Zusammenfassung
Der finale Dialog zwischen Kriemhild und Hagen in der Schlussszene der 39. Aventiure im Nibelungenlied – von der Forschung bis heute irreführend als »2. Hortforderungsszene« bezeichnet – wird als eine psychologisch basierte Finte Hagens gedeutet, die nicht nur eine individuelle Innensphäre der Figur Kriemhilds verifiziert, sondern zugleich das furiose Ende der burgundischen Nibelungen kohärent motiviert. Das Nibelungenlied erscheint in diesem Kontext als literarisches Zeugnis eines zeitgenössischen Ringens um politische Stabilität und traditionelle Wertvorstellungen, das besonders über die Figurenrolle Dietrichs im Spannungsfeld heroischer Gewaltverherrlichung und höfischer Interessenwahrung problematisiert ist.
Abstract
The final dialogue between Kriemhild and Hagen in the closing scene of the Nibelungenlied’s 39th Aventiure – to date falsely designated as the second »Hortforderungsszene« – is here interpreted as a psychological feint of Hagen, which not only verifies the individual interior life of Kriemhild but also provides a coherent motivation for the stirring end of the Burgundian Nibelungen. In this context, the Nibelungenlied appears as a literary testimony of a contemporary struggle about politically stability and traditional moral concepts, which is problematized, first and foremost, via the figure of Dietrich, caught in a conflict between the heroic glorification of violence and the protection of courtly interests.
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I.
Der gerade einmal 6 Strophen umfassende finale Dialog zwischen Kriemhild und Hagen in der Schlussszene der 39. Aventiure im Nibelungenlied, in dessen unmittelbarer Folge die nächste Strophe die Enthauptung Hagens schildert, ist bis heute Gegenstand einer Forschungskontroverse.Footnote 1
Dô gie diu küneginne, dâ si Hagenen sach. 2367
wie rehte fîentlîche si zuo dem helde sprach:
»welt ir mir geben widere, daz ir mir habt genomen,
sô muget ir noch wol lebende heim zen Burgonden komen.«
Dô sprach der grimme Hagene: »diu rede ist gar verlorn, 2368
vil edeliu küneginne. jâ hân ich des gesworn,
daz ich den hort iht zeige, die wîle daz si leben
deheiner mîner herren, sô sol ich in niemene geben.«
»Ich bringez an ein ende«, sô sprach daz edel wîp. 2369
dô hiez si ir bruoder nemen den lîp.
man sluoc im ab daz houbet; bî dem hâre si ez truoc
für den helt von Tronege. dô wart im leide genuoc.
Alsô der ungemuote sînes herren houbet sach, 2370
wider Kriemhilde dô der recke sprach:
»du hâst iz nâch dînem willen z’einem ende brâht,
und ist ouch rehte ergangen, als ich mir hête gedâcht.
Nu ist von Burgonden der edel künec tôt, 2371
Gîselher der junge unde ouch her Gêrnôt.
den schaz den weiz nu niemen wan got unde mîn:
der sol dich, vâlandinne, immer wol verholn sîn.«
Si sprach: »so habt ir übele geltes mich gewert. 2372
sô will ich doch behalten daz Sîfrides swert.
daz truoc mîn holder vriedel, dô ich in jungest sach,
an dem mir herzeleide von iuwern schulden geschach.«
Si zôh iz von der scheiden, daz kund er niht erwern. 2373
dô dâhte si den recken des lîbes wol behern.
si huob ez mit ir handen, daz houpt si im ab sluoc.
daz sach der künec Etzel: dô was im leide genuoc.
Die Ambiguität dieses Dialogs wird schon in den ersten Worten Kriemhilds deutlich und hat eine ganze Reihe von Fragen aufgeworfen. Zunächst klingen sie tatsächlich wie ein Angebot an Hagen, doch noch davonkommen zu können. Gibt es für Kriemhild tatsächlich eine Alternative zum Rachevollzug an Hagen? Kann diese aus ihrer Goldgier resultieren, als Ausdruck bedingungslosen Machtstrebens? Fordert sie tatsächlich zum zweiten Mal von Hagen den Hort? Ist damit der Versuch verbunden, Hagen auch als Verräter an seinem Herrn vorzuführen? Und was kann Hagen motivieren? Die Hoffnung auf ein Davonkommen? Sich um des Nachruhms willen als Vollstrecker und Treuhänder des Burgundenuntergangs zu gerieren und sein Ende möglichst eindrucksvoll zu inszenieren? Oder sucht er selbst im letzten Augenblick – und sei es auch nur mit Worten – Kriemhild noch zu übertrumpfen?
Schließlich geht es um die Frage nach der Intention des Epikers, wie er das Epos in seiner sich dramatisch steigernden Spannungskurve in einem letzten Gipfel zu Ende führt.
Dieser Beitrag will mit einer modifiziert psychologisierenden, die »Grenzen des Wahrscheinlichen«Footnote 2 wahrenden Interpretation des letzten Dialogs der beiden Antagonisten zeigen, dass Hagen mit einer letzten Finte Kriemhild zu einem finalen Racheexzess verleitet, der sie endgültig um eine rechtmäßige Genugtuung für das ihr zugefügte leit bringt. Dabei zeigt die Figur Kriemhilds eine besondere Wirkmächtigkeit im unmittelbaren Geschehen. Der Epiker hat an ihr erste Protoformen von Subjektivität und individueller Reflexion entwickelt und handlungsmotivierend eingesetzt.Footnote 3 Anhand der Schlussszene kann gezeigt werden, wie sich diese individualpsychologische Disposition mit dem finalen Geschehen verbindet und damit verifiziert wird.
Dazu sollen zunächst die diese Szene determinierenden Vorgaben präsentiert werden (II), um daran eine Deutung zu entwickeln, in der die Szene nicht mehr als »scharfer Handlungsbruch« erscheint (III). Gleichzeitig soll gezeigt werden, dass das Epos ein zeitgenössisches Rechts- und Werteverständnis widerspiegelt (IV), was im Scheitern Dietrichs als instrumentalisierter Friedensbote einen ganz besonderen Ausdruck findet (V).
II.
Um den finalen Dialog zwischen Kriemhild und Hagen im Gipfelpunkt des Geschehens deuten zu können, sind die ihn bestimmenden Fakten zu rekapitulieren. In der Forschung wird die Frage diskutiert, wem die Hauptrolle in dieser verbalen Konfrontation zufalle.Footnote 4 Dies zu entscheiden, ist nicht leicht. Auf der einen Seite die vom Triumph über den verhassten Mörder Siegfrieds erfüllte Kriemhild mit scheinbar unbegrenzter Handlungsfreiheit, auf der anderen Seite der verwundete und gefesselt am Boden liegende Königsvasall Hagen, den Tod vor Augen. Doch die Szene trügt: Noch ist die Handlung nicht vollzogen, das Ringen zwischen den beiden nicht entschieden, und wenn der Epiker tatsächlich die Frage Kriemhilds als »kalkulierte Unbestimmtheit« erscheinen lassen wollte, so lässt die damit verbundene Ergebnisoffenheit das letzte persönliche Kräftemessen beider Schlüsselfiguren auf Augenhöhe geschehen.Footnote 5 Es geht um nichts Geringeres als die Gestaltung des sich lange anbahnenden und dramatisch zuspitzenden Rachevollzuges. Was wird mit den beiden letzten burgundischen Helden geschehen und vor allem wie wird es geschehen?
Der szenische Ablauf wird erzählstrategisch auf das Wesentliche reduziert.Footnote 6 Unvermittelt stellt der Erzähler fest, dass Kriemhild Gunther das Leben nehmen lässt, von wem auch immer, und dass sie das abgeschlagene Haupt Gunthers an den Haaren vor Hagen bringt. In wenigen Strichen wird die Szene in einem kaum zu überbietenden Erzähltempo skizziert und dem Höhepunkt der Rachehandlung, der Enthauptung Hagens, zugetrieben.Footnote 7 Mitgerissen von der rasanten Abfolge im Duell der beiden Zentralfiguren sind die Details für das Auditorium weder wahrnehmbar noch entscheidend. Der Epiker fokussiert die Aufmerksamkeit kompromisslos auf das jetzt stattfindende »Machtspiel mit kalkulierten Doppeldeutigkeiten«Footnote 8, das in ein furioses Finale führt.Footnote 9
Damit sind nochmals die Bedingungen aufzurufen, die für diesen letzten Schlagabtausch der beiden Hauptfiguren ausschlaggebend sind. Das gilt zunächst für Hagen. Er ist der Einzige, der von der Gewissheit erfüllt ist, dass die Burgunden habent den tôt an der hant,Footnote 10 als sie sich zum Fest im großen Saal der Etzelburg versammeln. Ihm ist der bevorstehende Untergang von den merwîp nicht nur unmittelbar offenbart, sondern auch ausführlich erläutert worden. (NL 1541,4)
Er verinnerlicht diese Prophezeiung geradezu und zerschlägt schon an der Donau demonstrativ die einzige verfügbare Fähre.Footnote 11 Hagen handelt von nun an als Heros, der im unabwendbaren Untergangsgeschehen nur noch höchsten Ruhm und Ehre zu gewinnen sieht.Footnote 12 Zwar ist die Forschung von dem Gedanken eines hier zur Wirkung gelangenden »germanischen Schicksalsglaubens«, der die Katastrophe unabwendbar erscheinen lässt, abgerückt, der »Anschein von Schicksal« wird aber durch eine Vielzahl unterschiedlichster Vorausdeutungen zweifelsohne geweckt und lebendig gehalten.Footnote 13
Wenn wir Hagens Gesprächstaktik gegenüber seiner Widersacherin nachvollziehen wollen, ist diese Wahrnehmung nicht unbeachtlich: Hagen handelt jedenfalls in der Gewissheit, dass Gunthers und sein eigenes Ende besiegelt ist.Footnote 14 Jeglicher Gedanke, noch mit dem Leben davonzukommen, wäre für Hagen als Erster Kronvasall weder vorstellbar noch angesichts der in der Ablehnung von Kriemhilds Schonungsangebot ihm gegenüber demonstrativ gezeigten triuwe durch die Burgundenkönige vor dem Saalbrand möglich. Im letzten Akt der Auseinandersetzung kann es ihm also nur darum gehen, seiner Todfeindin das Konzept ihres Rachevollzuges so weit wie möglich zu durchkreuzen.
Kriemhild ist von Anfang an von dem Wunsch beseelt, den Tod Siegfrieds an seinem Mörder zu rächen: wesse ich, wer iz het getân, ich riet im immer sînen tôt. (NL 1012,4)Footnote 15 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dies zu Kriemhilds zentralem Lebensmotiv wird. Lange ist sie darum bemüht, Hagens Schuld zu offenbaren, was mit der Bahrprobe beginnt und in seinem öffentlichen Bekenntnis gipfelt, derjenige zu sein, der Sîfriden sluoc. (NL 1790,2)Footnote 16 Er hat zu allererst ihre Rache zu fürchten und dessen ist er sich auch durchgängig bewusst. Sie sind zu Todfeinden geworden, zwischen denen es keinen Ausgleich geben kann.Footnote 17 Kriemhilds Aussöhnung mit Gunther ist Teil ihrer bis dahin rechtskonformen Rachekonzeption und fokussiert diese auf Hagen.Footnote 18
Mit ihrem Aufstieg zur Hunnenkönigin gelangt sie in die Position, diese Rachehandlung zu vollziehenFootnote 19, und diesem Ziel ordnet sie alles unter. Kriemhild ist die Zentralfigur des Liedes und bleibt es bis zur letzten Szene. Das wird auch in der Ausgestaltung der Figur mit einer »individuellen Innensphäre« deutlich, worin »eine Ablösung einer subjektiven Sphäre von der objektiven Form« Ausdruck findet, wie es sie in der mittelalterlichen Literatur bis dato nicht gegeben hat.Footnote 20
Dem widerspricht es nicht, dass Hagen als das personifizierte Ziel ihrer Rache vor allem in der finalen Dialogszene, selbst noch in Fesseln, als der aller beste degen mit Kriemhild um den Ausgang ihres tödlichen Duells in vergleichbar zentraler Position zu ringen vermag.Footnote 21 Das zeigt sich besonders darin, dass es ihm gelingt, die Gesprächsführung inhaltlich an sich zu ziehen.
Damit kommt der Nibelungenhort ins Spiel.Footnote 22 Diese einstige Morgengabe Siegfrieds für Kriemhild symbolisiert vor allem ihre emotionale Bindung. Nur einmal geht es um den materiellen Wert, als Kriemhild damit in Worms Rachehelfer anzuwerben begann und so eine erhebliche Gefahr für die Burgunden zu werden drohte. Mit der Versenkung im Rhein durch Hagen verschwindet der Hort als reales Objekt für alle Zeit aus dem geschilderten Geschehen und ist somit »handlungslogisch entbehrlich«.Footnote 23 Kriemhild ist mit ihrem Aufstieg zur mächtigsten Königin ihrer Zeit auf den Nibelungenschatz nicht mehr angewiesen. Er bleibt aber symbolisch präsent in Erinnerung an die ihr von Hagen mit dessen Wegnahme im Konsens mit ihren Brüdern zugefügte »demütigendste Erfahrung.«Footnote 24 Für Hagen immer nur ein Mittel, nie das Ziel seines Handelns, symbolisiert seine Wegnahme für Kriemhild in der damit für sie verbundenen Ohnmacht zur Rache die tiefste, jemals persönlich erfahrene Schmach.
Darin zeigt sich der seelische Innenraum Kriemhilds, der ihre Affekte zu Handlungsantrieben ihres Tuns hervorbringt. Dieser »seelische Freiraum« lokalisiert sich in ihrem herze. Dort ist ihr unerbittliches Rachestreben verankert, das sich aus ihrer herzensliebe zu ihrem holden vriedel speist. Zwischen Kriemhild und Siegfried wird eine Liebesbeziehung gezeigt, die sich deutlich von den gesellschaftlich normierten Bindungen zwischen Brünhild und Gunther, Kriemhild und Etzel und auch Dietlinde und Giselher unterscheidet. Auch wenn das ursprüngliche Werbungsbegehren Siegfrieds aus einer dynastischen Konvenienz und einem höfischen Comment entspringt, verwandelt sich dies höfische ritualisierte Minnegeschehen schon bald in eine tiefempfundene herzensliebe, die zuerst an der Figur Siegfrieds aufscheint und sich bis zur Hochzeit auch bei Kriemhild nachhaltig ausprägt.Footnote 25 Entsprechend stark ist dann auch ihr herzen jâmer und herzeleit, das weit über die höfischen Trauerkonventionen hinausgeht.Footnote 26 Die Kriemhildfigur weist somit eine ihr vom Epiker zugewiesene individualpsychologische Dimension auf, die das Geschehen wirksam motiviert und die von Hagen in nahezu allen persönlichen Begegnungen mit ihr kühl kalkulierend immer wieder instrumentalisiert wird.Footnote 27
So wird der Hort exemplarisch zum »Vehikel«, Kriemhild über ihre affektive Innerlichkeit zu fassen und sie einer rationalen Selbstkontrolle zu entziehen.
III.
Das umreißt die Determinanten, unter denen die Rächerin und der Mörder in die finale Auseinandersetzung eintreten. Dass Dietrich die beiden letzten Burgunden Kriemhild und nicht Etzel ausliefert, ist vom Epiker bewusst motiviert und konsequent auf den dramatischen Gipfelpunkt der tragisch sich auflösenden Rachehandlung ausgerichtet,Footnote 28 und wird von ihm vorausdeutend anmoderiert:
daz ir sît dewedere den andern nie gesach,
unz si ir bruoder houbet hin für Hagenen truoc.
der Kriemhilde râche wart an in beiden genuoc. (NL 2366, 2. f.)
Damit ist das Geschehen vom Ergebnis her zwar beschrieben, aber die Spannung wird damit nicht wesentlich vermindert, denn was geschehen wird, ist dem Publikum längst vor Augen. Offen ist das Wie und darauf sind die letzten Strophen fokussiert.
Die lancræche verfügt jetzt über scheinbar unumschränkte Handlungsfreiheit und ist so aus ihrem herzen heraus affektiv dominiert, dass sie ihre Gier nach Genugtuung und ihr damit einhergehendes Überlegenheitsgefühl kaum zu bändigen vermag, als sie Hagen rehte fîentlîche voll Ironie und Häme anspricht:
welt ir mir geben widere, daz ir mir habt genomen,
sô muget ir noch wol lebende heim zen Burgonden komen. (NL 2367,3 f.)
Nach so vielen Jahren muss sie ihr Anliegen nicht deutlicher fassen, und nach dem öffentlichen Schuldeingeständnis Hagens, der Mörder Siegfrieds zu sein (NL 1790, 2), kann auch nicht mehr der geringste Zweifel bestehen, was Kriemhild zum Ausdruck bringen will: Es ist Siegfried, der ihr genommen wurde, und seinen Tod zu rächen ist ihr einziges Begehren.Footnote 29 Kein Gedanke an einen Hort, weder offen noch verdeckt.Footnote 30
Wie ist also Kriemhilds Aussage zu deuten? Schon früh hat Werner Schröder dazu die Antwort geliefert, wenn er feststellt, Kriemhild fordere ausschließlich ihren ermordeten Gatten zurück und »damit etwas absolut Unmögliches.«Footnote 31 Joachim Heinzle sieht darin die zweifellos »eleganteste Lösung«, zeigt sich aber von ihrer Substantiierung durch Schröder im Verweis auf die von Dietrich ins Spiel gebrachte Möglichkeit, Hagen könne Kriemhild doch noch ergetzen, nicht überzeugt.Footnote 32
Folgt man aber Schröders Interpretation von Kriemhilds Aussage, ergeben sich aus dieser Prämisse neue Perspektiven für eine Deutung der Szene. Kriemhild provoziert Hagen aus ihrer Position der Stärke demonstrativ ironisierend: Da du mir Siegfried nicht wiedergeben kannst, wirst du sterben!Footnote 33 Hagen vermag das nicht zu überraschen, denn damit rechnet er längst. Deshalb setzt er dieser Racheansage seinerseits eine Provokation entgegen, deren Wirksamkeit er sich sicher sein darf: die Erinnerung an den Nibelungenhort. Schon bei der ersten Begrüßung im Hunnenland hatte er Kriemhild dazu gebracht, die Sprache auf ihn zu bringen und letztlich seine Rückgabe zu fordern,Footnote 34 worauf Hagen mit dem Hinweis,
den hiezen mîne herren senken in den Rîn
dâ muoz er wærliche unz an daz jungeste sîn, (NL 1742,3 f.)
Kriemhild eine vil manigen trûrigen tac bereiten konnte. Hagen vitalisiert damit gezielt die in dieser Figur angelegte Sphäre subjektiver Empfindlichkeit. Er akzentuiert nicht nur den Hortraub als wirksamsten Reiz in Kriemhilds herzen jâmer, sondern steigert diese Provokation zusätzlich mit dem Verweis auf Siegfrieds Schwert, das aus diesem Schatz stammt und das er als Trophäe des Sieges über Siegfried für sich behalten hatte:
daz swert an mîner hende des enbringe ich iu nieht. (NL 1744,4)
Daran anknüpfend pariert Hagen Kriemhilds Eröffnung nicht nur höchst hintersinnig, sondern ergreift zugleich geschickt nüchtern kalkulierend die Gesprächsinitiative.
Zunächst leitet er seine Replik in der Anrede ironisch konterkarierend und ebenso offen mit der Feststellung ein:
diu rede ist gar verlorn, vil edeliu küneginne. (2368, 1 f.)
Er antwortet so durchaus noch im Sinne ihrer Fragestellung Siegfried betreffend, wenn er damit andeutungsweise zugibt, diesen sicherlich nicht Kriemhild wiedergeben zu können. Raffiniert wechselt er unvermittelt den Gesprächsgegenstand und thematisiert den Nibelungenhort, verbunden mit der ebenso unvermittelt in den Raum gestellten provokativen Bedingung, ihr den Hort nicht zu entdecken, solange einer seiner Herren noch lebe.
Hagen hat seinen Pfeil absichtsvoll ins subjektive Zentrum von Kriemhilds herzen jâmer gesetzt.Footnote 35 Nicht mehr die Mordtat an Siegfried steht jetzt im Mittelpunkt, sondern die mit dem Hortraub verbundene persönliche Demütigung Kriemhilds. Und hier setzt Hagen den Hebel an, indem er Kriemhild suggeriert, es könnte noch dazu kommen, dass sie erführe, wo der Hort verborgen sei. Hagen weckt so bei ihr die unerwartete Perspektive – nicht nach dem GoldFootnote 36 – sondern über die Preisgabe des Hortverstecks, ihm ihre Morgengabe wieder abzujagen und damit – zumindest in fiktiver Form – auch diese subjektiv empfundene Schmach zu tilgen. Diesen Affekt sucht Hagen mit seinem fingierten Vorstoß zu bedienen, um Kriemhild von einer »geradlinigen Rachehandlung« abzubringen.Footnote 37 Von der vage in Aussicht gestellten Preisgabe des Hortverstecks und von der damit verbundenen Vorstellung einer Wiedergutmachung der ihr zugefügten Schmach verführt, übersieht sie, affektiv überwältigt, die damit verknüpfte Bedingung, Gunther, mit dem sie einen Sühneausgleich beschworen hatte,Footnote 38 töten zu müssen. Darüber hinaus mag sie die Vorstellung zusätzlich angestachelt haben, Hagen mit seinem eigenen »Angebot« dreifach zu treffen. Zum einen mit der Offenbarung des Hortverstecks den Schatz preisgebend sie diesbezüglich doch noch zu ergetzen, zum anderen den Tod seines Königs zu verschulden, um schließlich, statt mit dem Leben davonzukommen, doch noch für den Mord an Siegfried den Tod zu finden. In ihrem subjektiv übersteigerten Rachebegehren vermag sie die Falle nicht zu sehen, die ihr Hagen stellt: die Tötung Gunthers und der damit verbundene »Bruch der mit dem heiligen Kuss besiegelten Sühne.«Footnote 39
Kriemhild handelt im von Hagen provozierten Bewusstsein, nicht nur ihre Rache an dem Mörder Siegfrieds zu vollziehen, sondern mit der Preisgabe des Hortverstecks, sich die persönliche Genugtuung zu verschaffen, Hagen vollständig überwunden zu haben.Footnote 40 Mit den Worten Ich bringez an ein ende (NL 2369,1) lässt sie Gunther töten, und als bedürfe es noch eines Beweises ihrer emotionalen Überwältigung, trägt sie dessen Kopf an den Haaren vor die Augen Hagens.
Dieser sieht seine Finte von Erfolg gekrönt und offenbart ihr, sie jetzt herabsetzend auch noch duzend, höchst ironisch, dass sie – nach ihrem »eigenen« Willen (NL 2370,3) – genauso handelte, wie er es sich vorgestellt habe. Hagen ist es erneut gelungen, sie zu instrumentalisieren. Mit den passivischen Worten ist ouch rehte ergangen, (NL 2370,4) macht er Kriemhild deutlich, dass ihr von ihm etwas widerfahren ist und keineswegs ihre eigene rationale Willensentscheidung zugrunde lag.
Zugleich erneuert er triumphierend die Demütigung der Hortwegnahme, wobei er sich im Wissen um den Schatz mit dem Höchsten gleichstellend ein weiteres Register zieht.
den schaz den weiz nu niemen wan got unde mîn:
der sol dich, vâlandinne, immer wol verholn sîn. (NL 2371,3 f.)
Schaz und hort werden vom Epiker synonym gebraucht und meinen bis zu dieser Szene den reinen materiellen Wert als varnde guot.Footnote 41 Indem Hagen sich im Wissen um den Aufbewahrungsort des Schatzes mit Gott verbindet, wird auch eine sakrale Dimension insinuiert, die sich im Wort vom himelhort ausprägt.Footnote 42 Dieser »himmlische Schatz«, den Walther von der Vogelweide in seinem Spruch über den stuol ze Rome (L33,21) zur Beute des Papstes erklärt, ist als »Schatz der kirchlichen Gnadenmittel«,Footnote 43 und in toto als »ewige Seligkeit«Footnote 44 zu deuten. Hagen ist nun niemand, dem es um religiöse Werte geht. Er dient keinem Gott, sondern nur seiner weltlichen Verpflichtung als erster Vasall der Krone. In der bedingungslosen Erfüllung dieser höchsten Pflicht der Tronegære sîte, NL 699,2 sieht er sein »Seelenheil«. Und das ist die Ebene, auf der er glaubt, vor Gott bestehen und sich mit ihm verbünden zu können. Damit macht er deutlich, dass sein Verhalten in dieser Rolle nur als wahrhaftig und ohne Falsch zu werten ist, während Kriemhild als »teuflisch«, d. h. »verschlagen und falsch« Handelnde erscheint, der er, sie so von sich abgrenzend, gotes hulde absprechen kann. Hagen personifiziert Kriemhild also nicht als Teufelin, sondern unterstreicht ihr »als Christin, die nie eine Frühmesse versäumt« (NL 1004,3) habe, höchst unchristliches Verhalten. Im gleichen Sinne hat auch Dietrich als Erster Kriemhild so bezeichnet, die sich darin auch genauso wiedererkannte und deshalb schamte sich vil sêre daz Etzelen wîp. (NL 1749,1)Footnote 45
Hagen verschafft sich damit einen weiteren Trumpf im Ringen mit Kriemhild, der höchst subtil zur Wirkung gelangt. Müllers Charakterisierung der Szene als »Machtspiel kalkulierter Doppeldeutigkeiten« findet hier einen weiteren rhetorischen Höhepunkt.Footnote 46
Damit trifft er Kriemhild mit Blick auf den Hortraub zum wiederholten Male tief, diskreditiert sie zugleich in ihrem übersteigerten Rachebegehren als christlich-moralisch Verkommene und geriert sich so in der totalen persönlichen Niederlage noch als Sieger.Footnote 47 Indem Kriemhild für Hagen absehbar emotional auf die ihr zugefügten maßlosen und provozierenden Demütigungen reagierte, trat sie »den Triumph, den sie in den Händen hielt, an ihren Todfeind ab.«Footnote 48
Kriemhild scheint zu ahnen, dass dem so ist, als sie ihre letzten Worte spricht:
so habt ir übele geltes mich gewert. (NL 2372,1)
Gelt bedeutet nach Benneke-Müller-Zarnke mit Verweis auf diese Stelle »eine zahlung die man leistet, in hinsicht sowohl auf den der zahlt, als auf den der empfängt.«Footnote 49 Damit kann sie auch ausdrücken: Ihr habt es mir übel heimgezahlt!Footnote 50
Ernüchtert besinnt sie sich auf ihr eigentliches Recht zur Rache für ihren geliebten Siegfried. Ein einziges ihn repräsentierendes Symbol, Balmunc, ist für sie noch greifbar. Indem sie Siegfrieds Schwert aus der Scheide zieht, bemächtigt sie sich doch noch ihrer Morgengabe. Im finalen Streich des Rachevollzugs vereinen sich Siegfried, der Hort und Kriemhild ein letztes Mal. Im Schwert Balmunc, das in der Schwertleite mit seinem Träger zu einer unauflöslichen Einheit verschmolz, »ist es – modo allegorice – Siegfried, der Hagen tötet« und der damit metaphorisch endgültig seinen Lebenskreis von Sonnenwende zu Sonnenwende beschließt.Footnote 51
Hagens Tod durch Siegfrieds Schwert ist damit nicht mehr Kriemhilds gerechte Rachetat, sondern demonstriert in ihrer blutrünstigen Unmittelbarkeit zum letzten Mal ein rechtsverletzendes Übermaß, sodass selbst Etzel feststellen muss:
swie vîent ich im wære, ez ist mir leide genuoc. (NL 2374,4)
Mit dieser letzten Unmäßigkeit bringt Kriemhild sich endgültig um ihr legitimes Racherecht und motiviert so im »Zusammenbruch der höfischen und rechtlichen Ordnung« im völligen Untergang ihres burgundischen Personenverbandes ihre physische Vernichtung durch Hildebrant ohne jegliche Rechtsbefugnis.
IV.
»Recht in der Dichtung« steht im Dienst einer dichterischen KonzeptionFootnote 52 und spiegelt im Nibelungenlied die aktuellen Rechtsvorstellungen um 1200 wider.Footnote 53 In diesem Recht verstricken sich seine Protagonisten und werden in einem Maße schuldig, dass sie darüber dem Tod anheimfallen müssen. Hagen handelt nach vasallischem Recht, wenn er das Leid seiner Königin an Siegfried rächt.Footnote 54 Dass er dabei zwangsläufig zum Meuchelmörder wird, ist unvermeidlich, da er Siegfried auf andere Weise nicht beikommen kann. Damit wird er seinerseits Ziel einer Rachehandlung, welche Kriemhild in so unerbittlicher Konsequenz verfolgt, dass sie selbst wiederum im Übermaß ihres Rachevollzuges zur Rechtsbrecherin mutiert. Gleichzeitig werden beide Antagonisten zu einer ganzen Reihe weiterer Rechtsbrüche, besonders gegen die triuwe, gezwungen, worin sich letztlich alle Beteiligten verstricken.Footnote 55 Der Epiker thematisiert so implizit »Aspekte des zeitgenössischen Rechts zu Fehde und Rache« und ihrer Reglementierung im Aufriss vorstellbarer personeller, temporärer und gewaltbegrenzender Alternativen einer praktikablen Landfriedensordnung.Footnote 56
Und dieses Recht wird in der Schlussszene nochmals fokussiert, um die tödlichen Folgen unkontrollierbar gewordener Rechtsverletzungen final zu motivieren.Footnote 57
Darum ist Hagen bemüht, wenn er Kriemhild zu verleiten sucht, den Tod Gunthers zu veranlassen, um dadurch endgültig und für alle sichtbar zur vâlandinne zu werden.
Kriemhild hatte sich noch in Worms gegenüber ihren Brüdern zur Versöhnung bereitgefunden, die offenkundig nur unter großen Schwierigkeiten vollzogen werden konnte.Footnote 58 Erst auf inständiges Bitten Giselhers ist Kriemhild willens, Gunther zu empfangen, der ihr dann auch mit seinen engsten Vertrauten gegenübertritt. Aber er wagt es nicht, Kriemhilds Bereitschaft zum Sühneausgleich mit dem Versöhnungskuss entgegenzukommen, wære ir von sînem râte leide niht getân. (NL 1114,3) Dieses Zögern scheint nochmals alle Wunden bei ihr aufzureißen, denn nur unter vielen Tränen gelingt, dass si verkôs ûf si alle wan ûf den einen man. (NL 1115,3) Kriemhild ist es schließlich, die die Initiative in dieser Zeremonie ergreift und ihrerseits Gunther mit dem Versöhnungskuss entgegenkommt (NL 1393,3) und so die Ernsthaftigkeit ihrer Sühnebereitschaft unterstreicht, worauf Gunther dies seinerseits eidlich bekräftigt.Footnote 59 (NL 1131,1) Hans Kuhn hat schon darauf hingewiesen, dass dem Epiker die auf »diese Weise abgeschlossene Versöhnung als etwas so Heiliges« gegolten haben müsse, »dass er sich den Gedanken oder Vorsatz, sie zu brechen, nur aus einer Einmischung des Satans zu erklären vermochte.«Footnote 60 Kuhn verweist dabei auf die Nähe zum Friedenskuss aus der katholischen Messeliturgie – osculum pacis, mhd. pæce – als ein besonderes »Zeichen der brüderlichen Liebe und des Versöhntseins in Gott« von nahezu sakramentalem Charakter.Footnote 61 Damit ist mit dem in »geheiligter Form geschlossene Frieden«Footnote 62 ein »neuer Rechtszustand« geschaffen,Footnote 63 dessen Bruch Kriemhild schließlich außerhalb jedes »göttlichen und menschlichen Rechts« stellen wird.Footnote 64
Damit motiviert der Epiker die tragische Selbstvernichtung Kriemhilds in jenem grandiosen HöhepunktFootnote 65, als Meister Hildebrant spontan, von Dietrich und Etzel geduldet, in einer »Richtung ohne irdisches Gericht und Richter« die ihres Racherechts verlustig gegangene Kriemhild in Stücke haut.Footnote 66
Ihr beider Ende ist in der Schlussszene der 39. Aventiure damit handlungslogisch durchgängig vom Epiker motiviert und lässt die Handlung bruchlos schließen.Footnote 67
V.
Die Schlussszene zeigt sich so gedeutet weder als »Scheingefecht« oder »böser Missklang« und »beabsichtigter Bruch« (Kuhn), noch als Verschmelzung von Hort- und Rachemotiv (Nagel). Auch bestätigt sich die Annahme nicht, Kriemhild solle als maßlos goldgierig diskreditiert werden (Schröder), und ist somit auch nicht als »erzähltechnischer Defekt« (Heinzle) zu identifizieren. Eine vermeintliche Hortforderung durch Kriemhild ergibt sich nur aus der ihr von Hagen »gestellten Falle«,Footnote 68 in die sie blindlings hineintappt, in affektiv übersteigertem Glauben, Hagen nicht nur für seine Mordtat büßen zu lassen, sondern ihm auch die ihr mit dem Hortraub zugefügte persönliche Demütigung zu vergelten. Dazu hat der Epiker Kriemhild eine völlig neu dimensionierte Figurenrolle zugeschrieben, die ihr eine »individuelle Innensphäre«, einen Raum subjektiver Innerlichkeit schafft, aus dem heraus das Geschehen vor allem auch in der Schlussszene motiviert ist.Footnote 69 Sie wird so wiederum zum Beleg für Kriemhilds psychologisierte Figurenrolle, denn Hagen erkennt nicht nur diese innerliche Seite, sondern versteht sie auch äußerst erfolgreich für sich auszuschlachten.
Dies vitalisiert bei Kriemhild eine außerordentliche Emotionalisierung, die Hagen schon beim ersten Wiedersehn im Hunnenland erfolgreich gegen sie verwendet. Hier wie auch in der finalen Dialogszene vermag er Kriemhild subjektiv zu instrumentalisieren, was ihr jedes Mal eine schmerzliche Niederlage bereitet. Insofern erscheint die in der Forschung eingeführte und akzeptierte Bezeichnung als 1. und 2. Hortforderungsszene irreführend, denn Kriemhild hatte als Hunnenkönigin kein materielles Interesse mehr an dem Schatz. Es geht ihr lediglich um eine sie befriedigende Wiedergutmachung für den maßlos demütigenden Übergriff, der sie einst in Worms in ihrem Rachebegehren nachhaltig lähmte.
Der Epiker offenbart darin auch seine Intention, zum einen die Folgen kalkulierter Rechtsverstöße dramatisch zu entwickeln und eine daraus erwachsende ins Übermaß abgleitende Rachehandlung bis zum kollektiven Untergang zu problematisieren. Diese Negation eines Ausgleichsgedankens lässt sich zweifellos als ein Verstoß gegen die gesellschaftlichen Normen, die sich mangels einer umfassenden Kodifizierung als Gewohnheitsrecht ausbildeten, in einem eklatanten Bruch der »Spielregeln« konstatieren.Footnote 70 Hinsichtlich der Figurenkohärenz von Kriemhild und Hagen ergibt sich daraus eine deutliche Stimmigkeit.Footnote 71
Damit gewinnt die Rolle Dietrichs von Bern als Repräsentant einer auf Versöhnung und Ausgleich abzielenden Grundhaltung ihr eigentliches Gewicht. »Er ist nicht eng und daher konfliktreich an beide Seiten gebunden, sondern wird trotz sensibler Diplomatie und fortgesetzter Bemühungen, eine Position jenseits der polaren Logik des Konflikts einzunehmen, in den Mechanismus der Eskalation hineingezogen.«Footnote 72. Dietrich erscheint so als die einzige Figur mit dem Potenzial eines Friedensstifters, erhält vom Epiker dafür aber keine Gelegenheit. Jedes Mal, wenn er sich als Alternative zur sich absehbar eskalierenden Ereignisfolge zeigt, hat er die Bühne zu verlassen bzw. wird er vom Epiker aus dem Geschehen herausgenommen. Das geschieht insgesamt fünf Mal. Seinen ersten Auftritt im Nibelungenlied hat Dietrich in der 28. Âventiure bei der Begrüßung der Burgunden im Hunnenland. Seine Warnung an die Ankömmlinge vor Kriemhild (NL 1723 – 1730) ist nach der Markgraf Eckewarts (NL 1635,3 f.) die zweite aus einer realen Gegenwärtigkeit und die erste unmittelbar vor Ort am Hunnenhof und deshalb von bedeutungsvollerem Gewicht. Kriemhilds geradezu panische Reaktion darauf unterstreicht dies ebenso wie ihre offenkundige Furcht vor dem Berner, der sie ungestraft als vâlandinne bezeichnet. (NL 1748) Dietrich trennt sich danach von den Burgunden mit den Worten »daz iuwer komen zen Hiunen daz ist mir wærliche leit« (NL 1750,4), ohne weitere Maßnahmen für eine Begrenzung der zu erwartenden Eskalation zu ergreifen. Etzel, der niene wesse vil manigen argen list, den sît diu küneginne an ir mâgen begie, (NL 1754,2 f.) wird von ihm über seine Befürchtungen nicht in Kenntnis gesetzt. So spitzt sich das vorgezeichnete Geschehen in der Konfrontation zwischen Hagen und Kriemhild weiter zu.
Den nächsten Auftritt Dietrichs schiebt der Epiker in der 31. Aventiure kommentierend ein, indem er berichtet, dass der Berner eine Teilnahme seiner recken am bûhurt und gegen die Burgunden untersagte, denn er vorhte sîner manne, des gie im sicherlîchen nôt. (NL 1874,4) Damit setzt er ein weiteres Zeichen für ein alternatives Verhalten, ohne dass damit ein Eingreifen seinerseits verbunden wäre. Das Geschehen endet mit dem Tod des rîchen Hiunen (NL 1889,3) und mündet letztlich im Ausbruch der Saalschlacht.
Hier tritt Dietrich zum dritten Mal in friedenstiftender Weise auf, erreicht einen kurzzeitigen Waffenstillstand und kann so das hunnische Königspaar, seine Amelungen sowie Rüdiger mit seinen Bechelaren aus dem Schlachtgetümmel herausbringen. (NL 1981–1998) In der Folge dieser Intervention verkündet Rüdiger
sô sol ouch vride stæte guoten vriunden gezemen, (NL 1996,4)
was durch Giselher bekräftigt wird. Wieder ist durch die Figur des um Deeskalation bemühten Berners eine Alternative präsentiert, die aber ebenso ins Leere laufen wird und den Tod Rüdigers nicht zu verhindern vermag.
Bis dahin wird Dietrich wieder aus dem Geschehen herausgehalten, und zwar mit dem deutlichen Verweis auf seinen Friedenswillen: daz ich mînen fride bôt. (NL 2238,4) Um Aufklärung über das Geschehene zu erhalten, erscheint er zum vierten Mal und schickt beispielhaft besonnen Helpfrîch statt Wolfhart und schließlich auch Hildebranden zu den verbliebenen Burgunden. Er selbst wird vom Epiker auf einen Fensterplatz verwiesen und erneut in die Zuschauerrolle versetzt. So kommt es zu einer weiteren Katastrophe, die den Berner zu einem elenden (NL 2342,4) macht. Erstmals bekennt Dietrich mit den Worten:
Sît daz es mîn unsælde niht langer wolde entwesen (NL 2321,1)
eine Verantwortung für das blutige Schlachten. Der Epiker emanzipiert ihn aus seiner bisherigen Figurenrolle als instrumentalisierter Friedensbote und macht ihn in der Überwindung und Auslieferung der beiden letzten Burgunden so zum tragischen Wegbereiter für Kriemhilds Rache. Sein letzter Versuch, die Unmäßigkeit der Eskalation doch noch zu durchbrechen, scheitert, muss seiner Rolle gemäß als »Personifizierung der Idee, die Katastrophe hätte verhindert werden können«,Footnote 73 scheitern. Mit weinenden ougen (NL 2365,2) verlässt er das Geschehen, um als hilfloser Beobachter neben Etzel das Unvermeidliche, an Grässlichkeit nicht zu überbietende Ende von Hagen und Kriemhild zu beklagen.
Das ist ›der Nibelunge nôt‹, die im Kontext einer zeitgenössischen Gewalteskalation im Thronstreit zwischen Staufern und Welfen, neben der Frage nach vride unde reht – wie sie auch Walther in seinem Reichston stellte – das höfische Publikum mit der »Normenkonkurrenz« von einer »gottgewollten Ordnung der Welt« und den »Gewohnheiten einer ranggeordneten Kriegergesellschaft« konfrontiert.Footnote 74 Das Epos offenbart sich damit auch als ein politisches Zeugnis, in welchem die aktuelle Problematik von politischer Stabilität und dem Bestand traditioneller Wertvorstellungen als Basis für den staufischen »honor imperii« ihren literarischen Niederschlag findet.
Notes
Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. Helmut de Boor. 22. rev. u. v. Roswitha Wisniewski erg. Aufl., Wiesbaden 1996, Str. 2367–2373. Nach dieser Ausgabe wird in diesem Beitrag zitiert. Das Nibelungenlied, nach der Handschrift B, hrsg. Ursula Schulze, Stuttgart 2010, 867 f.; Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, hrsg. Joachim Heinzle(a), Berlin 2013, Kommentar zu NL 2367, 3 f., 1506 f.; Hans Kuhn(a), »Der Teufel im Nibelungenlied. Zu Gunthers und Kriemhilds Tod«, ZfdA 94 (1965), 280–306; Werner Schröder, Nibelungenstudien, Stuttgart 1968; Bert Nagel, Staufische Klassik. Deutsche Dichtung um 1200, Heidelberg 1977; Joachim Heinzle(b), »Gnade für Hagen?«, in: Nibelungenlied und Klage, hrsg. Fritz Peter Knapp, Heidelberg 1987, 257–276; Peter Göhler, »Überlegungen zur Funktion des Hortes im Nibelungenlied«, in: Hansische Literaturbeziehungen. Das Beispiel der Thidreks saga und verwandter Literatur, hrsg. Susanne Kramarz-Bein, Berlin, New York 1996, 215–235; Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998; mit zu berücksichtigen sind auch die frühen Überlegungen von Hans Fehr, Das Recht in der Dichtung, Bern 1931 und mit Bezug zu Hans Kuhn(b), »Kriemhilds Hort und Rache«, in: FS f. Paul Kluckhohn und Hermann Schneider z. 60. Geb., Tübingen 1948, 84–100 sowie besonders Gerhard Eis, »Die Hortforderung«, GRM NF. Bd. VII (1957), 209–223.
Ursula Hennig, »Hinterlistige Einladungen in Geschichte und Heldensage«, in: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, hrsg. Fritz Peter Knapp, Heidelberg 1987, 61–77, hier: 77 sowie auch Elisabeth Lienert, »Perspektiven der Deutung des Nibelungenliedes«, in: Die Nibelungen. Sage-Epos-Mythos, hrsg. Joachim Heinzle u. a., Wiesbaden 2003, 91–108, hier: 100 f. Zur Frage psychologischer Interpretationen siehe Walter Haug, »Szenarien des heroischen Untergangs«, in: 8. Pöchlarner Heldenliedgespräche, hrsg. Alfred Ebenbauer, Johannes Keller, Wien 2006, 147–161, hier: 147 ff. sowie Müller (Anm. 1), 201–248.
Vgl. dazu Peter Czerwinski, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt a.M., New York 1989 sowie zur grundsätzlichen Bewertung psychologisch basierter Deutungsansätze Otfrid Ehrismann, Nibelungenlied. Epoche – Werk– Wirkung, 2. neubearb. Aufl., München 2002, 145–147.
Regina Töpfer, »Spielregeln für das Überleben. Dietrich von Bern im ›Nibelungenlied‹ und in der ›Nibelungenklage‹«, ZfdA 141 (2012), 310–334, hier: 324 sieht in Hagen und Kriemhild »zwei ebenbürtige Figuren«; Sabine Kückemanns, Ambivalenzen der triuwe im Nibelungenlied, Aachen 2007, 202, will dies für die Schlussszene nicht gelten lassen und weist diese Rolle Hagen zu. Vgl. Sabine B. Sattel, Das Nibelungenlied in der wissenschaftlichen Literatur zwischen 1945 und 1985. Ein Beitrag zur Geschichte der Nibelungenforschung, Frankfurt a.M. u. a. 2000, 357–376.
Müller (Anm. 1), 145 ff. Monika Schausten, »Der Körper des Helden und das ›Leben‹ der Königin: Geschlechter und Machtkonstellationen im ›Nibelungenlied‹«, ZfdPh 118 (1999), 27–49, hier: 47, unterstreicht den vergleichbaren Handlungsspielraum der Geschlechter, der es ermögliche, »Macht- und Rangstreitigkeiten […] quasi hautnah nachvollziehbar zu erzählen«. Die Szene lässt sich auch unter die Kategorie des »Wettkampfes« einordnen. Vgl. Bent Gebert, Wettkampfkulturen. Erzählformen der Pluralisierung in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 2019 (Bibliotheca Germanica 71), bes. 219–283. Eine Auseinandersetzung mit dem dort entwickelten Ansatz ist in diesem Beitrag allerdings nicht leistbar.
Jetzt ist es nebensächlich, wer sich wann zu wem begibt und wer nun räumlich und zeitlich wie in den Ereignisablauf eingebunden ist. Schröder (Anm. 1), 162; Müller (Anm. 1), 298.
Kuhn (Anm. 1/a), 289, vermutet, dass der Auftritt dem Epiker so »unheimlich« gewesen sein muss, »dass er sich so auf das Allernötigste beschränkte.«.
Jan-Dirk Müller, Das Nibelungenlied. 4. neubearb. u. erw. Auflage, Berlin 2015, 74.
Kuhn (Anm. 1/a), 289 spricht von einem Ausgang der Tragödie von nicht zu überbietender erschütternder Wirkung.
swelhe dar gerîtent, die habent den tôt an der hant, NL 1540,4.
NL 1581,3, Hagen weiß um die Zwangsläufigkeit der zu erwartenden Rache; immer wieder weist er darauf hin, daz uns nâhet der tôt, NL 1855,4. Weitere Vorausdeutungen finden sich in Erzählerkommentaren wie gleich zu Anfang, NL 19,2 ff., in Figurenreden wie denen Hagens oder in Traumbildern wie denen Utes: wie allez daz gefügele in disem lande wære tôt, NL 1509,4. »Vorausdeutungen erhöhen den Effekt des Grauens, und sie verschränken das Schicksal der Protagonisten mit dem Bangen des Publikums. Sie lenken dessen Spannung auf das Wie des Geschehens, dessen groben Verlauf es schon kennt.« Ehrismann (Anm.3). 64. Lienert (Anm.2) 102 f. hält fest, »es könne keine Rede davon sein, dass eine mythisch-archaische Macht« das Geschehen in der Welt der Nibelungen vorzeichne, weist aber zugleich darauf hin, dass trotzdem von einem »Eindruck von Fatalität« gesprochen werden kann, auch wenn im Nibelungenlied kein Wort von Schicksalhaftigkeit vorkommt. Hagens Verhalten nach der Weissagung der ander merewîp, NL 1539,1 – die den Namen der zwischenzeitlich verstorbenen Mutter Siegfrieds Sigelint trägt(!)– offenbart geradezu ein Hinarbeiten auf deren Erfüllung. Dass hier von einer »fatalen Determination« ausgegangen werden darf, zeige die Prüfung der Prophezeiung durch Hagen am burgundischen Priester. So auch Hermann Reichert, Das Nibelungenlied. Text und Einführung, 2. durchges. u. erw. Aufl., Berlin, Boston 2017, 530 f., der die »Schicksalhaftigkeit« aus den vorherberechenbaren Reaktionen aus Angst vor Ehrverlust deutet wie schon Lienert (Anm.2), 105. Auch Tilo Renz, Um Leib und Leben. Das Wissen von Geschlecht, Körper und Recht im Nibelungenlied, Berlin, Boston 2012, 300 f., Anm. 651, bekräftigt, von einem Wirken einer allmächtigen numinosen Instanz, die den Handlungsverlauf als vorgezeichnet und den Entscheidungen der Figuren als entzogen darstellt, könne im Nibelungenlied keine Rede sein.
NL 1858, 3 f., daz ist Hagenen rât, daz ir sô werdet funden, daz ez iu lobelîchen stât. Reichert (Anm.11), 500. Dies ist einer der Belege dafür, dass die Katastrophe nicht schicksalhaft, sondern durch individuelles Handeln heraufbeschworen ist, aber trotzdem aus einem numinosen Wirken motiviert erscheint. Müller (Anm.1), 168. Hagen hatte sich auch schon anders verhalten, worauf ihn Hildebrant auch hinweist, NL 2344. Dass es für ihn jetzt keine Alternative gibt, bestätigt seine Überzeugung von der Unabwendbarkeit der Katastrophe. Jan Philipp Reemtsma, Warum Hagen Jung-Ortlieb erschlug. Unzeitgemäßes über Krieg und Tod, München 2003, 36–77, hier: 53 ff., sieht Hagen völlig anders und deutet den Konflikt mit Kriemhild als Verhinderungsstrategie einer Destabilisierung der burgundischen Herrschaft. Im gleichen Maße wie der Perspektivenwechsel auf Hagen und Kriemhild interessant erscheint, vermag er allerdings auch nicht zu überzeugen.
Reichert (Anm.11), 530 f.
Insofern kann Hagen nicht für den Tod seines Königs verantwortlich sein und ebenso wenig kann ihm hier Treuebruch vorgeworfen werden. Dazu auch Müller (Anm.1), 149. Im Verlauf der Ereignisse am Etzelhof festigt sich auch bei anderen das Bewusstsein, Wir müesen doch ersterben, NL 2106,1.
Sowie NL 1111,4.
Renz (Anm. 11), 222 ff.
NL 1787–1792, und in der Folge NL 2028.
Damit schafft sie die Grundlage, die Burgunden aus Worms wegzulocken. Jan-Dirk Müller, »Motivationsstrukturen und personale Identität im Nibelungenlied«, in: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, hrsg. Fritz Peter Knapp, Heidelberg 1987, 221–256, hier: 243, hat keinerlei Zweifel an der Verbindlichkeit der suone. Da setzt Hagen in der Schlussszene den Hebel an. Auch wenn der nach außen verbindliche Rechtsakt der suone nicht von einer dafür erforderlichen inneren Einstellung getragen war, so stellte er doch einen rechtswirksamen Status für alle Beteiligten dar, auf den sie vertrauen durften. Darauf bauend sehen die königlichen Brüder keine Hinderungsgründe, ins Hunnenland zu ziehen, und erkennen nur für Hagen eine Gefahr, der von dieser Versöhnung ausdrücklich ausgeschlossen war: mîn swester lie den zorn. mit kusse minnecliche si hât ûf uns verkorn, NL 1460,1 f., während Hagen von schulden fürhtet dâ den tôt, NL 1462, 2.
NL 1259,4, waz ob noch wirt errochen des mînen lieben mannes lîp? Zur Gesamtproblematik Renz (Anm. 11), 197 ff.
Walter Haug, »Montage und Individualität im Nibelungenlied«, in: Ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt, Tübingen 1989, 326–338, hier: 329 ff. Vgl. dazu kritisch Müller (Anm. 1), 201–248 sowie Ders. (Anm. 18), 221–256 und Ders. (Anm. 8), 105–107. Vgl. auch Rüdiger Schnell, »Emotionsdarstellungen im Mittelalter. Aspekte und Probleme der Referentialität«, ZfdPh 127 (2008), 79–102, hier: 101, der auf eine Stelle im zeitgenössischen Lehrtraktat Der Welsche Gast von Thomasin von Zerklære hinweist, die eine Diskrepanz von Innen und Außen thematisiert. Vgl. Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hrsg. Heinrich Rückert 1852, Nd. Berlin 1965, V. 925–946.
Edward R. Haymes, Das Nibelungenlied, München 1999, 123 f. stellt Hagen »als Held des Burgundenuntergangs« in den Mittelpunkt und sieht Kriemhilds Angebot als temptatio pacis »die letzte Prüfung des Helden«. Dem folgt Kückemanns (Anm. 4), 202 f.
In der Forschung sieht man in dieser Szene einen Doppelgipfel aus Hortforderung und Rache und ein Stück Urgestein aus der Stofftradition. Reichert (Anm. 11), 453 ff.; Alois Wolf, Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1995, 418 ff., Sattel (Anm. 3), 400; Kuhn (Anm. 1a), 283; Göhler (Anm. 1), 215–235; Ragnhild Boklund-Schlagbauer, Vergleichende Studien zu Erzählstrukturen im ›Nibelungenlied‹ und in nordischen Fassungen des Nibelungenstoffes, Göppingen 1996, 101–105; Mari-Luise Bernreuther, Motivationsstruktur und Erzählstrategie im »Nibelungenlied« und in der »Klage«, Greifswald 1994, 109–111. Vgl. unter rechtlicher Perspektive Renz (Anm. 11), 283–297.
Ursula Schulze, Das Nibelungenlied, Stuttgart 1997, 234. Sie stellt fest: »Im Nibelungenlied besitzt das Hortmotiv keine handlungskonstituierende Funktion«, 225. Zudem hat schon Eis (Anm. 1), 213, darauf hingewiesen, dass es »mit der Logik der Handlung in Widerspruch« stehe, einen auri sacra fames dadurch befriedigen zu wollen, dass man die Hortbesitzer »in die Ferne« und damit vom ohnehin schon schwer erreichbaren Versteck noch weiter weglockt. Damit erscheint dieses Motiv in hohem Maß unwahrscheinlich. Zudem zeigt Kriemhilds Ringen mit dem Werbungsbegehren Etzels in der 20. Âventiure sehr deutlich, dass es ihr eben nicht um neues Ansehen und Macht geht, sondern ausschließlich um die Aussicht auf Rache.
Roswitha Wisniewski, Die Darstellung des Niflungenuntergangs in der Thidrekssaga: eine quellenkritische Untersuchung, Tübingen 1961, 191.
NL 285,4, NL 292,4 sowie NL 138,3.
Mit dem Ende der dreitägigen Hoftrauer kehrt der Alltag ins Hofleben zurück, NL 1072. Kriemhilds herzen jâmer geht weit über das hinaus, was an »affektischen Reaktionen« anderer Figuren auftritt. Vgl. Müller (Anm.1), 203–221.
Sog. 1. Hortforderungsszene beim Eintreffen der Burgunden am Etzelhof sowie demonstratives Zeigen von Siegfrieds Schwert, NL 1739–1744.
Der Epiker lässt Dietrich Hagen und Gunther an Kriemhild ausliefern, weil nur so sein Handlungskonzept stringent zu Ende gebracht werden kann. Es ist müßig, dahinter eine besondere Motivation zu suchen wie z. B. Schröder (Anm. 1), 161, der darin eine Anerkennung ihres höheren Rechts auf Rache sieht. Etzel hätte sowohl als Landesherr wie auch als persönlich Geschädigter mindestens einen vergleichbaren Racheanspruch gehabt. Dass er hier geradezu zu einer Nebenfigur gerät, zeigt die narrative Intention des Epikers nur umso deutlicher. Vgl. auch Töpfer (Anm. 4), 323 f.
Belegstellen z. B.: NL 1259,4; NL 1392,2 f.; NL 1396,1 f.; NL 1461,4; NL 1503,4; NL 1523,4; NL 2025,1 f.; NL 2086,2; NL 2103,2.
Man beachte den Gegensatz von wider geben und ergetzen. Mittelhochdeutsches Wörterbuch (BMZ), hrsg. Georg F. Bennecke, Willhelm Müller, Friedrich Zarnke, Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1854–1866, Stuttgart 1990, Bd. I, Sp. 544a–545a sowie Sp. 508 a sowie Schröder (Anm. 1), 110 f. Noch immer wird in der Forschung von einem »Handel« gesprochen, den Kriemhild hier Hagen anböte, z. B. Kückemanns (Anm. 4), 201.
Schröder (Anm. 1), 173. Siehe dazu die Problematisierung bei Renz (Anm. 11), 286 f., der meint, dass hier nochmals die Frage gestellt werde, »wie eine Sühne […] beschaffen sein könnte«, 287.
Joachim Heinzle(a), »Gnade für Hagen?«, veränd. u. erw. Fassung des gleichnamigen Beitrags von 1987, in: Ders., Traditionelles Erzählen. Beiträge zum Verständnis von Nibelungensage und Nibelungenlied, Stuttgart 2014, 149–164, hier: 152 u. 154.
Diese Auffassung Schröders teilt auch Göhler (Anm. 1), 228. Die Ambiguität der Formulierung wird durch das gesetzte Neutrum evoziert, das sich m. E. aber als Ausdruck einer allgemein gehaltenen Formulierung erklären lässt. Kriemhild fasst damit ihren Racheanspruch umfassend verallgemeinernd zusammen im Sinne von: alles, was ihr mir genommen habt, ist unwiederbringlich. Damit ist ir holder vriedel gemeint, von dem sie natürlich auch den Schatz als Morgengabe erhalten hatte.
Kriemhild reagierte damit lediglich auf die provokative Beleidigung Hagens, mit der er die gastgebende Königin als geizig hinstellte, worauf sie erst auf den Hort zu sprechen kommt, um ihrerseits Hagen als Dieb ihres rechtmäßigen Besitzes zu bezichtigen. Schröder (Anm. 1), 94 ff. sowie 166. Schon in dieser sog. Niederlageszene fragt Kriemhild mit den Worten: durch iuwer selbes friuntschaft sô grüeze ich iuwer niht. saget, waz ir mir bringet von Wormez über Rîn, dar umb ir mir sô grôze soldet willekomen sîn, NL 1739,2–4, nicht nach dem Nibelungenhort, sondern sinngemäß: Was macht es euch wert, dass ihr mir willkommen sein solltet?
Renz (Anm. 11), 287 hält dazu fest: »Hagen reduziert die Komplexität von Kriemhilds Äußerung. […] Seine Rede konkretisiert damit die Möglichkeit eines Ausgleichs«, den er aber gleichzeitig verweigere. Er sieht dies mit Schröder (Anm. 1) darin motiviert, dass so »Kriemhild den Schatz nicht durch die Information eines anderen zurückerhalten kann.«.
Schröder (Anm. 1), 174.
Kuhn (Anm. 1/a), 292.
NL 1131,1 f.
Kuhn (Anm. 1/a), 293/294. Kuhn motiviert dies allerdings anders, indem er meint, Kriemhild habe durch ihre vom Teufel eingegebene Goldgier Willen und Verstand verloren und »die Rache, die in aller Augen das viel höhere Ziel war, fahren (zu) lassen«, 292. Zum »Friedenskuss« vgl. Hans-Wolfgang Strätz, »Kuß«, Abschnitt 2, Lexikon des Mittelalters, Bd. V, München u. Zürich 1991, Sp. 1591 und Ders., »Der Kuß im Recht«, in: Geliebt, verkauft, getauscht, geraubt. Zur Rolle der Frau im Kulturvergleich. Führer zur Ausstellung des Rautenstrauch-Joest-Museums für Völkerkunde in der Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln, hrsg. Giesela Völger, Köln 1985, 286–293. Dietmar Peil, Die Gebärde bei Chrétien Hartmann und Wolfram. Erec-Iwein-Parzival, Medium Aevum Bd. 28, München 1975, 195–218. Dazu auch Renz (Anm. 11), 212, Anm. 492 sowie Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, 2. um ein Nachwort erg. Aufl., Darmstadt 2014, 57–84 sowie Ders., ebd., »Colloquium familiare – colloquium secretum – coloquium publicum. Beratung im politischen Leben des frühen Mittelalters«, 157–184, bes. 165 f.
Irmgard Gephart, Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im ›Nibelungenlied‹, Köln u. a. 2005, 185.
NL 97,4 u. 98,2. BMZ (Anm. 30), Bd. I, Sp. 717a bis 718a: hort stm., gesammelter schatz. goth. huzd, ahd. hort; als Teil der Gütertrias im Reichston Walthers von der Vogelweide, L 8,14.
BMZ (Anm. 30), Bd. I, Sp. 717a bis 718a: himelhort stm. himmlischer schatz.
Wilhelm Wilmanns, Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide, 2. vollst. umgearb. Aufl., besorgt von Victor Michels, Halle a.d.S. 1916, 133.
Walther von der Vogelweide. Werke, Bd 1: Spruchlyrik, hrsg. Günther Schweikle, 3. verb. u. erw. Aufl., hrsg. Ricarda Bauschke-Hartung, Stuttgart 2009, 410. Inwiefern Hagen mit dem schaz Kriemhild auch um ihr Seelenheil bringen will, wurde soweit ich sehe noch nicht näher untersucht. Dass das individuelle Seelenheil eine Bedeutung hat, zeigt der Begräbnisritus für Siegfried, NL 1052 ff. Religion und Glaubensfragen haben im Nibelungenlied aber keine zentrale Bedeutung. Christliche Motive gehören zur Entfaltung der zeitgenössischen höfischen Lebensführung und haben mit Blick auf die Handlung lediglich die erzähltechnische Funktion ihrer dramatischen Untermalung. Inwiefern es dem Epiker auch um eine Kritik an einer »Kluft zwischen einer Formal- und Gesinnungsethik« geht, muss ich hier unbeachtet lassen. Vgl. Hans-Adolf Klein, Erzählabsicht im Heldenepos und im höfischen Epos. Studien zum Ethos im ›Nibelungenlied‹ und in Konrad Flecks ›Flore und Blanscheflur‹, Göppingen 1978, 102.
BMZ (Anm. 30), (Bd. III, Sp. 214b) vâlandinne, vâlentinne, stf. teufelin; ein dem teufel ähnliches weib. Kriemhild empfängt die Burgunden am Etzelhof mit valschem muote, NL 1737,2, was Dietrich letztlich veranlasst, sie entsprechend mit den Worten nu zuo, vâlandinne, NL 1748,4. zu apostrophieren. So werden auch Brünhild, NL 438,4, 442,2, 450,4, und Siegfried, NL 216,4, mit dem Teufel in Verbindung gebracht, wie auch Hagen selbst, NL 2311,4, was allerdings lediglich ihre Gefährlichkeit ausdrücken soll. Von daher lässt sich die Begrifflichkeit nicht in einem engeren Sinn als dem Teufel verfallen eindeutig festmachen.
Müller (Anm. 8), 74.
Schröder (Anm. 1), 178.
Kuhn (Anm. 1a), 293 sowie Schröder (Anm. 1), 177.
BMZ (Anm. 30), Bd. I, Sp. 255a.
In diesem Sinne übersetzt diese Stelle auch Müller (Anm. 8), 75. Renz (Anm. 11), 288, will darin einen Schuldanspruch erkennen, der auf den Rechtsterminus Wergeld hinweise.
Ehrismann (Anm. 11), 136 f. Ursula Schulze, »Siegfried – ein Heldenleben? Zur Figurenkonstitution im ›Nibelungenlied‹«, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS f. Volker Mertens z. 65 Geb., hrsg. Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, 669–689, hier: 681.
Ruth Schmidt-Wiegand, »Kriemhilds Rache. Zur Funktion und Wertung des Rechts im Nibelungenlied«, in: Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des frühen Mittelalters, hrsg. Norbert Kamp, Joachim Wollasch, Bern, New York 1982, 372–387, hier: 374 u. 386.
Rainer Zacharias, Die Blutrache im deutschen Mittelalter besonders in und nach der Zeit des Nibelungenliedes. Phil. Diss. masch., Kiel 1961, 176, Thomas Möbius, Studien zum Rachegedanken in der deutschen Literatur des Mittelalters, Frankfurt a. M. 1993, Antje Holzhauer, Rache und Fehde in der mittelhochdeutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, Göppingen 1997 sowie die Untersuchung von Renz (Anm. 11), 176–339.
Ihr öffentliches Weinen löst die Racheplanung bei Hagen aus, NL 863,2 f. Er handelt aus Staatsraison, wobei es ihm vor allem um burgundische Machtsicherung und -vergrößerung geht, NL 993,3 f. Hagen entscheidet als erster Kronvasall interessenorientiert und stellt sich damit kompromisslos über seinen König, dem jegliche Überparteilichkeit längst abhandengekommen ist.
Kriemhild gegenüber ihren Verwandten, NL 1737,2, und gegen Etzel. NL 1401–1403, und Ortlieb, NL 1913,2, sowie gegenüber ihren Gästen, NL 2024,4; Hagen gegenüber Kriemhild im Entlocken der Stelle von Siegfrieds Verwundbarkeit, NL 903. Dazu auch schon Siegfried Beyschlag, »Das Nibelungenlied als aktuelle Dichtung seiner Zeit«, GRM NF. Bd. XVII (1967), 225–231, hier: 229 f.
Renz (Anm. 11), 330. Zum Landfrieden vgl. Ders., »Siegfrieds Mörder. Eine Poetik von Täterschaft und Schuld im Nibelungenlied und in den Landfrieden um 1200«, Daphnis 40 (2011), 39–61; zwischen dem Reichsfrieden Friedrich I. Barbarossa und den Reichsgesetzen Friedrichs II. ist dies eine zeitgenössische Diskussion auch im Donauraum. Vgl. Heinz Dopsch, »Landfrieden und Landesherrschaft. Beispiele aus dem Alpen- und Donauraum«, in: Landfrieden. Anspruch und Wirklichkeit, hrsg. Arno Buschmann, Elmar Wadle, Paderborn u. a. 2002, 153–183.
Renz (Anm. 11), 272, spricht von einer »Mechanik der gewaltsamen Interaktionen«.
Diese Versöhnung ist Teil von Kriemhilds in ihrem Inneren getragenen Racheansinnens. Nach außen wirkt dies zweifellos als eine »verbindliche Versöhnung«, Müller (Anm. 1), 220; aus der Innerlichkeit der Kriemhildfigur gesehen, ist es fester Bestandteil ihrer Racheplanung wie es der Redaktor von *C als suone mit valsche gefuget, C 1128,2, zum Ausdruck bringt.
«Der Friede, den Sühne und Handfriede hervorbringen, umschreibt […] ein Verhältnis zwischen einzelnen Menschen, […] ausgelöst […] durch eine konkrete Feindschaft.[…] Handfriede und Sühnfriede beseitigen diese Feindschaft, indem sie sie unterbrechen oder aufheben. […] Von seiner Schutzfunktion her gesehen ist er beschränkt […] auf bestimmte Personen, […] jedermann [ist] unter Strafandrohung auf das Friedensprogramm verpflichtet.« Elmar Wadle, Landfrieden, Strafe, Recht. Zwölf Studien zum Mittelalter, Berlin 2001, 63. Stefan Petersen, »Zur Bedeutung von Gesten und Gebärden im Nibelungenlied«, in: Concilium medii aevi, Bd. 2, 1999, 165–186, hier: 180, https://cma.gbv.de/dr,cma,002,1999,a,09.pdf (28.01.2020) meint dagegen, dass diese Versöhnung für Kriemhild »lediglich als Mittel zur Erfüllung ihrer Rachewünsche« gedient und sie sich dem Versöhnungskuss verweigert habe.
Ich wæne der übel valant Kriemhilde daz geriet, NL 1394,1. Kuhn (Anm. 1/a), 290.
Ebd. Vgl. BMZ (Anm. 30), Bd. II/1, Sp. 457a–459a.
Kuhn (Anm. 1/a), 291 sowie Müller (Anm. 8), 98.
Müller (Anm. 18), 243.
Kuhn (Anm. 1/a), 294. Zur Frage der Schuldzuweisung an die Figur der Kriemhild vgl. Renz (Anm. 11) 297 ff. »Nicht, dass […] sie als Frau Rache übt, wird als abscheulich bezeichnet, sondern wie sie sich um der Rache willen verhält«, 303. Müller (Anm. 1), 168, »Zerstückeln ist wie Zerreißen die Strafe für den […], der Ordnung schlechthin zerstört«.
Heinzle (Anm. 32), 134 spricht vom »Eindrucksvollsten, was der an darstellerischen Höhepunkten wahrlich nicht arme Text zu bieten hat.«.
Töpfer (Anm. 4), 326 sieht hier auch eine »Überschreitung genderspezifischer Grenzen« als Motiv gegeben.
Lienert (Anm. 2), 92 zählt diese Szene dagegen zu den besonders spektakulären Brüchen im Nibelungenlied.
Das wurde schon früh von Kuhn (Anm. 1a), 292 so gesehen, dem auch Schröder (Anm. 1), 176 folgte.
Haug (Anm. 20), 332 f. und kritisch dazu Müller (Anm. 1), 216 ff. sowie Schnell (Anm. 20), 98 ff.
Gerd Althoff, »Brüchige Helden. Herzog Ernst und Kaiser Otto«, in: Brüchige Helden – Brüchiges Erzählen. Mittelhochdeutsche Heldenepik aus narratologischer Sicht, hrsg. Anne-Katrin Federow, Kay Malcher, Marina Münkler, Berlin, Boston 2017, 21–34, hier: 21 f. Renz (Anm. 11), 260, stellt dazu fest: »Der literarische Text zeigt, dass die Herstellung von Recht in hohem Maße von der Machtposition der Kontrahenten abhängig ist, schafft damit zugleich Distanz zu dieser Praxis und weist auf die Vorstellung eines Rechts jenseits der Interessen der Herrschenden hin.«.
Gerd Althoff, »Regeln der Gewaltanwendung im Mittelalter«, in: Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, hrsg. Rolf Peter Sieferle, Helge Breuninger, Frankfurt a.M. 1998, 154–170.
Renz (Anm. 11), 268. Es sei offenbar sein Bestreben, über das Geschehene zu urteilen, was darauf hinweise, dass eine herrscherliche Instanz fehlt, die den Konflikten enthoben ist, 255. Dazu auch schon Beyschlag (Anm. 55), 228. Er sieht Dietrich als ideale Verkörperung eines »rex justus et pacificus«. Zur Figur Dietrichs bietet der Beitrag Töpfers (Anm. 4) einen guten Überblick zum aktuellen Forschungsstand.
Haymes (Anm. 21), 152.
Gerd Althoff, Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter, Darmstadt 2016, 298 f. Anton Schwob, »fride unde reht sind sêre wunt. Historiograph und Dichter der Stauferzeit über die Wahrung von Frieden und Recht«, in: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. FS f. Ruth Schmidt Wiegand zum 60. Geb., hrsg. Karl Hauck, Karl Kroeschel u. a., 2 Bde., Berlin, New York 1986, 846–869.
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Serfas, G. Kriemhilds Widerfahrnis: Hagens letzte Finte. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 94, 445–463 (2020). https://doi.org/10.1007/s41245-020-00119-x
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