesbarer zu machen versucht« (Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 84 [1803], 84) und sein »V e r s c h ö n e r u n g s-Trieb« tendiere dahin, den »von ihm umgemodelten Dichter um einen Theil seiner eigentlichen Physiognomie« zu bringen (Bd. 96 [1805], 295, 291 f.); nicht überall seien der »unermüdlich feilenden Hand des Hn. Matthisson« Verbesserungen gelungen, in einige Werke habe er dadurch »etwas Fremdartiges aus seinem eignen Dichtercharakter in die poetische Individualität Anderer […] übertragen« (Allgemeine Literatur-Zeitung 1807, Bd. 3, Sp. 732).
Morgenblatt für gebildete Stände, 1807, Bd. 1, 289.
Vgl. dazu Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl., Paderborn 2003, bes. 227–256; vgl. auch Hans-Martin Kruckis, »Positivismus / Biographismus«, in: Methodengeschichte der Germanistik, hrsg. Jost Schneider, Berlin, New York 2009, 573–596, hier: 576 f. u. 580 f.; Rüdiger Nutt-Kofoth, »Editionswissenschaft«, in: ebd., 109–132, hier: 109 f.
Die vielleicht kritischste Besprechung findet sich in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung 1805, Bd. 1, Sp. 585–589. Nach Meinung des Rezensenten ist die Sammlung, trotz der von Matthisson beanspruchten historischen Ordnung, für Sprachforscher und Kritiker uninteressant: »Denn die Anthologie soll [so Matthisson in der Vorrede zu Bd. 1; T.Ch.] für die lyrische Poesie seyn, ›was eine nach den Schulen geordnete Gemäldesammlung‹ für die Malerey ist, und welcher Kunstfreund würde es gut heißen, wenn die älteren Gemälde eine moderne, oder überhaupt irgend eine Veränderung erleiden sollten?« (Sp. 586).
Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung 1807, Bd. 3, Sp. 732.
Allgemeine Literatur-Zeitung 1807, Bd. 1, Sp. 620.
Neueste poetische und prosaische Werke, Brünn 1820, I, 336.
Lyrische Anthologie (Anm. 10), Bd. 18, II–V. Derselbe Rezensent äußerte dann in der Fortsetzung seiner Rezension allerdings kritische Einwände bezüglich der mangelhaften Umsetzung (vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung 1807, Bd. 1, Sp. 732–735).
Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 70 (1804), 302–313.
Lyrische Anthologie (Anm. 10), Bd. 18, VI.
Ebd., VII.
Martin (Anm. 73), 146.
Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass er bei seiner Korrektur an einer Stelle auf die Flora-Fassung (V. 31) zurückgreift; dort ersetzt er: »gesparte Kraft« durch »gesammelte Kraft« (V. 35).
An Schiller, 28. Juni 1797; StA VII.2, 96.
So unterwarf Matthisson nicht nur die eigenen, vielfach neu aufgelegten Werke dem stetigen Verbesserungsdrang seiner »unermüdlich feilenden Hand« (Allgemeine Literatur-Zeitung 1807, Bd. 1, 732; vgl. auch Jördens [Anm. 94], 460), sondern auch – teilweise zum Unmut der Autoren – die von ihm besorgten Editionen (vgl. dazu Leistner [Anm. 75], 169 f.).
Besonders Ludwig Hölty, welchen Matthisson mit ganzen 29 Gedichten in seiner Anthologie ehrt, wird von den Zeitgenossen immer wieder als Vorbild für Matthissons eigene Lyrik genannt (vgl. Allgemeine Literaturzeitung 1787, Bd. 3, 789; Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 98 [1805], 381; Bouterwek [Anm. 95], 429 f.; Nachträge zu Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste, Leipzig 1792 ff., VIII [1806], 205).
Vgl. dazu Jost Schneider, Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Ausdifferenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland, Berlin, New York 2004, 229 f.; Hans-Joachim Hinrichsen, »Das Kunstlied als musikalische Lyrik«, in: Nicola Gess, Alexander Honold (Hrsg.), Handbuch Literatur & Musik, Berlin, Boston 2017, 386–401, hier: 387.
Vgl. z. B. Bergk (Anm. 98), 192, der Matthissons »zarte[s] Gefühl des Schicklichen« hervorhebt.
Es waren offenbar gerade die »Lieblichkeit« (Der Freimüthige, 1805, Bd. 1, 81) und das »Glatte und Abgerundete« der Matthisson’schen Lyrik, was sie in den Augen vieler Zeitgenossen »so gefällig« machte (Jördens [Anm. 94], 459).
Lyrische Anthologie (Anm. 10), Bd. 18, II.
Dies lässt sich exemplarisch an den Gedichtlängen im 17. Band der Anthologie (in den Hölderlins Gedicht aufgenommen ist) ablesen: Während die meisten Gedichte (78) sich auf maximal 3 (meistens weniger) Druckseiten belaufen, finden sich darin nur relativ wenige längere (15 Gedichte mit 4–5 Seiten) und vereinzelt sehr lange (meist episch-erzählende) Gedichte (7 Gedichte mit mehr als 5 Seiten; das längste ist mit 17 Druckseiten ein Gedicht von A. W. Schlegel). Mit knapp sechs Druckseiten war Hölderlins Gedicht damit bereits überdurchschnittlich lang.
Diesen Gedanken führt Herder in dem Aufsatz »Tithon und Aurora« aus, auf den Hölderlin in V. 45 (Horen-Fassung) anspielt.
Grimms Deutsches Wörterbuch vermerkt, das Wort »veste« werde »allmählich ein wort der gehobenen sprache« (»veste«, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. in 32 Teilbdn., Leipzig 1854–1961, XXVI, 19).
Im Horen-Druck steht hier »sich«, ein von Matthisson als solcher erkannter Setzfehler.
Bei Matthisson selbst taucht die Laube als Bild im Zusammenhang mit dem Thema Kindheit auf: als »traulich[e]« »Laube« in »Die Kinderjahre« (V. 4).
Lesen im Freien geschah zumeist nicht in der ›freien Natur‹, sondern in der stilisierten Natur des Parks oder Gartens (vgl. Schön [Anm. 76], 149).
Vgl. den von Hölderlin für den Druck getilgten V. 24 im Entwurf: »[…] aber du gabst kaltes Entsezen dafür« (FHA 6, 51).
Vgl. Schiller (Anm. 29).
Schon Goethe hatte Schiller gegenüber angemerkt, »im Versmaß wäre noch hie und da einiges zu thun« (28. Juni 1797; StA VII.2, 97).
Im Entwurf hieß es schon im ersten Vers: »Glühend stand ich […]« (FHA 6, 51).
Besonders in seiner späteren, emanzipierten Lyrik setzte Hölderlin bewusst auf derartige Mehrdeutigkeitseffekte; vgl. dazu Tobias Christ, »Nachtgesänge«. Hölderlins späte Lyrik und die zeitgenössische Lesekultur, Paderborn 2020, bes. Kap. B.2.3.
Auch hier zeigt sich erneut die Bedeutung des Herder’schen Verjüngungsgedankens, auf den Hölderlin in V. 45 anspielt.
Wie schon bei Schiller, doch in weitaus stärkerem Maße, zeigt sich auch hier die für die Zeit paradigmatische Allegorieabwehr. Die Ausbildung einer »empfindsamen Beschreibungstradition« folgte darin dem neueren, seit der Aufklärung (u. a. durch B. H. Brockes) etablierten Modell von Naturdichtung, in dem die auf Affektevokation oder geistigen Sinn zielenden topischen und allegorischen Elemente durch die »Erzeugung visueller Illusionen« abgelöst wurden (»Natur/Landschaft«, Fischer Lexikon Literatur, Frankfurt a.M. 1996, III, 1417–1433, hier: 1427).
Martin (Anm. 73), 140.
Ludwig Wachler, Vorlesungen über die Geschichte der teutschen Nationallitteratur, Frankfurt a. M. 1818, II, 252.
In dessen antiklassizistischer Satire auf Matthisson, Schmidt und Voß (Wettgesang dreier Poeten, V. 3 f.) heißt es: »Matthisson. / Stolz prangt mein Lied als Marmorgruppe, / Und täuschet fern den Blick, als leb’s.« (Schlegel [Anm. 96], 108). Ähnlich konstatiert auch Franz Horn an Matthissons Lyrik zuweilen »Künstlichkeit und fast ängstliche Marmorglätte« (Horn [Anm. 95], 470).
Zeitung für die elegante Welt 1803, Sp. 587 f.
Vgl. Gaier (Anm. 42), 82.
Vgl. dazu Peter Szondi, »Überwindung des Klassizismus. Hölderlins Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801«, Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1970, 95–118.
StA VI, 255.
Ebd., 254.
Vgl. Ulrich Gaier, Hölderlin. Eine Einführung, Tübingen, Basel 1993, 10.
Vgl. zur Problematik Christ (Anm. 136), bes. Kap. B.2 und B.3.2.
Vgl. Schiller (Anm. 133), 1004 f.
Gedichte von Friedrich Matthisson, Tübingen 1811, I, 191–193.
Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Bd. 70 (1805), 348.
Goethe an Schiller, 28. Juni 1797; StA VII.2, 96.
FHA 6, 69, V. 1–4.
Vgl. die Rezensionen zu den späten Veröffentlichungen Hölderlins in StA VII.4, 16–34, sowie Christ (Anm. 136), 297–304.
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Christ, T. »letzte Politur«?. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 94, 465–500 (2020). https://doi.org/10.1007/s41245-020-00120-4
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